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August 1817.
An honest man's the noblest work of God.
Pope
1.
Lies die Vorschriften, welche hier folgen, oft; präge sie dir genau ein und laß den Vorsatz, ihnen treulich nachzuleben, immer fester, lebendiger und laß ihn unverbrüchlicher in dir werden, als ein Schwur ist.
2.
Deine Religion sei die der Vernünftigen. Sie bestehe im Glauben an die große, alles durchdringende Seele, deren Körper wir die Welt nennen; im Glauben an eine Vorsehung, deren lenkende Gegenwart alle Vorfülle deines Lebens dir unverkennbar bewiesen.
3.
Laß keine Zweifel, keine Zweifler dich irre machen. Es ist weder möglich, noch denkbar, daß du mit menschlichem Verstände die Gottheit und die ursprüngliche Erschaffung der Dinge begreifen könnest, da du nur einen so kleinen Teil des Universums übersiehst und selbst diesen nur sinnlich und von außenher erkennst. Ins Innere der Natur, sagt uns Haller mit Recht, dringt kein erschaffner Geist.
4.
Denke aber deshalb nicht, verpflichtet zu sein, dasjenige als wahr anzunehmen, was dir von den Menschen überliefert worden. Sobald du einmal die Vernunft unterdrücken mußt, so hat dein Glaube weder bestimmtes Ziel, noch Grenze. Du möchtest dann das Schicksal jenes englischen Bischofs haben, dem die Mysterien des Christentums nicht genügten und der es in der guten Meinung, sich im Glauben zu üben, so weit brachte, daß er auch die Feenmärchen für wahrhaftige Dinge hielt.
5.
Die Vorsehung zu glauben, die du niemals körperlich erkennen kannst, ist der Beschränktheit deiner menschlichen Natur angemessen; aber denke nicht, Gott könne fordern, daß du Dinge anerkennst, die dem gesunden Verstände widersprechen, den er dir gab, durch den du ihm angehörst.
6.
Teile nur denen deine Grundsätze mit, die von gleichen oder ähnlichen beseelt sind. Laß die herrschende Religion unangefochten. Niemand, der sich nicht selbst überzeugt, wird von dir überzeugt werden. Die Weltverbesserung geht einen sehr langsamen Weg. Laß die Zeit gewähren. Alle Anschläge einer plötzlichen Aufklärung mißlangen.
7.
Sogenannte Religionsstreite führe niemals und breche das Gespräch ab, sobald man dir Gelegenheit dazu geben möchte.
8.
Ehre im Christentum die Reinheit seiner Moral und alles, was geehrt zu werden verdient. Ehre in seinem Stifter, was dir bei einem Platon oder Mark-Aurel Bewunderung ablockt, und noch mehr als dies. Er fühlte mehr, was das schwache Menschengeschlecht zumeist bedürfe – feste Bestimmung seiner schwankenden Meinungen, untrügliche Aussichten. Er glaubte sich berechtigt und berufen, dasjenige im Namen der Gottheit selbst zu verkündigen als gewiß und unfehlbar, was er in seiner großen Seele für wahr und unumstößlich hielt; nämlich daß alles Gute gute, alles Böse aber endlich böse Früchte erzeugen müsse. Gewiß wurden viele jener Dogmata, die späterhin seine Jünger und deren Nachfolger ausbreiteten, niemals von ihm beabsichtigt.
9.
Die Idee der Gottheit wird dich unausweichlich zu dem Glauben einer Fortdauer der Geister führen, ohne welche das Leben ohne Sinn wäre. Nicht der Geist verläßt den Körper, wie man gewöhnlich sagt, sondern der Körper, welcher der Abnahme und dem Tode vermöge seiner Materie unterworfen ist, verläßt notgedrungen den Geist, und obgleich dieser fortbesteht, so muß uns doch die Sichtbarkeit seiner Wirkungen verborgen bleiben, sobald der Körper die Werkzeuge versagt hat. Die Stockung der Lebenssäfte, die Verengung der Blutgefäße, oder eine Bleikugel, eine Giftpflanze, die für den Leib zerstörend sind, stehen zu wenig in Relation mit unserer Denkkraft und sind zu wenig homogen mit ihr, um ihr den mindesten Schaden bringen zu können.
10.
