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Benares ist das Herz von Indien. Alle Ströme seines Lebens fließen nach ihm und fließen wieder zurück, von seinem Blut und Leben durchtränkt, in die tausend und abertausend Arterien des Riesenreiches. Benares ist das Herz von Indien! Und Indra, so jäh mitten hineinversetzt in die ihr neue, uralte Kultur, fühlte eine kleine Weile all ihr eigenes, inneres Leben stocken, so gewaltsam war der Anprall der auf sie einstürmenden neuen Eindrücke. – Mitten aus dem Freudenhaus des Lebens, aus dem Yoshiwara aller irdischen Lust, als deren Priesterin sie schon so einsame Höhen erklommen hatte, fühlte sie sich herausgeschleudert in das Herz der Verneinung aller irdischen Seligkeit. Und doch, sie mußte es bald erkennen: Boris, ihr Schicksalsführer, hatte recht – das indische Nirwana ist nur die Kehrseite der Medaille der großen Lebenssansara! Und das eine, das fühlte sie bald ganz klar, ist ebenso wahr und ebenso wichtig wie das andere. Es handelte sich nur darum, daß der Mensch die richtige Verbindung zwischen beiden findet.
Benares ist das Herz von Indien – und seine Lebensströme würden ihr das wohl bald zuraunen. Indra war eine Instinktnatur. Dieser Instinkt konnte sich wohl täuschen, wie er sich in Boris getäuscht. Und doch – hatte Boris sie nicht immer wieder zu den wichtigsten Stationen ihres Lebens geführt? Nun war er abermals, zum letztenmal, wie er sagte – und sie glaubte es ihm, wenn sie in seine zerstörten Züge sah – und wie durch ein Wunder an ihrer Seite. Nun sollte er sie einführen in die indischen Mysterien. Wie eine abergläubische Furcht ergriff es sie plötzlich vor ihm, und doch war er ihr vertraut wie niemand sonst auf der Welt. Und doch fühlte sie Zuneigung zu ihm – wie der Mensch sein eigenes Schicksal liebt, wie der Mensch seinem eigenen Schicksal freiwillig in die Arme rennt.
Auf dem Schiff hatte er sich völlig zurückgehalten, man sah ihn kaum. Er hatte eine unüberwindliche Scheu vor Mrs. Higgins’ durchdringenden Falkenaugen. Es war ihm, als könnte sie all das Otterngezücht auf dem Grunde seiner Seele sehen. – Aber bei einem Sturm war er plötzlich zur Stelle und hielt Indras Hand. Sie ruhte leichenblaß auf ihrem Deckstuhl, und es war mehr Furcht als Seekrankheit, die sie gefangen hielt. – »Ende Juli ist eine böse Zeit für die Südmeere. Da begannen die Taifune aus ihrem Schlaf zu erwachen,« sagte er. »Aber fürchte nichts, ich bin bei dir, ich wache über dich.« – Ihr war’s, als wenn ihr Schicksal gesprochen: »Noch ist es nicht Zeit für dich!« – Und sie ward sonderbar ruhig. Und nun schritt er also auch bei diesem neuen Lebensabschnitt wieder an ihrer Seite. Er hatte ganz richtig gefühlt, Mrs. Higgins durchschaute ihn. Dennoch – sie wachte ja nun über Indra. Die hatte ihr eine ausführliche Schilderung ihres Lebensganges gegeben, und sie fühlte eine keimende, menschliche Zuneigung zu dem merkwürdigen Mädchen, diesem Gemisch von Stolz und Weichheit, von Hingebung und Kraft. – Sie glaubte, daß Indra ihr eine Stütze werden würde in ihren theosophischen Bestrebungen großen Stils. Sie hoffte auf sie, wie jeder auf sie gehofft hatte, in dessen Bereich sie trat.
Aus einem sehr reichen Hause stammend und früh Witwe geworden, hatte sie Annie Besant, die große Oratorin, diese wunderbarste weibliche Rednerin unserer Zeit, vor Jahren einmal in London gehört und hatte sich mit ihrem ganzen Sein und Wesen zu ihrer Jüngerin gemacht. Sie verkaufte all ihr Hab und Gut und zog für immer mit ihrer »Prophetin«, wie sie sagte, nach Benares, ans Hindukollege. In jedem Sommer aber reiste sie entweder nach Birma oder nach Siam, oder Java oder Japan. Sie suchte dort im buddhistischen Kult neue Nahrung für das »Volapük« oder »Esperanto aller Religionen«, wie Indra es so treffend bezeichnet hatte. Wie ein Wunder war ihr das Finden von Indra erschienen, ebenso wie dieser selber. Und auch sie wußte: nur von der Höhe der Sanisara kann der Geist die göttliche Ruhe des Nirwana begreifen. Darum hoffte sie viel von ihrer neuen Schülerin. Sie hoffte Unendliches!
Indra unterdessen drang mit Boris in die Tiefen der indischen Mystik – soweit dies in acht Tagen möglich war, heißt das.
