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Erster Akt.

Erste Szene.

Rosaria und Herr Totò.

Beim Aufgehen des Vorhangs ist das Zimmer in Unordnung. Mehrere Stühle inmitten der Szene aufeinandergestellt; die Sessel nicht an ihrer Stelle usw. Durch den allgemeinen Auftritt kommt Rosaria mit Morgenhaube auf dem Kopfe und Lockenwickeln in den schlecht rotgefärbten Haaren. Sie sieht aus wie ein äußerst dummes zänkisches Huhn. Es folgt ihr Herr Totò, Hut auf dem Kopf, Miene eines schlauen Fuchses, am Kragen eng zugeknöpft, etwa wie ein Geistlicher. Er reibt sich unausgesetzt die Hände am Kinn, als wollte er sie an der Quelle seiner süßsauren Anmut waschen.

Rosaria: Erlauben Sie mal, warum kommen Sie eigentlich jeden Morgen hierher? Sehen Sie denn nicht, daß noch alles in Unordnung ist?

Totò: Was macht denn das? Meinetwegen, teuerste Rosaria …

Rosaria fährt ärgerlich auf, dreht sich um, gleich als wolle sie ihn mit dem Schnabel hacken: Was das macht?

Toto unangenehm berührt, mit einem schwachen Versuch zu lächeln: Ich meine, das sehe ich gar nicht … Ich muß Ihnen doch den Schlüssel dalassen, damit Sie ihn meinem Bruder, dem Doktor, geben, wenn der Ärmste von seinem Nachtdienst aus dem Krankenhause kommt.

Rosaria: Schon gut. Den Schlüssel könnten Sie mir an der Tür geben, ohne groß einzutreten.

Toto: Aber es ist mir doch eine liebe Gewohnheit, diese …

Rosaria: Sagen wir lieber eine Ungezogenheit.

Toto: Sie sind schlecht zu mir, Rosaria.

Rosaria: Ich habe zu tun! Ich habe zu tun, mein Lieber. Und außerdem paßt es mir nicht, verstehen Sie! So wie ich bin … Sie zeigt auf die Haarwickel. Und hier die Stühle … Die Beine in der Luft! Ein anständiges Haus hält auf sich, wie auch eine anständige Frau auf sich hält.

Toto: Ich glaub's schon! Ich glaub's schon! Und ganz besonders gefällt es mir, Sie so reden zu hören.

Rosaria: Was Sie nicht sagen! Das macht Ihnen Spaß … Sie sollten sich lieber klarmachen, daß Sie damit gegen den Anstand verstoßen.

Toto ganz eingeschüchtert: Ich?

Rosaria: Allerdings. Was bilden Sie sich ein? Bei diesen Worten stellt sie die umgekehrten Stühle aufrecht und zieht mit grotesker Schamhaftigkeit die Leinenüberzüge wieder herunter, gleich als ob sie einem Kinde die Beine wieder bedeckte. Gott sei Dank weiß ich, was sich gehört, in meiner Stellung bei einem Herrn, der … sie macht eine Gebärde des Bedauerns und zeigt nach der Tür rechts … der, wenn er könnte, auch die Stühle auf und davon jagen würde, verstehen Sie, nur um nichts davon zu sehen und zu hören, so sehr ist er immer in Aufregung … wenn's nach mir ginge, ich wäre lieber irgend ein gemeiner Stuhl, worauf die Ausschreier auf dem Jahrmarkt herumtrampeln, anstatt solch ein Möbel in diesem Hause. Sie weist mit der erhobenen Hand nochmals nach rechts. … Dieser Grobian! So packt er sie an! Packt einen Stuhl bei der Lehne. – Wenn er wütend ist, dann ist ihm alles gleich, dann fuchtelt er in der Luft damit herum und stößt sie auf die Erde, daß sie beinah in Stücke gehen.

Toto: Sie machen das wieder gut. Sie gehen sanft mit ihnen um, fast wie mit Kindern …

Rosaria: Selbstverständlich gehe ich sanft mit ihnen um, denn ich hänge doch an ihnen.

Toto: Schön, ein Heim zu haben!

Rosaria: Soll das heißen, daß Sie keins haben? Dann will ich Ihnen auch sagen weshalb. Weil Sie keinen Dienstboten halten wollen.

Toto: Meine beste Rosaria, unter Heim verstehe ich eine Familie.

Rosaria: So heiraten Sie doch! Oder nehmen Sie sich eine tüchtige Hausdame, die den Fall mit Liebe behandeln würde; das wäre auch sehr gut für den Doktor, Ihren Bruder.

Toto sofort mit Schaudern: Ich heiraten? Um Gottes willen! Dann mit einem Seufzer: Ja, wenn's mein Bruder täte, das wäre was andres, und ich schwöre Ihnen, daß ich mich darüber sehr freuen würde. Aber er tut es nicht, er tut es nicht, ich bin ja da.

Rosaria: Na, Sie können ihm doch nicht die Frau ersetzen.

Toto: Nein, aber ich versorge doch alles! Das genügt ihm. Und so fühlt er kein Bedürfnis. Wenn er in aller Frühe von seinem Nachtdienst kommt, weiß er, daß Sie den Schlüssel haben, und zu Hause findet er alles vor, was er braucht.

Rosaria: Sehr bequem für ihn.

Toto: Ich tue es von Herzen gern, glauben Sie mir's. Mein Bruder ist mein Alles. Das Haus ist für ihn da, nicht für mich.

Rosaria: Freilich, Sie sind ja auch den ganzen Tag in der Apotheke …

Toto: Nein, nein, so meine ich's nicht. Er, der Ärmste, ist ja auch den ganzen Tag auf den Beinen bei seinen Patienten … Ich meine es so, liebe Rosaria: Haus ist nicht das, was wir uns erarbeitet und angeschafft haben und was unsere tägliche Sorge bleibt. Das wahre Haus ist etwas ganz Besonderes. Ein Begriff, um den sich ein unbeschreiblicher Duft lagert, so wie wir das Wort nur aussprechen. Ein Duft von Erinnerungen an Freuden und Schmerzen. Das wahre Haus ist das, was andere für uns bauten, ich meine: unser Vater und unsere Mutter mit ihren Sorgen und Mühen. Und auch für Vater und Mutter war es wieder ihr Elternhaus und nicht das, was sie für uns gebaut haben. In Gedanken und Erinnerungen verloren. Und so fort … Da kommt Paolino.

Zweite Szene.

Paolino und die Vorigen.

Paolino tritt hastig von rechts auf. Er ist ein Mann von ungefähr 30 Jahren, beängstigend lebhaft, eine Folge seiner ständigen Unbefriedigtheit. Alle Leidenschaften, alle Regungen seiner Seele spiegeln sich in seinem äußeren Wesen mit überraschender Deutlichkeit. Er fährt häufig auf und wechselt ständig Stimme und Laune. Er duldet keinen Widerspruch und schneidet alles kurz ab.

Paolino zu Toto: Morgen, morgen, mein Bester. … Und plötzlich zu Rosaria gewandt: Haben Sie ihm noch nichts gegeben? So beeilen Sie sich schon, zum Donnerwetter! Wie lange soll er denn jeden Morgen mit Ihnen herumschwätzen, bis er die lumpige Tasse Kaffee bekommt?

Toto: Aber um Gottes willen, Paolino, daran habe ich gar nicht gedacht.

Paolino: Lieber Toto, tu mir den einzigen Gefallen – werde jetzt nicht auch noch Heuchler, du alter Geizkragen.

Toto: Ich sprach ja nur …

Paolino sofort einhakend: Vom Hause, schon eine halbe Stunde hast du vom Hause gesprochen. Ich habe alles von dort gehört. Von der Poesie des Hauses.

Toto: Erlaube mal, ich empfinde das so.

Paolino: Das bezweifle ich durchaus nicht. Aber du gebrauchst diese poetischen Empfindungen, um damit halbwegs anständig deine eigene Knickrigkeit zu bemänteln.

Toto: O nein …

Paolino: Doch! Doch! Was ich gesagt habe, stimmt aufs Haar. Sobald Rosaria dir den Kaffee gebracht haben wird, gehst du deiner Wege und reibst dir auf der Treppe die Hände vor Freude über das Täßchen Kaffee, das du mir jeden Morgen mit deinem poetischen Gewäsch abluchst.

Toto: Hör' mal, wenn du das glaubst … Ärgerlich, macht Miene zu gehen.

Paolino hält ihn plötzlich am Arm fest: Wo willst du denn hin? Du mußt doch erst deinen Kaffee trinken! Es ist doch wahr, gib's doch zu.

Toto: Nicht doch.

Paolino: Ja doch … Und weil es wahr ist, mußt du jetzt gerade deinen Kaffee trinken.

Toto: Nein, ich trinke ihn nicht.

