Adolf Pichler
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Adolf Pichler

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Der Einsiedler.

Wenn ich schwer und wuchtig im Hörsaale auf der Kanzel sitze und, während vor dem Fenster die Amseln von Lenz und Liebe singen, meine Zuhörer fleißig krystallographische und chemische Formeln in die Hefte schreiben, denke ich mir manchmal: es ist doch gut, daß die jungen Herren nicht wissen, wie ihre Väter vor fünfzig Jahren thaten und aussahen, sonst müßten sie ihnen bei all der Weisheit ins Gesicht lachen. Ja, vor fünfzig, eigentlich fünfundfünzig Jahren! Da zog ich als lustiges Bürschlein durch das Unterland in die Ferien, das Sammetkäppchen mit vier blauen Federchen des Nußhähers auf dem Gelock, die Guitarre am grünen Seidenbande über die Schulter; da sang ich 195 beim roten Weine mit den hübschen Kellnerinnen und Wirtstöchtern, daß es wiederhallte, und vielleicht noch eine vom Studentlein den Enkeln erzählen könnte. Wäre ich noch so, hätte gewiß manches Dirndl, das jetzt schräg, wie die Dezembersonne, an dem alten, ruppigen Professor vorüberschaut, einen Blick, vielleicht sogar ein Bussel für mich; aber die Zeiten sind vorbei,– huldriö!

Zu meinen ältesten Erinnerungen gehört das Häuschen am linken Ufer des Ziller, unweit der Brücke bei Straß. Vielleicht ist es längst abgebrochen oder verwittert; die kleine Kapelle gegenüber der Felsenwand läßt dann wenigstens annähernd die Stelle erraten. Schon damals war es etwas wacklig, wie das Ehepaar, das dort wohnte. Herr Jodok Rumpler erhob hier als Einnehmer den Brückenzoll; ein geborner Kundler, war er mir mütterlicherseits weitläufig vervettert, »so ein Schnittlauch von der hundertsten Suppe,« wie man geringschätzig zu sagen pflegt, aber auf dem Land nie vergißt. Darum klopfte ich immer an seine Thür; er paffte aus dem Pfeifenstummel dicke Rauchwolken, reichte mir die grobknochige, haarige Rechte, zog die buschigen Brauen in die Höhe, blinzelte freundlich mit den hellen Augen und überließ mich dann schweigend seiner Alten, die mir, ehe sie mich aus der 196 Speisekammer abfertigte, eine kleine Neckerei ins Gesicht warf.

»Ja, Studentl,« sagte sie einmal, »früher hast immer ohne Zoll vorbei dürfen, weil du ein unschuldiges Lämmlein warst, ein rechtes, krauses Osterlämmlein; jetzt wächst dir aber schon der Bart, und die Böcke müssen zahlen.«

»Wenn das dein Mann hört!« rief ich dagegen! »Der ist ja im ganzen Gesichte zottelt, daß man ihn rupfen könnt, und hast ihn doch geheiratet! Wie ist es halt kommen, daß er aus einem Oasiedl ein Zwoasiedl worden ist?« Ich nahm die Guitarre vom Rücken und sang das Schnadahüpfel;

»Der Oasiedl im Wald
Hat nit warm und nit kalt,
Hat die Kutten aufg'hängt
Und ist 'm Madl nachg'sprengt.«

Da schob Jodok die lange Nase durch den Gucker: »Jetzt weiß es der Schlangel auch schon; steck' ihm eine Nudel ins Maul, daß er stille wird, – sonst lehrt er's noch den Spatzen!«

Die Alte lief und brachte auf einer Zinnschüssel Geselchtes und eine Flasche Kranewitter. Ein Student hat immer Appetit; ein Stamperl Schnaps half zur besseren Verdauung, bis der Rahmkaffee mit Butter kam. So neigte sich die 197 Sonne zu den Bergen von Sellrain; es war Zeit, den Wanderstab zu ergreifen. Jodok reichte mir wieder die Hand, zog die Brauen in die Höhe und blinzelte, – das war alles; zungenfertig wurde er bei Gelegenheit erst dann, wenn wir, zur Wette lateinische Verse austauschend, uns mit Horaz und Vergil bombardierten, die er noch immer lieber hatte, als die Goffine und Pater Kochem. Seit ich 1848 als Schützenhauptmann marschiert war, lüftete er sogar, wenn es eben nicht kalt war, die Mütze mit der großen Quaste.

Sie hatte mir noch allerlei aufzutragen an Vettern und Basen bis ins hundertste Glied und kugelte endlich, nachdem ich ihr mit einem christlichen »Vergelt's Gott!« die Hand gedrückt, in das Haus.

Wie aus dem Oasiedel ein Zwoasiedel ward?

Daß Jodok, der Sohn eines mittleren Bauern, aus Kundl stammt, wissen wir bereits; wenn dich das Fell juckt, so singe dort das Schnadahüpfel vom Ofen, in dem man die Lappen oder Trottel schiebt und bäckt, bis sie gar werden. Überhaupt sind die guten Leute wegen ihrer Einfalt ein bißchen in Verruf; gewiß mit Unrecht, denn 198 unser Jodok war ein findiger Bursch, fast eine Art Wunderkind, wenn es galt, aus dem höchsten Wipfel eines Obstbaumes die Früchte zu mausen und dann durch einen kühnen Sprung den Prügeln zu entschlüpfen. Vielleicht hatte er römisches Räuberblut in den Adern; denn in Quantala, wie der Ort bei den Alten hieß, siedelten ja Kolonen bis in den Anfang des Mittelalters, und wohl nur deswegen lernte er später so leicht »puella, puellae« dekli- und amo, amas konjugieren. Sein offenes Köpfel erregte das Staunen des Lehrers, der sich vom Posten eines Hausknechtes in Riednau zu seinem hohen Amte emporgeschwungen hatte oder vielmehr den Stock in die Hand nehmen mußte, weil er zu schwach wurde um Holz zu spalten. Bald regte sich in unserem Buben auch der Beruf zum geistlichen Stande. Das geschieht auf dem Lande meistens so: ein Knabe sieht den Pfarrer vor dem Altare, wie er im goldgestickten Meßgewande die heiligen Bräuche vollzieht, angeräuchert wird und zur Orgel singt. Auch daß ihm alles die Hände küßt, ist gar schön; und erst am Sonntag Vormittag einen Blick in die Küche, wo die schwitzende Häuserin den Bratspieß dreht und im Wasserschaff eine volle Flasche kühlt; unser Jodok spürte also Beruf! Er baute sich 199 in der Stube hinter dem Ofen einen Altar mit Kleiderlappen, auf dem Dachboden fand sich ein grausiger »Unser Herr im Elend«, den man verbannt hatte, weil sich die Weiber und Kinder über ihn entsetzten, und der Vater brachte ihm einmal zwei Bogen farbigen Papieres vom Markte; diese wurden zum Meßkleid verschnitten, ein Leinenhemd diente als Chorrock. Das Schwesterlein mußte den Ministranten machen. Da war es gar rührend, die große Andacht und die verdrehten Augen zu sehen, mit denen er »Dominus vobiscum!« sang. Nur einmal sollte die Kleine den Pfarrer machen, und das kam so: Der Zöllner von Straß hatte sein Töchterlein auf etliche Wochen zu seinem Schwager, dem Müller, geschickt, – ein frisches Dirndl, mit Flachshaaren, wie die »unbefleckte Empfängnis«, welche die Jungfrauen bei den Prozessionen von Altar zu Altar tragen. Als die Tochter eines Amtspächters trug sie auch herrische Kleider und erregte dadurch die Bewunderung und den Neid der Mädeln. Unserem Jodok gefiel das Gretele ganz ausnehmend; er hatte ihr die saftigen, rotgestriemten Birnen vom Baume des Nachbars versprochen, wenn sie sich mit ihm von seiner Schwester vor dem Altare trauen ließe. Die Braut bekam allerdings dafür die Birnen, der 200 Bräutigam aber unerwartete Schläge, und der Pfarrer schüttelte über seinen geistlichen Beruf bedenklich das ernste Haupt. Damit sollte es aber noch ein tragisches Ende nehmen.

