Rudolf Presber
Die Hexe von Endor
Rudolf Presber

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In einem armseligen kleinen Café in der Kochstraße saß Klara, die leere Tasse und den angeschlagenen Teller mit Kuchenkrümeln vor sich.

Welch ein zermürbender, eine Enttäuschung an die andere reihender Vormittag war das gewesen! Triebartig und doch wieder einen Entschluß der schlaflosen Nacht erfüllend, war sie zunächst nach der elterlichen Wohnung gelaufen. Wie ein gehetztes Tier. An der gottlob leeren Portierloge vorbei, die Stiege hinauf und schon mit der staubigen Luft des Treppenhauses die Atmosphäre einatmend von Not, Streit und Verstimmung, die sie da oben erwartete – und doch wie auf der Jagd nach einer Geborgenheit.

Erschreckt von dem schrillen Ton der oft gehörten Klingel, stand sie atemlos an der Entreetür – klingelte sich um ihre letzte Ruhe.

Immer größer wurde das Heimweh. Immer heftiger ihr Verlangen, wieder einen Blick werfen zu dürfen in die Dürftigkeit dieser Verhältnisse, zu denen sie gehörte. Auf diese alten, abgenutzten Möbel, zwischen denen sie als Kind gespielt; auf diese Bilder, deren Figuren und Vorgänge ihrem kindlichen Verständnis noch die nie ermüdende Geduld der guten Mutter erläutert hatte.

Und wieder klingelte sie. Der Gedanke, daß Melusine erscheinen könnte in einem ihrer auffallenden Kimonos, die, für den Reiz junger, biegsamer Geschöpfe geschaffen, ihrem dicken Körper sehr übel standen, quälte sie. Aber vielleicht – vielleicht hatte sie endlich einmal Glück, vielleicht kam auch der Vater zu öffnen oder kam das Hugochen als erster herangetrippelt und rief, das Köpfchen neugierig, wichtig, ängstlich an das Holz der Tür klebend: »Ist jemand da draußen?«

Aber niemand kam zu öffnen. Alles blieb totenstill da drin.

Schließlich, gerade als Klara, schon überzeugt, daß niemand zu Hause sei, die Treppe wieder hinuntergehen wollte – das Klappern ausgetretener Schlappen, das von oben kam. Sie kannte es, dieses Klappern. Die Portierfrau kam vom Boden, wo sie jeden Morgen um diese Zeit die in der Nacht restlos getane Arbeit von Wäschedieben erwartete und noch nie einen gefunden hatte. Die Portierfrau, die immer in den fleischigen Ohren Wattebäusche trug, die sie bei den Besprechungen mit Bekannten umständlich aus den Ohren schälte und während des Gesprächs links und rechts wie schwere, wertvolle Gegenstände balancierend vom Körper weghielt, erkannte Klara sofort. Sie entfernte alsogleich die Wattebäusche aus den Gehörgängen und äußerte mit Erstaunen: »Na, auch mal wieder präsent das Fräulein Klara? Niemand zu Hause, was? Tja, der Untermieter is schon ganz früh heute losgezogen –«

»Haben die – hat mein Vater jetzt einen Untermieter?«

»Ja – schläft in Fräuleins Bett. Na, es rechnete doch keen Mensch mehr damit, daß Sie wiederkommen. Und een Bett is Geld heutzutage.«

»Und mein Vater –?«

»Vor 'ner Viertelstunde, gerad' als ich mein Fenster nach der Straße polierte, is er mit dem Kleenen vorbeigegangen – fein wie zum Sonntag angezogen.«

»Mit dem Hugochen?«

»Natürlich. Eenen dazu hat er nich jekriegt, seit Sie weg sind.«

»Geht's ihm gut, dem lieben Bübchen?«

»Na – gut?« Die Portierfrau zog die spitzen Schultern hoch und schickte einen Blick gen Himmel. »Zum Totlachen hat er's ja nu nich – das wissen Sie ja auch. Und seit Sie weg sind . . .«

Ein Stich, wie von feiner, schmaler Klinge geführt, fuhr Klara ins Herz. Hätte sie ausharren sollen, damals? Sich demütigen um des Kindes willen, das mit traurigen Augen bettelte: »Bleib!«

»Meine – die Frau meines Vaters ist wohl noch oben und schläft –?«

»Iwo, die is abjeholt worden – gestern gegen Abend. Tja – von einem feinen Herrn –« die Portierfrau sonnte sich in Wissen und Diskretion – »das heißt, so arg fein war er schließlich gar nicht . . . Aber er hat auf sie gewartet oben – mit dem Hugochen allein, wohl eine ganze Stunde. Und als sie dann kam . . . Na, da sind sie ganz bald zusammen –«

»Und das Hugochen –?«

»Das haben se, scheint's, bei der Partie nich brauchen können. Das Hugochen haben se oben bei die Schwester von Frau Schumann abgegeben, bis daß der olle Herr nach Haus gekommen is.«

»Und sie – ich meine Frau Kern-Möller – ist nicht wiedergekommen?«

»Bis jetzt nich.«

»Sie wird doch nicht – Frau Pönske, sie wird doch nicht –?«

»Was fragen Sie mir – und was quetschen Sie mir den Arm? Ich bin doch wahrhaftig nicht der Kern-Möller ihre Vertraute. Gott sei Dank! Übrigens – Ihnen gesagt, Fräuleinchen, so wie ein Bräutigam oder 'n Freier hat der nicht ausgesehen. So eener mit Blümekens und Bonbons und in der Westentasche zwee Billetter nach Italiken – nee, nee, so nich!«

Als Klara schon in einer unendlichen Traurigkeit die Treppe hinunterging, rief ihr Frau Pönske, deren Stimme zwischen Wispern und Schreien keinen Mittelton kannte, überlaut nach: »Soll ich ihm etwas bestellen, wenn der Herr Vater nach Hause kommt?«

»Nein, danke.«

»Bloß, daß Sie dajewesen sind?«

»Bloß das. Und ich lasse grüßen.«

Dann hatte sich Klara eilig ihren Pflichtgängen zugewandt. Es war wirklich besser – tröstete sie sich über die schmerzliche Enttäuschung – besser, daß sie sich hier erst wieder zeigte, wenn sie eine feste Stellung gefunden hatte. Irgendeine feste Stellung, gleichviel wo und was – nur ein Auskommen mit Brot und Bett und die bescheidene Freiheit nach getaner harter Arbeit, vor der sie sich nicht scheute.

Und jetzt, nachdem sie fünf volle Stunden diesen schrecklichen Gängen über schmierige Höfe und abscheuliche Hintertreppen, in Dachstuben und Keller geopfert hatte, saß sie hier in dem kleinen Café. Erst jetzt mit Bewußtsein deklassiert, ermüdet, angeekelt.

Mit schweren, heißen Augen überflog sie die kleinen Anzeigen in den Zeitungen, die sie sich am Morgen gekauft hatte. Den ganzen Vormittag war sie herumgelaufen im Westen, Nord-Westen, Süd-Westen, sich anzubieten für irgendeine tragbare Arbeit, für irgendeine offene Stelle. Jede Art der Demütigung hatte sie in diesen fünf Stunden eingesteckt.