Paolino fortfahrend, mit steigender Erregung: Zum Donnerwetter ja! Zwei Tassen! Drei Tassen! Vier Tassen! Du hast sie jetzt verdient, mein Junge, weil du den schönsten Grund lieferst, mir ordentlich Luft zu machen. Wenn ich etwas bei mir behalten muß, zeigt auf den Magen, lieber Freund, bin ich hin! Also, wie gesagt, täglich eine Tasse, auf meine Kosten. Und nun mach', daß du fortkommst. Er schiebt ihn hinaus, als wenn die Sache erledigt wäre; und da Toto Miene macht, sich umzudrehen, fährt er wieder auf: Nein, mach nur, daß du fortkommst, keinen Dank!

Toto: Ich danke dir ja gar nicht! Im Gegenteil, es wäre mir lieber, wenn du mir zu danken hättest.

Paolino fährt zornig auf: Was soll das heißen?

Toto bescheiden wie immer: Nun ja, ich will den Kaffee bezahlen, etwa am Ende eines jeden Monats, wie ich es dir vorgeschlagen habe.

Paolino: Bin ich ein Kaffeewirt? Ist mein Haus ein Kaffeehaus?

Toto: Nein, aber ich habe doch niemand, der ihn mir zu Hause macht. Du hast doch deine Wirtschafterin. Du machst ja den Kaffee gar nicht, um ihn mir zu verkaufen. Du machst ihn für dich. Nun, da machst du eben ein Täßchen mehr, und ich bezahle es.

Paolino: Sieh mal an! Ich nehme eine Frau. Aber nicht, um sie dir zu verkaufen. Ich nehme sie für mich. Doch für fünf Minuten täglich könnte ich sie dir abtreten. Ist es so recht? Was sind denn fünf Minuten!

Toto lächelnd: So meine ich's nicht. Die Frau hat gar nichts …

Paolino: Ach, und die Wirtschafterin?

Toto nicht verstehend: Wie?

Paolino schreiend: Der Kaffee macht sich doch nicht von allein! Zum Kaffeemachen braucht man doch eine Wirtschafterin, Schafskopf, oder warum meinst du, ist ein Arbeiter reicher als ein Professor? Weil ein Arbeiter, wenn er will, sich alles allein machen kann, während ein Professor das nicht kann. Der Professor muß eine Wirtschafterin halten!

Rosaria honigsüß und schmeichelnd einfallend: Aber natürlich. Die ihn bedienen, ihn versorgen muß, die ihm alles nach Wunsch tut …

Paolino durchschaut sie und bricht los: Schon gut! Schluß!

Rosaria beleidigt und mit der Absicht des Widerspruchs: Ich meine ja nur, damit er ordentlich und nicht vernachlässigt erscheint, wenn er ausgeht.

Paolino: Danke. Zu Toto: Hörst du's? Und weil ich das Glück habe, Professor zu sein, soll ich mich auf diese Weise herumärgern dürfen und du als Apotheker nicht? Immer besser! – Scher dich zum Teufel! Rosaria, heute geben Sie ihm noch den Kaffee, von morgen ab hat die Sache ein Ende.

Toto: Entschuldige mal, du hast mich auch Schafskopf genannt …

Paolino: Ach so! Na, dann geben Sie ihm auch morgen welchen. Aber jetzt mach, daß du fortkommst! Du hast es wohl darauf abgesehen, daß ich dich beleidige, damit du für jede Beleidigung eine Tasse Kaffee hast?

Toto: Nein, nein, ich gehe schon … besten Dank! Geht mit Rosaria links ab.

Dritte Szene.

Paolino, dann die Schüler Lilie und Schöne.

Paolino: Was es für Menschen gibt! Was es für Menschen gibt! Wenn sie alle so wären …! Nicht auszudenken!

Es klopft.

Lilie hinter der Szene: Herr Professor, wir sind da.

Paolino: Alle Wetter, jetzt kommt ja schon die erste Stunde. Herein!

Es treten auf mit Büchern unterm Arm die Knaben Lilie und Schöne. Der eine trägt ein rotes, der andere ein blaues Halstuch. Lilie sieht aus wie ein schwarzer Bock, Schöne wie ein Affe mit einer Brille.

Lilie: Guten Morgen, Herr Professor.

Schöne Guten Morgen, Herr Professor.

Paolino: Guten Morgen. Setzen Sie sich. Zeigt auf den Schreibtisch.

Lilie setzt sich: Danke, Herr Professor.

Schöne setzt sich: Danke, Herr Professor.

Paolino in einer Anwandlung von Galgenhumor, macht erst dem einen, dann dem anderen eine Verbeugung: O bitte, bitte, lieber Lilie! Bitte, lieber Schöne! Dann blickt er sie an und faucht plötzlich los: Ahhhh! Nimmt seinen Kopf in die Hände: O Gott, o Gott, o Gott! Das Leben unter Menschen ertrage ein anderer. Mir wird es bald nicht mehr möglich sein.

Lilie: Warum, Herr Professor?

Schöne Gilt das uns, Herr Professor?

Paolino schaut sie mit verhaltenem Zorn an: Wie alt sind Sie?

Lilie: Achtzehn, Herr Professor.

Schöne Siebzehn, Herr Professor.

Paolino schüttelt den Kopf in Betrachtung ihres tierischen Aussehens: Und beide schon ausgewachsene Menschen! Sagen Sie mal: wie heißt im Griechischen Schauspieler?

Lilie: Im Griechischen?

Paolino: Nein, im Arabischen! Sie wissen es also nicht! Zu Schöne Und Sie auch nicht?

Schöne Schauspieler? Ich erinnere mich nicht.

Paolino: So, Sie erinnern sich nicht? Damit wollen Sie sagen, daß Sie es früher wußten, nicht wahr? Und jetzt erinnern Sie sich nicht mehr?

Schöne Nein, ich habe es niemals gewußt.

Paolino: So ist's recht! Silbe für Silbe. Ich – weiß – es – nicht! Aufgepaßt, ich werde es Ihnen sagen. Schauspieler heißt im Griechischen hypokrites. Und warum hypokrites? Zu Schöne Sie: was machen die Schauspieler?

Schöne Hm … sie sagen eine Rolle auf, glaube ich.

Paolino: Glauben Sie das? Sind Sie dessen nicht sicher? Und weil sie eine Rolle aufsagen, heißen sie Hypokriten. Scheint es Ihnen richtig, jemand einen Hypokriten zu nennen, der aus Beruf eine Rolle aufsagt? Wenn er das tut, tut er seine Pflicht! Da können Sie ihn nicht einen Heuchler nennen. Wen nennen Sie dagegen so, das heißt mit dem Namen, den die Griechen den Schauspielern geben?

Lilie als ob ihm plötzlich ein Licht aufginge: Ich hab's! Einen, der sich verstellt, Herr Professor!

Paolino: Richtig. Einen, der sich verstellt, gerade wie ein Schauspieler, der eine Rolle darstellt, nehmen wir an, einen König, während er in Wahrheit ein armer Schlucker ist, oder irgendeine andere Rolle. Was ist da Übles dabei? Nichts. Pflicht? Beruf! Wann dagegen ist es verächtlich? Wenn man nicht mehr Hypokrit aus Pflicht, aus Beruf, auf der Bühne ist, sondern aus Neigung, aus Berechnung, aus Bosheit, aus Gewohnheit, oder auch aus Gefälligkeit im täglichen Verkehr; denn höflich sein heißt doch im Grunde genommen nichts anderes als: innen schwarz wie die Raben und außen weiß wie die Tauben; im Gemüt Galle, im Munde Honig. Z. B. wenn man hier eintritt und sagt: Guten Morgen, Herr Professor, und innerlich denkt: Scher' dich zum Teufel!

Lilie aufspringend: Um Gottes willen! Was denn?

Schöne wie oben: Wir sollten sagen: Scher dich zum Teufel?

Paolino: Das ist mir lieber, viel lieber, ich versichere es Ihnen! Am allerliebsten, Sie sagen gar nichts.

Lilie: So? Dann würden Sie sagen: was für Flegel!

Paolino: Sie treffen den Nagel auf den Kopf. Die Höflichkeit verlangt, daß man dem, den man zum Teufel wünscht, einen guten Morgen sagt, und wohlerzogen sein heißt soviel wie ein Schauspieler sein. – Quod erat demonstrandum. Schluß! Heute ist Geschichte dran, nicht wahr?

Schöne gekränkt: Aber nein, Herr Professor …

Paolino: Doch! Keine langen Reden! Diese verdammte Höflichkeit habe ich im Magen. Kein Wort mehr! Geschichte sage ich! Also, lieber Lilie … Es wird an die Tür geklopft. Wer ist denn da? Herein!

Vierte Szene.

Die Vorigen und Rosaria.

Rosaria kommt zum allgemeinen Auftritt herein und winkt Paolino mit komischer Geste zu sich heran. Nur ein Augenblickchen, Herr Professor!

Paolino: Was wollen Sie? Ich habe Unterricht, und merken Sie sich endlich, daß, wenn ich Stunde habe …

Rosaria: Allmächtiger Gott, ich weiß es ja! Aber da ich trotzdem eingetreten bin, müßten Sie sich doch sagen, daß ich Ihnen etwas sehr Dringendes zu melden habe.

Paolino zu den Schülern: Einen Augenblick. Geht zu ihr. Etwas Dringendes?