Deine Vernunft, gleichsam ein Ausfluß des Weltgeistes, würde nicht irren können, wenn sie nicht auf eine unbegreifliche Weise mit dem Körper vereinigt und von ihm beschränkt wäre. Je mehr also jene von körperlichen Motiven und Einwirkungen beherrscht wird, desto mehr mißtraue ihr.
11.
Versäume den Körper nicht, von dem dein ganzes Erdensein abhängt. Unterrichte dich, was ihm frommt und was ihm verderblich ist. Verachte ihn nicht; aber auf der andern Seite bedenke, wie sehr er eine träge, unbrauchbare und verwesende Masse sei, sobald er des Lebens, das ihn beseelte, ermangelt.
12.
Quäle dich nicht mit Mutmaßungen über ein künftiges Sein. Sobald du die Zwecke deines jetzigen immer vor Augen hattest, so ist dein Leben vollendet, wenn dich auch der Tod mitten unter deinen Hoffnungen und Plänen hinwegnimmt.
13.
Der Zweck deines Lebens sei Vervollkommnung im Guten. Gut ist alles, was zur Gesundheit deines eignen Körpers und Geistes wie jener anderer Menschen beiträgt.
14.
Aufrichtiges Wollen genügt, um das Gute rein zu erkennen. Aber nur Nachdenken und Aufmerksamkeit auf uns selbst führen zu jenem schnellen Scharfblick und jener Feinheit der Unterscheidungskraft, die bei den mannigfachen und verwickelten Ereignissen unsers Lebens so nötig sind.
15.
Verliere nie jenen Lebenszweck aus den Augen, auch bei Kleinigkeiten niemals. Glaube, daß keine Handlung so geringfügig sei, um nicht irgend eine Tugend durch sie zu fördern. Bei körperlichen Schmerzen und unangenehmen Geschäften übe mindestens die Geduld, deren der Mensch so sehr und so oft bedarf, und welche die beste Schützerin ist gegen die üble Laune.
16.
Der Gute trägt nicht allein durch ausdrückliche That und Belehrung zum Wohl anderer bei. Sein Leben gleicht vielmehr einem fruchttragenden Schattenbaume, bei dem jeder Vorübergehende Labung und Schutz findet, der uneigennützig und selbst unwillkürlich auf das umgebende Erdreich glückliche Keime ausstreut, wodurch er Gleiches, ihm selbst Aehnliches hervorbringt.
17.
Was du thust, vertraue auf die Vorsehung und vertraue auf dich selbst. Eines von diesen ohne das andere wird dir selten frommen; aber beide vereinigt retten dich aus jeder Lage, ermutigen dich in jedem Unternehmen.
18.
Droht ein Unfall dich in die tiefe Schwermut der Verzweiflung hinabzustoßen, ermanne dich an deiner göttlichen Natur. Was könnte den zu Boden schlagen, dessen Wille frei ist und Keinem unterworfen?
19.
Wende alle Mühe an, wie der weise Seneca sagt, daß du dich durch irgend eine Gabe bemerkenswert machest.
20.
Aber wende dich nicht bloß nach einer Seite. Strebe nach deutlichen Begriffen über alles. Gib keine Wissenschaft ganz auf; denn die Wissenschaft ist nur eine.
21.
Befolge auch Garves Rat: die Kunst und Klugheit, den ganzen Menschen wenigstens erträglich zu zeigen, wenn er gleich nur durch eine Seite seinen wahren Ruf in der Welt erhält: dies ist es, was dem vernünftigen Manne zu erreichen obliegt.
22.
Beständige Thätigkeit und tägliche Betrachtung deiner selbst und der Wege der Gottheit seien dir Losungsworte. Sie werden jeden Fehltritt von dir abwenden.
23.
Gönne dir übrigens so viele Erholung dir nötig ist, aber auch nicht mehr, wenn nicht ein unangenehmes Gefühl dein Lohn sein soll.
24.
Zwinge dich zur bösen Stunde zu keiner Arbeit, die dir nicht ausdrücklich Pflicht ist. Hasse aber auf der anderen Seite den Aufschub, den Young mit Recht den Dieb der Zeit nennt. Diese Regeln haben ihre Ausnahmen, die sich nicht mißkennen lassen.
25.
Bringe Abwechslung in deine Studien und Lektüren. Wer nur wenig auf einmal liest, behält dies Wenige desto besser.
