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Es war wohl eine Woche später, am Schluß einer Lehrstunde, als Armin seine Schülerin noch einen Moment zurückhielt.
»Marianne sagte mir, daß du dich mit Eifer mühtest, ihr in jeder Weise zu helfen, Papillon; das freut mich. Tummele dich nur tüchtig im Hause; wer weiß, wie bald du deine erlernten Künste praktisch zu verwerthen Gelegenheit findest … wer weiß, wie lange Marianne noch bei uns bleibt!«
Das junge Mädchen sah ihn fast erschreckt an. »Wie meinst du das, lieber Onkel? Geht Fräulein Marianne zu ihrem Bruder? Sie sprach mir einmal davon.«
»Nein … sie wird sich vielleicht verheirathen, Papillon. Ich kenne einen jemand, der das Vagabundenleben eines Junggesellen gründlich satt hat, und dem eine verständige Frau noth thut. Wer weiß, ob er sie uns nicht bald entführt!«
Das Mädchen wurde plötzlich todtenblaß.
»Du glaubst doch nicht …« begann sie fast tonlos und stockte.
»Ich glaube, daß sich vor unsern Augen eine Verlobung vollziehen dürfte, und ich halte diese Allianz für durchaus passend, wenn man von einer Liebesheirath absieht. Hilmar – denn von ihm rede ich – hat jahrelang eine schöne Tänzerin geliebt, die ihn nachher treulos verließ. Ich bin überzeugt, er würde sie nach dem Tode seines Vaters, dem dies Verhältniß ein Dorn im Auge war, geheirathet haben; aber – sie hat eben zu seinem Glück nicht so lange gewartet. Er ist nun – wie er mir damals schrieb – mit der Liebe fertig.«
Desirée unterbrach ihn nicht, aber die Hand, welche auf den Tisch sich stützte – denn sie hatte sich mit ihrer Büchermappe schon erhoben – zitterte. Armin sah es mit einem Schrecken, der sich rasch bis zum Zorn steigerte.
»Ich müßte eigentlich,« rief er heftig, »Marianne zurückhalten; denn die Frau eines Mannes wie Hilmar zu werden, ist ein enormes Wagestück. Geniale Menschen, die von den Frauen angebetet wurden, wie er, sind unberechenbar! Wirft der Zufall ihnen eine Frauengestalt in den Weg, glänzend und geistvoll genug, ihr Interesse zu wecken, gleichviel auf wie lange: dann wehe der Armen, die an einen solchen gefesselt ist! Sie nimmt einen harten Kampf auf. Aber zum Glück ist Marianne eine ruhige und energische Natur … sie wird Siegerin bleiben und die Zügel in der Hand behalten.«
»Also liebt sie ihn?« fragte Desirée ganz leise.
»Ich weiß es nicht. Marianne ist, wie du weißt, sehr verschlossen; aber sicher bin ich, daß sie ihn nicht ausschlägt, wenn er fragt.«
»Also er fragte noch nicht?«
»Nein! Aber die Frist, die er sich für den Aufenthalt in unserm Hause stellte, läuft in diesen Tagen ab.«
»Und Fräulein Marianne ahnt nichts davon?«
»Wenn ihr nicht die besondere Aufmerksamkeit, welche Ussikow ihr erweist, eine Ahnung brachte …«
»Dann würden sie sich bald verheirathen?«
»Ohne Zweifel. Ussikow muß jedenfalls den Winter in einem milden Klima zubringen, und dann wäre eine verständige Gefährtin von größtem Nutzen für ihn … Sieh, wie unvermuthet rasch sich also vielleicht dein Wunsch erfüllt, deinem Onkel den Haushalt zu führen. Wir können dann auch reisen, mein Kind, und ich zeige dir ein Stückchen jener Welt, nach der du dich sehnst. Wohin möchtest du zuerst gehen?«
»An das Grab der Mutter!« flüsterte sie, schlug die Hände vor das Gesicht und verließ laut aufschluchzend das Zimmer.