Rosaria: Eine Dame ist gekommen mit einem Knaben; sie sagt, sie kenne Sie gut.

Paolino: Die Mutter eines Schülers?

Rosaria lauernd: Weiß ich nicht. – Kann sein. – Sie ist sehr aufgeregt.

Paolino: Sehr aufgeregt?

Rosaria: Ja. Und als ich sie nach Ihnen fragte, wurde sie erst blaß, dann rot, schließlich hatte sie alle Farben.

Paolino: Wie heißt sie denn? Ich habe es schon tausendmal gesagt, Sie sollen sich den Namen nennen lassen, wenn mich jemand besucht.

Rosaria: Das habe ich auch getan. Sie hat ihn auch gesagt. Sie heißt … Warten Sie mal … Frau … Pe …

Paolino wie elektrisiert, voll von Angst, in höchster Erregung: Perella? Frau Perella, sie ist da? … O Gott, was mag geschehen sein? … Warten Sie … warten Sie … Sagen Sie ihr, sie solle sich einen Augenblick gedulden.

Rosaria: So, Sie kennen sie also?

Paolino durchbohrt sie mit den Augen: Lassen Sie mich in Ruhe! Sagen Sie ihr, sie soll warten.

Rosaria: Sehr wohl. Sie geht ab.

Paolino versucht, seiner Erregung Herr zu werden und geht zum Schreibtisch zurück: Jungens, hört mal, keine Zeit verloren! Wir wollen uns auch nicht lange mit der Geschichte aufhalten und auch nicht mit der Geographie. Wissen Sie was, übersetzen Sie statt dessen mal ein Stückchen.

Lilie und Schöne protestierend: Ach nein, Herr Professor!

Paolino: Jawohl! Aus dem Italienischen ins Lateinische.

Lilie und Schöne Nein, Herr Professor, das ist so langweilig.

Paolino: Im Gegenteil, höchst fesselnd.

Lilie: Das haben wir ja gestern schon gemacht.

Schöne Immer das dumme Latein!

Paolino: Ja, ja, das ist Ihre schwache Seite!

Lilie: Das hängt uns ja schon zum Halse heraus!

Paolino streng: Keine Widerrede!

Schöne Wir haben ja gar keine Wörterbücher mit.

Paolino: Ich werde Ihnen welche geben. Er greift sie schleunigst aus dem Bücherbrett heraus. So, da haben Sie ein paar Lexicon.

Lilie: Aber, Herr Professor …

Paolino: Nur keine langen Reden jetzt! Er nimmt vom Schreibtisch ein Buch und blättert darin. Sie werden also heute übersetzen. … Sie werden also heute übersetzen. … Er sucht, wird zerstreut und spricht schließlich mit sich selbst. Sie kommt zu mir? … So früh? … Was hat sie denn? … Verflucht nochmal! …. Er bemerkt, daß die beiden Schüler gespannt auf das Buch, das er in der Hand hält, schauen, gleich als ob sie die Worte, die er gesprochen, darin suchten; darauf nimmt er sich zusammen. Worauf warten Sie denn?

Lilie: Nun, auf die Übersetzung.

Schöne Sie blätterten doch danach.

Paolino: Ich habe gar nicht geblättert. Sie werden also übersetzen – ah – hier … ich hab's, diese Stelle hier … sie ist ganz kurz. – Darf ich bitten …? Er öffnet die Tür zur Kammer und winkt sie mit der Hand herbei. Kommen Sie nur, kommen Sie nur in dieses Gemach … Es wird schon gehen!

Schöne entsetzt: Da hinein?

Lilie wie oben: Da drin kann man ja gar nichts sehen, Herr Professor!

Paolino: Ach, Unsinn, für ein paar Minuten geht das sehr gut. Vorwärts! Er schiebt sie mit ihren Büchern hinein. Jeder übersetzt für sich, das bitte ich mir aus! An die Arbeit. Keine Zeit verloren! Er schließt die Tür der Kammer ab, geht dann zum allgemeinen Auftritt und bittet Frau Perella einzutreten. Darf ich bitten, gnädige Frau, treten Sie ein!

Fünfte Szene.

Paolino, Frau Perella und Nono, später, hinter der Tür der Kammer, Lilie und Schöne.

Durch die linke Tür tritt Frau Perella mit Nono. Frau Perella sieht aus wie die leibhaftige Tugend, Bescheidenheit und Züchtigkeit. Was leider nicht hindert, daß sie seit zwei Monaten schwanger ist, obwohl man es noch nicht sieht, und zwar von Paolino, dem Hauslehrer des Knaben Nono. Jetzt kommt sie, um ihrem Geliebten zu sagen, daß an dieser Tatsache nicht mehr zu zweifeln ist. Ihre Züchtigkeit und Nonos Gegenwart hindern sie, es offen zu sagen; aber sie läßt es einmal durch Blicke ahnen und dann auch durch das für diesen Zustand höchst charakteristische Symptom des Brechreizes, den die augenblickliche Erregung dieses Besuches nur zu erklärlich macht. Sie führt also öfter das Taschentuch zum Munde. Frau Perella ist sehr betrübt, weil sie bei ihrer großen Tugend und vorbildlichen Schamhaftigkeit solch ein Schicksal tatsächlich nicht verdient hat. Sie schlägt unausgesetzt die Augen nieder und erhebt sie nur flüchtig, um Paolino vor Nono heimlich auszudrücken, wie groß ihre Angst und Pein sei. Sie ist sehr wenig vorteilhaft gekleidet, denn für sie ist die Mode nur dazu da, die Tugend recht deutlich zum Ausdruck zu bringen. Eine Dame wie Frau Perella ist natürlich gezwungen, die Mode mitzumachen, was sie allerdings nicht geringe Überwindung kostet. Sie spricht mit kläglicher Stimme, die gleichsam aus der Ferne herübertönt, so als ob sie gar nicht selbst spräche, sondern ein unsichtbarer Puppenspieler, der die Fäden zieht und nur schlecht und ungeschickt die Stimme einer melancholischen Frau nachahmt. Wenn besondere Umstände von außen stark genug sind, sie aus ihrer Stimmung herauszureißen, vergißt sie sich mit einem Schlage und spricht und benimmt sich dann auf das natürlichste. Nono sieht aus wie eine hübsche Katze. Er prangt im Schmuck einer prächtigen großen roten Schleifenkrawatte und eines ungestärkten Schillerkragens. Er sähe zweifellos noch schneidiger aus, wenn er überdies ein Spazierstöckchen, vielleicht mit einem Hundekopf, schwungvoll in der Hand trüge. Er lacht oft, und noch öfter zieht er die Nase herauf, um das Taschentuch zu sparen, das ihm hübsch aus der Brusttasche herausschaut, fein zusammengefaltet und unbenutzt.

Paolino sagt sofort, während er mit Frau Perella einen Blick des Einverständnisses tauscht und bei ihrem Anblick leichenblaß wird, weil sie ihm mit den Augen ein Zeichen gibt, in Gegenwart von Nono um Gottes willen vorsichtig zu sein: Tatsache? – Dann eingedenk des Zeichens, das ihm soeben gegeben wurde, zu Nono: Nun, mein lieber Nono?

Nono: Guten Tag.

Paolino: Guten Tag, guten Tag, mein Junge. … Bitte, nehmen Sie Platz. … Reicht ihr den Stuhl; leise: Kein Zweifel mehr? Wirklich Tatsache? Auf die wiederholte und dringende Mahnung der Frau wendet er sich nochmals zu Nono: So, also du kommst deinen Lehrer besuchen, mein Kleiner?

Nono verneint, wie er sich angewöhnt hat, mit dem Finger, bevor er spricht: Nein, nein, wir sind zum Landungsplatz gegangen.

Paolino: So, so. Die Schiffer in ihren Kähnen zu sehen, nicht wahr?

Nono wie oben: Nein, nein, zu fragen, wann Papa mit dem Dampfer ankommt. Dann lacht er dumm, schaut die Mutter an, die sich kaum gesetzt und den Mund wie ein Fisch geöffnet hat. Hierauf mit bezeichnender Gebärde zu Paolino: Da, Mama macht schon wieder den Mund auf!

Paolino wendet sich jäh um: Wer? Wie? Den Mund? Dann bei diesem Anblick erschrocken: Mein Gott, was ist denn das? Er läuft zu Frau Perella, die sich mit dem Taschentuch vor dem Mund nach hinten in die Nähe der Kammertür bewegt.

Frau Perella lehnt sich angegriffen an eins der Bücherbretter, immer noch mit dem Taschentuch vor dem Mund, und macht Paolino ganz verzweifelt Zeichen, er möge um Gottes willen nicht zu ihr kommen, sondern auf Nono achten: Ich bitte Sie … Ich bitte Sie …

Nono harmlos lächelnd zu Paolino, der reichlich hilflos ist: Das macht sie schon seit drei Tagen!

Paolino: Ach, das bedeutet nichts, mein Junge, gar nichts. Deine Mama … gähnt … siehst du. – Deine Mama … gähnt, nichts weiter. Du kannst es mir glauben.

