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Das Zwiegespräch zwischen Monos und Una

 

Μελλοντα ταυτα –

Sophokles, Antigone

 

Una: Ist das nun – die Wiedergeburt?

Monos: Ja, schönste, geliebteste Una, das ist die Wiedergeburt. Wie lange habe ich einst über den verhüllten Sinn dieses Wortes gegrübelt, da ich die Auslegungen der Priesterschaft nicht anerkennen wollte – bis mir der Tod selbst das Rätsel löste.

Una: Der Tod – –

Monos: Wie seltsam, süße Una, klingt mir dieses Wort aus deinem Munde wider! Auch zaudert, ich sehe es wohl, dein Fuß im Weiterschreiten, und deine Augen künden eine freudige Erregung. Es bedrückt und verwirrt dich, da sie dir noch neu ist, die Erhabenheit des ewigen Lebens. Ja, so sagte ich: der Tod. Und welch eigenartigen Klang hat hier dieses Wort, das einst von altersher alle Herzen mit Schrecken erfüllte und sich wie ein Meltau auf alle Freuden legte!

Una: Ja, der Tod, der als gespenstischer Gast an jeder festlichen Tafel saß. Wie oft, Monos, verloren wir uns in grüblerische Betrachtungen über sein Wesen! Wie stellte er sich mit seiner geheimnisvollen Macht allem menschlichen Glücke in den Weg und gebot sein »Bis hierher und nicht weiter«! Als einst, mein einziger Monos, die tiefste wechselseitige Liebe in unsrer Brust entbrannte und als uns ihr erstes Aufquellen mit Glück erfüllte – wie wähnten wir da, daß mit ihrem Erstarken auch dieses Glücksgefühl erstarken würde. Und wie trog uns dieser Wahn! Ach, wie sie wuchs, so wuchs auch in unsren Herzen die Angst vor jener furchtbaren Stunde, die unaufhaltsam nahte, um uns für immer voneinander zu scheiden. So wurde Liebe zur Qual. Wie eine Gnade hätten wir es damals hingenommen, wenn wir hätten hassen können, anstatt zu lieben.

Monos: Sprich nicht hier von jenen Qualen, süße Una, da du nun mein bist – mein für immer!

Una: Und doch – schenkt uns nicht die Erinnerung an überwundenes Leid gegenwärtiges Glück? Es drängt mich, noch viel von den Dingen der Vergangenheit zu reden. Vor allem brenne ich darauf, zu vernehmen, wie es dir erging, als du durch das dunkle Tal der Schatten wandertest.

Monos: Und wann hätte die herrliche Una je ihren Monos um etwas vergeblich gebeten? Ich will dir alles gewissenhaft erzählen. Aber wo soll ich mit dem seltsamen Bericht beginnen?

Una: Wo – –?

Monos: So fragte ich.

Una: Monos, ich verstehe dich. Im Tode haben wir beide erfahren, wie töricht das Bemühen der Menschen war, die Grenzen des Unbegrenzbaren bestimmen zu wollen. Also sage ich nicht: Beginne mit dem Augenblick, da das Leben deines Leibes erlosch – wohl aber: Beginne mit dem entsetzlichen Augenblick, da das Fieber von dir wich, da du in eine Starre ohne Atem und Bewegung versankst und ich deine bleichen Lider schloß, indessen meine Finger von meiner leidenschaftlichen Liebe bebten.