Am Tage des Märtyrers Stephan trug der Priester, wie es die Liturgie verordnet, beim Hochamt ein rotes Meßkleid. Genau von der gleichen Farbe war das Seidentuch mit langen Franzen, das Jodoks Mutter heute um den Hals geschlungen hatte. Der Knabe verglich mit blitzenden Augen; als sie es in der Kammer abgelegt, schlich er hinein und packte es mit raschem Griffe. Während nun alle in der Küche an dem warmen Herde saßen, winkte er dem Schwesterlein und führte es vor den Altar hinter dem Ofen. Dort schnitt er in das Tuch ein Loch, recht in die Mitte, und stülpte es als Meßgewand über den Kopf. Bei der Wandlung läutete die Ministrantin nach Kräften mit der großen Kuhschelle, die er dem Festtage zu Ehren aus dem Stalle hereingeschleppt hatte. Die Mutter hörte den Lärm und wollte nachsehen; wie sie jedoch den Knaben in seinem Pracht-Ornate erblickte, ließ sie vor Schrecken die Thürklinke fahren, stürzte im nächsten Augenblicke auf den jungen Priester, legte ihn quer über die Knie und blatterte ihn, trotz der geistlichen 201 Würde, so ausgiebig durch, daß es patschte, und ihm auch in Zukunft die Lust zum Messelesen verging. Er war nur froh, daß Gretele längst heimgekehrt war und hoffentlich von der ganzen Geschichte nichts erfahren würde. Von jetzt ab schloß er sich mehr an die Schulkameraden an, teilte ihre Freuden und Leiden, – die Zukunft kümmerte ihn nicht; warum auch? War doch der Tisch nach dem Brauche der Unter-Innthaler fünfmal am Tage gedeckt! Später fand er in der Rumpelkammer eine alte Flinte; der Vater ließ sie vom Büchsenmacher neu einrichten; Pulver und Blei, ja sogar ein Stück Geld erhielt er vom Pfarrer, dem er dafür hier und da ein Häslein, eine Wildtaube oder Stockente in die Küche lieferte. So war er wohlauf; ging allmählich von der Werktags- in die Sonntagsschule und dann in die Christenlehre über, bis er mit einem sehr günstigen Zeugnisse freigesprochen wurde. Was nun? Die Bauernarbeit freute ihn nicht recht; um so weniger, seit er öfters im Widum eingekehrt war und mit Gymnasiasten, welche die Ferien nach Kundl geführt hatten, Umgang pflegte. Diese malten ihm das herrliche Studentenleben, zeigten ihm die Käppchen, die Bänder und den Ziegenhainer mit den eingeschnittenen Namen; bald sang er auch 202 ihre Lieder in einem klaren Tenor. Er war sechzehn Jahre alt, für unsere Begriffe zu alt; damals galt aber der Spruch: Ein braver Bursch muß sieben hirschlederne Hosen in der ersten Klasse zerreißen, dann erst wird etwas aus ihm. Mit dem Vater wollte er vorläufig nicht sprechen, doch vertraute er sich einigen Vettern und Basen an; diese gerieten in helle Freude: die ganze Verwandtschaft habe keinen Geistlichen, und auch die Gemeinde nicht; man müsse es sich zur höchsten Ehre anrechnen, wenn endlich einmal zu Kundl die Böller nicht bloß auf dem Schießstande, sondern auch bei einer Primiz krachten, daß alle Heiligen droben vom Pulverdampfe niesen müßten. Als es der Vater erfahren hatte, schlug er die Hände über dem Kopfe zusammen: »Wo das Geld hernehmen?« Da stellte sich der Serviten-Prior von Rattenberg ein, der Jodoks Glockenstimme kannte, und meinte, wenn er bisher zu Ehren des Teufels manch Liedlein gesungen, könne er es auch zur Ehre der Muttergottes thun. Er fände sogleich eine Anstellung im Chor der Serviten zu Innsbruck; diese gäben ihm zu essen und hier und da auch eine Tachtel, wenn er nicht gutthue. Daheim koste er dem Vater auch was; die vierzig bis fünfzig Gulden jährlich könne dieser leicht aufbringen. Bald werde er 203 etwas durch Unterrichtgeben an jüngere Schüler verdienen, ja sogar einen Bierkreuzer für die Vakanz übrig haben. Da konnte der Alte nicht mehr widerstehen, und auch die Mutter, die an ihr rotes Halstuch dachte, gab den Segen dazu. Der Pfarrer übernahm es, ihm die dürftigsten Vorkenntnisse beizubringen.

Bis er damit fertig ist, schauen wir an der Brücke von Straß nach, was denn das Gretel thut. Die nahm zu an Gnade und Wohlgefallen vor Gott und den Menschen; ob auch an Weisheit, lasse ich dahingestellt sein, weil man die bezügliche Stelle der heiligen Schrift, wie mir ein ungalanter Kapuziner sagte, auf die Mädeln nicht anwenden darf, es sei denn, man wolle statt Weisheit Bosheit setzen. Sie wuchs auf, schlank und frisch, wie die Lärche droben am Vorsprunge des Klausecks; aus den Zöpflein, die ihr vorher wie Rattenschwänze im Genick hingen, wurden lange, goldgelbe Zöpfe, die sie nach der Sitte der Unterländerinnen wie ein Krönlein um den Scheitel schlang und mit einem silbernen Pfeil befestigte; um den Hals schmiegten sich Schnüre von Granaten, die Schultern rundeten sich, der Schritt wurde elastischer. So war sie mit dem vierzehnten Jahre ausgeschult; sie wußte sich zwar besser, als die Bauerntöchter ringsum; das stieg 204 ihr jedoch nicht zu Kopf, und ihre Herzensgüte glich jeden Unterschied aus, um so mehr, weil ihr die Bursche, als feine Kenner, doch nicht den höchsten Preis der Schönheit zuerkannten. Benzeln-Tindels-Andl hatte rundere und rotere Wangen, Stangl-Sepps-Kathel sprang beim letzten Geigenstrich höher, und wenn wir uns über die Knöchel versteigen dürfen, was man damals leicht konnte, weil die Röcke nur wenig unter das Knie reichten so konnten sich die Waden der Loiseler-Jörgs-Urschel immer mit den Säulen, welche das Vordach der Kirche trugen, messen, und zum Einstampfen des Sauerkrautes wären Gretels Füßchen viel zu klein gewesen.