Nono macht wieder dasselbe Zeichen mit dem Finger, und dann deutet er auf den Magen: Das kommt von da.

Paolino sehr laut: Junge, wie kannst du so etwas sagen!

Nono: Ja, das ist Magenschwäche; sie hat es doch selbst gesagt.

Paolino aufatmend: Nun also, dann ist ja alles gut. Ein bißchen Magenschwäche, mein lieber Nono, nichts weiter.

Frau Perella stöhnt im Hintergrund: Oh …

Nono: Sie muß dann ausspucken, und dazu gebraucht sie das Taschentuch.

Frau Perella: Oh … Oh …

Paolino: Aber Nono, was fällt dir denn ein? Was ist denn das für eine Art! So etwas sagt man doch nicht!

Nono: Warum denn nicht?

Frau Perella klagend und leise: Ach, er sagt das auch vor dem Dienstmädchen …

Nono: Was ist denn dabei?

Paolino: Es ist zwar nichts dabei. Aber vor dem Dienstmädchen schickt sich das denn doch nicht.

Frau Perella wie oben: Und dem Vater wird er's auch sofort sagen, sowie er zurückkommt. Zu Paolino leise und bebend: Und heute kommt er! Heute kommt er!

Paolino völlig verdutzt: Heute?

Nono klatscht lustig in die Hände: Jawohl, heute! Läuft plötzlich zur Mutter, mit inständiger Bitte: Ach bitte, bitte, laß' mich doch mit dem Matrosen an Bord gehen.

Paolino: Aber Nono, nur nicht so ungestüm!

Nono beruhigt ihn: Es ist ja schon vorüber. Zur Mutter: Ich darf doch an Bord, Mama, nicht wahr? Ich freue mich so, wenn ich Papa beim Landen auf der Kommandobrücke stehen sehe mit seiner Mütze und seinem Regenmantel. Ich darf doch, Mama, nicht wahr?

Frau Perella: Ja, ja, du darfst. Zu Paolino, auf Nono zeigend: Er bringt mich noch um.

Paolino: Höre mal, Nono, ich bin dir gar nicht mehr gut. Siehst du denn nicht, daß deine Mutter leidet?

Nono: O ja, aber ich muß immer lachen, wenn sie den Mund so aufmacht. Macht es nach. Dann sieht sie aus wie ein Fisch.

Paolino: Was soll man dazu sagen! Deine Mutter leidet, und du lachst! Was soll man dazu sagen! Wirst du das etwa auch dem Papa erzählen, damit auch er darüber lacht? Junge, Junge! Er geht zum Schreibtisch und nimmt ein großes illustriertes Buch aus dem Fach. Sieh mal, das wollte ich dir heute schenken.

Nono: »Das Leben der Insekten.« Oh, das ist schön!

Paolino: Nein, mein Lieber, du bist unartig gewesen, jetzt kriegst du es nicht mehr.

Es wird stark an die Tür im Hintergrund geklopft; gleichzeitig hört man die Stimmen von

Lilie und Schöne Herr Professor! Herr Professor!

Frau Perella die noch immer neben der Tür steht, erschrickt und geht schnell nach vorn: Mein Gott … was ist denn das?

Paolino: Herr Gott, diese Ochsen! Nichts, gnädige Frau, es sind bloß zwei Schüler von mir. Haben Sie keine Angst.

Nono: Das ist fein. Die stecken da drin?

Paolino geht an die Tür im Hintergrund, öffnet sie ein wenig und steckt den Kopf hinein: Zum Donnerwetter, was wollen Sie denn?

Nono nähert sich und schaut neugierig durch die Beine Paolinos: Müssen die da drin nachsitzen?

Frau Perella ruft ihn zurück: Nono, komm mal her.

Stimme von Lilie: Wir brauchen Licht! Wenigstens eine Kerze! Herr Professor! Man sieht ja gar nichts.

Stimme von Schöne Wir können ja die Buchstaben im Wörterbuch gar nicht erkennen.

Paolino: Schon gut! Nur Ruhe! Sie bekommen eine Kerze. Schließt die Tür wieder.

Nono: Warum hast du sie dort hineingesteckt?

Paolino: Ich habe sie nicht hineingesteckt. Sie machen eine Übersetzung.

Nono entsetzt: Im Finstern?

Paolino: Nein, nein, ich hole ihnen ja schon ein Licht. Er macht sich auf den Weg.

Nono: Und ich schaue mir inzwischen das Buch an, ja?

Paolino: Nein, ich gebe es dir nicht mehr. Er geht durch den allgemeinen Aufgang ab und kommt, kurz darauf mit einer brennenden Kerze zurück. Inzwischen stecken die beiden Schüler nacheinander den Kopf heraus und betrachten grinsend Frau Perella, die erschrickt und sich darüber ärgert; dann strecken sie dem Nono die Zunge heraus.

Nono zu dem zurückkehrenden Paolino: Weißt du, sie haben den Kopf herausgesteckt.

Frau Perella zitternd: Sie haben mich gesehen.

Nono: Erst der eine und dann der andere. Und mir haben sie so gemacht. Streckt die Zunge heraus.

Paolino: Ach Gott, ich habe ja vergessen, abzuschließen! Einen Augenblick, gnädige Frau. Er geht nach der Tür im Hintergrund, öffnet sie ein wenig und reicht die Kerze hinein. Hier ist das Licht. Aber nun denken Sie bitte an nichts anderes, als an Ihre Übersetzung. Ich bitte mir aus, daß sie sorgfältig gemacht wird. Er schließt die Tür mit dem Schlüssel ab und geht dann zu Nono. Du möchtest also gern dieses Buch haben?

Nono: O ja, hast du das für mich gekauft?

Paolino: Ja, und ich will es dir auch geben, aber nur unter der Bedingung, daß du versprichst …

Nono: Ja … ja … er sieht die Mutter an, die wieder mit halbgeöffnetem Mund dasteht. Da sieh nur mal, sie macht es ja immer wieder!

Paolino halb für sich: Ach Gott, das ist ja entsetzlich!

Nono: Ja, da ist nichts zu machen. Aber ich verspreche dir, ich …

Paolino: Das möchte ich mir auch ausgebeten haben, mein Lieber. Du sagst das nicht wieder. Ich habe jetzt dein Versprechen, also achte darauf; wenn du es nicht hältst, nehme ich dir das Buch wieder weg. Da setz dich hier her. Er setzt ihn auf einen Stuhl mit dem Rücken gegen die Mutter, legt auf einen anderen Stuhl vor ihm das Buch hin und sagt: So, da sieh es dir an. Geht wieder zu Frau Perella, die immer noch mit dem Übelsein kämpft. Das ist ja entsetzlich, die ganze Geschichte ist ja von einer auffallenden Deutlichkeit.

Frau Perella kläglich: Ich bin verloren! Ich bin hin … was soll ich machen? Ich möchte am liebsten sterben.

Paolino: Aber nein, was sagst du da!

Frau Perella: Doch, doch.

Paolino: Wenn du dich so gehen läßt, machst du es noch schlimmer.

Frau Perella: Denke doch nur, wenn der Junge vor ihm so redet.

Paolino: Nimm du dich zusammen, das ist die Hauptsache.

Frau Perella auf einmal mit natürlichem Tone: Als ob das von mir abhinge! Das kommt ganz plötzlich von selbst. Beginnt wieder wie früher zu sprechen. Es sind dieselben Anzeichen wie damals, als Nono kam.

Paolino: Damals auch? Ach, und er weiß es?

Frau Perella: Ja, er weiß es. Und er lachte darüber, wenn er es sah, gerade wie jetzt Nono …

Paolino: Um Gottes willen, dann merkt er's ja.

Frau Perella: Ich bin glatt verloren.

Paolino: Aber zum Donnerwetter, kannst du es nicht unterdrücken?

Frau Perella: Es kommt ganz unvorhergesehen … es ist eine Art Krampf.

Nono kommt mit dem Buch gelaufen: O Mama, sieh mal diese hübsche Spinne im Netz!

Paolino will zornig werden, besinnt sich aber sofort und sagt mit komischer, übertriebener Freundlichkeit: Freilich, aber laß das jetzt nur, mein lieber Nono. Sehr richtig, eine kleine Spinne im Netz. Sieh sie dir nur allein genau an, da sind auch noch andere niedliche Tierchen, und so viele: Sieh sie dir nur alle ganz allein genau an, später wird sie sich auch die Mama in aller Ruhe ansehen, nicht wahr? Alle die niedlichen Spinnen und Ameisen und Schmetterlinge. Er bringt ihn wieder auf den Stuhl zurück. So, setze dich nur wieder, mein kleiner Junge.

Man hört von neuem hinten an die Tür pochen und gleichzeitig

Die Stimme des Schöne Herr Professor! Professor!

Paolino: Umbringen könnt' ich sie! Er läuft an die Tür und öffnet sie wie oben. Was gibt's denn schon wieder? Können Sie denn nicht eine Viertelstunde lang ruhig eine Übersetzung machen, die für einen Quintaner allein ohne Hilfe ein Kinderspiel wäre?