Wo Werbedamen mit einem »Gewinn von achtzig bis hundert Mark die Woche« verlangt wurden, standen, aufgeputzt mit ihrem Besten, die Mädchen und Frauen Schlange. Zwischen verarmten Witwen, halb verhungerten alten Fräulein, dürftig auf Schick zurechtgemachten kleinen Beamtentöchtern, müden Müttern, die ein leise weinendes Kind an der Hand hatten, geschminkte Nutten mit den frechen Gesichtern der nächtlichen Straße und schrecklich parfümierte Damen, denen der Liebesmarkt der Weltstadt nichts mehr abwarf. An die kleinen Trupps der in das muffige, düstere Büro Eingelassenen die erste Frage: »Können Sie Kaution für die in Kommission übergebenen Waren stellen? Es handelt sich um Halbedelsteinschmuck und letzte Pariser Neuheiten. Dreißig Mark wären als Minimum nötig.« Einige quittierten mit einem Hohnlachen, andere schimpften ruppig mit den niedrigsten Ausdrücken der Gasse. Die Mütter mit den Kindern drückten sich ganz still hinaus, unter ihnen Klara, über eine andere Treppe, die keine Verbindung hatte mit dem Zustrom der Reflektantinnen. Ein paar nur waren – von den enttäuscht Abziehenden nicht gerade beneidenswert kommentiert – nach einem Hinterzimmerchen durchgelassen worden, wo ein dürrer, alter Mann mit dem kahlgerupften Kopf eines Lämmergeiers bei einer grünen Lampe saß und schrieb . . . Dann wieder die angebotene »Heimarbeit«. Ob sie eine Maschine habe? Nein. Erledigt. An anderer Stelle bei einer wie ein Schlittenpferd aufgetakelten Person, die – es fehlte nur noch die Peitsche – auf einem hohen Stuhl wie eine Sklavenhalterin unter ihren anderthalb Dutzend weiblichen Arbeiterinnen thronte, die teilnahmlos und ohne aufzusehen nähten, nähten, nähten. »Zeugnisse?« – Nein. – Ja, Nähfräulein konnte sie werden. Jahresvertrag – sechs Monate dreißig Mark zuzahlen als Lehrgeld; sechs Monate fünfzehn Mark. Nach einem Jahr Anfangsgehalt von dreißig Mark . . . Alles unmöglich! . . . Als Jungfer bei einer Gräfin, der sie gefiel – die längst geschiedene Gräfin ihr weniger – scheiterte die Sache daran, daß sie weder frisieren noch massieren konnte. Zu frisieren war freilich nicht viel bei den paar Büschel gefärbten Haares, die der Schädel der Gräfin aufwies; zu massieren um so mehr. Aber der Gräfin hatte sie gefallen. Die schickte sie zu einem Bruder, der in der Yorkstraße ein Tanzlehrinstitut »nur für Kavaliere der Gesellschaft« betrieb. Die Eintänzerinnen stellte er. Klara hatte der Gräfin gleich gesagt, daß ihre Tanzkunst das Übliche nicht übersteige. Aber die wehrte ab: sie solle nur nach Monsieur Labaddy selbst fragen und Grüße von der Gräfin bestellen. Klara ging in die Yorkstraße und fragte nach Monsieur Labaddy. Der ließ sie eine Weile in einem kalten, kleinen Tanzsälchen warten, in dem es nach Asche, Weinresten und schlechten Parfüms roch. Dann kam er, mit einer Verschleimung kämpfend, nur mit Sporthemd und karierter Hose bekleidet, direkt aus dem Bett. Er sah aus wie der Zahlkellner eines Nachtlokals, der schlecht geschlafen hat, und roch nach parfümierten Zigaretten. Er ließ Klara einige gleichgültige Pas machen, wozu er lustlos einen Jazz pfiff. Dann sah er näher hin. Sie spürte seine wohlgefälligen Blicke und das beginnende Tändelspiel einer aufdringlichen Geckenhaftigkeit. Er ersuchte sie, erst das rechte, dann das linke Bein auf die vierte Sprosse einer am Fenster lehnenden Stehleiter zu stellen, damit er sich, kräftig zufassend, vom anmutigen Bau der Waden und Schenkel überzeugen könne. Er redete immerzu, warf ein paar Zweideutigkeiten in das Gespräch und entschuldigte sich feixend nach nicht ganz zufälligen Berührungen. Schließlich machte er der schwer Enttäuschten den Vorschlag: kein festes Gehalt, Stellung des Phantasiekostüms, das aber sein Eigentum blieb; vierzig Prozent vom Aufschlag auf jede Flasche Wein, die ihr Kavalier konsumierte – der Aufschlag betrug etwa zweihundert Prozent auf den Einkaufspreis – und fünfzig Prozent auf jede Flasche Champagner; etwaige Geschenke in bar waren zu halbieren. Bindungen an einen bestimmten Kavalier als festes Verhältnis war Entlassungsgrund ohne Kündigung. Das letzte, was der im Schlaf gestörte Herr Labaddy hinter der fluchtartig den abscheulich ungelüfteten kleinen Tanzsaal Verlassenden herrief, war: »Grüßen Sie mir meine Schwester Gräfin – und sie soll mir so keine Grasaffen mehr schicken!«

Dann hatte sie's in einem Vermittlungsbüro versucht. Als Servierfräulein war sie der suchenden Wirtin zu hübsch, empfing hingegen den Antrag eines Barbesitzers für sein Nachtetablissement »Schmetterlingsbar«. Schon glaubte sie, daß diese Stellung erwägenswert sein könnte, als dieser »Herr Direktor«, wie er sich nennen ließ, die reich mit Ringen geschmückte Hand vertraulich auf ihre Hüfte legte und ihr augenzwinkernd bedeutete, daß die Mischung der Getränke bei ihm mit genauer Berücksichtigung des Grades der Trunkenheit seiner Gäste vorgenommen und die hierbei – auch im gesundheitlichen Interesse der Besucher – getätigten Ersparnisse zwischen der Bardame und ihm geteilt würden. Als er noch so beiläufig erwähnte, daß sie nach dem anstrengenden Nachtdienst den ganzen Tag über sich ausschlafen könne und sich nicht davon stören zu lassen brauche, daß das von ihm bewohnte Zimmer keinen eigenen Ausgang habe und er also durch das ihre hindurch müsse, wenn er früher aufgestanden sei als sie, griff sie rasch nach ihren Zeitungen und ihrem Täschchen und entfloh. Schüttelte aus ihren Kleidern den süßlich muffigen Geruch dieses schrecklichen Raumes, in dem die ganzen Wände geziert waren mit Köchinnen im Sonntagsstaat und Hausgehilfinnen, die ihre Stellung gegen eine andere mit weniger Arbeit, mehr Lohn, keinen Kindern und viel freien Nachmittagen zu tauschen bestrebt waren.

Zuletzt mischte sie sich bescheiden in einem anderen Vermittlungsbüro des Südwestens unter das wartende Hauspersonal. Wurde auch von mehreren Damen, denen die gute Erscheinung auffiel, erspäht und um ihre Kenntnisse und Ansprüche befragt. Verblühte und verarmte, geschiedene und berufstätige Frauen suchten da möglichst billige leistungsfähige Hilfskräfte und legten bei den Verhandlungen ihr Bewußtsein, aus besseren Kreisen zu stammen, in jeden Satz ihrer Reden.