26.
Hüte dich vor allzuvielem und schnellem Lesen. Lies vielmehr mit Bedacht, lege öfters das Buch beiseite, präge dir das Gelesene ein und sinne darüber nach.
27.
Excerpiere aus den Schriften, die du liesest, doch nur die wahrhaft bedeutenden Stellen, nicht allein solche, die dir gefallen und deiner unwillkürlichen Stimmung zusagen. Durchgehe aber auch von Zeit zu Zeit deine Auszüge.
28.
Erwäge jeden Schritt, den du vorhast, sobald deine Leidenschaften mit im Spiele sind. Wie oft gewinnen die Dinge ein ganz anderes Aussehen, sobald sie bedacht werden.
29.
Sei dagegen rasch entschlossen in allem, was du als unzweifelhaft, tadelfrei und pflichtgemäß erkennst und wobei du auf keine Weise zu fürchten hast, bloßgestellt zu werden.
30.
Bewahre die Unbescholtenheit deines Namens und bringe ihn rein und makellos auf die Nachwelt. Laß dich durch keinen guten Zweck zu zweideutigen Mitteln hinreißen.
31.
Bei allen Dingen liebe die Mäßigung, eine Tugend, die schwerer ist, als sie scheint, aber notwendiger als eine. Glaube aber nicht, daß das Schlimme durch Mäßigung könne geadelt werden.
32.
Fliehe die Wollust, die nicht allein den Körper, sondern auch den Geist schwächt. Beweise, daß du Herr deiner selbst bist. Halte alle sinnliche Liebe, sobald sie von der geistigen gesondert ist, für unerlaubt, des Menschen unwürdig. Suche deine geistige und sinnliche Natur so viel möglich in Harmonie zu bringen. Veredle deine Sinnlichkeit.
33.
Schränke deine Bedürfnisse ein, so viel es dir möglich ist, um so viel möglich deine Freiheit zu bewahren. Mancher, sagt Horaz, dient lieber in Ewigkeit, eh er lernt, mit wenigem zu leben.
34.
Ueberlaß dein Boot auf dem Meere des Schicksals nicht den Wellen, sondern rudere selbst; aber rudere nicht ungeschickt. Noch einmal, überlege.
35.
Sei auf das Schlimmste gefaßt. Laß dich nie vom Schmerz hinreißen, verbirg ihn immer. Die Dinge, welche am meisten gewünscht werden, sagt La Bruyère, geschehen nicht, oder wenn sie geschehen, so ist dies nicht zu der Zeit oder in den Umständen, wo sie ein äußerstes Vergnügen würden verursacht haben.
36.
Sei immer wahr und offen und hasse jede Art von Gezwungenheit und Verstellung. Scheue dich nicht, deine Unwissenheit, deine Ungeschicklichkeit zu gestehen. Deine Thorheiten und Fehler vertraue nur wenigen.
37.
Bemerke, höre, schweige. Urteile wenig, frage viel.
38.
Scheue den bösen Schein nicht bei guten Absichten. Sei nicht zu stolz, ihn, wenn er auf dir ruht, zu zerstreuen, sobald es dir möglich ist. Wo nicht, hülle dich in deine Tugend, wie Horaz sagt.
39.
Sei gern allein bei übler Laune. Bei andern sei so viel möglich aufgeräumt. Es ist unglaublich, wie sehr kummervolles, mürrisches Wesen entstellen kann; wie sehr Heiterkeit für sich einnimmt.
40.
Wenn du verdrießlich bist, so frage dich ernstlich selbst: Was ist die Ursache meiner Verdrießlichkeit? Läßt sie sich nicht heben? Was soll ich thun? Meistens wird sie zu heben sein.
41.
Sei pünktlich. Laß nie Unordnung in deinen Habseligkeiten und Papieren einreißen. Mustere von Zeit zu Zeit deine Papiere, vernichte die unnützen.
42.
Scheine lieber zu freigebig als zu sparsam; aber verschwende nichts. Spare in Kleinigkeiten. Lerne entbehren.
43.
Wenn du zwischen Wahrheit und Lüge in die Enge kömmst, entscheide dich ohne Nachsinnen für die Wahrheit. Sie ist immer die bessere, gesagt zu werden.