Schöne steckt den Kopf zur Türe heraus: Bitte, Herr Professor, was heißt denn: nicht nur – sondern auch?

Paolino: Was, sondern auch?

Schöne So steht hier. Er zeigt auf das Buch. Nicht nur – sondern auch. Das ist der Gegensatz, nicht wahr?

Paolino: Gegensatz, was Gegensatz. Esel! Sehen Sie denn nicht, daß hier eine Übereinstimmung ausgedrückt ist?

Lilie kommt vorwärts: Nicht wahr, Herr Professor? Das habe ich ihm auch gesagt. Wachsend an Kraft und an Wert.

Paolino: Aber, mein Gott, das weiß ja z. B. auch der kleine Junge hier. Zeigt auf Nono. »Nicht nur, sondern auch.« Nono, wie übersetzt du das? Nicht nur …

Nono schnell, springt auf, in Haltung: Non solum.

Paolino: Sehr gut! Oder auch?

Nono: Oder auch … Non tantum.

Paolino: Sehr gut. Oder auch?

Lilie: Non modo, Herr Professor, non modo, oder: tantummodo.

Paolino treibt sie wieder in den Alkoven zurück: Sie wissen es ja! Gehen Sie alle beide zum Teufel! Macht die Tür wieder zu.

Frau Perella: Paolino, ich vergehe vor Scham –

Paolino: Nicht doch, warum? – Nur keine Angst. Du bist ja hier als Mutter eines Schülers ….

Ich habe Nono absichtlich gefragt. Hätte dich lieber die verdammte Rosaria nicht gesehen!

Frau Perella: Und wie hat sie mich angesehen!

Paolino: Du hättest mich eben nicht aufsuchen sollen. Ich wäre sowieso noch vor Abend gekommen.

Frau Perella: Der Dampfer läuft zwischen vier und fünf ein. Ich mußte dir unbedingt vorher mitteilen, daß kein Zweifel mehr möglich ist … Was soll ich nur tun?

Paolino: Weißt du, wann er wieder abfährt?

Frau Perella: Gleich morgen.

Paolino: Morgen?

Frau Perella: Ja, nach der Levante! Und zwar mindestens für zwei Monate.

Paolino: Er bleibt also nur diese eine Nacht hier?

Frau Perella: Ja. Aber er wird es machen wie immer, darauf kannst du dich verlassen.

Paolino: Nein, nein!

Frau Perella: Wie nein? Du weißt es doch!

Paolino: Er darf es nicht tun.

Frau Perella: Was? Wie? Du kennst ihn doch, mein Lieber. Ich bin verloren … Paolino, ich bin verloren.

Es wird links geklopft.

Paolino: Wer ist da?

Sechste Szene.

Die Vorigen und Rosaria.

Rosaria öffnet die Tür: Wenn Sie erlauben, nehme ich den Schlüssel, den Herr Toto für seinen Bruder, den Doktor, hinterlassen hat. Ich habe ihn in Gedanken auf dem Tischchen liegen lassen. Sie holt ihn.

Paolino dem ein Gedanke durch den Kopf schießt: Der Doktor? Warten Sie mal! … Ist der Doktor draußen?

Rosaria: Ja, er wünscht den Schlüssel.

Paolino nimmt ihr den Schlüssel aus der Hand: Geben Sie ihn mir. Sagen Sie ihm, er möchte doch einen Augenblick warten, ich hätte mit ihm zu sprechen.

Rosaria: Herr Professor, er ist totmüde. Er hat die ganze Nacht gewacht.

Paolino: Haben Sie nicht gehört? Ich sagte Ihnen, er soll einen Augenblick warten.

Rosaria: Gut, ganz wie Sie wünschen. Ab.

Frau Perella sehr ängstlich: Um Gottes willen, was willst du machen? Was willst du mit dem Doktor machen? Paolino …

Paolino: Ich weiß es nicht. Ich will mit ihm sprechen. Ich will ihn um Rat und Hilfe bitten.

Frau Perella: Was für eine Hilfe? Für mich?

Paolino: Ja. Laß mich nur machen; laß mich versuchen …

Frau Perella: Nein, nein, Paolino, was willst du ihm sagen? Ich bitte dich!

Paolino: Ich muß dir doch helfen.

Frau Perella: Du bringst mich in die entsetzlichste Lage.

Paolino: Willst du sterben?

Frau Perella: Dann lieber sterben und nicht diese entsetzliche Schande.

Paolino: Du bist blöde. Ich bin ja da! Laß mich nur machen.

Frau Perella: Was denn?

Paolino: Ich weiß es nicht, sage ich dir. Irgendetwas. Der Doktor ist mein Freund, mein bester Freund, wie ein Bruder. Laß mich nur mit ihm reden. Aber du mußt jetzt schnell fort. Ich werde nicht versäumen, vor der Ankunft des Dampfers noch zu dir zu kommen. Ich werde mit euch essen. Er geht zu Nono, der in das Buch vertieft ist. Komm, Nono … nimm das Buch mit und geh mit der Mama, und später werde ich dir hier hinein er zeigt auf das Titelblatt des Buches eine hübsche Widmung schreiben. »Dem lieben Nono zur Belohnung für seine Fortschritte im Lateinischen.« Ist es recht so?

Nono: Ja, ja … Sehr schön, das gefällt mir.

Paolino: Gib mir einen Kuß.

Frau Perella: Und bedanke dich beim Herrn Professor, Nono.

Nono mit der gewöhnlichen Fingerbewegung: Ach, das ist nicht nötig.

Frau Perella: Was, das ist nicht nötig?

Nono: Er hat mir's selbst gesagt. Zu Paolino: Nicht wahr?

Paolino: Stimmt, stimmt. Nun geh aber, Nono.

Nono: Kommst du nachher zu uns zu Tisch?

Paolino: Ja, und ich bringe dir auch deine Lieblingskuchen mit, die du so gern ißt.

Nono: Oh, oh, ist das fein. Leb wohl! Und du kommst bald?

Paolino: Also auf baldiges Wiedersehen, gnädige Frau. Leise: Nur Mut. Nur Mut.

Frau Perella: Auf Wiedersehen! Sie entfernt sich durch den allgemeinen Ausgang mit Nono, von Paolino begleitet. Die Szene bleibt einen Augenblick leer.

Siebente Szene.

Paolino, Doktor Pulejo, dann Lilie und Schöne.

Paolino dem Doktor den Vortritt lassend: Bitte, lieber Doktor, tritt ein … Sie kommen nacheinander auf die Szene. Bitte, setz dich. Er weist ihm einen Sessel an.

Dr. Pulejo ein schöner junger Mann von etwa dreißig Jahren, blond, mit Brille: Ich soll mich setzen? Nein, nein, danke. Ich muß jetzt schlafen, lieber Freund.

Paolino: Höre, du mußt heute mal darauf verzichten.

Dr. Pulejo: Was?

Paolino: Ich habe nämlich etwas ganz Wichtiges mit dir zu besprechen.

Dr. Pulejo: Und deshalb soll ich auf meinen Schlaf verzichten? Du bist ja wahnsinnig.

Paolino: Du bist doch Arzt, ja oder nein?

Dr. Pulejo: Ah, hast du mich beruflich nötig?

Paolino: Jawohl, und zwar sofort.

Dr. Pulejo: Das ist was anderes. Bitte, sprich.

Paolino: Gut, gut … schön. Wie ich dir schon sagte, handelt es sich um eine höchst wichtige Angelegenheit, und du begreifst, daß ich sie nicht so nebenbei behandeln kann, nachdem du mir gesagt hast, daß du sehr müde bist und schlafen mußt.

Dr. Pulejo: Entschuldige, wenn ich jetzt schläfrig bin. Da ist doch wohl nichts dagegen zu sagen; ich bin schläfrig und dürfte nach einer Nachtwache, scheint mir, auch ein Recht auf Schlaf haben.

Paolino: Ich lasse dir eine Tasse Kaffee bringen, auch zwei.

Dr. Pulejo: Ach, laß schon, den Kaffee! Schieß schon los.

Paolino: Du, weißt du, was ich mache? Ich klettere auf den Bücherschrank, ich stürze mich herunter, ich breche mir ein Bein, dann hast du einen ganzen halben Tag lang mit mir zu tun.

Dr. Pulejo: Ausgezeichnet! Du kannst mich wohl zwingen, das Bein wieder einzurenken; aber die Sprache wird dir dabei schon vergehen.

Paolino: O nein, ich werde sprechen, du wirst mal sehen.

Dr. Pulejo: Gut, du wirst sprechen, aber zuhören werde ich nicht, ich muß dir doch das Bein einrenken.

Paolino: Und schlafen wirst du erst recht nicht.

Dr. Pulejo: Erlaube mal, was gewinnst du dabei? Ich büße den Schlaf ein; du brichst dir das Bein; und ein halber Tag ist verloren. Wenn du mich dagegen ein paar Stunden ausruhen ließest …

Paolino: Ich kann nicht! Ich kann nicht! Es ist gar keine Zeit zu verlieren! Du mußt mir auf der Stelle helfen.