Die gelangweilte Gattin eines Prominenten – die fünfte, die der Vielgeliebte glücklich machte – ging, die Lorgnette vor den wie von der Basedowkrankheit vorgetriebenen Augen, umher und suchte eine Jungfer, die perfekt Französisch und etwas Italienisch sprach, da ihr Gatte in Mailand und Rom gastieren wollte und sie ihn – schon aus Angst vor der sechsten – dorthin begleitete. Sie blieb einen Augenblick vor Klara stehen. »Sprechen Sie Französisch?« fragte sie hochmütig und ohne zu verraten, daß sie es selbst nicht sprach. »Leidlich, gnädige Frau.« – »Italienisch auch?« – »Ich kann mich verständigen.« – »Sieh mal an!« Die Augen hinter der Lorgnette ruhten längere Zeit auf Klaras Figur und wurden klein und kleiner, während eine spitze Zunge die gemalten Lippen leckte. Plötzlich schob die Gattin des Prominenten das Glas in ihren Busen und äußerte weitergehend: »Sie sind mir zu hübsch. Kleine!«

Über die fehlenden Zeugnisse und die unklaren Familienverhältnisse waren einige Damen bereit hinwegzusehen. Aber daß sie nicht kochen konnte, schreckte die eine ab. Eine zweite äußerte die unsinnige Befürchtung, daß sie in anderen Umständen sei. Eine dritte nahm an ihren gepflegten Händen Anstoß. »Sie machen doch mit die Hände keene Hausarbeet, Fräulein!« sagte die mißtrauische, offenbar in Berlin geborene Dame und wandte sich ab. Eine vierte war bereit, sie als Stütze zu engagieren. Das Kochen besorgte sie selbst. Der Posten schien nicht allzu schwer, und Klara glaubte sich schon geborgen und war mit dem mäßigen Gehalt auch zufrieden, bis so ganz nebenbei herauskam, daß ihr neben anderer reichlicher Arbeit die Wartung eines vierzehnjährigen Jungen oblag, der geistig minderwertig und leider unsauber wäre, keine Schule besuchen könnte, einen gefährlichen Hang zum Arrangement von Zimmerbränden und ähnlichem Unfug hätte und jetzt in die besonders schwierigen Jahre geschlechtlicher Anfechtungen käme.

Sie hatte zum erstenmal das Gefühl, dort stand die Herrschaft – sie aber gehörte zu denen da drüben, die, schrecklich aufgeregt, gestopfte Baumwollhandschuhe über den rissigen Händen, auf den splittrigen Bänken saßen und, sich ein gleichgültiges Aussehen gebend, nach Ansprache dieser Gnädigen lechzten und durch halblaut getuschelte kritische Bemerkungen sich ein wenig entschädigten für die armselige Rolle, die sie auf diesem Sklavenmarkt spielten.

Verzweifelt über all diese Mißerfolge, gewürgt vom Hunger, hatte sich Klara in die kleine Konditorei in der Kochstraße geflüchtet, um eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen als billigste Nahrungsmöglichkeit zu sich zu nehmen und die ihr noch bleibenden Chancen an Hand der von ihr sorgfältig ausgewählten Annoncen und ihrer jetzt gesammelten Erfahrungen durchzugehen.

Das furchtbare Erlebnis, die grauenvolle Enttäuschung, die ihr mit sinnloser Schicksalsroheit den vergötterten Mann als Dieb, Heiratsschwindler und Hochstapler entlarvte, ohne ihr zu verraten, daß sie in diesem unsauberen Leben die seltsame Rolle einer vom Schmutz nicht Angespritzten geführt hatte, lag jetzt ganz klar und nüchtern vor ihren Augen. Mit einer grausamen Energie hatte sie sich in schlafloser Nacht alle Einzelheiten rekonstruiert, die sie wie einen wüsten Haufen ungeordneter Scheußlichkeiten in ihr Gedächtnis gestopft und mit sich herumgetragen hatte. Sie wußte jetzt, dieser elegante Wiener, der so liebenswürdig zu lächeln und sein Wienerisch so weich zu reden wußte, führte ein Doppelleben. Das eine, auch äußerlich schmutzige, schleppte ihn in übelste Großstadtwinkel, wie die Kaschemme dieses Rohlings mit dem Bulldoggengesicht, der ihr, der Ahnungslosen, als sie auf dem Bahnsteig hin und her wanderte, schon aufgefallen war. Die brutale Eifersucht dieses Burschen, das wußte sie jetzt – es mußte da irgendeine Bedienerin niedrigsten Grades mit im Spiele sein – hatte den feinen Wiener ans Messer geliefert. Das andere Leben aber hatte ihn, der wahrscheinlich aus anständigen, gebildeten Kreisen in die Tiefe geschleudert war und die guten Manieren als Erbteil seiner Abstammung besaß, hatte den sicher Auftretenden leicht in die Kreise der Kunst und der Lebewelt geführt. Und hier hatte er – nichts in ihr zweifelte mehr an seiner Schuld und sprach ihn frei – im Grabbe-Theater den Diebstahl verübt, von dem sie mehrfach gelesen und bei dem irgendeine hübsche, kleine Schauspielerin aus den Kreisen Melusinens, vielleicht aus reiner Dummheit, die Hilfe geleistet hatte.

Sie war entschlossen, ihn nie wiederzusehen. Das war doch selbstverständlich.

Selbstverständlich –? Unmöglich war es, undurchführbar! Ihr Name war ja aufgeschrieben worden von dem Beamten in dem kleinen kahlen Zimmer im Bahnhof. Sie würde vor Gericht als Zeugin auftreten müssen. Zunächst vielleicht mehr als beargwöhnte Zeugin. Würde dem Publikum hinter der Schranke lächerlich erscheinen, und mißtrauische, schadenfrohe Gesichter würden ihre verweinten Züge durchwühlen, während sie aussagte. Sicherlich – sie sah einen Herrn im schwarzen Talar sich hinter einem Kruzifix erheben, die dunkle Kappe aufsetzen und hörte seine aus der Gleichgültigkeit der Verhandlung zu feierlicher Würde des Augenblicks gesteigerte Stimme sagen: »Fräulein Klara Kern, sind Sie bereit, das Ausgesagte zu beschwören? So heben Sie die rechte Hand hoch und sprechen Sie mir nach: ›Ich schwöre – bei Gott, – dem Allmächtigen – und Allwissenden –‹«

Der Gedanke, ihn nicht mehr zu lieben, fiel ihr nicht schwer. Denn sie hatte ja einen geliebt, den es gar nicht gab. Eine Maske, einen Schauspieler, der abgeschminkt ein ganz anderer, ein Nichtswürdiger war. Aber diese gräßliche Leere in ihr, diese Ausgenommenheit war unerträglich.

Und ein Gedanke peinigte sie immer wieder: daß sie es vor sich selbst nicht leugnen konnte, in jenem kleinen Hotel damals bereit gewesen zu sein, die Geliebte dieses Mannes zu werden. Dieses Gewohnheitsschwindlers, der jetzt in vergitterter Zelle saß. Was aber hatte ihn damals bewogen, sie zu schonen – ihre Bereitwilligkeit fast beleidigend zu übersehen? . . . Wenn es damals anders gekommen wäre – ehrlich: nach ihrem Trieb und Herzenswunsch – wie grauenvoll! Es wäre ihr nichts anderes übriggeblieben, als jetzt in der Dämmerung eine gefällige Frau aufzusuchen, die durch den ungeschickten Eingriff ihrer rohen Hände den schönen jungen Körper ihres Opfers zugleich befreite und verdarb.

Und jetzt, während sie ihre kleine Schuld beglich und das Serviermädchen, mit einem Studenten am Nebentisch kokettierend, in den Taschen einer weißen Schürze umständlich die Groschen zusammensuchte, huschte plötzlich die Gestalt Böcks durch ihre Erinnerung. Es war ein Herr, der dem Direktor in der Figur, auch ein wenig in der Kopfhaltung glich, suchenden Blickes durch das Lokal gegangen . . . Böck! Wenn sie nun hinginge – ins Grabbe-Theater – heute abend kurz vor Beginn der Vorstellung, da war er gewöhnlich in seinem Büro. Und wenn sie, die damalige Talentprüfung vergessend, oder nein, ohne es auszusprechen, an sie anknüpfend – anders ging es nicht – mit ein paar bewegten Worten bat, sie für kleinste Rollen gegen mäßiges Entgelt einzustellen . . . Nein, nein, nein, so weit war sie noch nicht gesunken – wollte sie nicht sinken! Das hoheitsvolle, verächtliche Lächeln Melusinens, die dann in der gesellschaftlichen Toilette eines kleinen Episodenröllchens aus der Kulisse an ihr vorüberrauschte, konnte ihr Rest von Stolz schon in der bloßen Vorstellung nicht ertragen.