Monos: Erst vergönne mir, meine Una, ein Wort über die allgemeine Lage, in der sich damals die Menschheit befand. Du entsinnst dich wohl, daß ein oder zwei weise Männer zur Zeit unsrer Vorväter (sie waren wahrhaft weise, obzwar sie in den Augen der Welt nicht dafür galten) zu der Erkenntnis gelangt waren, daß an der Richtigkeit des Wortes »Fortschritt« zu zweifeln sei, wenn man es auf die Vervollkommnung unsrer sogenannten Zivilisation bezog. In jedem der fünf oder sechs Jahrhunderte vor unsrem Tode gab es Zeiten, da ein machtvoller Menschengeist erstand und kühn nach jenen Grunderkenntnissen strebte, deren Wahrheit jetzt unsrem von Fesseln befreiten Geiste so völlig klar erscheint, – Erkenntnissen, aus denen das Menschengeschlecht hätte lernen sollen, daß es besser täte, sich der Herrschaft der Naturgesetze zu unterwerfen, als sich deren Beherrschung anzumaßen. In langen Zwischenräumen gab es Meister des Erkennens, die in jedem Fortschritt des praktischen Wissens einen Rückschritt auf dem Wege zur wahren Zweckmäßigkeit erblickten. Zuweilen war es die Erkenntniskraft der Dichter – wir empfinden jetzt, daß sie die lauterste von allen war, da jene Wahrheiten, die für uns allezeit die wichtigsten waren, nur mit Hilfe jener gleichsetzenden Versinnbildlichung ermessen werden können, die allein für das Einbildungsvermögen Beweiskraft hat, während der bare Verstand ihr kein Gewicht beimißt – zuweilen war es, sage ich, die Erkenntniskraft der Dichter, der auf dem Entwicklungswege der ahnenden philosophischen Idee ein Schritt vorwärts gelang. Sie fand in der geheimnisvollen Parabel vom Baume der Erkenntnis und seiner verbotenen, todbringenden Frucht einen deutlichen Hinweis, daß für den Menschen bei dem unmündigen Zustande seiner Seele das Wissen ein unbrauchbares Ding ist. Die Dichter wurden im Leben wie im Tode von den »Utilitaristen« mit Geringschätzung bedacht, rohen Kleinigkeitskrämern, die sich einen Titel anmaßten, der viel eher den von ihnen Verachteten gebührt hätte. Und die Dichter dachten mit sehnsüchtigem Schmerz, in dem doch Weisheit war, an jene vergangenen Tage zurück, da unsere Bedürfnisse ebenso einfach wie unsere Freuden echt und maßvoll waren; Tage, da man das Wort »Lust« nicht kannte, so feierlich tiefgetönt war das Glück; geheiligte, erhabene und selige Tage, da blaue Flüsse in ungekämmtem Lauf zwischen Hügeln, deren Pflanzenwuchs noch unberührt wucherte, dahinflogen in weite, uralte, duftende und unerforschte Waldeinsamkeiten. Aber diese edlen Ausnahmen vermochten nichts, als den Widerstand zu vermehren, mit dem die allgemeine Torheit ihnen begegnete. Ach, wir hatten damals die schlimmsten aller unserer schlimmen Erdentage begonnen. Der große »Fortschritt« (so lautete ja wohl das üble Schlagwort) setzte sich unaufhaltsam fort: Eine krankhafte sittliche und leibliche Aufruhrerscheinung ... Die Kunst – oder sagen wir: die Künste, im weitesten Sinne, stiegen zur höchsten Höhe empor, und da man sie einmal auf den Thron gesetzt hatte, legten sie den Verstand in Ketten, dem sie doch ihre Erhebung zur Macht verdankten. Da der Mensch nicht umhin konnte, die Erhabenheit der Natur anzuerkennen, verfiel er in ein törichtes Frohlocken ob seiner erworbenen und stetig wachsenden Herrschaft über ihre Elemente. Eben weil er in seiner eigenen Einbildung als Gott einherstolzierte, wurde er von einer kindischen Verstandesschwäche befallen. Er erlag in zunehmendem Maße der ansteckenden Krankheit, die sich darin äußert, daß man alles in »Systeme« bringen und durch Abstraktionen ausdrücken will – wie sich das denn aus der ganzen Ursache seines krankhaften Justandes erklärt. Er umwickelte sich gewissermaßen mit Gemeinplätzen. Unter andern wunderlichen Ideen gewann auch die einer »allgemeinen Gleichheit« an Boden. Man verschloß seine Ohren vor der lauten Warnungsstimme des Gesetzes von der Stufenfolge (Gradation), das sichtbarlich alle Dinge im Himmel und auf Erden durchdringt; und im Angesicht Gottes, im Angesicht des großen Beispiels hub ein wildes Experimentieren an, um eine allesbeherrschende »Demokratie« einzuführen. Dieses Übel entsprang indessen folgerichtig der Wurzel alles Übels, der »Erkenntnis«. Der Mensch konnte entweder »wissen« oder sich unterordnen; nicht aber beides zugleich. Während dieser Entwicklung wuchsen riesige qualmende Städte aus dem Boden, in unmeßbarer Zahl. Das grüne Laub verschrumpfte unter dem glühenden Anhauch der Schlote. Das edle Angesicht der Natur wurde entstellt, als wäre es von einer ekelhaften Krankheit verwüstet. Mich dünkt, süße Una, damals hätte uns unser schlummerndes Empfinden für das Gezwungene und gewaltsam Aufgepfropfte dieser Zustände Einhalt gebieten müssen. Aber es scheint mir nun, als hätten wir in der krankhaften Verbildung unsres natürlichen Geschmacks (oder, richtiger gesagt, infolge der blinden Vernachlässigung seiner pflegsamen Ausbildung in unsern Schulen) an unsrer eigenen Verderbnis gearbeitet; denn nur dieser angeborene Geschmack – ich verstehe darunter jene Fähigkeit, die in der Mitte liegt zwischen der reinen Vernunft und dem sittlichen Empfinden und die man noch nie ungestraft außer acht gelassen hat – nur dieser Geschmack hätte uns in dieser Entscheidungszeit gütig wieder hinleiten können zur Schönheit, zur Natur, zum Leben. Weh uns! Wohin war der reine, beschauliche Geist und die erhabene innere Anschauung eines Plato entschwunden, wohin die Harmonie, die, μουσιχη, in der sein sicheres Empfinden ein vollkommenes und zulängliches Bildungsmittel für die Seele erkannt hatte? Weh uns! Lehrer und Lehre waren eben in dem Augenblick am meisten dem Vergessen und der Verachtung zum Opfer gefallen, da sie uns am bittersten notgetan hätten. »Nur schwerlich wird es gelingen, ein besseres Erziehungsmittel zu entdecken, als es die Erfahrung so manchen Menschenalters bereits entdeckt hat. Und wenn wir es zusammenfassend nennen, so besteht es in gymnastischen Übungen für den Körper und in Musik ?μουσιχη für die Seele.« (Republ. lib. 2). »Auf dem Wege zu diesem Ziele ist eine musikalische Erziehung das wichtigste Mittel; denn sie führt dazu, daß Rhythmus und Harmonie in vollkommener Weise die Seele durchdringen und die stärkste Macht über sie gewinnen, da sie sie mit Schönheit erfüllen und den Menschen edel und gut machen. – Er wird das Schöne recht würdigen und bewundern, wird ihm mit Freuden Eingang in seine Seele gewähren, wird davon zehren und seine ganze Verfassung mit ihm in Einklang bringen« (ebenda lib. 3). – Das Wort »Musik« hatte indessen bei den Athenern eine viel umfassendere Bedeutung als bei uns. Es begriff nicht nur die Harmonielehre vom Zeitmaß und von der Tonfolge, sondern auch den dichterischen Ausdruck, das dichterische Empfinden und den dichterischen Schaffensvorgang, alles das im weitesten Sinne. So war das Studium der »Musik« bei den Athenern in der Tat eine umfassende Ausbildung des Geschmacks – eben des Sinnes, der das Schöne erfühlt – im Gegensatz zur Vernunft, deren Aufgabe nur das Erkennen des »Richtigen« ist.