44.
Sei auf deiner Hut vor Aufwallungen des Zorns. Laß deinen Unmut niemals Leute fühlen, die dir nichts darauf erwidern dürfen oder mögen.
45.
Compesce mentem. Bezwinge den Eigenwillen. Es wird dir nicht an Gelegenheit fehlen, deine Festigkeit zu zeigen. Den Trotz aber verbanne von da, wo er nicht hingehört.
46.
Deine Reue sei lebendiger Wille, fester Vorsatz. Klage und Trauer über begangene Fehler sind zu nichts nütze.
47.
Wenn du des Morgens erwachst, übersinne den Tag. Suche ihm seine günstige Seite abzugewinnen, wenn dir auch unangenehme Geschäfte bevorstehen.
48.
Fahre fort, wie bisher ein Tagebuch zu führen. Der Nutzen ist mannigfach und auch das Vergnügen. Aber mache dir strenge Aufrichtigkeit zur Pflicht. Es sei dir nicht bloß Erinnerung, es sei dir Mittel, dich selber kennen zu lernen.
49.
Was die Poesie betrifft, schreibe wenig; verspare es so viel möglich auf eine andere Zeit, wo dein Geschmack mehr geläutert, deine Beschäftigungen geringer sind. Versäume ihretwegen nicht bessere, vorgenommene Arbeiten, da Unruhe die Strafe dafür sein würde. Fühlst du aber unwiderstehlich den Drang der Stunde, so laß dich auch durch keine Nebenidee irre machen. Jede Arbeit behalte lange für dich und spare keine Feile, sie zu vervollkommnen. Befolge hierüber die Regeln, die Horaz gibt.
50.
Lege deine Schriften Leuten vor, die aufrichtig darüber urteilen können und wollen. Urteilen sie, daß du invita Minerva, schreibst, so entschwöre dich für immer den Musen, und mit Ernst.
51.
Bewahre in allen Angelegenheiten die Klarheit des Geistes. Hüte dich vor den Thorheiten der Liebe. Glaube zwar, daß die ersten Eindrücke von Bedeutung seien; aber laß dich nicht von ihnen hinreißen. Studiere die Physiognomik bei gleichgültigen Personen, aber nicht bei solchen, für welche du anfängst Leidenschaft zu fühlen, weil sie dich bei dieser sicher wird irre führen. Fliehe allen Selbstbetrug. Gewöhne dich, nur innern, anerkannten Wert zu lieben und das Aeußere mehr als eine Klippe deiner Vernunftfreiheit zu betrachten. Täusche dich nicht durch tönende Worte, durch selbstgeschaffene Götzenbilder! Sobald du dem Wahne nicht nachgibst, wird er nie um sich greifen. Wolle nur vergessen, und du kannst. Fliehe deshalb die Personen nicht, die dir gefährlich werden könnten. Suche sie eher näher kennen zu lernen: dies wird dich am ersten heilen, oder du liebst mit Recht. Nimm dir fest vor, die Schüchternheit zu überwinden, welche dir ihre Gegenwart einflößt, und du wirst viel gewonnen haben. Vor allem, denke nicht an die Abwesenden.
52.
Vorzüglich wird hiezu erfordert, daß du Herr deiner Gedanken bist. So schwer es auch sein mag, seinen Lieblingsideen nicht nachzuhängen, nimm es gleichwohl über dich, sie zu bekämpfen. Glaubst du, auf Spaziergängen nicht davor sicher zu sein, nimm ein Buch mit dir und lies aufmerksam. Aber lies, was deiner Seelenstimmung entgegenstrebt, nicht etwa den Petrarca oder pastor fido, der dieselbe noch verschlimmern würde.
53.
Lebe den Pflichten und Beschäftigungen nach, die dein Stand dir auflegt; aber bedenke immer, daß du vorzüglich für deine Ausbildung als Mensch zu sorgen hast.
54.
Unter allen Ländern bist du doch immer dem Vaterlande am meisten schuldig. So lange aber, wie es in monarchischen Staaten der Fall ist, unter dem Worte Vaterland nur der Dienst des Fürsten gemeint ist, so sind deine Pflichten gegen dasselbe niemals absolut und sehr den Verhältnissen unterworfen.
55.