Man fand sich zur Abendmahlzeit im Gartenzimmer zusammen. Hilmar kam spät vom Spaziergange heim; der Doctor hatte sein Arbeitszimmer nicht verlassen. Desirée war, wie Marianne erklärte, in wahrhaft beängstigender Weise bemüht, zu helfen, »zu dienen, zu tragen«, obgleich ihr wiederholt versichert wurde, daß gar nichts zu helfen sei und ihr unruhiges Wesen mehr störe als nütze. Auch entglitt ihr ein Glas und zerbrach mit schrillem Klang – es war, als ob ihre Hände nichts fest zu halten vermöchten.
Endlich war alles vorbereitet. Das junge Mädchen suchte ein Plätzchen am Fenster auf, das nach der Veranda hinausging. Marianne war in der Küche, um einen jener Vorträge zu halten, die ihr vor jeder Mahlzeit zur Gewohnheit geworden waren. Die verschleierte Lampe brannte. Papillon's Hände lagen müßig im Schooß, sie starrte hinaus in die durchsichtige Dunkelheit einer Sommernacht. Leises Rauschen und schwere Duftwellen drangen zu ihr herein. Ihre Gedanken flatterten, wie vom leichten Winde getrieben, hin und her, zuerst zu dem Vogelpaar im Neste. Jetzt saß das Männchen gewiß auf dem nächsten Zweige, wie sie es unzählige Mal beobachtet, und ein süßes Gezwitscher ging zwischen den beiden hin und her. Dann dachte sie an die Männerstimme, welche dort vor dem Nestchen so sanft zu ihr geredet: »Sind Sie jetzt nicht hier geborgen wie im Vaterhause?«
Ja, er hatte recht! Was wollte sie noch mehr? Und doch mußte sie unablässig daran denken, daß eben dieser Mann sich nun auch ein Heim aufbauen wollte – ein Heim mit Marianne. War sie wirklich die Frau, die er brauchte? Würde er ihr Abends seine wunderbaren Lieder vorsingen, und würde sie dabei sitzen mit ihrer unvermeidlichen Häkelarbeit, so steif und gleichgültig wie hier? Oder würde sie ihn nicht unterbrechen durch irgend eine banale, weit abliegende Frage, wie sie ihren Vetter zu unterbrechen pflegte, wenn er las? … Und wie still würde es werden, wie todesstill, wenn die beiden aus dem grünumrankten Hause gegangen, … wie einsam!
Da tauchte ihr plötzlich die Erinnerung auf an ein unsagbar trauriges Lied, eine unsagbar traurige Melodie. Die Lippen öffneten sich, und Desirée sang leise, wie von Thränen erstickt, vor sich hin:
»
Comme le jour me dure
Passé loin de toi!«
Dann sank der Kopf zurück an die Lehne des Sessels, und eine grenzenlose Sehnsucht nach der verklärten Mutter, ein schmerzlich glühendes Verlangen, wie sie es nie zuvor so quälend empfunden, kam über sie. Die Hände streckten sich aus in die leere Luft und über die Lippen glitt der Ruf: »O Mama, wäre ich bei dir!«
Es war ein leichtes Geräusch, das sie aufschreckte. Sie wandte sich um. Glitt nicht ein Schatten an der offenen Thüre vorüber? Das junge Mädchen erhob sich, und trat auf die Terrasse. Niemand war zu sehen. Aber im Zimmer auf der andern Seite brannte Licht, ein Zeichen, daß der Gast des Hauses heimgekehrt war.
Es war eine seltsame Unterhaltung am Tisch an diesem Abend. Armin behauptete, ihm stecke neben seiner Arbeit noch eine Nachricht im Kopfe, die man ihm eben mitgetheilt; ein Typhus-Todesfall hatte große Sensation im Städtchen erregt. Man sprach davon, daß die böse Krankheit von einem Reisenden eingeschleppt worden sei. Der College hatte bereits den russischen Doctor um eine Conferenz für den nächsten Vormittag gebeten.