Die alte Zöllnerin war jedoch ein praktisches Weib; sie wußte, daß der Müßiggang aller Laster Anfang sei, und hielt auch vom Lesen nicht viel. Ja, der »Kotzebub und der Belzebub!« damit durften ihr die Fräulein der Gerichtsherren von Rattenberg, die sich herabließen, bei ihr manchmal Butter und Honig zu naschen, nicht kommen, sie hätte ihnen die »Eulalie« und »Klingsberg« auf den Rücken nachgeworfen. Dafür lernte Gretel Hemden nähen, Socken stricken, Strümpfe stopfen, Butter schlägeln, alles Dinge, nach denen zwar in der Regel kein Bräutigam fragt, so 205 lange er freit, wohl aber der Mann, dem nach und nach das Klaviertrommeln zum Thee verleidet wird.

Die Pause, bis unser Jodok eintritt, möchte ich wohl benutzen, um den Ton zu entschuldigen, den diese Erzählung manchmal anschlägt, aber ich kratze vergebens hinter den Ohren: die Leute waren damals alle so; jetzt wird es schon besser, weil unsere Tiroler-Fräulein in den Erziehungshäusern zu Thurnfeld, Nymphenburg und Lindau gehobelt werden. Also nichts für ungut!

Jodok hatte mittlerweile sein Schwesterlein verloren; desto lieber wanderte er zum Zoll, meistens quer übers Gebirge, die Büchse umgehängt. In den Auen bei Straß hielt sich allerlei Wassergeflügel auf; wenn es krachte, rief Gretel: »Jetzt kommt er bald!« und stellte ein Stücklein Kuchen, oder was sie sich sonst abgespart, auf den Tisch. Da jauchzte er denn schon vor der Thür, ein Rohrhuhn oder so was an den Lauf gehängt; sie rupfte sich für das Strohhütchen die schönsten Federn aus, und der Zöllner schmunzelte, weil es einen guten Sonntagsbraten gab. Nur den kleinen Vögeln durfte er nichts zu Leide thun; die sangen ja so schön, gerade wie's Gretele selber, wenn es die Fliederblüte pflückte oder einen Strauß Maiglöcklein zwischen 206 den Erlen sammelte. Sie kannte übrigens viele Kräuter, denn der Vater, der Apothekerlehrling gewesen war, sagte ihr die Namen; manche legte sie sogar zwischen die Blätter verschimmelter Protokolle. Wurzeln und Blüten wurden auch getrocknet; die holten dann die Bauernweiber gegen allerlei Gebresten und spendeten, wenn die Heilung gelungen, wohl auch ein paar Eier, ein Kugelchen Butter. Ja, sie nahmen diese Dinge lieber aus der Hand der jungen Doktorin, denn was eine Jungfrau giebt, wirkt ja nach uraltem Glauben mehr. Nun brachte Jodok gar den sagenkräftigen Allermannsharnisch vom Sonnenwendjoch; wer dazu den richtigen Segen spricht, den macht er kugelfest. Die Bauern flüsterten: der Einsiedler auf der Brettfall wisse das mit vielen anderen geheimen Dingen; der Bischof habe es ihm aber verboten, davon zu reden, weil der Teufel die Kralle drein stecke. Um so besser wirke das Kraut in Pflastern, wenn ein lustiger Bua an einem Schlagring angestoßen war und ein Loch im Kopf mitgebracht hatte, was damals noch öfter geschah, als jetzt, wo das Militär die Zochen bändigt.

Der Vater hatte ihr ein großes Gartenbeet überlassen. Erhielten während des Tages Schnittlauch, Kohl und gelbe Rüben die pflichtmäßige 207 Pflege, so gehörte der Abend ihr und den Blumen, die sie dort angepflanzt. Gern half ihr Jodok; er schnitzte Stäbchen mit farbigem Knauf, um die schweren Nelken daran zu binden, holte Wasser zum Begießen und brachte Seltenheiten vom Gebirge, die als Fremdlinge unter den zahmen Kindern des Gartens überraschten. Aber er lernte auch! Sein Blick war bisher über den Reiz und die Lieblichkeit der kleinen Geschöpfe ziemlich gleichgiltig hingeglitten; jetzt machte sie ihn auf die feinen Unterschiede der Zeichnung, das bunte Farbenspiel, ja sogar auf die Käferchen, die in glänzenden Metallpanzern durch die Grashalme liefen, aufmerksam. Er haschte ihr manchen Schmetterling, den sie eine Weile bewunderte und dann fortflattern ließ. That sie doch mit den Vögelchen, die er ihr zum Überwintern gab, nicht anders; kaum wehte das erste Frühlingslüftchen, so öffnete sie die Käfige und sah ihnen lachend nach, wenn sie von Baum zu Baum am Berg emporflogen. Wer sie beisammen sah, mochte sie wohl für friedliche Geschwister halten; sie dachte an gar nichts, und wenn sich Jodok etwa daran erinnerte, wie er sich einmal mit ihr trauen ließ, wagte er doch nicht, darauf anzuspielen; er wußte sich nicht zu erklären, was ihm die Zunge band.

208 Da kam Mariä Himmelfahrt; im Herbst darauf sollte Jodok nach Innsbruck zur Studi. Diesen Tag begeht das Landvolk besonders feierlich, um der Königin der Engel und der Heiligen, welche nun in die ewige Herrlichkeit aufgenommen wurde, zu huldigen. Da werden die schönsten Blumen gepflückt und um den hochragenden Schaft des Himmelsbrandes, dem nach altem Brauch die Ehre des Tages gebührt, zum Strauß gebunden. Die Mädchen tragen ihn zur Kirche, damit er vor dem Altar die Weihe empfange; die Senner steigen im Festgewand von den entlegensten Almen, um zu beten und nachher zu raufen. Wie stolz und selbstbewußt blickt der Bursch umher, von dessen Hute eine Staude der Edelraute nickt; er hat vielleicht dafür seine Glieder gewagt, denn sie gedeiht nur an den unzugänglichsten Schrofen.