Wenn es dir jemals erlaubt ist, in einem kleinen Zirkel befreundeter Menschen zu leben, so kannst du unter ihnen das Wohl der Menschheit mehr befördern, als wenn du ewig einem Fürsten dientest.
56.
Sobald du Partei nehmen mußt, wähle nach eigener Ueberzeugung die gerechte. Biete nicht Volksaufständen die Hand. Durch sie wird nicht das Reich der Vernunft gegründet.
57.
Fliehe Verschwörungen und geheime Gesellschaften. Bei ihnen geht der gute Ruf und die Unverletztheit des Gewissens verloren. Sie verkündigen Freiheit, während man Sklaverei bei ihnen findet. Sie sind ärger als Inquisitionen. Sie lösen die edlern Bande des Bluts, der Wahl, der Freundschaft. So viel auch die Tugend bei ihnen genannt wurde, ihre Tugend heißt doch immer der Zweck.
58.
Nur in tyrannischen Staaten können geheime Verbindungen löblich sein. Bis jetzt dürfen sich die Gleichgesinnten noch öffentlich die Hand reichen, und wir wollen hoffen, die Gutgesinnten machen einen Teil der Nation aus, der nicht so gering ist, um sich verstecken zu müssen. Zur Zeit, als der französische Kaiser in Deutschland herrschte, war eine geheime Verbindung allerdings etwas Löbliches. Alles aber, was man Orden nennt, was mit Verkappungen, mit heimlichen Zeremonien u. dgl. verbunden ist, meide ohne Unterschied.
59.
Nimm mit Wohlwollen an allem teil, was die Menschheit. ihre Fortschritte und was auch die einzelnen Individuen betrifft. Sei erkenntlich für alles.
60.
Das Urteil der Menge mache dich immer nachdenkend, aber niemals verzagt.
61.
Gehe zu niemanden und laß niemand von dir, sagt Herr von Knigge, ohne ihm etwas Verbindliches oder Belehrendes gesagt oder auf den Weg mitgegeben zu haben.
62.
Verlasse jede Gesellschaft, jeden Menschen, jedes Haus dergestalt, daß du nie scheuen darfst, dieselben wieder zu treffen, dasselbe wieder zu besuchen.
63.
Alle gleichgültigen und nicht näher bekannten Menschen, die dich «bordieren, empfange mit Artigkeit und gutem Willen. Spiele aber nicht den Zuvorkommenden. Bleibe zurückhaltend und trocken, bis du Ursache hast, dich näher an sie anzuschließen.
64.
Ein Gleiches gilt von neuen Bekanntschaften. Sei niemals Enthusiast für sie, wenn sie dir auch gefallen. Schenke ihnen niemals dein Vertrauen. Rede nicht von dir selbst mit ihnen (wie du denn überhaupt so wenig als möglich von dir selbst reden sollst) und usurpiere nicht das Amt der Zeit. Sicher wirst du sie näher kennen lernen, wenn sie dir wirklich ähnlich sind.
65.
Glaube nicht, daß alle Personen, die deine Sympathie auf den ersten Anblick in Anspruch nehmen, für dich geschaffen wären; denn die Erfahrung widerlegt es.
66.
Desto vertrauender sei gegen deine Freunde. Thue alles für sie, was in deiner Macht steht! Denn, sagt Pope mit Recht, wenn du abziehst, was andre fühlen, was andre denken, so erkranken die Freuden, und aller Ruhm sinkt. Laß dich durch keine Drohung, durch kein Schicksal von deinen Freunden abschrecken.
67.
Vertraue ihnen; denn ohne Vertrauen kommen nie zwei Menschen sich wahrhaft nahe. Bewahre aber nicht allein alles Anvertraute, sondern ebenso heilig alles Gesagte, was nicht für jedermann ist.
68.
Lies niemals fremde Papiere, Briefe, Tagebücher ec., die du zufällig liegen siehst.
69.
Sieh deine Freunde weder zu oft, noch zu selten.
70.
Versprich wenig, besonders nicht in Kleinigkeiten, halte aber, trotz aller Hindernisse, das Versprochene. Stütze dich nicht auf Versprechungen derer, die du nicht näher kennst.
71.
Traue lieber zu sehr, als daß du mißtrauest. Glaube nicht mit La Rochefoucault und seinen Nachfolgern, daß alle Menschen und alle ihre Worte und Thaten bloß von ihrem Vorteile regiert werden, wenn du dir anders selbst uninteressierte Handlungen zutraust.