Fluchtartig verließ Klara das kleine Kaffee. Der Leidensweg des Morgens wiederholte sich in verstärktem Maße. Die ausgeschriebenen Stellungen, um die sie sich am Vormittag nicht mehr hatte bewerben können – als Probierdame, als Verkäuferin in einer Feinbäckerei, als Vorleserin für einen erblindeten alten Gelehrten, waren alle schon besetzt. Bedauern, Gleichgültigkeit, Mißtrauen schloß überall vor der zu spät Kommenden die Türen. Und die Büros zur Ermittlung von Hauspersonal waren voller, lauter und überheizter als am Vormittag. Auf diesem, von schrecklichen Mischdüften überwogten Menschenmarkt, wo ihre Schüchternheit für Hochmut galt, würde sie nie was finden.

Eine Annonce gab ihr noch eine kleine Hoffnung. In der Königin-Augusta-Straße suchte eine alte Dame eine gebildete, sympathische Reisebegleiterin, Anfang der Zwanzig, aus guter Familie, mit heiterem Wesen und etwas Sprachkenntnissen für größere Reisen und längeren Aufenthalt im Süden. Vorzustellen zwischen sechs und acht Uhr nachmittags. Kurz vor sechs Uhr war Klara vor dem vornehmen Etagenhaus im alten Westen. Unruhig ging sie auf und ab. Mit dem Glockenschlag sechs wollte sie eintreten. Vielleicht war sie die erste. Vielleicht gefiel sie der alten Dame, ihr Französisch genügte – das heitere Wesen – lieber Gott, wo sollte sie denn das hernehmen? – aber sie konnte versprechen, alle Mühe wollte sie sich geben und vielleicht, wenn die Fahrt über die Alpen ging – die blühenden Gärten, der blaue Himmel, der Schild des noch nie gesehenen Meeres, der Glanz und Duft, der dort über all den fremden Dingen lag, vielleicht gab ihr all das die roten Backen wieder und die blanken Augen und die Kraft, heiter zu sein, zu lächeln, zu lachen wie früher.

Noch fünf Minuten vor sechs. Eine junge Dame, sehr schick aufgemacht, ein bißchen amerikanisch leer das Girl-Gesichtchen, huschte rasch von hinten an ihr vorbei und verschwand im Haus. Dicht hinter dieser kam rasch trippelnden Schrittes, als ob sie der Konkurrentin noch zuvorkommen wolle, ein dürres Fräulein in einem altmodischen Mäntelchen, eine kleine Mappe mit Papieren, wohl Zeugnissen, unter den knochigen Arm geklemmt. Auch sie verschwand eilends in das Haus.

Als Klara die zwei Treppen gestiegen war und oben auf breitem Messingschild den in der Annonce genannten Namen gelesen und geschellt hatte, öffnete ein adrettes Zimmermädchen. »Bitte, hier links herein – drei Damen sind schon vor Ihnen.« Fast etwas bedauernd sagte sie das und schloß lautlos die Tür.

Richtig, drinnen in dem kleinen eleganten Salon, der ganz erfüllt war von ostasiatischer Kunst in den Vitrinen und an den Wänden, wartete außer den beiden, die Klara schon auf der Straße gesehen hatte, noch eine Dritte. Pausbäckig, dick, gutmütig, aus blauen Augen umherschauend, unsagbar kümmerlich in Aufmachung und Gehaben, saß eine Blondine in der Ecke unter dem, wie es schien, aus Perlmutterstückchen zusammengesetzten Bild des feuerspeienden Fushiama und puderte sich umständlich die ein bißchen zu breite und zu rote Nase.

Indem sie zwei neue, nicht sehr aussichtsreiche Erscheinungen ins Zimmer einließ, die sich mit feindlichen Blicken maßen, sagte jetzt die adrette Bedienerin freundlich: »Die Frau Konsul läßt die Dame, die zuerst da war, bitten.«

Die dicke Blondine erhob sich mit beglücktem Lächeln und verschwand etwas schwerfällig über den Korridor. Dabei bemerkte Klara, daß sie ein wenig hinkte; und mit einem leisen Triumphgefühl der Hoffnung sagte sie sich: die nicht!

Es dauerte auch kaum eine Minute, dann meldete das Mädchen an der Tür: »Die folgende Dame.« Das amerikanische Girl verschwand über den Korridor. Klara meinte, das Köpfchen schon einmal gesehen zu haben. Vielleicht in der Sammlung, die Ilia ihre »Ahnengalerie« nannte. Aber da war schließlich viel solch unbedeutenden Menschenmaterials unter den von irgendeiner Zeitung oder einem für feurige Blicke empfänglichen Redakteur zu künftiger Prominenz und Unsterblichkeit Angemeldeten zu finden.

Etwas länger als bei der Ersten dauerte es, dann kam die freundliche Stimme von der Tür her: »Bitte, die nächste Dame.«

Das dürre Fräulein trippelte eiligst hinaus. Nicht ohne an einen seidenbespannten japanischen Wandschirm anzustoßen und dabei ihr unter dem Arm entschlüpfendes Mäppchen zu verlieren, das eine Fülle zum Teil schon etwas angegilbter Papiere über den Boden streute.

Klara half höflich der Erschreckten aufheben, während die anderen Damen sich nur durch törichtes leises Gekicher an der Angelegenheit beteiligten.

»Danke, Fräulein, danke. Das ist kein gutes Omen«, sagte die Spitzknochige zu Klara, indem sie nicht mehr so sicheren Schrittes das Zimmer verließ.

Sie hatte recht behalten. Es war kein gutes Omen gewesen. Schon nach zwei Minuten nickte das hübsche Zimmermädchen von der Tür her Klara freundlich zu: »Jetzt, bitte, Sie, Fräulein.«

Als Klara den von einer schönen Kristallkrone bereits hell erleuchteten, reichlich warmen Raum betrat, in dem die Frau Konsul, nicht ohne Sinn für Pose aufgebaut, empfing und ihre Wahl treffen wollte, war ihr erster Eindruck der einer erlesenen Vornehmheit. Ganz weich und lautlos trat ihr Fuß auf echte Teppiche. Von den Wänden grüßten Familienbilder. Die würdigen Herren in Uniformen vergangener Tage mit vielen Orden. Die meist hübschen Damen in großer Toilette einer entschwundenen Mode. Am Fenster in einem schwergeschnitzten, kissenreichen Lehnstuhl, den etwas mageren Körper von einem weinroten Seidenschal umflossen, die Füße in pelzgefütterten Wildlederschuhen auf den Kopf eines Bärenfells gestützt, saß eine alte Dame, deren scharfe Züge Klara ein wenig an Bilder der Cosima Wagner erinnerten. Seitlich des Sessels lehnte, ganz leicht auf die Schulter der Dame gestützt, ein eleganter Dreißiger, dessen sonnengebräuntes Sportgesicht in seinen energischen und ein wenig übertriebenen Linien soviel Ähnlichkeit mit den Zügen der Greisin aufwies, daß eine Vorstellung kaum nötig gewesen wäre.