Viele, die meisten der Tempel, sind für Fremde gar nicht zugänglich, aber sie hörte die aufreizende, barbarische Musik und das Geschrei und Tanzen der zahllosen, grellbunten Scharen, die sie hineinströmen sah. – Sie stand mit Boris auf der Terrasse des Hauses, gegenüber dem großen Tempel. Da sah sie erst einen jeden bei dem Blumenverkäufer im Erdgeschoß eine der grellgelben Blütenketten von »Gendalflowers«, wie man sie hier nannte, kaufen. (Sie kannte sie noch von ihres Vaters Rosengarten, dort hießen sie Studentenblumen.) »Wo kommen sie nur mit den Tausenden von Metern Blütenketten hin?« – »Sie bekränzen die Altäre, sie bekränzen die Linghams damit,« sagte Boris. Dies Gemisch von Buddhismus und altem Hinduglauben, dem Brahma- Wischnu-Shivakult, war ihr das Befremdlichste. In manchen Tempeln war sogar beides vereinigt, und in den Köpfen vieler Inder sicherlich auch. Sie beteten zu Buddha und trieben eifrig Linghamkult, mit dem Wahrzeichen des Shiva, dem Glied der Fruchtbarkeit. So sah Indra ein junges Hindumädchen eine Gruppe schwarzer Linghams sorgsam mit Wasser und Seife abbürsten und gleich darauf vor einem Buddha sich zur Erde werfen. Boris meinte: »Das ist wohl der Hauptgrund von Annie Besants phänomenalen Erfolgen im Hindukollege – die Purifizierung des Buddhismus von den Schlacken des Linghamkult. Und die Neuanhängsel der Madame Blavatzky, der großen Meisterin der Annie Besant, nehmen sie um dessentwillen ruhig mit in Kauf.« – Brostoczicz hätte nicht er selber sein müssen, wäre nicht eine der ersten »Sehenswürdigkeiten«, mit denen er Indra bekannt machte, der »Nepalesetempel« gewesen.– »Von dem habe ich noch niemals etwas gehört,« meinte Indra. – »Desto mehr aber vom Nepalesekult,« antwortete er. »Du wirst gleich sehen.« Und dann stiegen sie den schattigen Weg empor, nahe der großen Brücke, und kamen an eine herrliche Gruppe dunkel glänzender Mangobäume. Auf deren Schatten stand ein zierlicher, rot gemalter Tempel mit spitzschnäbligen Dächern (der einzige dieser Art in ganz Indien), an denen zahllose Bronzeglöckchen hingen, die bei jedem Windhauch leise tönten wie Äolsharfen! An zwei Seiten war der Tempel offen, und von großen Schiebetüren hingen, halb welk, endlose Girlanden gelber Gendalblütenketten. Der Tempel aber hatte vierundzwanzig Pforten, um die sich, schwarz vor Alter, holzgeschnitzte Umrahmungen und vierundzwanzig schwarze, geschnitzte Sopraporten zogen.
»Dieser Tempel,« sagte Boris, »ward von den Einwohnern von Nepal und Sikkim gegründet. Du weißt, jeder indische Stamm hat hier in Benares seinen eigenen Tempel, um darin den Göttern näher zu sein. Es gilt auch als Anwartschaft auf die himmlische Seligkeit (hier sind wir wieder im Brahmanenkult), in Benares zu sterben. Darum haben hier viele Granden des Landes ihre Sterbepaläste. Die Nepalesen aber wollen der irdischen Liebe und aller Sinnenfreuden auch im Tode nicht vergessen. Darum ließen sie hier von inspirierten Künstlern die vierundzwanzig Arten der Sinnenliebe in ihrer rohesten Form und in rohesten Formen verewigen. Der Tempel ist uralt. Aber noch täglich erfreuen sich die Hindus an diesen urwüchsigen und – naiven Darstellungen. Aber nun komme ich wieder auf mein Thema von Orient und Okzident. Der Orient sieht sich das ruhig und offen an. Der Okzident verpönt das Ganze. »Nur für Herren!« heißt es. In der Reisezeit aber kannst du täglich Scharen von Globetrotterinnen heimlich, mit pochendem Herzen und lüsternen Augen, hierher pilgern sehen; wenn Männer nahen, verbergen sich diese Frauen, von perversen Backfischen bis zu den ältesten Jungfern. Was aber das schlimmste ist: der Orient setzt Millionen um nach dem Okzident von rohen, widerlichen Reproduktionen dieser ursprünglich naiv empfundenen Bildwerke. – Verlangst du nach einem packenderen Beweis, wie pervers der europäische Sinnenkult geworden ist und betrieben wird? Alles öffentlich verschreien und heimlich üben. Der alte Goethe hatte wahrlich recht:
»Man soll das nicht vor feilschen Ohren nennen, was keusche Herzen nicht entbehren können.«
»Wir müssen unser Leben eben zum Yoshiwara gestalten, zum Freudenhaus für alles Echte, Gesunde, Natürliche,« meinte Indra. »Wir dürfen uns nicht mehr unserer Sinne schämen. Was wären wir denn ohne sie? Keine große Kunst ohne starke Sinnlichkeit! – Warum sich nicht ausleben dürfen, frei und groß, statt verborgen, wie die Europäer, im Schmutz zu wühlen. Wahrlich, die europäische Kultur mit ihrem Schein und Sein, mit ihrer ganzen Verlogenheit wird mir immer fataler. Auf ›Tugendschemeln‹ sitzen die ›ehrbaren Frauen‹, die vielleicht die schlimmsten Courtisanen sind, und brechen den Stab über ein Mädchen – ein gefallenes Mädchen – das zu stolz war, eine › demivierge‹ zu werden.« – Boris sah sie erstaunt an. »Du solltest deine Gedanken aufschreiben, Indra, ein Buch daraus formen. Das könnte vielleicht einen Baustein bilden zum Tempel der neuen Zeit und des neuen Weibes, dieser so oft zitierten und so völlig mißverstandenen Dinge.«
»Und du könntest mir dabei helfen, Boris.« – »Nein, meine Zeit ist um, und mein Maß ist voll; ich bin der Sansara müde, mich verlangt’s nach Nirwana. Aber vielleicht gibt es kein Nirwana für mich, vielleicht muß ich mich ewig erinnern, ewig.« Seine Züge nahmen einen gehetzten Ausdruck an. – Am anderen Morgen fuhren sie durch grüne Gefilde nach Sarnath, wo Buddha seine Erleuchtung gefunden haben soll. Ein ganzes Museum hat man dort gemacht von allen Ausgrabungen. Auch den Plan des einstigen Klosters zeigt man noch und die Stelle, wo der heilige Geist über ihn kam, »daß er, der Prinz, hinauszog, heimlich, von Weib und Kind, von Glanz und Pracht, um die Welt zu erlösen«.
»In Java,« sagte Boris, »an den herrlichen Skulpturen des Borobudur, da wird einem die wunderbare Schönheit der Buddhalegenden erst völlig klar und die überraschende Übereinstimmung mit der Geschichte Christi:
›Empfangen vom heiligen Geist!‹
Empfangen vom weißen Elefanten, der zu allen Zeiten im Osten heilig war. – Und Christus zog hinaus aus dem himmlischen Glanz von seines Vaters Wohnung, Buddha zog hinaus aus dem fürstlichen, irdischen Glanz und Glück. Sie entäußerten sich beide alles Äußeren, sie lehrten uns, nur auf die innersten Dinge Wert zu legen.