Dr. Pulejo: Helfen? Worum handelt es sich denn?

Paolino: Um mein Leben! Nino, um mein Leben! Denn wenn du mir nicht hilfst, bin ich kaputt, ein toter Mann, dann kann ich mich gleich begraben lassen. Und ich nicht allein! Vier Leben stehen auf dem Spiel … nein, nein, sogar fünf, ja, ja, beinah fünf. Ich bin nämlich in einer Lage, in der ich ein Blutbad anrichten könnte.

Dr. Pulejo: Schau mal an!

Paolino: Ja, ja, ich schwöre es dir, es gibt ein Blutbad.

Dr. Pulejo: Also, was ist denn los? Was ist dir passiert?

Paolino: Du mußt mir ein Mittel geben, sofort, noch heute morgen.

Dr. Pulejo: Ein Mittel? Was für ein Mittel?

Paolino: Ich weiß nicht. Laß mich nur ausreden.

Dr. Pulejo: Wenn es von mir abhängt …

Paolino: Jawohl, ein Mittel, das vielleicht nur du mir verschaffen kannst.

Dr. Pulejo: Also, schieß los. Setzt sich.

Paolino: Hörst du mir gut zu?

Dr. Pulejo: Zum Donnerwetter, ja. Sprich endlich.

Paolino: Wie mit einem Bruder. Schau: Ich spreche mit dir wie mit einem Bruder. Noch mehr! Der Arzt ist wie ein Beichtvater, nicht wahr?

Dr. Pujejo: Sicher, auch für uns besteht das Berufsgeheimnis.

Paolino: Vortrefflich. Ich spreche also zu dir auch unter dem Beichtsiegel. Wie mit einem Bruder und wie mit einem Priester. Er legt eine Hand aufs Herz und setzt mit ausdrucksvollem Blick feierlich hinzu: Also verschwiegen wie das Grab, nicht wahr?

Dr. Pulejo lachend: Wie das Grab, natürlich. Nur weiter!

Paolino: Nino! Er öffnet die Augen weit, streckt eine Hand aus und hält Zeigefinger und Daumen zusammen, gleichsam um die Worte zu wägen, die er sagen will. Perella hat zwei Häuser.

Dr. Pulejo erstaunt: Perella, wer ist Perella?

Paolino laut herausstoßend: Perella, der Kapitän, zum Donnerwetter! Dann leise, weil er sich daran erinnert, daß die beiden Schüler da sind: Perella, von der Allgemeinen Schiffahrtsgesellschaft, Kapitän für lange Fahrt! Der Kommandant des Dampfers Segeata.

Dr. Pulejo: Ach so! Jetzt verstehe ich. Der Kapitän Perella. Ich kenne ihn zwar nicht, aber …

Paolino: Ah, du kennst ihn nicht? Um so besser! Aber du, verschwiegen wie das Grab, nicht wahr? Mit derselben düsteren und wichtigen Miene beginnt er wieder: Ja, zwei Häuser. Eins hier, eins in Neapel.

Dr. Pulejo: Der Glückliche! Zwei Häuser. Und weiter?

Paolino schaut ihn scharf an, dann wird er ganz verwirrt vor Wut, die ihn fast verzehrt: Ach, das ist in deinen Augen wohl nichts? Ein verheirateter Mann mit einem Sohn, ein verheirateter Mann, der in schmählicher Weise seinen Seemannsberuf ausnützt und sich in einem anderen Orte einen anderen Haushalt gründet, mit einer anderen Frau, das ist in deinen Augen nichts? Das sind ja türkische Zustände, zum Donnerwetter!

Dr. Pulejo: Sehr türkische; wer sagt denn das Gegenteil? Aber was geht das dich an? Was hast du dabei zu tun?

Paolino: Was das mich angeht, sagst du?

Dr. Pulejo: Ist Perellas Frau eine Verwandte von dir?

Man hört wieder laut an die Tür pochen.

Die Stimmen von Lilie und Schöne Herr Professor! Herr Professor!

Paolino aufspringend: Schon wieder! Ich mache heute wirklich noch eine Dummheit! Ohne aufzustehen schreit er gegen die Tür hinten: Was haben Sie denn schon wieder?

Stimme Schönes: Wir sind fertig, Herr Professor.

Stimme Lilies: Machen Sie auf; hier erstickt man. Machen Sie auf!

Paolino: Nein, warten Sie. Sie können mit der Arbeit unmöglich fertig sein.

Stimme Schönes: Wenn wir aber fertig sind, entschuldigen Sie.

Stimme Lilies: Wir können hier drinnen nicht mehr atmen! Machen Sie auf!

Paolino: Fällt mir gar nicht ein! Verbessern Sie, was Sie geschrieben haben, und halten Sie den Mund. Die Stunde ist noch nicht zu Ende. Zu Dr. Pulejo: Du meinst, es ginge mich nichts an, weil sie nicht meine Verwandte ist? – Und wenn sie es wäre?

Dr. Pulejo: Ja, wenn es eine Verwandte von dir ist, der …

Paolino: Nein, es ist eine arme Frau, die Höllenqualen leidet. Eine ehrenwerte Frau, verstehst du? In schmählicher Weise verraten, verstehst du? Vom eigenen Mann, verstehst du? Muß man da Verwandter sein, um darüber in die größte Entrüstung zu geraten?

Dr. Pulejo: I bewahre … aber ich sehe nicht ein, was ich dabei machen kann …

Paolino: Wenn du mich nicht ausreden läßt, natürlich! Aber deine Ruhe tut mir wohl, während ich vor Wut koche. – Siehst du nicht, daß ich koche? Erlaubst du? Er ergreift seine Hand und drückt sie so stark, daß er schreit.

Dr. Pulejo zieht die Hand zurück: Au! Du tust mir ja weh! Bist du verrückt?

Paolino: Nur um dich fühlen zu lassen, wie es ist, wenn man von anderen spricht. Du schaust die anderen von außen an und interessierst dich nicht für sie. Was sind sie für dich? Nichts! Sie begegnen dir und damit basta. Nicht wahr? O nein! Innen, innen muß man sie fühlen, wie wenn man eine Person mit ihnen wäre; siehst du so … Er zeigt die Hand, die sich der Doktor noch reibt. Ihren Schmerz fühlen, indem man ihn zu dem seinen macht.

Dr. Pulejo: Danke sehr, mein Lieber. Mir genügen meine Schmerzen. Und davon hat jeder sein Teil. Aber weißt du, daß du wirklich verrückt bist? Er schaut ihn an und lacht. Das ist ja zum Lachen.

Paolino: Zum Lachen, ich weiß es. Sehr zum Lachen! Ich weiß es. Nur zu oft reizt der Anblick seelischer Leiden, und wären es die traurigsten, die peinigendsten – andere zu nichts weiter als zum Lachen. Freilich, ihr habt sie ja niemals gefühlt, oder gewöhnt wie ihr seid, sie zu verhehlen, denn ihr seid alle mit Lüge gefüttert, erkennt ihr sie nicht mehr in einem armen Manne wie ich, der das Unglück hat, sie nicht verbergen und meistern zu können. Fühle mich! Fühle mich! Zum Donnerwetter: In dir fühle mich! Ich leide!

Dr. Pulejo: Woran leidest du? Da bin ich! Ich bin zu deiner Verfügung. Wenn du mir nicht sagst, woran du leidest! Du sprichst mir von einer Frau Perella …

Paolino: Gewiß, ja, von ihr!

Dr. Pulejo: Leidest du durch Frau Perella?

Paolino: Jawohl, mein Nino. Du weißt ja noch nicht! Du weißt ja noch nicht! Laß mich reden. Der liebe Kapitän Perella begnügt sich nicht, verstehst du, die Frau zu betrügen, ein anderes Haus in Neapel zu haben, wie ich dir sagte, mit einer anderen Frau! Nein! Er hat drei oder vier Kinder dort, mit der anderen, und eins hier, mit dieser Frau. Und er will keine weiter haben.

Dr. Pujejo: So, nun, fünf genügen doch auch!

Paolino: Ah, so denkst du? Mit dieser Frau hier hat er nur ein Kind. Die dort sind unehelich, und wenn er noch mehr Kinder von der anderen dort bekommen sollte, was macht ihm das? Er steckt sie ins Findelhaus. Sie gehen ihn nichts mehr an. Hier dagegen, mit dieser Frau, liegt die Sache anders. Eines ehelichen Sohnes könnte er sich nicht entledigen, nicht wahr?

Dr. Pulejo: Natürlich …

Paolino: Was glaubst du, erfindet der elende Schurke da? Oh, die Geschichte geht schon drei Jahre so, weißt du. An den Tagen, wo er hier anlegt, ergreift er den geringsten Vorwand, um Streit mit der Frau anzufangen, und in der Nacht schließt er sich ein, um allein zu schlafen. Er schlägt ihr die Tür vor der Nase zu, verstehst du? Er schiebt den Riegel vor, und am nächsten Tage, hast du nicht gesehen, dampft er wieder ab. Seit drei Jahren treibt er's nun so.