Hilmar erschien auffallend still und in sich gekehrt. Marianne trug die Kosten der Unterhaltung. Desirée verhielt sich ziemlich schweigsam und schützte Kopfschmerzen vor. Armin machte Hilmar den Vorschlag, den Wein in seinem Zimmer zu nehmen und die Damen sich selbst zu überlassen.
»Geh zu Bett, Papillon,« sagte er etwas ungeduldig, »damit du morgen wieder unser heiterer Sonnenstrahl sein kannst. Wer weiß, wie nöthig wir bald deine Heiterkeit brauchen!«
Kaum hatte sich die Thüre des Arbeitszimmers hinter den beiden Männern geschlossen, als Hilmar in heftiger Erregung vor den Freund trat. Blässe und Röthe wechselten jäh in den ausdrucksvollen Zügen, in den Augen stand ein fremder Ausdruck.
»Verzeih, mein alter Junge,« sagte er mit gepreßter Stimme, »aber es geht so nicht länger. Ich muß fort … schicke mich, wohin du willst, nur fort … je weiter, je besser! Laß mich offen sein, ganz offen. Ich habe mich getäuscht … es wäre ein Unglück für uns beide, für Marianne und mich. Sie ist das vortrefflichste Wesen … aber wir passen nicht zu einander. Und dann, siehst du … es muß eben heraus … ist mein Herz … wie es geschah, weiß ich nicht … erobert worden ganz und gar und für alle Zeiten, das fühle ich! Armin, ich liebe das süße Geschöpf, das du so väterlich geschützt. Gib mir die Erlaubniß, um sie zu werben!«
Doctor Elbthal sprang auf. Die weit geöffneten Augen starrten den Freund wie geistesabwesend an, dann sagte er mit erlöschender Stimme: »Das Kind? … du träumst!«
»Kein Kind … das bezauberndste Weib, das je zum Glück eines Mannes geschaffen wurde.«
»Und glaubst du denn, daß Desirée …«
»Ich glaube noch nichts, aber ich hoffe,« unterbrach ihn Hilmar mit leidenschaftlicher Heftigkeit. »Gestatte mir, daß ich mit ihr rede!«
»Um Gottes willen, nicht so schnell! … Laß mir Zeit, mich an den Gedanken zu gewöhnen, da sie mein Haus erhellt mit ihrer Jugend und Anmuth. Morgen ist alles anders … ich bin wieder ruhig.«
»Und du zürnst mir nicht, daß ich Marianne verschmähte?«
Der Doctor lachte grell auf.
»Du selbst kannst nicht tiefer überzeugt sein von dem Unglück einer Ehe zwischen ihr und dir, als ich es bin … Beruhige dich also … Es war Frevel und Wahnsinn von mir, dich auf Marianne aufmerksam zu machen. Sie selbst ahnt zum Glück nichts von diesen tollen Plänen! Laß mich nur allein … ich bitte dich, gönne mir die Nacht! Morgen früh wollen wir weiter über dich und Desirée's nächste Zukunft reden. Ich muß zunächst das Mädchen selbst sprechen … eher also kein Wort zu ihr … Hand darauf!«
Hilmar drückte ihm die Hand. Schon im Gehen wandte er sich noch einmal um und sagte: Ich will morgen in aller Frühe für einen Tag in die Berge wandern; das wird das beste sein. Vielleicht bleibe ich auch länger, wenn ich's aushalte. Gute Nacht, Armin!«
Als der Doctor sich allein sah, brach ein dumpfer Laut aus seiner Brust. Wie ein Blitzstrahl war das Bewußtsein in seiner Seele aufgezuckt: »Du liebst dies Kind!«
Und der starke Mann brach in die Kniee und drückte die Stirne an die Polster seines Sessels. »Gefunden … verloren!«
In dieser Nacht floh der Schlaf seine Augen; ruhelos durchwanderte er das Zimmer bis zum Morgengrauen, in wildem Kampfe mit dem übermächtigen Gefühl, das sein Herz durchglühte.