Jodok ließ es sich nicht nehmen: er kletterte barfuß an der Wand der Hochriß empor und holte aus einer Kluft einen Rautenstrauß mit fünfunddreißig Ähren; dann füllte er einen großen Sack mit den erlesensten Jochblumen. Wo bei Münster die Mittagssonne am heißesten auf den weißen Steinschutt brennt, wußte er Himmelbrand; er wählte einen fast mannshohen Stamm, ganz bedeckt mit gelben Blütensternen. So kam 209 er an den Zoll. Die Alte entsetzte sich: »Hätt'st du's nicht zu Ehren der Muttergottes gewagt, die dich wunderbar erhalten hat, sollte dich dein Vater schopfbeuteln!« Dann kochte sie ihm schleunig eine Pfanne Nocken. Während er einhieb, ordnete Gretel die Blumen zum Strauß, um sie dann, mit Wasser bespritzt, in einen vollen Zuber zu stellen. Es war indes Nacht geworden; Jodok wurde auf den Heuboden verwiesen, wo er schlief, bis ihn die Festglocken weckten.

Er sprang rasch in die Höhe und lief zum Brunnen, dessen kalten Strahl er über den Kopf rinnen ließ. Vom Kirchplatz donnerte der erste Böller; er nahm eine Hand voll Sand und Steinchen und warf sie gegen Gretels Fenster. Sie zog den weißen Vorhang zurück und lachte wie die Morgenröte durch ein weißes Wölkchen zu ihm herab; dann sprang sie zurück; er hörte sie über die Stiege hüpfen; frisch und blank trat sie ihm unter der Hausthür entgegen. Sie reichte ihm eine Nelke, rot wie seine Weste; er steckte sie mit Salbei und Basilikum, daß es besser rieche, in das linke Knopfloch des grauen Jankers. Nun kam die Mutter nachgetrippelt, musterte wohlgefällig das Töchterlein und nestelte dann am Rosmarinzweig, den sie um das Haar geschlungen. Den Zöllner hörte man droben in der Kammer 210 hüsteln; er war schon seit einiger Zeit nicht recht beisammen, kam aber doch zum Frühstück. Da lud mächtig und voll das Geläute zum Gottesdienst; sie erhoben sich rasch, der Vater tauchte den Finger in den Weihbrunntopf, der an einem Nagel rechts am Thürpfosten hing, und bespritzte Gretels Stirn; was übrig war, bekam Jodok: denn die Buben könnten es jetzt vor allen brauchen bei diesem verdorbenen Weltlauf. So traten sie hinaus in den herrlichen Morgen. Der Himmel hatte sein Zelt von blauem Taffet ausgespannt; ein leiser Wind wehte, wie von den Fittichen der Engel, die ihre Fürstin erwarteten. Auf Jodoks Hut schwankte die Edelraute; eigentlich sah man weder vom Gupf noch von der Krempe etwas, als wäre der Stock anstatt der Haare aus dem Kopfe gewachsen. Er hatte den Gaggesbeten mit dem silbernen Filigrankreuz um die linke Hand geschlungen; ein Knabe und doch kein Knabe mehr, führte er Gretele, die den Blumenbusch – und keine hatte einen schöneren – vor sich her trug. In ihrem Auge leuchtete es, wie der Schimmer vor Aufgang des Morgensterns: plötzlich steht er am Himmel, und die Lerche fliegt empor und begrüßt ihn jubelnd. Sie lächelte wohl und nickte mit einem leichten Anflug von Stolz, wenn da und dort ein Bursch rief: »Schau, 211 schau, den Strauß, den hat dir wohl der Jodok ›klaubt‹!«

»Du herrlicher Glanz der Jugend, möge bei ihrem Welken nie der Schutzengel trauern; mögest du Früchte reifen im Garten Gottes für den Spätherbst, den Heiligen zur Freude und den Menschen, die guten Willens sind, zu Nutz und Ehre!« So betete still der greise Einsiedler neben dem Missionskreuz, als er sie kindlich unbefangen daherlaufen sah. Lächelnd rief er: »Was ist denn mit dir, Jodok? Steigst du vom Zoll gar nicht mehr hinauf zur Brettfall? Schau doch nach! Hat mir unlängst so ein Stößer die schöne weiße Henne geraubt; für was hast du denn deine Büchse?«

Ein leichtes Rot überflog die Wange des Burschen: »Heut' wär's Sünde; weißt ja, ist Festtag. Aber morgen in aller Frühe, dann nagelst du ihn mit ausgespannten Flügeln an die Thür der Zelle, daß sich die andern fürchten.«

»Recht so,« erwiderte der Einsiedler und schob die Kutte vom Scheitel, den bereits der Reif der Ewigkeit schmückte, in den Nacken zurück, um die Holzdose zu holen. »Recht so! Ich geb' dir dann den Samen der dunkelblauen Aster mit.«

»Bringt ihn lieber selber,« fiel Gretele ein 212 und warf einen schelmischen Seitenblick auf Jodok. »Mit dem Buben ist's gar nichts mehr; seit er in die Studi will, ist er wie die alte Botenlis'l, die alles vergißt!«

»Du!« schmollte Jodok, »da hast du den Beten, den du liegen ließest, wenn ich ihn nicht vom Sims genommen hätte!«

Der Einsiedler lachte: »Nun, Jodok, ich werd' sie wenigstens mahnen, daß sie deiner beim Abendrosenkranz gedenkt. Wirst's zu Sprugg droben Not haben; die Studenten gehen ja lieber in die Kneipe als in die Kirche.«

»Das will ich auch thun,« sprach die Mutter, die hinter ihnen stand; »für Jodok bet' ich morgens und abends ein Vaterunser, denn er liegt mir an, fast wie ein Sohn.«

Bruder Michael ließ den Blick noch einmal auf das Pärchen gleiten und strich nachdenklich mit der flachen Hand den Bart, den der Wind über den braunen Ledergurt zauste. Plötzlich krachten die Böller hinter der Mauer; die Frauen flüchteten in die Kirche.

»Weißt wohl, sind halt scheue Weibsleut'!« rief Jodok spottend und folgte ihnen langsam. Als der Tusch von Trompeten und Pauken verkündete, daß der Priester zum Altar getreten, beugte sich der Einsiedler vor der Schwelle 213 demütig, schlug ein Kreuz und warf sich dann im hintersten Winkel auf die Knie; bei der Wandlung breitete er die Arme aus, als wollte er dem Weihrauchduft nachschweben; Thränen flossen in die Furchen der mageren Wangen nieder! »Heilige Maria, du Zuflucht der Sünder, erbarme dich eines armen Büßers!«

Er ist jetzt ganz vergessen; als ich noch jung war, wußte man Verschiedenes von ihm zu erzählen. Ich hörte nur mit halbem Ohre hin, so ein Studentlein hat wichtigere Dinge zu denken, und jetzt, wo ich die Sachen brauchte, kann ich nur noch lückenhaft erzählen.