Buddha hat als Attribut die Kobra, die ihre sieben Köpfe als Baldachin über ihn deckt. Christus hat die weiße Taube des heiligen Geistes.« Lange wanderten sie umher und dachten und sprachen. Boris erzählte, daß ein Zweig des Baumes, der einst hier gestanden, von einem Schüler des Buddha, dem Mahinda, in einem eigenen, glanzvollen Schiff nach Ceylon gebracht worden sei, der damaligen Insel Lanka des Affenkönigs Hanuman. Daß dieser »Botree« nun zweitaufend Jahre zähle und unter seinem Schatten in Anuradhapura, die Singhalesen noch heut’ in jeder Vollmondnacht Buddha ihre Opfer bringen. – »Ach Boris, du bist mir wirklich unentbehrlich für mein Buch,« meinte Indra, »du bist das reine Konversationslexikon, man braucht nur nachzuschlagen.« – »Und findet das große ›Nichts‹, das Fazit meines Leben,« entgegnete er düster.
»Morgen fahren wir auf dem Ganges, es ist Feiertag. Erst in der früh und dann abends bei Mondenschein. Und dann ziehst du in dein neues Kloster.« – Am anderen Morgen früh, es war noch empfindlich kalt, fuhr Indra mit Boris auf dem »Pearlship«, dem Perlschiff eines reichen Inders, dem es schmeichelte, Europäern seine kleine Jacht zu zeigen. Sie fuhren langsam, ganz langsam den Ganges hinauf. Die Sonne glomm empor und tauchte alles in Glut und Glanz. Tausende, Hunderttausende von Menschen badeten in der »heiligen Flut«. Man konnte sich kaum denken, daß es so viele Menschen gibt, wie sie hier als leuchtende Punkte auf und nieder in das Wasser tauchten. Nichts Keuscheres wie das Bad der Hindufrauen, und wie sie dann aus den Fluten steigend den trockenen Saron mit dem durchnäßten vertauschen – man merkt es kaum. Die ganze Flut war von Gendalblumenketten durchleuchtet. Alle »Ghats«, die breiten Treppen, die zum Fluß führen, waren buchstäblich überdeckt mit Menschen.
»Siehst du dort die Gruppe von Frauen mit den dunkellila Sarons?« fragte Boris. – »Ja, aber warum tragen die keinen Schmuck, weder an Beinen, Armen noch Ohren und Nasen; die sehen ja beinahe aus wie gerupfte Vögel.« – »Das sind die Witwen,« sprach Boris, »aber ihnen zum Trost hat man nebenan das Bad der Witwer eingerichtet; siehst du dicht dabei den Haufen von Männern in lila Sarons?« – Indra lachte. »Nichts ist köstlicher als der Humor, der unbewußte, in vielen Gebräuchen des Ostens.«
Langsam, ganz langsam zog das Perlschiff weiter. Jetzt kamen sie an ein Ghat, das weniger belebt schien als die anderen.
Mehrere Männer waren beschäftigt, Holzstöße aufzurichten. Etwas Weißes schaute hier und da daraus hervor. Die Männer waren sehr eifrig, stopften dürres Gras dazwischen, schürten und stocherten, als wollten sie einen Holzstoß für einen Braten zurechtmachen.
»Wieviel weiße Punkte siehst du daraus?« fragte Boris. – »Drei, auf jedem Haufen drei.«
– »Das sind die Füße,« sprach Boris; »wieviel siehst du am Strande liegen in blauen und roten Mänteln, die bloßen Füße im heiligen Wasser?« – »Vier!« antwortete sie, »sie scheinen fest zu schlafen.« – »Nein, sie sind tot,« sprach Boris; »die im blauen Schleier sind Männer, und die im roten Schleier sind Frauen, oder umgekehrt. Jetzt kommen also auf jeden Scheiterhaufen noch zwei, oder sie errichten einen dritten. Je nachdem sie denken, daß der Holzstoß genügend Luft hat und brennt, anstatt zu schwelen. – Nein, sie zünden schon an, die vier übrigen kommen auf einen neuen Scheiterhaufen. Der Mann mit der Fackel dort ist der Domra, der Verbrenner, der erhält für jede Leichenverbrennung bis zu tausend Ruppees. Das Geschäft macht ihn schwer reich.« – Die Holzstöße flammten jetzt hell auf, und blaue Rauchwolken zogen in die Lüfte. Die Scheiterhaufen strahlten warme Glut herüber und wärmten, unwillkürlich wohltuend, in der Morgenglut.
»Und im Vorüberziehen wärmt mich
der Toten Glut,
die meinem armen Leben
wie letzte Liebe tut,«
dachte Indra, »die Glut des Vergangenen, die noch zu mir herüberzuckt.« Eine schwere Trauer füllte ihre Seele.
Die Schar der Leidtragenden setzte sich jetzt ins Wasser, auf einer Art Podium, zum Mahl. Den Toten wurden ihre Speisen vom Festmahl in den Ganges geworfen. Fische und Geier übermittelten sie ihnen wohl. Lautes Klagegeschrei erfüllte plötzlich die Luft. Die Flammen züngelten jetzt an ein paar Füßen und roten und blauen Schleierfetzen empor. »Wie ein Haufen Krammetsvögel, die knusprig braun werden sollen,« dachte Indra wieder. »Laß uns weiterfahren, Boris, ich bin müde von dem grausigen Anblick, grausig, inmitten von Sonnenglanz und Schönheit.« Sie wanderten dann später noch am Land in den engen Gassen, einer hinter dem anderen. Da ward Indra rauh zur Seite gestoßen, und eine »heilige Kuh« zog unbeirrt ihres Weges nach dem nahen Tempel der »heiligen Kühe«.