Pascal, ein Philosoph, dem unser beider Liebe gilt, hat einstmals gesagt, » que tout notre raisonnement se réduit à céder au sentiment«, daß es all unsere Verstandeskraft schließlich doch dabei bewenden läßt, unserm persönlichen Gefühl zu folgen. Wie wahr ist das! Und es ist nicht unmöglich, daß das Gefühl für das Natürliche, hätte die Zeit es nur gestattet, schließlich doch sein früheres Übergewicht über das rohe mathematische Vernunftwesen unsrer Schulen wiedererlangt hätte. Aber es sollte anders kommen. Noch vor der Zeit, gewaltsam beschleunigt durch das maßlose Schwelgen in »Erkenntnis«, kam das Greisenalter der Erde heran. Die Mehrzahl der Menschen sah das freilich nicht oder verschloß absichtlich ihre Augen davor, indessen sie unmäßig, also glücklos drauflos lebte. Mich indessen hatten die Zeugnisse aus der Geschichte der Erde gelehrt, in dem schlimmsten Zusammenbruch den Kaufpreis für die höchste Zivilisation zu erblicken. Ich hatte dieses Vorherwissen unsres Schicksals geschöpft aus einem Vergleich Chinas, des schlichten und darum widerstandsfähigen, mit dem Baumeister Assyrien, dem Sterndeuter Ägypten und mit Nubien, dem kultiviertesten von allen, der unruhschwangeren Mutter aller Künste und Kunstfertigkeiten. Aus der Historie Historie, engl. history, hier vermutlich wegen seiner Abstammung vom griechischen ίστορειν, betrachten, gebraucht.
Anm. d. Übers.
dieser Länder gewann ich die sichtbare Vordeutung unsrer eigenen Zukunft. Die eigenartig ausgeprägte Verkünstelung der drei letztgenannten war eine örtliche Erkrankung der Erdrinde, und in ihrem eigenartig ausgeprägten Niedergang sahen wir örtliche Heilmittel angewandt. Für die verseuchte Welt im ganzen aber vermochte ich kein andres Mittel zur Heilung wahrzunehmen als – den Tod. Da das Menschengeschlecht als solches nicht ausgetilgt werden konnte, so blieb ihm, das wußte ich, nur die »Wiedergeburt.«