Nach dem Türkenkriege des Kaisers Joseph kam an einem heißen Sommertage ein Mann in das Dorf, wild und bärtig; die Fetzen einer schmutzigen, abgerissenen Montur schlotterten an seinem Leibe; die groben Schuhe waren mit Spagat gebunden. Wo er vorbeiging, flohen die Kinder erschreckt in das Haus, aber die Hunde fuhren heraus und kläfften ihm wütig nach. Man zögerte im Wirtshaus, ihm ein Krüglein Bier zu reichen; er zahlte jedoch voraus, und man konnte merken, daß es ihm an Geld nicht fehle. Der alte Pfarrer, der ihn beobachtet hatte, kam später auch und setzte sich zu ihm an den Tisch. Der fremde Mann sprach zwar 214 deutsch, aber es klang etwas anders, als bei uns. Bald waren sie ins Reden vertieft, daß eine Stunde um die andere verging; sie sprachen endlich so leise, daß man nichts mehr verstand, und der Pfarrer sah auch nicht drein, als ob er Zuhörer dulden möchte. Ein paarmal rückte der Fremde den Stuhl zurück und blickte ihn betroffen an. Der Pfarrer konnte aber nicht bloß Geister bannen, er durchschaute auch die Geister und sah jedem den Unfrieden der Seele an, bis er vor ihm in den Beichtstuhl niederkniete und ihn verließ rein, wie ein neugetauftes Kind. Den Michael nahm er mit in den Widum. Noch um zwölf brannte das Licht im Zimmer; was die zwei abgethan, weiß Gott. In der Morgendämmerung trat Michael aus der Thür; er steckte einen Brief in die Brusttasche, kniete nieder, und der Pfarrer machte ein großes Kreuz über ihn, als wolle er Teufel austreiben. Der Nachtwächter Tondl, – Gott hab' ihn selig! – hat es gesehen, als er heimkehrte. Nach vierzehn Tagen kam der Fremde wieder; sein Gewand klaubte wohl niemand auf, wo er es hinter einen Zaun warf; dafür trug er eine braune Kutte, und es hat ihn niemand mehr anders gesehen. Am nächsten Sonntage blieb er vor der offenen Kirchthür knieen; nachdem 215 der Pfarrer allen am Gitter das allerheiligste Sakrament gespendet, schritt er durch den Gang zu ihm hinaus und reichte ihm die Hostie. So bis Ostern. Dort ministrierte der Einsiedler beim Hochamte, kniete dann auf der obersten Stufe nieder, und der Geistliche wendete sich zuerst an ihn. Das alles machte Aufsehen; man erzählte sich schreckliche Dinge und wich ihm scheu auf der Straße aus. Da ging eines Sonntags Michael mit niedergeschlagenen Augen vor der Predigt fort; der Pfarrer sprach sehr eindringlich über Verleumdung und rief zum Schlusse drohend mit erhobener Hand: »Daß dem Einsiedler niemand was böses nachredet! Über einen reuigen Sünder weinen die Engel aus Freude; über eure Mäuler auch, aber nicht aus Freude! Betet, betet, betet, daß ihr auch so hoch in der Gnade Gottes steigt, wie er! Amen.«

Wer auf der Eisenbahn am Eingange des Zillerthales, zu dessen beiden Seiten hohe Felsenpfeiler emporragen, vorüberfährt, erblickt rechts am Rand einer steilen Kalkwand, die bis Rotholz nach Westen zieht, ein kleines Kirchlein mit rotem Dache: Amthor nennt es die Brettfall; unser etymologischer Freund Christian Schneller würde den Namen aus dem Romanischen ableiten und wohl anders schreiben. An die Kapelle 216 lehnt sich eine kleine Einsiedelei, behütet von den Tannen und Föhren des uralten Waldes, der sich gegen Schlitters und weiterhin ausdehnt. Wer das halbe Stündlein daran setzt, um von der Landstraße hinaufzusteigen, erfreut sich an der weiten Rundschau über die Ufer der beiden Flüsse oder mag in der kühlen Kapelle die Votivbilder anschauen mit den Wundern, welche die Muttergottes dort vom Altar herab wirkte. Und wie sollte sie auch jemand, der sich aus solcher Tiefe emporwagt, ungetröstet hinabschicken? Ihren Dienst besorgten seit einer langen Reihe von Jahren fromme Waldbrüder, die das ewige Licht nährten und zu den drei Tageszeiten das Glöcklein die Botschaft einer höheren Welt hinausklingen ließen. Damals war die Kapelle verödet; niemand mochte da droben die Rechnung mit der Welt abschließen und eine neue für den Himmel auflegen. Die Gemeinde überließ daher das kleine Anwesen gern unserem Michael und verpflichtete sich sogar, ihm einige Säcke Korn für den Unterhalt zu gewähren; zwei Ziegen versahen ihn mit Milch; um Holz brauchte er nur zur Thür in den Wald hinaus zu greifen. Gemüse lieferte ein kleines Gärtchen an der Sonnenseite vor der Hütte, und was noch fehlte, konnte ein oder der andere Opferpfennig ersetzen. 217 Die zwei Zellen, – eine für den Klausner, die andere allenfalls für einen Gast, – trennte ein schmaler Gang mit dem Herde zu hinterst. In jeder stand ein Schragen, darauf ein Sack mit Laub und ein grober Kotzen; zu Häupten hier die schmerzhafte Mutter, dort der Gekreuzigte. Wer den anheimelnden Kupferstich Dürers: »Der heilige Hieronymus« kennt, vermag sich leicht eine Vorstellung zu machen. So einfach war das Hauswesen für einen Mann eingerichtet, der, ohnehin fast bedürfnislos, sich noch als Büßer manche Entbehrung auferlegte, bis ihn nach einigen Jahren der ehrwürdige Pfarrer ganz lossprach.

Nachdem die erste Scheu überwunden war, wurde Michael bald in der ganzen Gemeinde beliebt. Man schrieb seiner schlichten Frömmigkeit, der Fürbitte in der Kapelle manchen Erfolg zu, den der Mund des Volkes vergrößert weitertrug; seine Trostworte, die aufrichtige Teilnahme bei jedem Leid gewannen ihm besonders die Frauen, die ja immer seufzen und klagen; die Hilfsbereitschaft in jedem Falle machte ihn bald zu einem Notnagel für das Dorf. Der Schullehrer siechte dahin und starb endlich, ohne daß schnell ein Ersatz zu finden war; er entsprach sogleich dem Wunsche des Vorstehers; die Kinder erzählten lange von dem Bockbart, der ihnen so 218 nette Bildeln ausgeteilt. Der Meßner, ein lustiger Musikant, hatte beim Tanz den Fuß gebrochen; er leitete zu Weihnacht den Chor und blies auf der Flöte dem Christkindl ein Wiegenlied, daß die Bauern nie was Schöneres gehört hatten. Durchmarschierende Soldaten schleppten den hitzigen Tisel ein; er eilte von Haus zu Haus, pflegte die Kranken, betete mit den Sterbenden und bahrte die Toten auf. Wo er Not und Armut fand, bettelte er, – der niemals etwas für sich heischte, – bei den reichen Bauern und schleppte die Gaben auf dem Rücken in einem Sacke Witwen und Waisen zu. Hader und Unfrieden schlichtete er mit Worten der Liebe, sodaß die Leute merkten, er müsse selbst viel gelitten und erfahren haben, denn alles klang so wahr aus der tiefsten Seele. Ja, der Michael!