»Benares ist das Herz von Indien,« sagte Indra, »und ganz Benares ist von Blutlachen bedeckt. All der ausgespuckte Bethel wirkt geradezu schauerlich blutrünstig.« – »Wir gehen jetzt zur › Well of Knowledge‹, dem Born der Weisheit,« erklärte Boris. Bald standen sie vor einem viereckigen Bassin mit pechschwarzem, schieferglänzendem Wasser, von dem geradezu mephistische Dünste emporquollen. Die Gläubigen drängten sich mit großem Geschrei in dichten Scharen darum. Sie warfen alle lange Blütenketten hinein, und ein Becher mit dem schwarzen Pestilenzwasser ging von Mund zu Mund. »Wer vom Born der Weisheit trinkt,« lächelte Boris, »hat ewige Weisheit und wird niemals krank. Da siehst du, wie die Weisheit schon mit Zungen redet.« Er wies auf zwei Besessene. Der eine wälzte sich in epileptischen Krämpfen am Boden. Der andere saß mit gekreuzten Beinen und klingelte mit einer grellen Glocke, die er wie einen Kreisel um sein Haupt schwang. Es waren Töne, die durch Mark und Bein drangen. – »Du siehst, hierum, um der dunklen Fluten willen, aus der › Well of Knowledge‹, die täglich mit neuen Kränzen, Fäulniserregern, gefüttert wird, ist der große Erfolg des geläuterten Buddhismus und all seiner theosophischen Neuverzierungen. Aus diesen Tiefen steigen seine Keime.«
Und am Abend fuhren sie wieder auf dem heiligen Strom. Zum letztenmal! »Morgen ziehst du nun in dein Kloster, Indra, heut’ komm’ ich von dir Abschied zu nehmen. Ich werde niemals wieder deinen Pfad kreuzen, denn ich habe dir ja schon gesagt, ich reise in das Land, von dem es keine Rückkehr gibt.« – »So soll ich meinen letzten Freund verlieren?« – »Freund!« Wieder hatte er sein altes, zynisches Lächeln. »Möchtest du niemals wieder in deinem Leben ähnliche Freunde finden. Aber du brauchst ja keinen Freund, du bist frei geworden, und das Leben, die Glut seiner Sansara, das Yoshiwara deiner Erkenntnis, daß nur in der Freude und in der Betätigung aller Sinne Zweck und Ziel des Lebens liegen, die haben dich befreit von den Banden der Dumpfheit, der Feigheit und der Konvention. Du bist groß geworden, Indra, du brauchst keinen Freund mehr.« – Große Tränen tropften aus ihren Augen, sie dachte an die offene Wunde ihrer Seele, an die verflogenen, toten Schmetterlinge all ihrer Hoffnungen, und daß sie Guy niemals wiedersehen würde, niemals. »Ich brauche keinen Freund,« erwiderte sie tonlos.
Es war kühl und feucht. Wolken standen am Himmel. Dennoch aber stieg drüben blutrot der Mond empor. Wie manches Mal hatte sie ihn schon mit dem Mann an ihrer Seite heraufsteigen sehen. Wie manches Mal! Niemals aber war ihr das Leben so traurig erschienen wie heute, wie jetzt. Alle Ufer, alle Ghats lagen verödet. Wo bei Tagesanbruch ein so tolles Leben gepulst und gebraust, lagerte jetzt das große Schweigen. Nur vom »burning Ghat« herüber (der Verbrennungsstätte) kam ein leicht brenzlicher Geruch, kräuselte und schwelte ein leiser Hauch, die letzten Zuckungen aus den Scheiterhaufen. – Indra fröstelte es in ihrem leichten Kimono. Er sah es und hing ihr seinen Mantel über die Schultern. »Die Liebe zu dir wird mir vielleicht das Nirwana erkaufen,« sprach er leise, »daß ich endlich Frieden finde.« Sie schwiegen beide. Etwas Weißes kam herangeschwommen. Sie hielt es für eine Blume und haschte danach, ließ es aber gleich mit einem Aufschrei wieder los. – »Was war das?« – »Ein Kinderhändchen,« sprach sie schaudernd, – »Da sind die Glücklichen,« sagte Boris, »deren Leichen unverbrannt in den Strom geworfen werden, die Priester und die Kinder unter vier Jahren. Fische und Vögel wollen doch auch ihr Recht. Aber die Aasgeyer haben diesen fetten Brocken übersehen, du hast sie nun darauf aufmerksam gemacht.« – »Wie traurig ist doch die Welt, die ich zu einem großen Freudenhaus des Lebens, mit ehrlichen Sinnen und lehrlichen Lüsten, umwandeln möchte. Wie tief traurig ist sie doch im letzten Grunde.« – »Dort liegt der Affentempel,« sprach jetzt Boris. »Hörst du ihr lautes Geschrei? Das ganze Leben ist am Ende doch nur eine Affenkomödie. Hier ist ein Brief an dich, mein Vermächtnis. Das ganze Bekenntnis meiner Schuld dir gegenüber, und ein schwacher Versuch der Sühne. Du sollst ihn erst nach meinem Tode öffnen. Man wird dir Kunde geben. Du brauchst ja nun nicht mehr meine Schicksalsbegleitung, dich einst von hier fortzuführen. Du wirst im Hindukollege, im Asyl des Friedens, bleiben.« – Indra nickte stumm und unterdrückte einen Seufzer. – »So leb denn wohl, du einzige Frau, die ich je geliebt. Warum durfte ich dich nicht früher finden?« Er drückte einen Kuß auf ihre Stirn. Indra schwieg in tiefer Bewegung. Der Mond strahlte jetzt leuchtend klar über die beiden und verwandelte die Welt umher in flüssiges Silber.
Brostoczicz geleitete Indra stumm an die Pforte ihres »Klosters«.
Und nun war sie bei Annie Besant, der Vielgerühmten, Vielgeliebten, Vielgeschmähten. Sie war nur im äußersten Schatten ihrer starken Persönlichkeit, ein kleines, neues Nichts, das die große Frau kaum bemerkte. Desto mehr bemerkte Indra alles um sich her. Mrs. Higgins hatte ihrem Schützling eine kleine Kammer in ihrer Nähe, in einem der Nebengebäude des Riesenpalastes eines Maharadja, in dem das Hindukollege sein Asyl gefunden, überlassen und eingeräumt. Die dreihundert Zöglinge, zum großen Teil aus den vornehmsten Hindufamilien stammend, wohnten, schliefen, lernten und aßen alle im Hauptgebäude.