Dr. Pulejo mit einem Mitleiden, bei dem es ihm aber nicht gelingt, ein Lächeln zu unterdrücken: Oh, die arme Frau … die Tür vor der Nase zu …?

Paolino: Vor der Nase … und den Riegel zu … und am Tage drauf … Handbewegung, um anzudeuten, daß er ausreißt. Hui!

Dr. Pulejo: Die arme Frau, sieh einer an!

Paolino: So! Das ist alles, was du mir darauf zu sagen hast?

Dr. Pulejo: Was soll ich dir sagen? Entschuldige, aber ich sehe nicht ein, was ich dabei machen kann … es tut mir leid, ich bedauere sehr …

Paolino: Und das ist alles? Wenn sie deine Schwester wäre und du wüßtest, daß er die Frau so behandelt …

Dr. Pulejo: Verflucht nochmal, ich würde ihn an der Kehle packen!

Paolino: Siehst du? Siehst du? An der Kehle würdest du ihn packen!

Dr. Pulejo: Versteht sich, als Bruder!

Paolino: Und wenn diese arme Dame keine Brüder hat? Wenn sie niemand hat? Ich meine niemand, der ihn von Rechts wegen an der Gurgel packen könnte, diesen Herrn Kapitän Perella, und ihn zu seinen Mannespflichten zurückrufen, – soll man da eine Frau zugrunde gehen lassen? Ohne ihr zu helfen? Erscheint dir das recht? Erscheint dir das anständig?

Dr. Pulejo: Nun ja … aber du?

Paolino: Ich, was denn?

Dr. Pulejo: Verzeih mal, woher weißt gerade du all' diese Geschichten?

Paolino: Woher ich sie weiß? … Ich weiß sie … ich weiß sie … weil … ja … seit einem Jahre … gebe ich … dem Jungen, dem Sohne Perellas, der elf Jahre alt ist, Lateinstunden.

Dr. Pulejo verstehend: Ah, das war die Dame, die vorhin mit dem Knaben von hier fortging?

Paolino sofort, fast als wollte er sich auf ihn stürzen: Du schweigst wie das Grab, das bitte ich mir aus! Du behandelst das wie ein Berufsgeheimnis.

Dr. Pulejo: Aber natürlich, zum Teufel auch, wie kannst du zweifeln?

Paolino: Um Gottes willen, die Tugend in Person! Und du kannst nicht wissen, mein Nino, du kannst nicht wissen, wieviel Mitleid sie mir eingeflößt hat, mit all den Tränen, die sie vergossen, die arme Dame. Und diese Güte! Dieser Adel der Gesinnung! Diese Reinheit! Und schön ist sie auch! Hast du sie gesehen?

Dr. Pujejo: Nein, sie war ja verschleiert.

Paolino: Sie ist schön. Ja, wenn sie häßlich wäre, würde ich es verstehen. Aber sie ist schön. Und jung! Und sich so behandelt zu sehen, betrogen, verachtet und in einem Winkel liegen gelassen wie ein unnützer Lappen. … Ich möchte den sehen, der da hätte widerstehen können, der sich nicht empört hätte. Und wer kann sie verdammen! Er kommt ihm fast mit den Händen ins Gesicht. Würdest du wagen, sie zu verdammen?

Dr. Pulejo zurückweichend: Nein, nein.

Paolino: Nun also!

Dr. Pulejo: Nicht doch, wenn es wahr ist, daß der Mann sie so behandelt …

Paolino: So, genau so. Ich hoffe, du zweifelst nicht an meinen Worten.

Dr. Pulejo: Aber durchaus nicht.

Paolino: Nun denn, mein Freund, reiche mir deine Hand, sie zu retten, denn diese Frau befindet sich jetzt in einer Lage, als hinge sie am Rande eines Abgrundes. Hilf mir, hilf mir, bevor sie abstürzt. Sie muß gerettet werden!

Dr. Pulejo: Ja, aber wie?

Paolino: Wie? Verstehst du nicht? Welches der Abgrund für sie sein kann, die seit drei Jahren von ihrem Manne verlassen ist? Sie befindet sich … nun, mein Gott, ja … sie befindet sich leider …

Dr. Pulejo schaut ihn an, glaubt zu verstehen und möchte es doch nicht: Was …?

Paolino zögernd, aber in einer Weise, daß kein Zweifel bleibt: Ja … in einer … schrecklichen … ganz verzweifelten Lage.

Dr. Pulejo wird starr und schaut ihn nun streng und kalt an: O nein, mein Lieber. Solche Sachen mache ich nicht, ich nicht! – Mit dem Strafgesetzbuch will ich nichts zu tun haben!

Paolino springt ganz verdutzt auf, mit Verachtung: Schafskopf! Was denkst du dir jetzt? Was glaubst du, will ich von dir?

Dr. Pulejo: Was ich mir denke? Nun, ich bin Arzt … und wenn du mir sagst, daß sie sich in …

Paolino: Esel! Für wen hältst du mich denn? Das ist eine ehrenwerte Dame. Ich sage dir, sie ist die Tugend in Person.

Dr. Pulejo: Hör auf … das wollen wir jetzt beiseite lassen.

Paolino: Nein, gar nicht beiseite lassen. Es ist so, wie ich dir sage.

Dr. Pulejo: Kann ja sein! Aber entschuldige mal, bittest du mich nicht um etwas?? …

Paolino aufspringend: Worum ich dich bitte? Du glaubst, ich will dich verleiten, ein Verbrechen zu begehen? Ein Verbrechen, das ihr und mir helfen könnte? – Hältst du mich für einen Schurken, der einer solchen Gemeinheit fähig wäre? Der eine so widerwärtige Hilfe von dir verlangte? Es ekelt und schaudert mich, wenn ich nur daran denke.

Dr. Pulejo der die Geduld gänzlich verliert: Ja, erlaube mal, was willst du dann von mir? Ich – ver – stehe – dich – nicht.

Paolino unerschütterlich: Ich will, was recht ist. Ich will, was anständig und sittlich ist!

Dr. Pulejo: Was also?

Paolino laut: Daß Perella ein guter Ehemann sei – das will ich! Daß er nicht mehr seiner Frau die Tür vor der Nase zuschlägt, wenn er hier anlegt. – Das will ich.

Dr. Pulejo: Und da wendest du dich an mich? Er bricht in ein nicht enden wollendes Gelächter aus. Hahahahaha! Du verlangst also, daß ich den Esel unter allen Umständen dazu bringe, sich mit Gewalt zu betrinken? Hahaha!

Paolino während der Doktor weiter lacht, schaut er ihm ins Gesicht: Warum lachst du denn so? Ich finde das roh. Wir haben hier eine Tragödie, und du lachst. Laß mich einmal ganz aus dem Spiel. Entschlossen, faßt den Doktor an beiden Armen. Weißt du, was eintreten wird? Finster. Perella, der seit drei Monaten auf See ist, kommt heute abend an. Er wird hier nur eine Nacht verbringen. Heute nacht. Morgen fährt er wieder ab nach der Levante und wird wenigstens weitere zwei Monate fort sein. Hast du nun verstanden? Der Tag, den er hier verbringt, muß auf jeden Fall ausgenutzt werden, oder alles ist verloren!

Dr. Pulejo der nur mit Mühe das Lachen verbeißt: Sehr schön … sehr gut … aber ich weiß nicht …

Paolino: Lache nicht! Lache nicht! Oder ich erwürge dich.

Dr. Pulejo: Gut, ich lache nicht mehr.

Paolino: Oder ja, lache auch, lache, wenn du willst, über meine Verzweiflung. Aber hilf mir um Gottes willen. Du wirst doch ein Mittel haben – du bist ja Arzt – du wirst doch ein Mittel haben

Dr. Pulejo: Zu verhindern, daß der Kapitän einen Vorwand nimmt, heute abend mit der Frau Krach anzufangen?

Paolino: Sehr richtig.

Dr. Pulejo: Ja, ja, die Moral.

Paolino: Diese arme Märtyrerin und mich zu retten! Kannst du da noch scherzen?

Dr. Pulejo: Nein, ich bin jetzt ganz bei der Sache, siehst du? Aber wenn dieser Kapitän – Verzeihung, wie alt ist er?

Paolino: Das weiß ich nicht. So gegen vierzig.

Dr. Pulejo: Ah, noch in den besten Jahren.

Paolino: Ein Vieh von einem Kerl.

Dr. Pulejo: Du sagtest, er käme von einer dreimonatigen Reise zurück?

Paolino: Jawohl, aber er hat schon in Neapel angelegt, verstehst du?

Dr. Pulejo: Aha … wo er das andere Haus hat …

Paolino: Stimmt, der Verbrecher. So macht er's immer.

Dr. Pulejo: Er legt erst in Neapel an?

Paolino: In Neapel.

Dr. Pulejo: Dann muß ihm also heute abend – auf jeden Fall – zum Bewußtsein kommen, daß er auch hier ein Haus hat?

Paolino: Und eine Frau!

Dr. Pulejo: Die ihn erwartet.