Zwar erinnere ich mich dunkel an einzelne Geschichten, mag sie aber nicht erzählen, wohl aber ein Ereignis, das mit den Wurzeln seines Lebens im Zusammenhang schien.

Auf der roten Marmelbank vor der Thür des Siminger kauerte in sich zusammengesunken ein Weib vom Aussehen einer Zigeunerin. Das schwarze Haar floß in langen Strähnen um den magern Hals; aus den tiefen Höhlen flammten die Augen unheimlich, als ob sie sähen, aber 219 doch nicht sähen; die Brust hob und senkte sich, als sollte sie bald veratmen. Die Arme: sie mußte viel Elend geschaut haben! An ihrem Schoße lehnte ein halbnackter Knabe und nagte gierig an einer Speckschwarte, welche ihm die Bäuerin zu einem Stück Schwarzbrot geschenkt. Bisweilen legte wohl eine mitleidige Hand einen Kreuzer neben sie; kaum daß sie mit leisem Kopfnicken zu danken vermochte. Da schritt Michael langsam durch die Gasse; sie sprang auf und stürzte auf ihn zu; er erblickte sie und schrie laut »Maria!« Dann wurde er aschfahl, seine Kniee knickten ein, er mußte sich an der Mauer halten. Sie warf sich in den Staub, faßte seine Hand und rief, heiße Thränen darauf weinend: »Ich habe dich durch die ganze Welt gesucht, deine Verzeihung zu erbetteln; vergieb mir vor Gott und den Menschen!« Schon versammelten sich die Leute; nun redeten sie eine Sprache, die niemand verstand; Michael hob das Weib beim Arme auf und führte sie in den Widum. Dort flüsterte er dem Pfarrer etwas in das Ohr; dieser nickte und ließ sie in eine Kammer bringen, wo man sie auf ein reinliches Lager streckte. Sie wurde mit den Sterbesakramenten versehen; es that auch Not, denn schon am nächsten Tage verschied sie; die Aufregung hatte das letzte 220 Tröpfchen ihres Öles verzehrt. Michaels Brust wollte der Schmerz schier zersprengen; selbst der Pfarrer, der schon an so vielen Sterbebetten gestanden, weinte, als sie sich gegenseitig um Verzeihung baten, und der Klausner den Abschiedskuß auf ihre bleiche Stirne drückte. Man begrub sie auf dem Friedhofe; dort sah man ihn oft in später Stunde knieen und beten. Den Knaben nahm er zu sich; aber auch diesen riß schon im nächsten Frühjahr der Tod in den Abgrund. Bald nach der Schneeschmelze schmückt sich die Wand unter der Kapelle mit den Dolden der duftigen Aurikel. Er wollte einen Strauß für die tote Mutter holen, glitt aus und ward zerschmettert unten aufgehoben. Das Holzkreuz auf dem Grabe der beiden ist längst vermodert, wie ihre Liebe; die Erinnerung an sie verweht wie Rauch.

Gewiß schüttelt mancher ungläubig den Kopf; denn Einsiedler gehören nur in Ritterromane, und das Mittelalter ist längst dahin. Bewegte Zeiten werfen jedoch Blasen ganz eigentümlicher Art. Im Jahre 1850, nach den Kriegen in Italien, trug ein Pilger ein schweres Holzkreuz vor den Altar der Muttergottes zu Absam, beichtete und kommunizierte; dann baute er sich neben einer Kapelle im Gebirge eine Hütte und starb als 221 frommer Büßer selig in Gott. Er habe als Soldat viel Böses gethan. Das Kreuz habe ich selbst gesehen; darum zweifle ich auch nicht an dem, was ich seinerzeit von Michael erfuhr. –

Wir begleiten unsere Freunde nicht zur Brücke und kosten auch nicht den schmackhaften Festkuchen mit den Zuckerstreifen, den die Mutter Tags zuvor so kunstvoll gebacken.

Jodok streifte nach wie vor fleißig über die Jöcher; Blumen brachte er seltener, dafür jedoch manche schmackhafte Beere, manche schöne Frucht. Erlesene Zweiglein steckte die Mutter wohl hinter ein Heiligenbild, damit man im Winter auch eine Freude habe, wenn man des Sommers gedenke. Dann folgten die Zapfen der Zirbel, ein Säckchen brauner Haselnüsse. Sie gingen in die Bohnenlaube, von der bereits welke Blätter fielen und knackten lachend und scherzend wie zwei Eichkätzchen, die auf einem Tannenzweig sitzen. Jodok erzählte ihr allerlei; als er von jenem Kar zwischen den Zundern herabschaute, da sei der Zoll klein gewesen wie ein Grillenhaus, und er habe Gretel nicht singen gehört, – kaum die Glocken, welche mittags läuteten. Er deutete mit dem Finger aufwärts: »Siehst du, wo schon der Schatten in die Kluft fällt, ist ein Brünnlein; das Wasser laugt das Gold aus dem Stein; 222 das Venedigermandel ist gekommen und hat es in einem Tröglein aufgefangen. Ich hab' lang im Grus gewühlt, aber nichts gefunden. Ja, wenn's mir einmal glückt, dann laß ich dir einen Haspel machen mit Elfenbeinstäben und Silberplatten; du mußt Fäden abwinden, fein wie das Mariengarn, das dort durch die klare Luft schwimmt. Das gäbe ein weißes Prachtgewand für die Fronleichnams-Prozession; du gingest mit den Jungfrauen, – allen voran! – ich wäre unter den Schützen, und für die General-Decharge thät ich doppelt laden, daß du mich am Knall von den anderen herauskenntst. Überhaupt soll im ganzen Gebirg Gold sein, aber wer glaubt' noch? Der neue Lehrer nennt das eine abgeschmackte Sage, die daher kommt, daß die weißen Köpfe abends und morgens besonders hell funkeln.«

Die Zöllnerin trat an den Tisch, um das Eßzeug hinzustellen; sie schob Jodoks Jagdtasche beiseite, aus der Wasser tropfte. Er sprang hinzu. »Darauf hab' ich nicht gedacht. Weil nichts, was fliegt oder springt, zu spüren war, schoß ich mir, was schwimmt aus dem Zireiner See.« Er legte zwei prächtige Salblinge auf einen Teller.

»Da sollst du nicht hingehen,« sagte die 223 Mutter besorgt; »du hast doch gehört: es ist droben nicht recht geheuer.«

»Der Drache, der die Fische hütet, ist mir auch nicht erschienen; so ist das andere ebenfalls ein Märlein.«

Gretel blickte ihn fragend an.