So hatte Indra nach mehr als zwei Jahren Kopfpolster, wieder ein europäisches Bett, was ihr allein schon wie ein ungewohnter Luxus vorkam. Auch stand neben ihrem kleinen Fenster, das in die Tropendickichte des Parks schaute, ein viereckiger Tisch mit Schreibzeug. Ihr war’s nach den tausend bunten Eindrücken der letzten Jahre, als könne sie sich hier zum erstenmal wieder auf sich selbst besinnen. Mrs. Higgins hatte ihr drei von den peplumartigen Phantasiekleidern, die die lehrenden Damen am Hindukollege zu tragen pflegen, gegeben. Es war ein Gemisch von Griechisch und Altindisch, mit schönem Faltenwurf, einfach und geschmackvoll. Sie erhielt ein weißes aus byssusartigem Stoff, das sie sich selber zu reinigen hatte, ein graues und ein gelbes. Als Mantel wurde darüber, an kühlen Tagen, ein togaartiges Rad geworfen. Die peplumartigen Kleider waren an den Schultern mit Spangen gehalten. Es war ein Gewand wie geschaffen (darum schuf sie es) für die königliche Gestalt der Annie Besant. Aber es stand auch Indra ausgezeichnet. Sie sah so rein und keusch darin aus, und man dachte sich unwillkürlich eine griechische Amphora dazu, um das Bild zu vollenden. Einstweilen sollte sie sich unter Mrs. Higgins’ Aufsicht in die Lehren der neuen oder doch rekonstruierten und komprimierten Religion vertiefen und am Nachmittag in dem runden Saal der Dependenz ein Duzend kleiner Hinduknaben und -mädchen beaufsichtigen. Die Mahlzeiten nahm sie mit den anderen Damen, ganz am untersten Ende sitzend. Mrs. Besant speiste allein, und niemand durfte sie bei ihrem Mahle stören. Die englischen Professoren saßen mit ihren Zöglingen in langen Reihen im Speisesaal des Hauptpalastes. Es war auch eine große Anzahl von externen Schülern im Kollege. Indra kam sich vor, als hätte nach einem wilden Sturm, in dem ihr alle Sinne zu schwinden drohten, eine hohe Welle sie plötzlich auf eine Sandbank gespien. Nun saß sie da, – um sich das Nichts, – und hatte sich aus diesem Nichts erst wieder neue Welten zu gründen, wenn anders sie dieses neue Leben ertragen sollte. Doch das sagt sich so leichthin, es erträgt sich so vieles. Vorläufig aber schien ihr dieses ganze Leben von einer ungeheuren Öde. Boris hatte gut sagen, sie sei stark. Sie war wohl stark im Sturm, aber da die Windstille eintrat, brach sie zusammen. Sie konnte sich kaum an Momente gleicher seelischer Depression erinnern, nicht einmal in der Pension Vais, wo sie, wie eine Pallas Athene, ihr Hausdamenschild jederzeit kampfbereit der Außenwelt entgegenzuhalten hatte. Sie hatte wenig zu tun, und diese Ruhe, dies ewige Nachdenken über sich selber und ihr Geschick brachten sie zur Verzweiflung. Sie hatte die wildesten, gefährlichsten Lebensmeere durchschifft, ohne doch ihre große Gefahr voll erkannt zu haben. Jetzt aber kam sie sich vor wie der Reiter über dem Bodensee, der den ungeheuren Abgrund, den er durchmessen, erst nachträglich begreift. Und der Schreck warf sie darnieder. Jetzt erst begriff sie vollständig den Kot der Pension Vais. Einzelne Äußerungen von Ella und Bella und von Margot fielen ihr wieder ein und ließen sie erschaudern. Das war ja alles nicht halb so schlimm gewesen in Number nine und gar erst in Yoshiwara.
An Yoshiwara hatte sie eine beinahe freundliche Erinnerung, wäre nur das tödliche, vergebene Warten nicht gewesen. Aber ihr neuer Lebensumschwung kam so schnell, daß sie sich dessen erst voll bewußt wurde, als sie mit hartem Anprall auf der Sandbank der ruhigen, ereignislosen Gegenwart auflag. Nein, ein Ereignis sollte doch heut’ stattfinden. Annie Besant, die zu Vorträgen in Madras gewesen, ward heute zurückerwartet und sollte ein paar Besucher empfangen. Die warteten schon über zwei Stunden in der Dependenz. Endlich erschien sie aus der tiefsten Tiefe des Gartens, mit ihrem Gefolge heraufschreitend. Wie eine Kleopatra oder Königin von Saba, mußte Indra denken. Die hohe Gestalt in der antiken Gewandung, mit dem weißen Lockenhaupt und den blitzenden, dunklen Augen, stützte sich leicht auf einen Sklaven, hätte Indra beinahe gesagt, der einen bunten japanischen Schirm über ihr aufgespannt hielt. Ein zweiter Diener ging daneben und trug einige dickleibige Bücher; ein dritter trug die Schleppe ihrer Toga. So trat sie in den Saal. Die Fremden verbeugten sich bis zum Boden, und sie ließ sich, alle stehend, mit ihnen in eine kurze Konversation ein. Dann lud sie sie mit königlicher Handbewegung ein, sich von ihr den Park und ihre Tiere zeigen zu lassen. Sie wünschte einen Inspektionsgang nach ihrer Reise und glaubte, hierbei störten sie die sichtlich imponierten Fremden am wenigsten.
Indra bewunderte ihr Organisations- und Dispositionstalent, überhaupt die ganze große Frau. Sie sah die Gesellschaft, Annie Besant und Trabanten, in der Tiefe des Parks zu den Rehen gehen, dann zu den Gazellen, dem weißen Esel, dann zu den Goldfasanen und Pfauen. Sie liebte all diese ihre Tiere aufs Zärtlichste und verlangte mehr nach einem Wiedersehen mit ihnen als nach dem ganzen Hindukollege. Gesprochen hatte Mrs. Besant noch nicht mit Indra, doch sie sah sie im Vorbeigehen immer so forschend an, als wolle sie sie auf Herz und Nieren prüfen.
Und so vergingen die Tage und die Wochen in stillem Gleichmaß. Der tötenden Hitze war eine kühlere Periode gefolgt, Weihnachten kam und ging unbeachtet vorüber, doch das Fest des Ganesha war ein Ereignis, auch im Hindukollege. Da wurden (auch eine Mischung von Brahmanentum und Buddhismus) vom Küchenchef Hekatomben von kleinen, elefantenrüßligen Göttern in Butterteig gebacken. Auch Indras Hinduschülerinnen (in ihrer Kleinkinderbewahranstalt, wie sie es nannte) erhielten jede einen kleinen und einen großen Ganesha.