Und nun, Schönste und Geliebteste, spannen wir unsern Geist täglich in Träume ein. Nun geschah es oft, daß wir im Abenddämmern von künftigen Tagen redeten, von Tagen, da das durch technische Künste verschrammte und entstellte Angesicht der Erde jene Läuterung erfahren würde, die allein mit den rechtwinkligen Abscheulichkeiten aufräumen konnte, und da die Erde sich wieder bedecken würde mit dem Grün und den sanften Hügelhängen und den lächelnden Wassern des Paradieses – um schließlich wieder eine gute Wohnstatt für Menschen zu werden. Für Menschen freilich, die im Tode geläutert waren, für deren von Schlacken befreiten Geist die Erkenntnis kein Gift mehr war – für eine erlöste, wiedergeborene, glückselige und nun unsterbliche Menschheit, die aber immer noch der Welt des Körperlichen und Greifbaren angehörte.

Una: Wohl erinnere ich mich, teurer Monos, dieser Gespräche. Aber die Zeit des flammenden Unterganges stand noch nicht so nahe bevor, wie wir glaubten und wie uns die Verderbnis, von der du sprichst, mit Sicherheit zu verkünden schien. Die Menschen lebten und starben einzeln. Auch du wurdest krank und sankest ins Grab; und deine getreue Una folgte dir alsbald nach. Wenn auch das seitdem verflossene Jahrhundert, dessen Beschluß uns nun wieder vereinigt, unsre schlummernden Sinne nicht mit Ungeduld ob seiner langen Dauer zu peinigen vermochte – es war, mein Monos, doch noch ein ganzes Jahrhundert.

Monos: Sag' lieber: Es war ein Punkt in der Unendlichkeit. Fraglos war die Zeit, da ich starb, das Greisenalter der Erde. Da mein Herz geschwächt war von Angst und Sorge um den allgemeinen Aufruhr und Verfall, erlag ich dem wilden Fieber. Es vergingen ein paar Tage voller Schmerzen, und es vergingen zahlreiche Tage voll von Wahnvorstellungen im Hindämmern und in Zuständen der Verzückung. Du hieltest sie, in Irrtum befangen, für Schmerzen, und ich war nicht fähig, dir diesen Irrtum zu nehmen, so gern ich es auch gewollt hätte. Dann kam, wie du schon sagtest, eine Starre ohne Atem und Bewegung über mich, und die mein Lager umgaben, nannten sie Tod.

Ein Wort ist ein ungewisses Ding. Mein neuer Zustand raubte mir keineswegs die Fähigkeit, wahrzunehmen. Er erschien mir nicht allzu unähnlich dem vollkommenen Ruhegefühl eines Menschen, der nach einem langen und tiefen Schlaf an einem Mitsommernachmittag reglos und ganz ausgestreckt liegt und nun langsam ins Bewußtsein zurückkehrt, nicht weil ihn eine Störung der Außenwelt geweckt hätte, sondern ganz einfach darum, weil er sich satt geschlafen hat.