»Mein Sohn«, sagte die alte Dame mit einer flüchtigen Bewegung ihrer schmalen Hand nach dem Herrn hin, der sich ein wenig verbeugte. »Kapitän von Labrin, der seine Mutter nur mit einer Dame so weit reisen lassen will – es soll nach Sizilien und Ägypten gehen – wenn die Begleiterin auch ihm sympathisch und vertrauenswert erscheint. Darf ich um Ihre Zeugnisse bitten?«

Klara fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. »Ich habe keine, gnädige Frau«, sagte sie ruhig.

Die Mutter sah fragend zu dem Sohn auf. Aber der erwiderte ihren Blick nicht. Er schien gefesselt von Klaras Erscheinung.

Klara spürte wie einen brennenden Strahl seinen unverwandt auf sie gerichteten Blick, der aus Bewunderung und Neugier gemischt zu sein schien. Aber sie sah immer nur die alte Dame an, als sie, ihre letzte Energie zu Ruhe und Zuversicht sammelnd, sagte: »Ich habe mich, gnädige Frau, ganz rasch entschlossen, eine solche oder ähnliche Stellung anzunehmen. Ich habe früher daran gedacht, zur Bühne zu gehen, habe aber doch vielleicht nicht das nötige starke Talent dafür. Ich bin die Tochter eines Beamten des ›Grabbe-Theaters‹, des Kassierers Kern. Mein Vater hat lange nach dem Tod meiner lieben Mutter zum zweitenmal geheiratet. Ich muß mich jetzt selbständig machen. Und da würde mir eine Stellung wie die von Ihnen angebotene außerordentlich zusagen. Allerdings, ob ich genüge . . .? Französisch spreche ich ziemlich fließend – Italienisch ein wenig, aber für die Reise wird's wohl ausreichen. Ohne es besonders und in spezieller Ausbildung gelernt zu haben, glaube ich doch in aller Bescheidenheit sagen zu dürfen, daß ich das Wesentlichste, was eine Frau für den Haushalt – –«

»Es handelt sich um keinen Haushalt, liebes Fräulein«, sagte die alte Dame mit einer sympathischen Stimme, die jetzt etwas an Wärme gewann. Sie bot mit einer Handbewegung einen Stuhl an. »Wir werden keinen Haushalt führen können. Wir werden in größeren Hotels oder Pensionen wohnen. Zunächst vielleicht in Florenz, das ich nicht kenne, dann in Rom, wo ich durch meinen verstorbenen Mann noch ziemlich bekannt bin, später in Palermo, vielleicht zuletzt in Kairo. Ich muß auf Rat der Ärzte rasch die Sonne suchen, wo sie am freundlichsten und wärmsten ist, möchte mich dabei, so alt ich bin – und so sehr mein lieber Junge darüber zu lächeln geneigt ist –« sie griff nach der Hand des Kapitäns und streichelte sie zärtlich – »möchte mich auch noch ein bißchen bilden. Natürlich am liebsten mit einer Begleiterin, die nicht nur aus dem Zwang des Dienstes heraus, sondern mit einer gewissen – na, sagen wir schon: Begeisterung all das Schöne mit mir anschaut und sich ein wenig zu merken sucht.«

Das ist zu schön, um wahr zu werden, dachte Klara, während sie ihren Mut zusammennahm und, ihre Freude dämpfend, Bescheid gab.

Gern, sehr gern würde sie solch belehrende Reisen übernehmen. Sie habe sich immer für Geschichte und Kunstgeschichte lebhaft interessiert, auch gute Noten in beiden Fächern in der höheren Mädchenschule gehabt. Es würde ihr aufrichtigstes Bestreben sein . . .

Alles, was sie sagte, kam ihr banal vor. Als ob sie Vorgedrucktes ablese. Sie hätte sich am liebsten der vornehmen alten Dame zu Füßen auf das Eisbärfell geworfen, hätte ihre Knie umklammert und gebeten: Nehmen Sie mich mit, nehmen Sie mich heraus – und ich will's Ihnen mit meiner ganzen Jugend danken, wenn Sie die Alpen legen zwischen mich und das Schreckliche, das ich hier erlebt habe!

Aber da war etwas, das sie hinderte. Während sie sprach – zu banal, zu schüchtern, zu wohlgesetzt, sie spürte es selbst und konnte doch nicht anders – fühlte sie immer bohrend, forschend, verlangend den bewundernden Blick des Kapitäns auf sich gerichtet, der ihre Aufmerksamkeit, der ein »ihn-anschauen« erzwingen wollte.

Aber alles in ihr wehrte sich – sie erlag diesem Zwang nicht. Sie hörte plötzlich – hatte sie schon zu Ende gesprochen – wurde sie unterbrochen – hörte die gütige, wohlklingende Stimme der alten Dame. Sie muß einmal sehr schön gesungen haben, dachte Klara unwillkürlich. Diese volle, wohlklingende Stimme sagte ermutigend: »Wir wollen sehen, liebes Fräulein – Sie gefallen mir – bis jetzt habe ich allen Damen, die vor Ihnen sich vorgestellt haben, sagen müssen, daß sie kaum auf die Stellung zu rechnen haben. Ihre Adresse möchte ich erbitten. Ich muß natürlich noch die anderen Damen empfangen; sie haben sich nun einmal die Mühe des Weges gemacht, und man darf die Mahnung nicht mißachten: Prüfet alles und das Beste behaltet – aber –« ein fragender Blick streifte den Sohn, der nichts davon merkte, »– aber ich glaube fast, daß wir . . . also bitte, Ihre Adresse.«

Klara gab die Wohnung ihres Vaters an.

»Danke.« Die Konsulin reichte ihr, mit einem freundlichen Lächeln sie entlassend, die Hand. »Sie hören auf alle Fälle von mir.«

Langsam stieg Klara die Treppe hinunter. Im Hausflur begegneten ihr noch zwei Konkurrentinnen. Die eine sah wie Wanderzirkus aus, die andere streng und langweilig wie eine englische Nurse. Auch die Brille fehlte nicht. Das war beides sicher nicht der Geschmack der alten Dame, die da oben in einem weinroten Seidentuch, die Füße auf dem Kopf des Eisbären, eine Begleiterin für den Süden suchte. War noch sicherer nicht der Geschmack des Sohnes. Klara fröstelte ein wenig über den Rücken, als sie an ihn dachte. Und jetzt fiel ihr ein, daß sie – mitten in der, ach, allzu nüchternen Erklärung ihrer Bereitwilligkeit – plötzlich einem inneren Zwange, einer drängenden Eingebung folgend, gesagt hatte: »Würde ich Sie allein begleiten dürfen, gnädige Frau, oder . . .« Da hatte die Konsulin etwas erstaunt, aber nicht unfreundlich geantwortet: »Selbstverständlich nur wir zwei. Mein Sohn«, fügte sie, seine Hand wieder ergreifend, hinzu, »würde gewiß seine alte Mutter gern einmal besuchen – er kennt natürlich all die herrlichen Gegenden und berühmten Städte schon, der glückliche Vielgereiste. Aber jetzt ist's zu Ende mit der Odyssee, er ist beruflich gebunden hier.«

Gebunden hier – Klara wußte nicht, warum sie jetzt, da sie sich innerlich die Worte der Gräfin wiederholte, eine gewisse Genugtuung dabei empfand und zugleich wieder eine gewisse Unruhe. Flüchtig das Gesicht des Kapitäns mit einem Blick streifend, als seine Mutter so sprach, hatte sie in seinem unbewegten, schönen Männerkopf den Schimmer eines Lächelns aufleuchten und wieder verglimmen sehen. Gesprochen hatte er nichts. Aber als sie ging – das war ihr letzter Eindruck – hatte er den hübschen Kopf zu einer Verbeugung geneigt.