So hatte Marianne doch recht gehabt: seine Stunde war gekommen, die versäumte Liebe war eingezogen, nicht wie ein Frühlingssturm – nein, wie ein rasender Orcan, alles verheerend, alles niederwerfend. Seine Gedanken wirbelten durcheinander – eine qualvolle Angst lag auf seiner Brust, als ob er ein Verbrechen begangen. Er blickte in die nächste Zukunft wie in eine dunkele Winternacht. Wozu hatte er gelebt, wozu lebte er noch? Was beginnen ohne den Sonnenschein, der sein Haus und sein ganzes Wesen erwärmte? Ein schwaches Hoffnungsfünkchen war es, das noch aufblitzte: der Gedanke, Desiree könnte, wenn die Wahl an sie heranträte zwischen ihm und Hilmar, sich für ihren Schützer entscheiden. Er rief sich ihre dankbare Innigkeit zurück, den Blick, mit dem sie ihn begrüßte, das Vertrauen, das sie ihm entgegenbrachte, den Ton der Stimme, mit dem sie ihm gesagt: »Ich bleibe immer bei dir!« Konnte sie denn das alles vergessen – konnte ihr Herz sich einem Manne zuwenden, der sich ihr nur flüchtig genähert, von dem sie durch ihn sogar wenig Gutes wußte, der nichts gethan, sich den Schatz ihrer Liebe zu erwerben, der im Begriff gestanden, um eine andere zu werben?
Armer Ringender, wie wenig kannte er das Frauenherz! Als ob es je einer Zeit bedurft hätte, einer That, einer Tugend, um Liebe hervorzurufen in einem Frauenherzen? »Sie kommt und sie ist da!«
Das ist ja das Wunder! »Ich liebe ihn!« sagt das Mädchen. Weshalb, wissen in hundert Fällen neunundneunzig nicht.
Mit leidenschaftlichem Eifer suchte Armin nach Beispielen, erlebten und gelesenen, von der Hinneigung eines jungen Wesens zu einem ältern Manne, von einer Liebe, die der Dankbarkeit entsprungen.
Ach, sie würde ihm genügen für den Rest seines Lebens. Nur keine Trennung! Und wie wollte er die Geliebte auf Händen tragen! Sie sollte leben dürfen, wo sie wollte – er würde ja nimmermehr ihre Jugend und Lieblichkeit hinter den Mauern dieses kleinen Hauses vergraben.
Als er sich in der Morgendämmerung endlich erschöpft auf das Bett warf und einschlummerte, da hielt er im Traum seinen rosigen Liebling in den Armen, und ihr rosiger Mund flüsterte: »Ich bleibe immer bei dir!«
Als Armin zum Frühstück in das Wohnzimmer trat, war es ihm eine Herzenserleichterung, Hilmar nicht dort zu finden, überhaupt die Gewißheit zu haben, ihn heute nicht zu sehen. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihm ein seltsam abgespanntes Gesicht mit scharfen Zügen. War denn sein Haar immer so grau gewesen? Es schien ihm wie mit Puder überstreut.