Auch das ganze Personal ward mit den süßen Elefantenrüsseln bedacht. Und Tage und Wochen kamen und vergingen. Es wurde wieder heiß, das nannte man hier Frühling. Es kamen auch oft Touristen, die große Annie Besant zu besuchen, aber es kam niemand, der nach Indra fragte. Eine unendliche Müdigkeit und Öde hatte sie befallen. Wozu hatte ihr das Leben all diese namenlosen Kämpfe und Gefahren geschickt, um sie nachher auf einer Sandbank der Ereignislosigkeit vermodern zu lassen? Sie fühlte sich noch zu jung für den Frieden des Hindukollege und den Frieden der Resignation. Sie wollte leben, kämpfen.
Mrs. Higgins war einigermaßen von Indra enttäuscht, sie kam ihr matt und schlaff vor, lahm in ihrem »Glauben« und in der Anbetung ihres Ideals. Freilich, man konnte ihr nichts vorwerfen. Sie tat ihre Pflicht im stillen. Aber es war, als wäre die Elastizität aus ihrem Wesen gewichen, als wenn eine tiefe Melancholie sie überschatte.
Sie hatte angefangen an dem Buch, zu dem Boris sie ermutigt, einer Art Aufruf an alle, sich aus einem öden Jammertal ein selbsterobertes Yoshiwara zu gestalten. Sie wollte beweisen, daß die große, starke, elementare Sinnlichkeit in jedem wahren, lebenglühenden Kunstwerk enthalten sei! Das brauchte sie zwar kaum zu beweisen, dies Faktum, das so alt ist wie die Welt und seit das erste Kunstwerk geschaffen ward. Aber es fehlte ihr plötzlich die Kraft, es glaubhaft, überzeugend auszudrücken. – Sie fühlte sich selber so matt – fast verschmachtend auf dieser Sandbank des Friedens.
Und so vergingen die Tage, die Wochen, die Monate immer in gleichem Schritt. Indra hatte fast vergessen, wie lange sie im Hindukollege weilte. Waren es zwei Jahre oder zwei Jahrzehnte?
Eines Tages erhielt sie einen schwarzgerandeten Brief. Wer wußte denn ihren Aufenthalt hier, wer konnte ihr denn schreiben? Es war nicht Guys Handschrift, aber doch – wenn ihm etwas zugestoßen wäre. – Zitternd öffnete sie.
»Gott dem Allmächtigen hat es gefallen, unsern Sohn und Bruder, Onkel und Neffen, Otto Boris Brostoczicz in jähem Tod in fernen Landen plötzlich zu sich zu nehmen. Friede seiner Asche.
Im Namen aller Hinterbliebenen
Otto Kasimir Brostoczicz,
Rittergutsbesitzer und Rittmeister a.D.
Steglitz-Berlin, Juli 1913.
Lange starrte sie aus die Anzeige mit dem fingerbreiten, schwarzen Rand. Die Konvention hatte ihn wieder eingefangen und die Familie, nach dem Tod, den Outsider des Lebens, den Glücksritter, den Abenteurer. – Und dennoch – »Friede seiner Asche«. Sein Empfinden ihr gegenüber war echt gewesen. Aber nun wollte sie seine Abschiedszeilen lesen. Sie holte den versiegelten, schon ganz vergilbten Brief aus seinem Schubfach. Ein steifes Blatt fiel ihr entgegen und ein paar ganz eng beschriebene, dünne Blätter.
Testament.
Ich setze mit diesem Indra Versen, z.Z. wohnhaft im Hindukollege in Benares, zu meiner Universalerbin ein für mein beim Credit Lyonnais in Paris in sicheren Papieren lagerndes Gesamtvermögen von 800 000 Francs.
Boris Brostoczicz.
Benares 1911.
(Und Stempel verschiedener Gerichte.)
Sie starrte darauf in tiefem Sinnen.
Dann entfaltete sie die Briefblätter.
»Wenn Du dies liest, kann ich nicht mehr in Deine Augen sehen, um darin zu lesen, ob Du verzeihen kannst, was ich Dir getan. Als ich Dich in Berlin im Frauencoupé dritter Klasse entdeckte, sagte ich mir, dies Mädchen muß ich einfangen, wie schon vor ihr so viele. Ich war einer der berüchtigsten Mädchenhändler, und Christa Toussaint war meine Komplize. Als ich Deinen Namen hörte, und daß du nach Tunis zu Frau Meranow führest, war mein Entschluß gefaßt. Ich ließ Dich nicht mehr aus den Fingern, bestieg das Schiff nach Alexandria mit Dir, – In Alexandria (nicht in Tunis) kam Frau Toussaint als Botin der verstorbenen Frau Meranow (die wahrscheinlich heute noch in Tunis lebt), und wir führten Dich zu unserer Hehlerin, Madame Vais. Da ich aber stets vor Entdeckung zitterte, – man war mir hart auf den Fersen, – brachte ich dich bald nach Number nine und dann nach Yoshiwara. – Deine sämtlichen Briefe an Deine Mutter, außer der ersten Karte, die Du mich in den Kasten werfen sahst, sind niemals befördert worden. Das ist die nackte Wahrheit. Wenn es eine Sühne gibt für solches Tun – meine wahre Liebe zu dir und das Bewußtsein meiner Schuld, das mich wie ein Fegefeuer umglüht und in den Tod treibt! Vielleicht nützt das Geld, das meine Sünden Dir hinterlassen, der Sache der Yoshiwaraidee des irdischen Freudenhauses in diesem Jammertal, der echten, wahren, reinen Sinnenfreude, die die Lüge und heimliche Schande hinaustreibt und an Ihre Stelle die Schönheit, die Freiheit und die Größe setzt – dann habe ich trotz allem nicht umsonst gelebt. Der, der Dich mehr geliebt als sein Leben und seine Sünden
Boris.
Wie lange Indra so gesessen, sie wußte es nicht. Man rief sie hinunter zu ihren Hindukindern. Wie im Traum nur gab sie sich mit ihnen ab, spielte mit ihnen, beschäftigte sie.