»Siehst du,« fuhr er fort, »wenn du am blumigen Ufer rastest, da sitzt auf einmal ein Fräulein im weißen Kleide neben dir. Sie sagt kein Wort, sondern schaut dich mit großen Augen, blau wie der See, unverwandt an. Willst du reden, ist sie dahin wie ein Nebel. Aber wer sie gesehen hat, geht herum halbwach, und jeder Brunnen, jede Quelle, jedes Bächlein erinnert ihn an sie; es zieht ihn immer mächtiger, er greift zum Bergstock; zurückgekommen sei auch keiner, oder wenn einer, so war er steinalt, daß ihn niemand mehr kannte. Nur der Pfarrer fand etwas in einer alten Schrift; er machte ihn beichten, und als er ihm bei der Kommunion die Hostie auf die Zunge legte, zerfiel er zu einem Häuflein Staub, kaum so viel, wie die Asche, welche der Meßner nach dem Hochamt aus dem Weihrauchfaß schüttet.«

Gretel rief erschrocken: »Hast du sie auch gesehen?«

224 Die Mutter lachte: »Merkst du denn nicht, daß alles eitel Reimerei ist?«

»Nun, sehen möchte ich sie schon!« meinte Jodok.

»Versündige dich nicht an Gott,« bemerkte jene ernsthaft, »und wenn es sich auch nur um ein Märchen handelt.«

Er wandte sich an Gretel: »Wenn dich solche Geschichten freuen, kehr' einmal auf der Alm zu Ladoi beim alten Jörg ein; der weiß Dinge, daß er dir eine ganze Nacht die Ohren aufspreizt. Und erst die Schnadahüpfeln!« – – Er summte leise vor sich hin und trommelte mit den Fingern den Takt auf dem Tische; plötzlich begann er:

»Du flachshaariges Dirndl,
Wia hon i di gearn,
I mecht wegen deiner
A Spinnradl wearn.«

Gretel schüttelte bedenklich den Kopf: »Na, Jodok, das Dirndl möcht ich nicht sein; wer wird sich die Haare wegspinnen lassen!« –

Die Mutter trug die Salblinge in die Küche; bis zum Essen flogen ihre Reden hin und her wie Weberschiffchen: kindliches und kindisches Geplauder! Der Ernst blickte schon herein; nach und nach sollte er sie immer schwerer anfassen.

Es war am 29. September abends. Über 225 die Möser kroch bereits feuchter Nebel, aus dem sich die riesigen Türme der Veste Kropfsberg düster und unheimlich heraushoben; um die Zinnen schwebten die Geister der Bayern und Tiroler, die sich 1704 für das Erbrecht des Hauses Habsburg totschlugen. Gretele war heute ernsthaft; sie öffnete von Zeit zu Zeit das Fenster, um mit gespanntem Ohr hinaus zu horchen, bis sich auf der Straße Lärm und Jubelgesang näherte. Es war eine Schar Studentlein, die sich in die Lustigkeit hineinschrie gerade wie die Rekruten, obschon mancher vom Abschied aus der Heimat rote Augen mitbrachte; ihnen voraus Jodok, der zum erstenmale statt des Loden das kurze Tuchröcklein trug. Die meisten Bursche waren angeheitert; darum ging sie ihm nicht entgegen, sondern erwartete ihn auf dem Hausflur, nachdem er den Kameraden versprochen, sie frühmorgens beim Ederwirt zu wecken und abzuholen. Der Abend, der letzte vor der Abreise nach Innsbruck, gehörte dem Zoll; was konnte in den unendlich langen zehn Monaten, bis er dem Alten stolz lächelnd das Studienzeugnis wies, alles geschehen! Die Jugend macht jedoch einen leichten Sprung in das ungewisse Reich der Hoffnungen; so erschallte bald am gastlichen Tische, wo heute eine Flasche Terlaner funkelte, Scherz und 226 Heiterkeit. Auch der Vater stimmte dazu, wenn er auch schwer schnaufte, und nach jedem Trunk hüstelte. Vor dem Schlafengehen brachte die Mutter einen Karton mit allerlei Mustern von Fäden, Stoffen und Bändern, die er der Scharmerzenzel überbringen sollte, damit sie durch die Bötin eine Auswahl schicke. Die kurzen Wintertage gehörten der Nadel; in der Hennenstunde kam wohl ein Nachbar oder eine Nachbarin zum Plaudern; nach Einbruch der vollen Dunkelheit schnurrten die Spinnräder am warmen Ofen. Der Vater ermahnte ihn, hier und da zu schreiben, besonders über die Kriegsläufe, denn sonst könnte die Welt untergehen, ehe man es zu Straß nur krachen höre. Der Junge versprach es und wandte sich dann zu Gretele. »Auch du sollst von mir hören, denn ein Student erlebt allerlei wichtiges; schreib' aber auch, wie es dir und dem Krummschnabel geht, den ich dir im Herbste eingethan; ob er immer an den Drähten des Käfigs klettert und Zipp zipp schreit, wenn man ihm einen Tannzapfen hineinsteckt.«

Nach einem tüchtigen Frühstück griff er zu Stab und Ranzen; dieser war schwerer geworden, denn die Zöllnerin hatte für Wurst und Brot gesorgt. Während Gretele ein Sträußchen aus Astern, Kapuzinerkresse und Lavendel an sein 227 Käppchen heftete, reichte ihm der Alte etliche Silberzwanziger in Papier eingewickelt, damit er das Porto zahle; mit dem, was übrig bleibe, mög' er ihm beim Bierwastel Gesundheit trinken. Jodok drückte das Käppchen auf den Kopf; er und Gretel reichten sich die Hand und wendeten sich dann schnell um, sodaß ihm die Eltern ein »Behüt dich Gott!« nachrufen mußten.

Die Kameraden machten allerlei Späße über das Sträußchen. Einer oder der andere hätte es ihm gern geschnipft; er paßte jedoch gut auf, und so schritten sie fröhlich und wohlgemut vorwärts, bis ihnen abends die goldenen Kreuze auf den Kuppeln und Türmen Innsbrucks entgegenleuchteten. Auf dem Rennplatze trennten sie sich; nur einer begleitete ihn bis zur Thür der Scharmerzenz, die ihn nach einem »Gelobt sei Jesus Christus!« in sein Schlafkämmerlein führte. Essen könne er mit ihr eine Brennsuppe und dann seine Aufträge auskramen. Die ersten Tage rannte er fast wie schneeblind durch die Gassen; die Menge neuer Gegenstände verwirrte ihn, bis ihn die Ordnung der Schule in das Geleise brachte. Wie viel hätte er zu schildern gehabt! Er schrieb aber nur einen kurzen Brief und legte Kupferstiche und Holzschnitte mit den Abbildungen verschiedener Gebäude und Plätze 228 bei, vor allem die schwarzen Mander in der Franziskanerkirche, wie er die Blätter beim Kunsthändler Marzerotti unter den Lauben erhandelt hatte. Gretele schrieb nicht; dafür kam hier und da Obst, ein Zelten und so mancher Leckerbissen, wie er ihn an Festtagen beim Zoll verzehrt hatte.