Ich atmete nicht mehr. Meine Pulse standen still. Das Herz hatte aufgehört zu schlagen. Mein Wille war nicht von mir gewichen, aber er war machtlos geworden. Meine Sinne waren ungewöhnlich rege, aber es war eine gleichsam verworrene Regsamkeit, und einer übernahm oft aufs Geratewohl die Verrichtungen des andern. Die Grenzen zwischen Geschmacks- und Geruchssinn waren auf seltsame Art verwischt, und beide verschmolzen zu einem Sinn von übernatürlicher Eindringlichkeit. Das Rosenwasser, mit dem du in meiner letzten Stunde zärtlich mir die Lippen benetzt hattest, es gaukelte mir die Bilder köstlicher Blüten vor, märchenhafter Blüten, lieblicher als ich sie je auf der alten Erde gesehen hatte, und doch denen ähnlich, die einst auf Erden sich um uns entfalteten. Meine Augenlider, durchsichtig und blutlos, verhinderten das Sehen nicht völlig. Da mein Wille nichts mehr ausrichtete, vermochte ich die Augäpfel nicht in ihren Höhlen zu bewegen – aber alle Dinge innerhalb meines Gesichtskreises konnte ich mehr oder minder deutlich sehen. Dabei brachten die Strahlen, die auf die äußere Netzhaut oder in die Ecke des Auges fielen, eine lebhaftere Wirkung hervor als die, welche das Auge von vorn oder auf seiner inneren Oberfläche trafen. Im ersteren Falle war die Wirkung so ungewöhnlich stark, daß ich sie nur als Ton empfand – als wohlklingenden oder mißklingenden Ton, je nachdem die wahrgenommenen Dinge licht oder dunkel waren, runde oder eckige Umrißlinien hatten. Zugleich war mein Gehör, obzwar von überreizter Schärfe, doch in regelmäßiger Tätigkeit und verzeichnete alle irdischen Geräusche mit ungeheurer Genauigkeit und Empfindlichkeit. Einer tiefergreifenden Veränderung war der Tastsinn unterworfen. Er nahm die Eindrücke immer erst nach einer Weile auf, aber hielt sie hartnäckig fest, und sie klangen jedesmal in ein tiefes, körperliches Lustgefühl aus. So war es auch mit dem Druck deiner lieben Finger auf meinen Augenlidern: Zuerst nahm ich ihre Berührung nur durch das Sehen wahr, dann aber, nachdem du längst die Hand zurückgezogen hattest, erfüllte sie mich ganz mit einem unermeßlichen sinnlichen Entzücken. Ich sage: Mit sinnlichem Entzücken. Denn alle meine Wahrnehmungen waren rein sinnlicher Art. Der Beobachtungsstoff, den die Sinne dem untätigen Gehirn zuführten, konnte in keinem noch so geringen Umfang zu Vorstellung und Gestalt verarbeitet werden, da der Verstand gestorben war. Schmerz fühlte ich bei alledem nur wenig, Lust dagegen sehr viel – aber es war nicht eine Spur von geistigem Schmerz- und Lustgefühl darin. Dein verzweifeltes Weinen, klagende Kadenzen, flutete als Tonwellen in mein Ohr, und ich nahm jeden Wechsel der traurigen Laute deutlich wahr. Aber sie waren für mich liebliche musikalische Klänge, nicht mehr; sie vermittelten meiner erloschenen Vernunft nicht die leiseste Vorstellung von dem Schmerz, dessen Ausdruck sie waren. Und indessen die, welche um dich waren, an den schweren Tränen, die du unaufhörlich auf mein Antlitz herabtropfen ließest, ermaßen, daß dein Herz vor Weh brach, erzitterte jede Fiber meines Körpers in Entzücken, nur in Entzücken. Und das war nun in der Tat der Tod. Die andern sprachen von ihm ehrfurchtsvoll und in gedämpftem Flüstern, du aber, süße Una, stöhnend vor Schmerz und mit lautem Wehklagen.

Sie legten mir ein Sterbegewand an – drei oder vier dunkle Gestalten waren damit beschäftigt, indem sie eilfertig hin- und wiederglitten. Wenn sie meine unmittelbare Sehlinie kreuzten, nahm ich sie als »Gestalt« wahr; wenn sie sich indessen mir zur Seite bewegten, außerhalb meines Blickes, war die Wirkung ihres Da-Seins auf mich gleich der von Ächzen, Schreien und andern furchtbaren Lauten des Schreckens, der Angst, des Schmerzes. Nur du, in ein weißes Gewand gekleidet, wurdest mir überall zum Wohllaut.