Am Abend ging sie lange ruhelos im Park auf und ab. Sie sah Annie Besant mit dem Hinduknaben promenieren, den sie für die Reinkarnation des Buddha hielt, und der demnächst von ihr nach Oxford gebracht werden sollte. Ein jeder höhere Mensch hat doch eine Lebensidee, oder wie der Unbeteiligte vielleicht sagen würde, eine »fixe Idee«, und findet sein Glück in deren Betätigung. Indras Glück würde nun sein, die Heimlichkeit und die Lüge zu bekämpfen und den Augiasstall der heimlichen, bösen Lüste auszukehren. Mit Wort und Tat! Tausend Pläne kamen in ihre Seele. Und dann überfiel sie ein großes Zittern. Jetzt wußte sie, woher ihr diese Frische und diese Stärke kam. Die offene, die fressende Wunde in ihrer Seele hatte sich geschlossen, ihre Mutter hatte sie nicht verstoßen! Plötzlich aber befiel sie wie ein ungeheurer Berg all die Todesangst, die die Ärmste in fast fünf Jahren namenloser Qualen und Ängste, dem Furchtbaren, dem Unbegreiflichen gegenüber, dem spurlosen Verschwinden ihrer Tochter, hatte aushalten müssen. Ein jeder Tag, den sie vergebens wartete, wie ein Jahr voll Sehnsucht! Ach, Indra wußte, was Warten, was vergebliches Warten heißt! – Sie wollte ihr gleich telegraphieren – nein, der freudige Schreck konnte die Ärmste töten. Sie mußte selber hinüberfahren, sobald sie nur irgend Geld flüssig machen konnte. Es war rasch dunkel geworden. Die Leuchtkäfer umglühten sie zu Tausenden. Von drüben, aus der »black town«, kamen Tambourin- und Zymbalklänge. Niemals mehr war sie drüben gewesen, seit Boris ihr den indischen Kult gezeigt hatte. Es kam ihr plötzlich vor, als ob sie die letzten zwei Jahre umsonst gelebt hätte. Nein, hier war nicht der rechte Ort für sie. Sie mußte wieder hinaus ins Leben, sich ihren vollen Kräften entsprechend zu betätigen.
Sie wollte Mrs. Higgins aufsuchen, um ihr alles Jüngsterlebte zu berichten. Doch diese war »im Dienst« bei Annie Besant. Beim Dinner war sie auch nicht anwesend. Indra mußte sich also bis zum nächsten Morgen gedulden, so schwer ihr das auch fiel. Vor dem Einschlafen konnte sie zum ersten Male wieder ohne brennendes Weh an ihre Mutter denken. Es fiel ihr ein, wie sie allabendlich mit ihr und mit ihren toten Geschwistern gebetet hatte:
»Kranken Herzen sende Ruh,
müde Augen schließe zu.
Vater, laß die Augen dein,
über unsern Betten sein!«
Und dann kam der Vater und legte noch jedem der Kinder eine Rosenknospe aufs Bett. Und sie hielt sie in den Händen und roch sich daran in den Schlaf. Die ganze Nacht träumte sie von ihrer Kindheit und fragte sich beim Aufwachen verwundert, wo sie eigentlich sei. Endlich konnte sie in der Frühe Mrs. Higgins ihr Herz ausschütten. Doch diese schaute sie immer befremdeter an. »Kind, Kind, Sie wollen wirklich fort. Sie können das übers Herz bringen, nachdem Sie seit über zwei Jahren in die wunderbaren Tiefen, in die unergründlichen Schönheiten unseres Glaubens eindringen? In die Abgründe unserer Weisheit gestiegen sind? Und nachdem Sie die Reinkarnation Buddhas täglich vor Augen haben und wert befunden worden sind, seine Entwicklung zu beobachten, ihn sich entfalten zu sehen? Es ist mir geradezu unfaßlich, wie ein fühlender Mensch, ein Weib mit Verstand und Herz, sich dem gegenüber verschließen kann. Sie haben mich ungeheuer enttäuscht.« – Indra sah ihr ganz erstaunt in die fast fanatisch blickenden Augen. Da lebte sie nun zwei Jahre ganz dicht neben einer Fremden und hatte doch geglaubt, Teilnahme und Verständnis gefunden zu haben. Aber die galten ja niemals ihrer Person, sie galten einzig nur der neuen Jüngerin für den neuen, purifizierten und modernisierten Buddhismus. Sie fühlte sich plötzlich so allein – aber da kam eine warme Welle über eine vernarbte Wunde – ihre Mutter hatte sie nicht vergessen und verstoßen! »Ich will zu meiner Mutter zurück,« sagte sie. »Und was machen Sie mit dem vielen Geld? Das wenigstens können Sie doch zum Zweck der Propaganda für unsere gute Sache anwenden.«
Indra war innerlich empört. »Ich fühle, daß ich es dem Andenken von Herrn Brostoczicz schuldig bin, das Geld in seinem Sinne zu gebrauchen.« – »Wie Sie wollen,« sagte Mrs. Higgins ganz kalt, »ich werde eine Aufstellung machen von dem, was Sie uns schuldig sind. Nachdem Sie mir einen Scheck darüber ausgestellt, bin ich gerne bereit, Ihnen Reisegeld vorzuschießen.« Um eben dieses hatte Indra bitten wollen, daß es aber so gewährt wurde, so – das tat ihr bitter weh. Nein, sie hatte niemand mehr hier, niemand. Sie wollte zu ihrer Mutter – so rasch als möglich. In tiefes Sinnen verloren, schritt sie durch den Park. Nun war kein Boris mehr, der sie als dunkler Wanderer zu dieser neuen Etappe ihres Schicksals führen konnte. In ihrer Zerstreuung rannte sie an einen Herrn, wohl an einen der Lehrer. – »Pardon,« sagte sie. – »Indra,« klang es da in einem Ton so voll jauchzender Seligkeit. – »Guy« – sie sprach es ganz still an seiner Brust. Und dann waren sie beide still, standen nur fest umschlungen im Schatten der Mangobäume. Die roten Hibiskusblüten rieselten zu ihren Füßen.