Paolino der einen Beigeschmack von Spott im Ton des Doktors merkt und sich darüber ärgert: Was willst du damit sagen? Soll das etwa heißen …?

Dr. Pulejo: Nein, nein. Das Unrecht ist auf seiner Seite. Aber vielleicht ist außerdem noch etwas dabei, das …

Paolino: Nein, gar nichts. Nichts anderes als sein Unrecht und die Folgen davon.

Dr. Pulejo: Sehr richtig, die Folgen. Und die hättest du vielleicht …

Paolino sofort unterbrechend: Aber wer hat sie denn gewollt? – Weder ich noch sie – das steht bombenfest. Erlaube mal: wer ist schuld? Die Absicht, nicht wahr? Der Fall nicht. Wenn du die Absicht nicht gehabt hast … bleibt nur der Fall. Ein reines Mißgeschick! Sieh mal: es ist, wie wenn du ein Stück Land hättest und ließest es unbenutzt. Auf diesem Stück Land steht ein Baum, und du kümmerst dich nicht darum. Es sieht demnach so aus, als ob er niemandem gehöre. Schön … Es geht einer vorüber. Er pflückt eine Frucht von diesem Baume; er ißt sie und wirft den Kern weg. Gut. Eines schönen Tages wächst dir aus diesem Kern ein anderer Baum. Hast du ihn gewollt? Nein! – Auch die Erde hat ihn nicht gewollt, die ihn empfangen hat … diesen Kern. Verzeihung, wem gehört der Baum, der da gewachsen ist? … Dir, weil du der Eigentümer des Landes bist?

Dr. Pulejo: Mir? O nein, danke sehr.

Paolino geht wütend auf ihn zu, packt ihn bei den Armen und schüttelt ihn: Dann kümmere dich um das Land, zum Donnerwetter! Kümmere dich um das Land. Verhindere, daß ein anderer dort vorübergeht und eine Frucht von dem verlassenen Baume pflückt!

Dr. Pulejo: Jawohl, das soll geschehen. Aber du sagst das mir, lieber Freund. Ich habe nichts damit zu tun. Das wird der Kapitän machen.

Paolino: Er muß es tun! Er muß es tun! Nicht wahr, du sagst, daß er es tun wird?

Dr. Pulejo: Mein Gott, wir werden eben dafür sorgen, daß er es tut.

Paolino küßt ihn mit lebhaftem Ausbruch von Dankbarkeit und Bewunderung: Nino, du bist ein Gott! Aber sag mal: wie, wie?

Dr. Pulejo: Wie? Warte mal. Pause. Sag mal, speist der Herr Kapitän zu Hause?

Paolino: Jawohl, zu Hause gegen sechs Uhr, gleich nach der Landung. Ich bin auch zu Tisch eingeladen.

Dr. Pulejo: Sehr schön. Hast du die Absicht, mit leeren Händen hinzugehen?

Paolino: Warum? Ich habe versprochen, dem Jungen ein paar Kuchen mitzubringen.

Dr. Pulejo: Ausgezeichnet. Schneidet kurz ab. Also geh und kaufe das Gebäck.

Paolino noch nicht verstehend: Wie – warum? Und du?

Dr. Pulejo: Das bringst du in die Apotheke zu meinem Bruder Toto.

Paolino: Aber was willst du machen?

Dr. Pulejo: Erwarte mich in der Apotheke. Ich muß mir doch wenigstens das Gesicht waschen, du lieber Gott! Du hast mich um den Schlaf gebracht.

Paolino: Nein, nein, mein Lieber, ich lasse dich nicht, wenn du mir nicht vorher sagst …

Dr. Pulejo: Was soll ich dir denn sonst noch sagen? Hörst du denn nicht? Ich sage dir: du sollst das Gebäck kaufen. Aber vorher gib mir mal den Schlüssel zu meiner Wohnung.

Paolino: Das Gebäck ist doch für den Knaben.

Dr. Pulejo: Nun ja, aber du wirst doch auch der Dame welches anbieten, denke ich, und auch dem Herrn Kapitän. Er schaut ihn aufmerksam an. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?

Paolino: Das Gebäck …

Dr. Pulejo: Na natürlich. Laß mich nur machen! Gib mir den Schlüssel.

Paolino: Nein, den gebe ich dir nicht, du legst dich schlafen …

Dr. Pulejo: Aber nein! Verlaß dich drauf. Der Schlaf ist mir vergangen.

Paolino: Wasche dir dein Gesicht hier bei mir.

Dr. Pulejo: Dummes Zeug, du kommst mir vor wie ein kleiner Junge. Nun gib schon den Schlüssel.

Paolino gibt ihm den Schlüssel: Hier ist er. Ich verlasse mich auf dich. Bedenke, Nino, es geht um das Leben! Wieder von einem ängstlichen Zweifel ergriffen. Aber was willst du mit dem Gebäck machen?

Dr. Pulejo: Ich sage dir: verlaß dich auf mich.

Paolino: Wirklich? Du kannst … du kannst also mit Hilfe der Wissenschaft? Er faßt sich, mit großer Verachtung: Ja, ja, wenn man darüber nachdenkt … ach!!!

Dr. Pulejo: Was gibt's?

Paolino: Was es gibt – was es gibt? Du glaubst vielleicht, daß ich, ausgerechnet ich, mit kalter Überlegung diesen Fall behandle, wenn ich dich in dieser Weise um Hilfe bitte? Ich wende mich an die Wissenschaft mit dem Ersuchen um Hilfe, – ich wende mich an dich, für den die Wissenschaft nur dazu da ist, daß er sein Auskommen hat, während ich sie völlig selbstlos liebe und unter den größten Opfern ihr meine Verehrung darbringe.

Dr. Pulejo: Ach so! Ja, wenn du glaubst, sie damit zu entweihen!

Paolino: Aber nein, verstehe mich doch recht! Ich will damit sagen, was es für mich bedeutet, gezwungen zu sein, zu so etwas seine Zuflucht zu nehmen … Er schnauft. Uffff … Glaube mir, alle Eingeweide drehen sich mir im Leibe herum. So festzusitzen, ohne zu wissen, wie. Für nichts und wieder nichts, – weil sich in dir das Mitleid regt mit einer Frau, die du weinen siehst, und die dir zuerst den Grund dieser Tränen gar nicht sagen will … Du bringst sie schließlich so weit, daß sie dir ihn sagt … du tröstest sie dann … heute … morgen … und … und plötzlich findest du dich eng verknüpft – und zwar nur, weil dieser Schurke ein so wildes und hämisches Gemüt hat – mit einer Notwendigkeit wie dieser, die einfach grotesk ist; ja glaubst du, daß ich das nicht fühle? Du lachst darüber … du hast darüber gelacht!

Dr. Pulejo: Allerdings … und auch wieder nicht.

Paolino: Ja, ja, ich habe dein Lachen erregt, weil ich will –

Dr. Pulejo: Daß der Kapitän seine Pflicht als Ehemann tue.

Paolino: Weil ich nichts anderes wollen kann, verstehst du nicht?

Dr. Pulejo: Ach so, die Moral …

Paolino: Aber nicht meine! Eure! Wie ihr sie wollt! Denn ich würde ihn am liebsten umbringen. Du, ich schwöre dir, ich bringe ihn um, wenn dieser Herr Kapitän nicht seine Pflicht tut. Verflucht nochmal, du mußt es doch wirklich fühlen, daß ich ein anständiger Mensch bin und diese Dame heiraten würde, wenn ich's könnte, auf der Stelle, um alles gutzumachen.

Dr. Pulejo: Gewiß, gewiß; doch jetzt wollen wir handeln und nicht mehr schwätzen.

Paolino: Jawohl, wir wollen handeln. Jawohl, wir wollen handeln. Ich mache ihn tot, das schwöre ich dir.

Dr. Pulejo: Nicht doch, wir wollen hoffen, daß das gar nicht notwendig sein wird.

Paolino: Sag mal: werden zwanzig genügen?

Dr. Pulejo: Was?

Paolino: Zwanzig Kuchen?

Dr. Pulejo: Um Gottes willen, das ist ja viel zu viel.

Paolino: Ich kaufe dreißig, weißt du? Dreißig, vierzig … Er will mit Pulejo abgehen, als hinter der Tür der Kammer ein großer Lärm mit lautem Geschrei losbricht.

Stimmen von Lilie und Schöne: Herr Professor! Herr Professor! Machen Sie auf! Wollen Sie uns hier allein lassen?

Paolino zum Doktor: Ach ja … wart' mal, die Schüler, wer hätte noch an die gedacht. Er öffnet die Tür.

Lilie und Schöne kommen ganz zerzaust heraus mit hochroten Gesichtern, wütend Bücher und Wörterbücher zur Erde werfend und im Chore protestierend.

Lilie und Schöne: Solch eine Rücksichtslosigkeit! Das ist Freiheitsberaubung! Wir sind ja fast erstickt! Wir kommen im ganzen Leben nicht wieder.

Paolino sucht sie zu beruhigen: Beruhigen Sie sich nur. Ja, ja, ein Pech kommt selten allein.

Vorhang.


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