Er hatte, als sie eintrat, die Stellungsuchende flüchtig begrüßt. Er grüßte, als sie ging, respektvoll die Dame.

Wohin jetzt? – Ein nebliger, unfreundlicher Abend. Die nasse Kälte durchdrang sie. Da oben war es so mollig warm gewesen. Aber sie wollte dankbar sein für die Hoffnung, die sie durch diesen nassen, kalten Winterabend trug. Die einzige Hoffnung eines langen an Enttäuschungen reichen Tages. Sie wollte versuchen, ob jetzt zu Hause jemand ihrem Schellen öffnete. Wollte dem Vater sagen, oder wenn er nicht da war, auf einem Zettel hinterlassen, daß, wenn die Nachricht käme von der Frau Konsulin von Labrin aus der Königin-Augusta-Straße, er die Botschaft für sie in Empfang nehmen sollte.

Dann wollte sie zu Ilia gehen – ihr Zimmerchen zu Hause war ja auch vermietet – und wollte ihr, so schwer es ihr fiel, ein ehrliches Geständnis ablegen.

Jetzt war sie am Kanal an der Potsdamer Brücke. Die kühle Luft tat ihr wohl, aber das Getriebe, das Gewimmel der Menschen, die aus den schließenden Geschäften sich über die frostige Straße ergossen, folterte ihre von schrecklichen Erlebnissen, schlafarmen Nächten, aussichtsloser Suche nach Beruf und Betätigung gefolterten Nerven. Sie bog rasch am Schöneberger Ufer ab, das unter seinen hohen entlaubten Bäumen still und finster dalag.

Zwei junge Burschen, rohe Lümmels, das hatte sie schon an den Silhouetten und an den Bewegungen der halblaut singenden Näherkommenden gesehen, kamen untergehakt auf sie zu. Ließen sich plötzlich, dicht vor ihr, los und zwangen sie, in der Mitte zwischen ihnen zu passieren. Im Augenblick aber, da Klara, ohne ihnen ausweichen zu können, zwischen ihnen war, fühlte sie sich von dem einen roh angefaßt, während der andere ihr ins Ohr flüsterte: »Na, Kleene, 'nen bißchen mitkommen in die Liebeslaube?«

In diesem Augenblick aber, als sie vor Schreck und Scham ihre Knie wanken fühlte, geschah das Seltsame. Ein hochgewachsener eleganter Herr, der rasch hinter ihr hergegangen war, hatte den einen der Halbwüchsigen vorn an Weste und Kragen gefaßt, lupfte ihn mit spielerischer Kraft ein wenig vom Boden und schüttelte ihn wie eine Puppe: »Lausebengel! Wird sich so was wohl mal anständig betragen lernen!«

Der andere war schon im Trab nach der Potsdamer Brücke zu verschwunden.

Als der offenbar mit ungewöhnlicher Muskelkraft ausgestattete Kavalier den Gebeutelten losließ, spuckte der wütend in einiger Entfernung aus und fauchte höhnisch: »Na, dann nimm se dir schon, die Nutte! Du Patentfatzke! Ich bin nicht eifersüchtig.«

Aber Klara hörte nichts mehr und sah nicht, wohin der Rowdy verschwand. Unter der Pelzkappe hatte sie die scharfen Züge des Kapitäns erkannt.

»Sie – Herr von Labrin –?«

»Ja, ich bin Ihnen gefolgt. Was meine gewissenhafte Mutter da noch besichtigt und ausfragt, interessiert mich nicht mehr. Für mich ist die Sache erledigt. Selbstverständlich bekommen Sie die Stellung. Ich werde dafür sorgen. Und dann – in Florenz – spätestens in Rom – ich muß sehen, wie rasch ich mir den Urlaub erwirke – stehe ich plötzlich als Überraschung für meine Mutter vor Ihnen. Ich muß Sie wiedersehen, sobald wie möglich. Muß Ihnen beistehen –« er sagte das mit gedämpfter Stimme und beugte sich dicht zu ihr – »muß Ihnen helfen, die schrecklichen Erlebnisse zu vergessen, vor denen Sie fliehen.«

»Kennen Sie denn –« stotterte Klara, einen Schritt zurückweichend – »woher wissen Sie denn und woher wollen Sie wissen –« Sie stieß die letzten Worte heftig hervor, während sie, ohne ihn anzusehen, rasch den Kanal entlangging.

»Woher –?« Er blieb dicht neben ihr. »Ich holte am Freitag abend einen früheren Kameraden, der mit dem Zug von Genua kam, am Anhalter Bahnhof ab.«

»Ogott, ogott!«

»Aus Neugier näherten wir uns einem Menschenauflauf, der sich auf dem Bahnsteig langsam hinter einem seltsamen Paar und den begleitenden Kriminalbeamten herwälzte. Da hab' ich Sie gesehen. Wir waren beide, mein Freund und ich, von Ihrer Unschuld sofort überzeugt. Und Sie waren so schön, so rührend schön in Ihrem Schreck, in Ihrem Leid . . . ich wollte Ihnen meinen Schutz anbieten, aber in dem Moment, als Sie, von den Beamten entlassen, wie eine Nachtwandlerin durch die Gänge nach dem Ausgang taumelten, wurden wir – ein Kriminalkommissar hatte meinen Freund dicht hinter dem . . . nun, dicht hinter dem Verhafteten den Wagen entsteigen sehen – wurden wir festgehalten. Mußten uns legitimieren. So rasch das auch ging – Sie waren verschwunden, als dieser ärgerliche Zwischenfall erledigt war . . . Ich rechne es zu den glücklichsten Zufällen meines Lebens, daß ich Sie auf diese Weise wiedergefunden habe. Daß ich auf diese Weise die Möglichkeit erhalte – –«

»Herr Kapitän« – Klara hielt sich mit beiden Händen rückwärts an dem Geländer der Kanalböschung fest, als sie jetzt mit fast versagender Stimme so sprach: »Herr Kapitän – ich danke Ihnen, daß Sie – vorhin geholfen haben . . . Ich danke Ihnen für – für Ihre gute Meinung und – für alles danke ich Ihnen von Herzen. Aber nun seien Sie nicht böse, wenn ich . . . seien Sie großmütig – – lassen Sie mich jetzt bitte, bitte, allein.«

»Aber nein, liebstes Fräulein, Sie halten sich ja kaum aufrecht . . . ich begleite Sie nach Hause – oder wohin Sie wollen.«

»Nein, nein, bitte nicht.« Mit letzter Anstrengung log Klara: »Mein Vater – wir sind verabredet, er kommt mir hier am Kanal entgegen vom Lützowplatz. Und hier – er muß gleich auftauchen – es wäre mir schrecklich, wenn der alte Mann, ich kann ihm doch nicht alles so auf der Straße – er weiß von nichts – wäre mir unerträglich, verstehen Sie doch – ihm jetzt erzählen und deuten zu müssen, was er alles einmal, wenn ich ruhiger bin und klarer denke, gewiß erfahren soll. Er weiß doch gar nicht, daß ich weg will von hier, weg muß. Bitte, bitte, lassen Sie mich jetzt allein!«

Von dem flehenden Ton ihrer Stimme sichtlich ergriffen, blieb der Kapitän stehen. Einen Augenblick überlegte er. »Und ich sehe Sie wieder?«

»Sie haben ja – meine Adresse.«

»Und wenn Sie mich noch vorher brauchen – vorher sehen wollen – hier ist meine Karte. Ich wohne nicht bei meiner Mutter. Telephon ist darauf vermerkt. Wenn ich nicht selbst am Apparat bin, meldet sich eine Bedienerin, eine zuverlässige alte Frau, der Sie vertrauen und alles sagen können, was für mich bestimmt ist.«

Klara nahm die Karte und nickte müde.