Sie hatten Welt und Zeit vergessen. – »Indra,« sagte dann Guy leise, »ich bin gekommen, dir zu sagen, daß alles so werden soll, wie du es haben willst. – Ich hätte dir das schon vor zwei Jahren sagen können, aber ich halbe dich gesucht, gesucht in aller Welt vergebens. Ich fürchtete schon, du seist tot.« – »Wir wollen uns das alles später erzählen, mein Geliebter, jetzt brennt mir der Boden schon unter den Füßen. Erwarte mich zum Abend in Jacksons Hotel. Wenn ich nicht fertig werde, dann komme ich morgen früh. Jetzt will ich erst hier meine Pflichten abwickeln.«
Guy antwortete nicht viel. Er sah sie nur immerzu strahlend an. Dann schritt er zur Pforte. Wie groß er war, wie elastisch er ging. Das war ihr Geliebter, ihr Herr und Meister, das Alpha und Omega ihres Lebens. Nun würde eine neue Phase für sie beginnen – nun wollte sie mit ihm das Leben gestalten zu einem freien, großen Yoshiwara, einem Freudenhause des Glücks und aller besten Lebensgüter.
Bald hatte sie ihr Bündel geschnürt. Sie war so wenig hier eingewurzelt, daß sie sich selbst darüber wunderte. Mrs. Higgins schrieb sie den Scheck in der von ihr gewünschten, nicht unbeträchtlichen Höhe, und diese ward danach sehr freundlich gegen Indra. Der Abschied von Annie Besant war sehr kühl. Ein so unendliches Befremden lag in deren Augen, daß man freiwillig von ihr und vom Hindukollege scheiden könne. Fast als geschähe ihr selber damit eine tödliche Beleidigung.
Es war noch nicht völlig dunkel, als Indra mit einem kleinen Bündel am Arm aus dem Schatten des Parkes, der ihr zwei Jahre lang ein Asyl geboten, heraustrat auf die Landstraße. Sie fand Guy dort schon ihrer wartend – seit Stunden. Sie waren noch immer beide wie sprachlos. »Und zu fühlen, Guy, daß, wärst du nur einen Tag später gekommen, du mich für immer verfehlt hättest,« sagte sie dann.
Das Grausen schüttelte ihn förmlich.
Sie fuhren noch am gleichen Abend nach Kalkutta. Nachdem sich Indra dort wieder mit europäischer Kleidung ausgerüstet und einen langen, ausführlichen Brief an ihre Mutter geschrieben, indem sie ihren und Guys demnächstigen Besuch ankündigte, den sie diesmal selber in den Kasten warf, obgleich es gerade diesmal nicht nötig gewesen wäre, fuhren sie mit dem nächsten Dampfer nach Ceylon, um dort erst eine Weile ganz sich selbst und ihrem Glück zu leben, wie Indra es sich dereinst gewünscht hatte.
Wieviel hatten sie sich zu sagen. Wie unendlich viel! Aber nach sechs Wochen hatten sie sich noch nicht den hundertsten Teil von dem gesagt, was sie sich zu sagen hatten, und sie fühlten auch immer deutlicher, daß dazu ihr ganzes Leben nicht ausreichen würde.
In Yoshiwara war bald nach Indras Fortgang eine furchtbare Feuersbrunst ausgebrochen, bei der viele Courtisanen und der Manager von Indras Hause ums Leben kamen. Als Guy bald darauf in Tokio eintraf und in Yoshiwara nachfragte (er war vorher erst durch Seemanöver, dann durch ein langwieriges Fieber davon abgehalten, früher zu kommen), nachdem er Indra vergebens in Number nine gesucht, glaubte er nicht anders, da sich einige der Mädchen in Yoshiwara erinnerten, daß eine schöne Shiragiku dort gewesen, deren Beschreibung auf Indra zu passen schien, als daß sie mit vielen anderen jämmerlich im Feuer verbrannt sei. Dennoch – etwas in seinem Innern sprach immerzu: »Sie lebt, sie wartet auf dich, du mußt sie suchen.«
So suchte er denn in allen Yoshiwaras von ganz Japan. Er war um seinen Abschied eingekommen, um sich ganz dem Suchen seiner verschwundenen Liebe zu widmen. – Endlich, in Osaka war’s, in der berühmten Theaterstraße (das erfuhr er erst vor zwei Monaten), sagte ihm eine Geisha, es sei kurz vor dem Brande eines der Mädchen von Tokios Yoshiwara mit einer englischen Dame nach Benares gegangen. Er machte er sich denn nach Benares auf. Aber es waren schon zwei Jahre, daß er sie vergebens suchte, er hatte keine Hoffnung mehr. Er fuhr nur hin, um sich selber sagen zu können, daß er nichts, aber auch gar nichts unversucht gelassen habe.
So kam er und so fand er sie, und so hielten sie sich – bis zum Tod. Das sagte er ihr in den Palmenwäldern um das Resthouse von Matare, das durch Ernst Haeckels Aufenthalt berühmt gemacht ist. – Und das sagte sie ihm in Banderavella angesichts der herrlichen Berglinien, und das sagten sie sich beide auf dem Adams Peak und auf dem Weg durch die blühenden Rhododendronwälder von Pietrogalla. Das sagten sie sich auch, als sie bei Vollmondschein vor dem zweitausendjährigen Botree standen, dem Ableger vom Baume Buddhas, von dem ihr Boris in Sarnath bei Benares erzählt. Wie sie beide miteinander die Schönheit und die Größe der Welt genossen und verstanden! Nur über eines waren sie sich noch nicht ganz klar, wie sie das Legat von Boris im reinsten Sinn für das große Yoshiwara des Lebens verwenden sollten. Für sich selber nahmen sie nichts davon, Guy war ja völlig unabhängig. Ob sie ein Spital gründen sollten oder eine Schule, das erwogen sie täglich – oder gar beides. An einem großen Buch aber schreibt Indra über den Mut zur Wahrheit und über die Schönheit der Sinne, die erst dann sich voll und ganz entfalten können, wenn sie Hand in Hand mit der Seele gehen. Aber auch ohne diese nicht unbedingt im Schlamm und Schmiß zu ersticken brauchen wie jetzt in Europa, sondern daß auch sie in reinen, lichten Flammen brennen können, denn sie sind, Sinne und Seele, beide köstliche Gottesgaben.
Und wenn der Occident vom Orient seine Unbefangenheit und Vorurteilslosigkeit lernt, dann wird das Hetärentum der Zukunft eine neue Aspasia gebären.
Dann wird das neue »Yoshiwara« nur Freuden bringen, die im Lichte der Wahrheit blühen, und die Menschen lebenstüchtig und froh machen, aller Heuchelei und Lüge feind.
Aber jedes Liebespaar, das sich mit Sinnen und Seele liebt, wird so glücklich werben wie Guy und Indra.