Der Tag schwand dahin; und während sein Licht verblich, erfüllte mich eine wachsende, unbestimmte Unruhe, dem Angstgefühl gleich, das ein Schlafender empfindet, wenn schwermutsvolle Töne aus der Wirklichkeit fortgesetzt an sein Ohr dringen, leise, ferne Glockenklänge, feierlich, in langen und doch gleichen Zwischenräumen folgend, und sich in seine schwermutsvollen Träume mischen. Es kam die Nacht, und mit ihren Schatten kam lastende Traurigkeit über mich. Sie legte sich drückend auf meine Glieder, wie ein plumpes Gewicht, fühlbar. Auch vernahm ich einen dumpfen Ton, nicht unähnlich dem fernen Rückprall der Meeresbrandung, aber anhaltender; er fing mit dem Beginn der Dämmerung an, und er wuchs an Stärke, je mehr die Dunkelheit herabsank. Plötzlich wurden Lichter in den Raum gebracht, und sogleich wurde aus dem abbrechenden brandungsähnlichen Geräusch ein oftmaliger und ungleichmäßiger Ausbruch immer des gleichen knirschenden Lautes, der indessen weniger traurig klang und auch weniger deutlich war. Der auf mir lastende Druck wurde fühlbar leichter; und von den Flammen jeder Lampe (es waren ihrer viele im Zimmer) flutete nun wohlklingend ein unaufhörlicher einförmiger Gesang in mein Ohr. Wenn du nun, geliebte Una, dich dem Bette nähertest, auf dem ich ausgestreckt lag, wenn du dich zärtlich an meiner Seite niedersetztest und der duftende Atem deines Mundes mich umfächelte, wenn du deine süßen Lippen auf meine Stirn legtest, etwas gewann dann Leben in meiner Brust, zitternd noch und vermischt mit den rein sinnlichen Empfindungen, welche die Vorgänge meiner Umgebung in mir auslösten – etwas, das einem Gefühl der Seele verwandt war; ein Gefühl, das deine große Liebe und Treue halb empfand und halb mitempfindend zurückgab. Aber es vermochte nicht Wurzel zu fassen in meinem starren Herzen, es schien mehr Schatten als Wirklichkeit; es schwand rasch wieder dahin, und es wurde zuerst zu vollkommenster Ruhe, dann zu einer rein sinnlichen Lust wie zuvor.

Und nun war es, als sei aus dem wirren Trümmerwerk meiner menschlichen Sinne ein sechster Sinn in mir erstanden, der ganz vollendet war. Ihn anzuwenden bereitete mir ein wildes Entzücken, aber es war immer noch ein körperliches Entzücken, denn der Verstand hatte keinen Teil daran. Jede Bewegung im animalischen Sinne hatte völlig aufgehört. Kein Muskel spielte mehr, kein Nero zuckte, keine Ader schlug. Wer es war, als wäre in meinem Gehirn jäh jenes Etwas erstanden, von dem kein Menschenwort einem menschlichen Fassungsvermögen auch nur eine undeutliche Vorstellung vermitteln kann. Laß es mich ein geistiges Pendelschwingen nennen. Es war die übersinnliche Gestaltwerdung dessen, was die Menschen mit dem abstrakten Begriff »Zeit« benennen. Durch die unbedingte Ausgleichung dieser Bewegung (oder einer ihr gleichzusetzenden) ist einst der Kreislauf der Weltkörper im All geregelt worden. Mit ihrer Hilfe konnte ich die Unregelmäßigkeiten im Gang der Uhr auf dem Kamin oder der Uhren, die in den Taschen der anwesenden Personen staken, feststellen. Ihr Ticken klang deutlich und hell an mein Ohr. Die geringsten Abweichungen von geregeltem Gang – und diese Abweichungen herrschten vor – wirkten so auf mich, wie im Leben Vergehen gegen den Wahrheitsbegriff auf das sittliche Empfinden zu wirken pflegten. Obwohl nicht zwei Uhren im Zimmer die einzelnen Sekunden genau gleichzeitig anzeigten, machte es mir keine Schwierigkeiten, sie alle in ihren besonderen Gangarten ununterbrochen zu verfolgen und die sich ergebenden Abweichungen jeden Augenblick anzumerken. Und dieses unbeirrbare, völlig eigen und unabhängig von irgendwelcher Aufeinanderfolge von Ereignissen da-seiende Gefühl für Dauer, das für Menschen wahrscheinlich nicht faßlich und unbegreifbar gewesen wäre, diese Idee – dieser sechste Sinn, erstanden aus den Resten der erloschenen Sinne –, das war der erste offenbare und gewisse Schritt der zeitlosen Seele über die Schwelle der zeitlichen Ewigkeit.