»Auf Wiedersehen also.« Er preßte flüchtig ihren Arm an sich und führte ihre Hand an die Lippen. »Auf baldiges Wiedersehen!«

Sie war allein. Und immer noch hatte sie das harte, kalte Geländer der Kanalböschung im Rücken. In der Hand hielt sie seine Karte.

Da plötzlich, mitten im Wirbel der Gedanken, die sie bedrängten, mitten heraus aus dem Erlöstsein von dem fremden, leidenschaftlichen Mann, dessen Blicke noch schmerzhaft in ihren Augen brannten und dessen Atem sie noch an ihren Fingern spürte, kam ihr etwas Furchtbares zum Bewußtsein, etwas kaum Faßbares, das sie gewaltsam in die Gegenwart zurückriß.

Ihr Täschchen! – wo war ihr Täschchen? Ihr Täschchen mit den paar Mark, die ihr noch geblieben waren, mit dem Schmuck ihrer Mutter, dem Bild von dem kleinen Hugo, mit dem Schlüssel zu Ilias Wohnung und ihrer goldenen Taschenuhr, die sie zur Konfirmation bekommen hatte. Wo war das Täschchen?

Lag es am Boden – nein. War es die Böschung hinuntergerollt – nein. Wie sollte es auch?! . . . Aber jetzt spürte sie in erleuchtender Erinnerung wieder den Druck, den Griff des einen der beiden sie anrempelnden Rowdys vorhin. Das war der Sinn gewesen, dieser sich in Liebesverlangen versteckenden Gemeinheit. Raub!

Ihr Täschchen mit dem armseligen Letzten, was ihr geblieben war, durchwühlte der Bursche jetzt irgendwo in einem Winkel der Großstadt mit gierigen Fingern.

Nichts, nichts mehr nannte sie ihr Eigen, als das Hemd auf dem Leibe, das Kleid, das sie trug, und die Hoffnung, die leise Hoffnung als einzige Zuflucht, die Stellung anzutreten bei einer gewiß vornehmen und klugen, gütigen alten Dame – deren Sohn mit brutalem Siegerwillen, eingeweiht in ihr intimstes Schicksal, nur auf die Stunde wartete, sie als freiwilliges Opfer unter dem blauen Himmel der Fremde zu seiner Geliebten zu machen . . . Und sie empfand nichts für ihn – sie liebte ihn nicht, würde ihn niemals lieben, würde nie diese tyrannischen Augen streicheln, nie diesen wie zu harten Kommandos gebauten schmallippigen Mund küssen können . . . Beschämt, verzweifelt, erniedrigt hörte sie plötzlich im Ohr den weichen Wiener Tonfall des anderen, der ein Lump war, ein überführter Betrüger, ein Verbrecher vielleicht – Aber geliebt hatte sie ihn, geliebt! War in der Phantasie schon seine Geliebte gewesen – hatte in seinem Arm gelegen, bereit, sich zu schenken . . .

Da unten schimmerte und gleiste, müd' und träge fließend, der Kanal . . . Aus ihrem Studium klassischer Rollen – wahllos und mit Begeisterung einst betrieben – lag's Jahre zurück, war's gestern? – aus ihrem Rollenstudium klang ihr das Wort der Stauffacherin herüber: »Ein Sprung von dieser Brücke macht mich frei!«

Frei von sich selbst. Frei von den Männern, deren gierige Augen das Wurfseil nach den fliehenden Frauen lenkten. Frei von dem Schmerz der Erniedrigung, frei von der Hoffnungslosigkeit, frei von der zudringlichen Neugier der Fremden und dem beschämenden Mitleid der Nächsten – frei, frei!

Und wiederum sich ängstigend vor der eigenen Sehnsucht, vor der Lockung des da unten träg fließenden Wassers, in das der Bäume schwarze Schatten fielen, lief sie vorwärts, lief, lief, bis sie am Gelände der van-der-Heydt-Brücke stand, müde, atemlos, verzweifelt. Die Laternen flammten freudlos einen Lichtkreis in den Nebel. Ihr sparsames Licht setzte sich nicht durch gegen den silbrigen Dunst, der vom Wasser aufstieg.

Klara maß mit sachlicher Ruhe die Entfernung von einem Geländer zum anderen. Sie würde unter die Brücke getrieben werden. Vielleicht erledigte sie die Kälte des Wassers schon, der Schreck und der eiserne Wille, ein Ende zu machen. Dort an der Böschung der Rettungsring, der würde ihr sicher zugeworfen werden – griff sie nach ihm, so faßte sie das erste Glied einer endlosen Kette neuen Leids, neuer Schmerzen, neuer Demütigungen. Für die in ihren triefenden Kleidern lächerliche Gerettete begann mitten im Knäuel der sich drängenden Neugierigen eine Verlassenheit, aus der keine Liebe, keine Freundschaft mehr zu normalem Leben zurückführen konnte . . . Und eine Rettung gegen ihren Willen? Einen Augenblick zuckte die Erinnerung durch ihren Kopf an Berichte, an kurze Mitteilungen, die sie früher oft im lokalen Teil der Zeitungen gelesen. Junge Wagemutige, sportgestählte Schupos oder zufällig vorübergehende Soldaten waren solchen Lebensmüden nachgesprungen und hatten sie – oft erst nach verzweifeltem Kampf – gerettet. Oh, wie widerlich und unwürdig war das, mit einem anständigen tapferen Mann gegen das eigene Leben zu kämpfen, ihn zu zwingen, Gewalt anzuwenden – mit der Faust der sich Wehrenden ins Gesicht zu schlagen oder mit krallenden Fingern die Haare zu greifen und die Willenlose nach sich ans Ufer zu ziehen.

Aber wer half ihr hinüber – wenn nicht der kalte, nasse Streifen da unten, der glühende, lockende Lichtchen durch den Nebel warf? Ausgeplündert war sie, zu arm, Veronal zu kaufen; zu arm, eine Waffe zu erstehen . . . Und der dumpfe Trieb: fort, hinaus aus diesem Leben ins Nichts, ins Vergessen, ins Vergessenwerden – der Trieb war plötzlich so überwältigend stark in ihr, daß ihr Entschluß keinen Aufschub mehr duldete.

Ein paar Gymnasiasten gingen vorbei und kopierten lachend mit der Respektlosigkeit des Hasses ihre Lehrer. Zwei alte Leute schoben auf einem Karren ein paar armselige Habseligkeiten. Ein elegantes Paar, den Pelz über das Gesellschaftskleid geworfen. »Hoffentlich wird nicht wieder Kammermusik gemacht – und wird gleich getanzt«, sagte die Dame im Vorübergehen.

Musik – Tanz – das gab's noch? Nichts mehr für sie, nichts für sie. »Ein Sprung von dieser Brücke macht mich frei –«

Schon war sie mit dem rechten Knie auf dem Geländer, fühlte die Kälte des Eisens wie eine Lockung des Wassers da unten. Schon stieß der linke Fuß vom Boden ab, der Kopf hing schon dem Wasser zu. Sie schloß die Augen, und die Lippen lagen fest aufeinander – jetzt –

Der Griff zweier Hände riß sie zurück.

Die Hände hoben die auf dem Pflaster der Brücke Kniende auf und betteten die Kraftlose für einen Augenblick an eine dürftige weibliche Brust. Aber Klara spürte ein Herz, ein menschliches Herz hämmerte an das ihre. Und dies hämmernde Herz war der erste Ton, der sie wieder ins Leben rief, mit dem ihre Verzweiflung abgeschlossen hatte.