»Hilmar ist mit seiner Zeichenmappe über Land gewandert,« sagte er, am Tische Platz nehmend; »er wird vielleicht erst morgen oder übermorgen zurückkehren.«
»Das ist mir angenehm,« antwortete Marianne; »dann werde ich sofort sein Zimmer gründlich vornehmen lassen.«
Desirée war erblaßt. »Dann muß Herr von Ussikow in der Nacht fortgewandert sein. Ich war sehr früh wach und hörte nicht das geringste Geräusch im Hause.«
»Möglich. In keinem Falle braucht man sich also zu sorgen, wenn er ein Weilchen nicht erscheint.«
»Onkel, du bist krank!« rief jetzt das Mädchen, und sich angstvoll vorbeugend, faßte sie seine Hand. Er zog sie, zusammenschauernd, leise zurück. »Du siehst aus, als ob du eine schlechte Nacht gehabt hättest.«
»Du hast es errathen, ich habe einmal zur Veränderung nicht geschlafen,« antwortete er mit einem schwachen Lächeln. »Arbeitsgedanken und jene Nachricht von den vereinzelten Typhusfällen hielten mich wach. Ich will gleich nachher zu meinem Collegen.«
»Du wirst doch nicht bei dieser Gelegenheit dich wieder in die Praxis begeben?« fragte Marianne unruhig. »Denke doch an dich und uns! Ich fürchte mich so über alle Maßen vor dem Typhus!«
»Das wäre ein schlechter Arzt, der an sich dächte bei solcher Gelegenheit. Was dich betrifft, so kannst du dich fern halten … Fürchtest du dich auch, Papillon?«
»Ja,« gestand sie lächelnd und erröthend; »aber ich glaube, die Furcht würde aufhören, wenn ich jemand an dieser schrecklichen Krankheit pflegen müßte, den ich lieb hätte.«
Als der russische Doctor Mittags von der Konferenz zurückkam, war seine Miene sorgenvoll.
»In der Stadt wird es hoffentlich bei einzelnen Fällen bleiben; aber auf einigen Dörfern der Umgegend tritt leider die Krankheit als Epidemie auf, wie es scheint. Ihr werdet mich jetzt wenig sehen. Selbstverständlich erbot ich mich, zu helfen mit allen meinen Kräften. Ich bitte um eine möglichst frühe Speisestunde.«
Desirée stand plötzlich dicht vor ihm und hielt den Weggehenden auf. Sie legte die zitternde Hand auf seinen Arm und schaute ihm mit weit geöffneten Augen in's Gesicht.
»Onkel,« sagte sie mit veränderter Stimme, »meinst du nicht, daß dein Freund den Weg nach den Dörfern eingeschlagen haben könnte?«
Ein Schmerz wie von einem scharfen Stahl durchzuckte beim ersten Blick auf das erregte Mädchen das Herz des Mannes; aber er antwortete ruhig: »Das ist doch kaum denkbar. Jene Gegend, in der Ussikow seine Motive sich zu holen pflegt, liegt östlich von hier. Die Epidemie herrscht in den westlichen Bergdörfern. Vielleicht ist er auch heute Abend wieder hier.«
Er kam aber nicht, der Erwartete, auch den folgenden Tag nicht, ohne daß Armin, der letzten Worte Hilmar's gedenkend, sich beunruhigt hätte. Wenn ihm irgend etwas zugestoßen, würde er schon Botschaft gesandt haben. Das sagte er auch den Frauen. Marianne sorgte sich auch keinen Augenblick. Aber eine war da, die mit fieberhafter Angst und Spannung wartete und, wenn die Abendschatten niedersanken, ruhelos in dem wilden Garten oder auf der Terrasse hin und wieder ging, auch wohl den Waldweg hinabspähte nach dem Entfernten – die den ganzen Tag nur den einen Gedanken wie eine Centnerlast mit sich herumtrug:
»
Comme le jour me dure,
Passé loin de toi!«
Waren es nicht schon Monate, seit er geschieden?
Zuweilen sah man auch Iwan hin und her eilen und mit Desirée geheimnißvoll flüstern; er schüttelte aber immer schon von weitem den grauen Kopf.