Es war Mitternacht; und immer noch saßest du an meiner Seite. Alle andern waren aus dem Gemach des Todes hinweggegangen. Man hatte mich in den Sarg gebettet. Die Lampen brannten mit flackernder Flamme, ich erkannte das an dem Zittern der eintönigen Melodie. Plötzlich aber verlor diese Melodie an Deutlichkeit und Tonstärke. Zuletzt hörte sie gänzlich auf. Der Duft in meinen Nasenflügeln schwand dahin. Ich vermochte keine Formen mehr wahrzunehmen. Der Alp der Finsternis hob seine Last von meiner Brust. Eine dumpfe Erschütterung, gleich einem elektrischen Schlage, ging durch meinen Leib, und es folgte ihr der völlige Verlust des Zusammenhangsgefühls mit der Außenwelt. Alles das, was die Menschen »Sinne« nennen, versank und ertrank in dem einzigen Bewußtsein des wesenhaften Seins und in der einzigen, ununterbrochenen Empfindung der Dauer. Den sterblichen Leib hatte nun endlich die Hand des totenhaften Verfalls getroffen.

Und doch war noch nicht jedes Empfindungsvermögen von mir gewichen; denn das Bewußtsein und der mir noch verbleibende Rest des Gefühls versahen ihre Verrichtungen durch einen Sinn, den ich die Intuition des Todesschlafs nennen möchte. Ich verzeichnete die fürchterlichen Veränderungen, die sich jetzt an meinem Fleisch vollzogen; und wie ein Träumender zuweilen die körperliche Gegenwart eines, der sich über ihn beugt, gewahr wird, so, süße Una, fühlte ich dumpf, daß du mir zur Seite saßest. So entgingen mir auch, als der Mittag des zweiten Tages kam, die Bewegungen nicht, die dich von meiner Seite entfernten, die mich in den Sarg einschlossen, die mich in den Leichenwagen schoben und mich meinem Grabe entgegentrugen, die mich in dieses mein Grab senkten und die schwere Erde auf mich häuften, – und es entging mir nicht, wie man mich dann, da ich in Finsternis und Verwesung lag, dem dumpfen und feierlichen Schlaf in der Gesellschaft der Würmer überantwortete.

In diesem Gefängnis, das nur wenige Geheimnisse zu enthüllen hat, ließ ich Tage und Wochen und Monde an mir vorüberrollen. Und die Seele überwachte genau jede fliehende Sekunde und verzeichnete ohne Mühe diese Flucht der Zeit – ohne Muhe, aber auch ohne Zweck.

Ein Jahr verging. Das Bewußtsein des Seins war stündlich unbestimmter geworden, und an seine Stelle trat das einer reinen Raumesempfindung. Das Gefühl des seelischen Da-Seins ging unter in dem des räumlichen. Der enge Raum, der unmittelbar das umgab, was früher der Körper gewesen war, wurde nun zum Körper selbst. Endlich aber widerfuhr mir, was oft dem Schlafenden widerfährt (denn der Schlaf allein und seine Welt vermag eine Vorstellung vom Tode zu geben). Wie es uns zuweilen auf Erden geschah, wenn wir in tiefem Schlummer lagen und irgendein aufblitzendes Licht halb uns erweckte, halb uns im Bann unsrer Träume ließ –: so kam zu mir, da ich in der unlöslichen Umarmung des Schattens lag, das Licht, das allein die Kraft besaß, mich zu treffen, das Licht der unvergänglichen Liebe. Männer durchwühlten die Gruft, darinnen mich das Dunkel umschloß. Sie warfen die feuchte Erde auf. Und auf meine modernden Gebeine senkten sie Unas Sarg herab.

Dann aber war wiederum alles leer. Das nebelumhüllte Licht war erloschen. Jenes schwache Erzittern war in sich selbst verebbt und wieder zur Reglosigkeit geworden. Manches Lustrum war verflossen. Staub hatte sich wieder zu Staub gesellt. Die Würmer fanden nichts mehr zum Fraß. Das Gefühl des Seins war zuletzt völlig verschwunden, und an seiner Statt – anstatt aller andern Dinge – herrschten die ewigen Machthaber, Raum und Zeit genannt. Das, was nicht war – das, was keinen Gedanken hatte – das, was kein Gefühl besaß – das, was zur Lautlosigkeit verstummt war und an der Materie keinen Teil mehr hatte – all das war ein Nichts und war doch unsterbliches Leben. Noch war ihm das Grab eine Heimstätte, und die fressenden Stunden waren seine Gefährten.


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