Sie öffnete die Augen. Unter einem fürchterlich verbogenen Schippenhut, um den ein goldbedrucktes, schmales, rotes Band lief, in einem knochigen, blassen Gesicht zwei hellblaue Augen voll Güte und Mitleid.

»Kommen Sie, arme, liebe Schwester«, sagte leise eine ganz sanfte, fast kindliche Stimme dicht an ihrem Ohr. »Kommen Sie: Was brauchen die anderen Menschen zu wissen, daß Sie einen Augenblick schwach waren. Schwach, wie wir alle schon gewesen sind. Wo darf ich Sie hinbringen?«

»Nirgends. Lassen Sie mich!«

»Ich lasse Sie nicht mehr. Haben Sie kein Zuhause?«

»Nein.«

»So sind Sie unser willkommener Gast. In unsers Vaters Hause sind viele Wohnungen. Auch für Sie ist ein Zimmerchen bereit.«

»Meine Füße tragen mich nicht mehr.«

»In solchen Fällen darf ich einen Wagen nehmen.«

»Wohin wollen Sie mich fahren?«

»In unser nächstes Heim. Sie müssen erst wieder einmal Menschen sehen und müssen an die Güte glauben.«

»Ich glaube an Ihre Güte –« sagte Klara leise und sah einen Augenblick in die sanften Augen unter dem häßlichen Schippenhut. Dann legte sie den blutleeren Kopf wieder an den dürftigen Busen und vernahm das Pochen eines Herzens.

»Nicht von mir ist die Rede«, sagte über ihr die leise Stimme der sorgenden Frau. »Bald werden Sie wissen, daß ich es nicht war, die sie jetzt zurückgehalten hat. Nein, da oben im Himmel hat mich einer diesen Weg geschickt, daß ich Sie finde. Daß ich meine schwache Hand lege mit seiner Kraft auf Ihren Arm und daß ich zu einer Verirrten sage: ›Komm, komm zu uns! In unsers Vaters Haus sind viele Wohnungen.‹«

Ein Taxameter hielt und nahm die beiden Frauen auf.

»Wohin fahren wir?« fragte Klara. Ein wohliges Gefühl der Geborgenheit, glücklich und müde machend zugleich, breitete sich allmählich durch ihren ganzen Körper. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr denken, nicht mehr handeln zu müssen, nicht mehr verantwortlich zu sein – nur umsorgt, gehegt und getragen zu werden.

»Wir fahren in unser nächstes Heim. Sie werden gut und still schlafen diese Nacht.«

»Aber vorher wird man mich ausfragen –« Klara fuhr noch einmal hoch. Die schrecklichen Erinnerungen an das kahle Zimmer im Anhalter Bahnhof stiegen, die entschlummernde Phantasie aufrüttelnd, in ihr auf. Sie sah die harten, mißtrauischen Gesichter um sich, und erkannte den auf das Papier gebeugten Beamten wieder, der aufschrieb, was sie mit leiser Stimme auf seine Fragen antwortete.

»Sie werden nach nichts gefragt. Wir sind keine Frager, aber wir sind eine Antwort, kleine arme Schwester. Sind die Antwort auf jede Menschennot.«

Klara ließ sich wieder zurückfallen, und das müde machende Wohlgefühl ergriff wieder Besitz von ihr.

»Und wenn ich komme, forscht niemand –«

Eine knochige aber gütige Hand strich über ihre feuchte Stirn. »Wir reden nicht und wir fragen nicht – wir helfen nur. Und was wir geben können, das geben wir. Und das ist Rat und Brot und Arbeit.«

»Aber –« Klara sprach mit geschlossenen Augen. Diese melodische Stimme, die eben ihr antwortete, tat ihr unsagbar wohl, und sie konnte nicht genug von ihr hören. »Aber – Sie wissen doch gar nicht, ob ich glaube, was Sie glauben – ob ich . . .«

»Wozu bedarf es solchen Wissens? Die Paria Indiens glauben an uns, die Trunkenen von Neuseeland wanken uns zu, die blinden Bettler Chinas fassen nach unseren Händen – das macht, wir fragen nicht: ›Bist du getauft? Nimmst du das Abendmahl? Glaubst du an die Auferstehung des Fleisches?‹ Wir wissen nur: du suchst Gott, denn du kommst zu uns. Und wenn du trotzig in der Irre gehst und ihn nicht suchst, so wirst du ihn doch finden. Bei uns. Denn unter dem gelben Stern in der blauroten Fahne kämpfen die waffenlosen Soldaten des Friedens und des Mitleids für ihn. Sie ekeln sich nicht vor dem Aussatz von Java und nicht vor dem Gestank der Lasterhöhlen von Schanghai. Wie sollten sie sich vor Schuld und Leid niedergebrochener Europäer scheuen, die doch eines Blutes mit ihnen sind?«

Als die Stimme über ihr in dem Dunkel des Wagens so zu ihr sprach, tauchte in Klaras Erinnerungen ein großer seltsamer kupferner Kessel auf. Der war gestützt von drei lanzenartigen Stangen und stand irgendwo im Westen mitten im Verkehr der Straße zur Weihnachtszeit. Geöffnet war er, mildtätige Gaben zu empfangen. Und über Kessel und Lanzen wehte im Wind eine Fahne, blaurot, mit dem gelben Stern darin. Und schmale, reizlose Frauen mit geschmacklosen Schippenhüten in gleichgeschnittenen dunklen Tuchkleidern und Männer mit der Tellermütze auf dem Kopf standen dabei und sangen. Sangen, gläubig und ernst und ohne sich vom Hohn und Zuruf umstehender Gottloser stören zu lassen, fromme, kindlich schlichte Texte zu wunderlich fröhlichen Melodien. Und eine Posaune quiekte manchmal mitten in den Gesang.

»Ich glaube, ich habe manchmal über euch gelacht oder doch gelächelt«, sagte Klara jetzt leise und schloß, müd und immer müder werdend, die schweren Augenlider. Von draußen fielen die grellen Lichter der Tauentzienstraße in den langsamer fahrenden Wagen hinein.

»So haben Sie nur getan, liebe kleine Schwester, wie viele, viele tun. Es ist ja auch nicht alles unser Geschmack, was wir üben und wie wir's üben. Aber unser Gründer und großer Lehrer, William Booth, der in Whitechaple den Ausgestoßenen und Gezeichneten furchtlos von Jesu von Nazareth und seiner Liebe sprach, der hat uns gelehrt, mit der noch rohen, widerstrebenden Masse umzugehen. Für sie die Posaunen und Trompeten, die Fahnen und die Umzüge – für uns die Stille. Durch das Tor eines lauten und bunten Jahrmarkts locken wir die Widerstrebenden hinein, die Mißtrauischen und Verstockten. Hinein von den schmutzigen Straßen der Welt in den heiligen, sauberen Friedensgarten Gottes. Und hinter dem aufdringlich werbenden Lärm auf den Märkten der Erde flüstert die leise Botschaft der Gnade des Himmels den Allerärmsten ins Ohr, den Gefallenen und Enterbten.«

Der Wagen hielt.

Klara war eingeschlafen. Tiefste Müdigkeit des erschöpften Körpers und der gequälten Seele, sanft gelöst vom herrlichen Gefühl einer langentbehrten Geborgenheit, hatte über ihre Sinne den schützenden Schleier geworfen.

Wenige Minuten später trugen drei schweigende Frauen, weibliche unbesoldete Soldaten im selbstgewahlten Kampf für Gott, wortlos und behutsam wie gelernte Krankenschwestern, auf einer strohgeflochtenen Tragbahre die sanft und traumlos Schlummernde ins Heim der Heilsarmee.

* * *


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