»Bote da, nix gefunden guten Landsmann!«
Es schien, als ob der russische Doctor sich mit besonderm Eifer in die plötzlich wieder aufgenommene Praxis stürze, als ob es für ihn eine Wohlthat sei, in dieser Weise thätig sein und seine Gedanken ablenken zu dürfen. Leider mehrten sich die Fälle der grausamen Krankheit im Städtchen selbst von Stunde zu Stunde. Von den Dörfern und Flecken im Umkreise liefen Hiobsposten über Hiobsposten ein. Die blasse Furcht schlich von Haus zu Haus. Es fehlte an besonnener Krankenpflege. Der finstere Würgengel war zum ersten Mal in diesem friedlichen Thal erschienen, niemand war gerüstet, ihn zu empfangen; das kleine Krankenhaus bald überfüllt. Neben vereinzelten Fällen rührender Aufopferung trat der menschliche Egoismus in voller Nacktheit hervor, und das Motto lautete: »Rette sich, wer kann!«
Das Herz Armin's war empört und sein Mund floß über in schärfster Verurtheilung der menschlichen Schwäche. Zu Hause empfingen ihn freilich auch nur ängstliche Gesichter. Marianne machte aus ihrem Entsetzen vor der Krankheit kein Hehl. Desirée wanderte blaß und still umher, mit einem rührenden Ausdruck von Kummer in den Augen. Iwan erschien zerstreut und zerbrach sehr viel, stellte alles verkehrt hin und war am Morgen mit dem Kleiderreinigen seines Herrn im Umsehen fertig, weil er behauptete, in den Röcken, Beinkleidern und Stiefeln verstecke sich die Krankheit nur zu gern. Sein Präservativ für jedes körperliche Uebelbefinden war – ein Schluck Wutki. Anna, das Dienstmädchen, aber glaubte alle halbe Stunden einen Anfall des mörderischen Fiebers zu verspüren und stürzte dann heulend und zähneklappernd zu ihrer Herrin mit dem Verlangen, ihr Hülfe zu schaffen. Am liebsten hätte sie den russischen Doctor selbst zu jeder Zeit in der Küche gesehen, um ihn sofort bei der Hand zu haben. Es war nach ihrer Meinung unverantwortlich, daß er zu Fremden lief und seine eigene Hausgenossenschaft im Stiche ließ.
Armin hatte, auf das unablässige Andringen seiner Cousine, Tropfen verschreiben müssen, und dieselben schienen denn auch große Beruhigung auszuüben. Marianne ließ das Fläschchen kaum aus den Händen. Außerdem räucherte sie in allen Zimmern; schon in ziemlicher Entfernung vom Hause merkte man den unablässigen Opferdampf, von dem nur das Arbeitszimmer des Doctors auf seinen ganz bestimmten Befehl verschont bleiben mußte.
»Wenn es euch beruhigt, thut, was ihr wollt,« sagte er; »Frauen sind eben wie die Kinder. Aber laßt mich in Ruhe und meine Arbeitsstätte.«
Es war auffallend, wie die Hülfesuchenden aus allen Ständen plötzlich das Haus des russischen Doctors belagerten. Der Ruf seiner Geschicklichkeit, Güte und Uneigennützigkeit hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet; bei Tag und bei Nacht ertönte die Hausglocke, die ihn rief, und die Arbeit mehrte sich, seit der alte Stadtarzt erkrankt war. So kam es denn, daß das Ausbleiben Hilmar's seinen Gastgeber viel weniger beschäftigte, als es in ruhigen Zeiten der Fall gewesen sein würde; ja, es war für ihn eine Beruhigung, ihn jetzt nicht in der Nähe Desirées zu wissen.
Am Morgen des vierten Tages aber, als noch keinerlei Kunde von dem Entschwundenen eingelaufen war, sagte er: »Heute werde ich einen Boten aussenden, der Nachforschungen anstellt, wo Ussikow geblieben, obgleich ich wette, daß er nachher mit Recht schilt. Wenn man ihn suchen läßt wie ein Kind, das sich verlief, wird er ironisch fragen, warum man ihn nicht ausschellen ließ. Er wird in irgend einem malerischen Versteck seine Zeichenmappe füllen. Ich möchte ihn aber doch hier haben, um ihn … fortschicken zu können, zunächst nach Vevey.«
Er warf nach diesen Worten einen flüchtigen Blick auf Desirée, die sich, als er anfing zu reden, rasch und geräuschlos erhoben hatte, um sich am Fenster bei den Blumen etwas zu schaffen zu machen. Sie wurde auch dermaßen von ihnen in Anspruch genommen, daß sie sogar sich nicht wendete, als Armin aufgestanden war und den Frauen sein »Auf Wiedersehen!« zurief. Ein leises Echo nur tönte zu ihm herüber von ihr: das Köpfchen blieb über die Blumen geneigt, die Hände zupften nervös an den Blättern.