72.
Briefwechsel ist so angenehm als nützlich. Ueberhäufe ihn aber nicht. Unterhalte so viel möglich keine Korrespondenzen aus Höflichkeit.
73.
Von gemeinen Menschen, von Leuten ohne Erziehung halte dich in kalter, obgleich nicht stolzer Entfernung. Denn, wie ein morgenländischer Spruch sagt, Kälte nur bändigt den Schlamm, damit er den Fuß nicht beschmutze.
74.
Gegen Geringere sei höflicher als gegen Höhere.
75.
Befolge die Maxime Mark-Aurels, jeden, auch den unbedeutendsten Schwätzer, aufmerksam und genau anzuhören. Du gewinnst dadurch, teils in der Neigung des Menschen, teils auch durch das, was er sagt, doch immer mehr, als wenn du zerstreut bist.
76.
So wenig du versäumen sollst, abwechselnd die Einsamkeit zu suchen, so wenig fliehe die Gesellschaft. Du lebst, um unter Menschen zu sein.
77.
Suche in jeder Gesellschaft gut gelitten zu werden; aber suche nicht zu glänzen.
78.
Fade Assembleen, Spielgesellschaften besuche so selten du kannst, oder ziehe dich bald daraus zurück. Mit Höflichkeitsbesuchen sei sparsam.
79.
Trinkgelagen weiche aus. Ziehe dich wenigstens nach der ersten halben Stunde zurück, wenn du sie nicht versagen kannst.
80.
Meide die Karten so viel als möglich. Es wird dir niemals zur Schande gereichen, wenn du nicht spielst.
81.
Im Umgang mit den Weibern lasse dich nie wie ein Geck zu ihnen herab; suche sie vielmehr zu dir emporzuziehen. Enthalte dich abgeschmackter Schmeicheleien; aber habe gewisse unbedeutende Aufmerksamkeiten für sie, die man bei Männern vernachlässigt. Scheine nie eine einzelne vorzuziehen.
82.
Manches mag im gewöhnlichen Zeremoniell, in den gangbaren Höflichkeitsbezeugungen vorkommen, was unter deiner Würde ist. Thue hier lieber zu wenig, als zu viel. Rede niemals, wenn du nicht den Drang fühlst. Erkläre dich an den Orten, die du besuchst, frei, wie du es hältst. Man wird sich an deine Weise gewöhnen.
83.
Vermeide den Handkuß, so viel es nur immer möglich ist. Auch reiche nicht gleich jedem die Hand.
84.
Lege alles vorlaute, alles ausgelassene Wesen für immer ab. Sprich nie ein tadelndes Urteil oder eine Spötterei über irgend einen in Gegenwart von Menschen, die nicht deine Vertraute sind. Selbst wenn sie mit einstimmen, bist du niemals sicher, daß sie es nicht hinterbringen, besonders in leidenschaftlichen Augenblicken.
85.
Schone die Thörichten und Boshaften, so lange es die Redlichkeit und deine eigene Würde erlaubt.
86.
Sei niemals schüchtern und befangen ohne Ursache. Alle, mit denen du zu thun haben kannst, sind Menschen wie du, haben ihre Thorheiten und Schwächen. Die besseren und weiseren unter ihnen hast du ohnedies nicht zu scheuen. Sobald du dir vertraust, sagt Goethe, sobald weißt du zu leben.
87.
Lerne zu reden; aber lerne auch zuzuhören. Rede deine Sprache rein von Provinzialismen und Fehlern gegen die Sprachlehre. Es ist der niedrigste Grad von Bildung.
88.
Suche die Muttersprache auszubreiten. Rede mit Deutschen keine fremde, es wäre denn nötiger Uebung wegen. Was eine andere Sprache vor der deinigen voraus hat, was nicht in der deinigen liegt, glaube, daß dies auch nicht im Charakter der Nation liege.
89.
Fürchte nicht für die Mangelhaftigkeit dieser Gesetze. Alle Fälle lassen sich nicht erwähnen. Dir bleibt dein Nachdenken, dein freier Wille, diese Vorschriften. Du wirst ein leidlicher Mensch werden, wenn du sie treu befolgst.