Armin preßte die Zähne zusammen: eine wilde Ungeduld, eine leidenschaftliche Qual durchwogte ihn. Er hätte die zarte Gestalt an sich reißen mögen mit der verzweifelnden Frage: »Habe ich denn auch dein Vertrauen verloren? Liebst du ihn wirklich, diesen Fremden? Soll es denn nicht mehr deine Heimath sein dies kleine Haus, das einst deine Mutter beherbergte?«
Aber er sah jetzt auch, daß Mariannens Augen mit verwundertem Ausdruck an ihm hingen, und so nahm er sich denn mit Gewalt zusammen und verließ schweigend das Zimmer.
Mittags erschien statt seiner ein Bote mit der Nachricht, daß der Herr Doctor erst Abends heimkehren werde. Der fremde Herr sei gefunden, er liege krank im Dorf Grünfelden; morgen solle Iwan zu ihm hinausgehen mit einem Vorrath von Wäsche und bei ihm bleiben, da er einstweilen nicht transportirt werden könne. Alles Nähere werde der Herr Doctor selber erzählen.
Es war Desirée selber, die diese weitläufige und doch wieder ziemlich verworrene Mittheilung in Empfang nahm, mit zitternden Knieen und wild schlagendem Herzen. Wenige Minuten später stand sie vor Marianne.
»Um Gottes willen, wie siehst du aus, was fehlt dir?« rief das Fräulein erschrocken. »Nimm sofort die Tropfen! Himmlischer Vater, du wirst uns doch den Typhus nicht in's Haus bringen? Hier nimm! Dieser Theelöffel enthält das richtige Maß.«
Das Mädchen wehrte ungeduldig ab.
»Mir fehlt nichts; aber er liegt am Typhus in einem Dorfe ohne jede Pflege. Iwan soll morgen zu ihm. Morgen erst … o Gott, wie lang ist es noch bis morgen!«
»Aber wer denn, Kind? Armin?«
»Ach nein, wer anders als Hilmar! Ich bitte Sie, gehen Sie gleich zu ihm!«
»Was sagst du Unvernünftige! Ich soll zu einem fremden Manne gehen? Aber in aller Welt, weshalb denn?«
»Um ihn zu pflegen, um ihn zu retten! Bei eben dieser Krankheit, hörte ich den Onkel sagen, thut Pflege alles … Und bedenken Sie, daß er in einer dumpfen, engen Bauernstube unter rohen, fremden Menschen liegt, allein und verlassen. Vielleicht ist niemand da, der ihm einen Trunk reicht während der Fieberqual … Und Sie müssen ihn ja pflegen – jede Minute der Verzögerung bringt ihn dem Tode näher!«
»Ich muß? … Bist du wahnsinnig, Desirée? Weshalb in aller Welt denn ich?«
»Weil er Sie liebt!« rief das Mädchen verzweiflungsvoll. »Weil er Sie zu seiner Frau machen will!«
Einen Moment stand Marianne wie erstarrt, dann aber zuckte sie die Achseln: »Mein Kind, und wenn Herr von Ussikow mich selbst bis zur Tollheit liebte, wovon ich übrigens bis zur Stunde noch nichts bemerkt habe, so würde ich dies Haus um seinetwillen auch nicht auf eine Stunde verlassen. Erstens wäre das durchaus unpassend – selbst von einer Verlobten – und würde ein entsetzliches Gerede geben; zweitens könnte ich mir selber die Schreckenskrankheit und möglicherweise sogar den Tod holen. Uebrigens würde ich in keinem Falle einen Antrag dieses Herrn annehmen, denn ich verlasse meinen Vetter nie! … Und nun komm zu Tische, mein Kind; es ist schon eine halbe Stunde über Essenszeit. Ich finde es rücksichtslos von Armin, uns so spät Botschaft zu schicken. Der Fisch wird natürlich verdorben sein … Aber wie exaltirt du bist! Das liegt freilich in deiner Nationalität. Wenn Herr von Ussikow gerettet werden kann – die schwächlichen Menschen kommen gewöhnlich besser durch als die kräftigen – so rettet ihn unser russischer Doctor. Ein Glück ist und bleibt es immerhin, daß er nicht hier im Hause liegt. Transportfähig scheint er nicht mehr zu sein; sonst hätte mein Vetter ihn hierherschaffen lassen, ohne Rücksicht auf uns, darauf gehe ich jede Wette ein. Und nun zwinge dich, etwas zu essen … nur keinen leeren Magen in solchen Zeiten! Die Sache alterirt mich auch; aber ich werde tüchtig essen, denn unser Doctor braucht mich. Nach Tische versuche ich etwas zu ruhen, dann verfliegt diese befremdliche Stimmung. Ich bin froh, daß mein Vetter dich nicht so sah!«
»Kein Wort zu ihm von allem, was ich Ihnen sagte, … bitte, bitte!«
»Wenn du weiterhin vernünftig bist, werde ich schweigen.«
War das »vernünftig«, ruhelos hin und her zu irren durch Garten und Haus, die Minuten zu zählen bis zum Abend, in die Ferne zu starren mit brennenden Augen, die Hände an die Stirne gepreßt, ob denn die unbarmherzige Sonne noch immer nicht untergehen wollte? Und wirre Gebete zu stammeln, die alle einem einzigen galten, der jetzt vielleicht ruhelos sich herumwarf und vergebens nach einer Hand sich sehnte, die ihm das Kissen glättete.
Dann und wann rief sie Iwan herbei und flüsterte mit ihm – um nachher immer von neuem ihre Wanderung anzutreten.
»
Comme le jour me dure,
Passé loin de toi!«
Wenn Doctor Elbthal hätte ahnen können, mit welcher Sehnsucht man nach ihm ausschaute und ihn erwartete – aber ach, mit einer Sehnsucht, die nicht ihm galt – würde er sich dann wohl so beeilt haben, nach Hause zu kommen?
Die Dunkelheit war schon hereingebrochen, als er todmüde eintrat und sich im Wohnzimmer in seinen Sessel warf.
Desirée schrie auf, als sie ihn sah.
»Nun, Papillon, fürchtest du dich vor mir? Habe ich dich erschreckt?« fragte er. »Marianne, gib mir etwas Kräftiges zu essen … ich muß früh zu Bett. Schicke mir Iwan.«
Marianne eilte hinaus, ohne eine Frage zu thun. Desirée näherte sich ihm und reichte ihm die Hand.
»Armer Onkel, hast du dich so sehr anstrengen müssen?« sagte sie mit erstickter Stimme. »Wie sieht es aus?«
»In Grünfelden meinst du, Kind?« antwortete er melancholisch und streichelte flüchtig ihr Haar. »Er ist plötzlich erkrankt: wie schwer, kann sich erst morgen entscheiden. Ich fahre Vormittags wieder hinaus. Natürlich ist an kein Fortschaffen zu denken; aber die Wohnung ist leidlich, das Bett gut. Das kleine Haus gehört einer alten halbtauben Frau, die so viele Mitglieder ihrer Familie schon sterben sah, daß Krankheit und Tod ohne Schrecken für sie sind. Warten wir das Uebrige ab … Iwan,« sagte er, zu dem Eintretenden gewandt, »ich hoffe, du fürchtest dich nicht, morgen in aller Frühe aufzubrechen, um deinem kranken Landsmann Wäsche und Erquickungen hinzutragen und mich dort zu erwarten. Ich denke einen Pfleger oder eine Pflegerin bis dahin aufzutreiben.«
»Nichts fürchten!« sagte Iwan und warf einen verstohlenen Blick auf Desiree. »Herr befehlen, Iwan gehorchen.«