Mit der Studi ging es gut vorwärts; er hatte zwar kein Lieblingsfach, spannte aber die Stränge gleichzeitig an, sodaß er immer unter die vier, fünf ersten zählte. Die Erfüllung der religiösen Pflichten überwachte die ehrenzüchtige Jungfrau Zenzel, wie es damals bei christkatholischen Quartierfrauen der Brauch war, die nicht bloß das Monatsgeld einsacken wollten, sondern auch das Seelenheil der anvertrauten Schäflein pflegten. Was sie ihm von der heiligen Gnade des Priesterstandes vorredete, wirkte freilich nicht; je älter er wurde, desto weiter entfernte er sich von diesem Ziel. Seiner schönen Stimme verdankte er nicht bloß die Kost, er wurde bald zu Konzerten beigezogen und versteckte manchen Zwanziger in einen alten Strumpf, den die Bauern auch jetzt noch häufig als Schatzkästlein benutzen. – Der erste Juli! Er zählte Tag für Tag bis zu den Ferien. Da war im Redoutensal eine Musikprobe; zufällig warf er einen Blick in den Wandspiegel, der ihm seine 229 Gestalt von oben bis unten zeigte. Wie erschrak er! Die Hosen über den Knöcheln, unter der Weste ein breiter Streifen Hemd, die Arme wie die eines Pavian weit vor gestreckt. Wie würde Gretel schmötzeln! So durfte er sich ihr nicht vorstellen, wenn auch die Zenz versprach, den gleichen Stoff anzustücken. Er holte den Strumpf; seufzend über die Eitelkeit der Welt, mußte sie mit ihm zu einem Krämer. Bald hatte er ein dunkelgrünes Röckchen mit Seidenlitzen.

Die Zeugnisse waren verteilt; das letzte Gaudeamus der Schlußkneipe gesungen; bei einem Schwärzer kaufte er noch eine Bleibüchse feinen Schnupftabak für den Zöllner, der Frau die »Allerneueste Himmelspforte«, schwarz in Saffian mit Goldschnitt, und für Gretel die Geschichte der vier Haimonskinder und des Kaisers Oktavian. Auch die Angehörigen in Kundl vergaß er nicht; weil diese jedoch von unserem Pfade seitab liegen, erwähnen wir nichts weiter. Ein Brief vermeldete seine Ankunft; der Zöllner blieb im Amte, Mutter und Tochter eilten ihm bis Rothholz entgegen. Als er sie dort unter dem Schatten der Linde erblickte, schwang er jauchzend das Käppchen und lief trotz Staub und Hitze. Auch Gretele trug das Sonntagsgewand. Ei der Tausend!

230 So verging Schuljahr um Schuljahr, Vakanz um Vakanz, ohne die Verhältnisse wesentlich zu ändern. Nur der Spätherbst von 1805 brachte ein Ereignis, das tief in die Geschicke Tirols einschnitt. Napoleon überzog Österreich mit Krieg. Seine Heersäulen näherten sich dem nördlichen Passe der Alpen, der Scharnitz, wo ihnen die Schützen das Thal sperrten und sie im blutigen Ringen zurückwarfen, bis durch die Kopflosigkeit eines österreichischen Generals die Leutasch verloren ging, wie eine schmutzige Flut wälzten sich die Franzosen herein und häuften Brand auf Raub, Mord auf Schande. Ja, in den Wäldern bei Seefeld wurde noch hin und her geschossen; auch die Innsbrucker Studenten rückten mit den schweren Musketen des Zeughauses aus, – bis Zirl; dort mußten sie umkehren, und Jodok, der so manchen Geier aus den Lüften geholt, erlebte die Freude nicht, einer Blaumeise auf die Federn zu brennen. Alles war verloren, Tirol von Österreich aufgegeben und der Landsturm nach Hause geschickt.

Am 2. November rückte hoch zu Roß der gewaltige General Ney über die Innbrücke und fertigte den Bürgermeister Riß mit einer Ohrfeige ab. Dann wurde gepreßt und gestohlen mit einer Meisterschaft, wie sie nur die 231 Feldherren und Soldaten des großen Kaisers besaßen. Beim Friedensschluß trat Kaiser Franz Tirol an Bayern ab; alles atmete auf, weil man nun geregelte Zustände erwartete, aber Satan war schlimmer als Belzebub, und die Knechte des aufgeklärten Ministers Montgelas kehrten alles zu oberst und zu unterst und griffen dem Volke ins Herz. Es lag schwül auf den Bergen, eine unheimliche Gärung kochte in den Tiefen der Thäler. Die Blätter der Geschichte zeugen davon; wir wenden uns wieder zu unserem engen Kreise.

Das Gymnasium wurde ins Bayrische übersetzt; da war manches umzulernen, manches neu; anderes entfiel, wie die Aloysi-Sonntage und die Mai-Andachten. Es gab Mißverständnisse und Irrtümer genug, trotzdem der neue Vorstand Hubel überall auszugleichen suchte. Die Studenten hatten viel Mühe und Arbeit, Jodok blieb jedoch auf dem geraden Wege und gewann auch jetzt die Zufriedenheit der Lehrer, obschon diese von seinem Aufmarsche wußten. Die Tragweite der Aufhebung der Universität konnte er noch nicht berechnen; die Nachricht vom Tode seiner guten Mutter traf ihn zwar schwer, um so mehr aber nahm er sich zusammen, um dem betrübten Vater Freude zu machen, wie erschrak er jedoch, als 232 er zwei Monate später zu Pfingsten einen Brief erhielt: der Vater habe sich der Haushaltung wegen zur Heirat mit der Dirne entschlossen, die ihn sonst verlassen hätte. Das war ein Drache, den selbst ein Daniel nicht bändigen würde, roh, falsch, wenn auch arbeitsam aus Geiz. Die Zuwage von zwei garstigen Rangen, welche bald nach einander folgten, machte den Ausblick in die Zukunft nicht erfreulicher; Jodok war jedoch noch in den glücklichen Jahren, wo man nur von und in der Gegenwart lebt. Wie er in die Ferien ging, schwoll um Lippe und Kinn wolliger Flaum. Gretel errötete zum erstenmale bei seinem Händedruck; als er sie wohlgefällig betrachtete, schlug sie die Augen nieder; sie war indeß zur Jungfrau aufgeblüht. Er stotterte ein »Sie« heraus, da rief sie spottend: »Mir scheint, du bist bei einem Fräulein zu Innsbruck, du Bruder Liederlich! Meinst du, ich hab' es nicht erfahren, wie du mit so einer aus dem Takte kamst? Anstatt dolce fiore sangst du fiorino; alles lachte und klatschte; du standest mit offenem Maul, bis dir die Theaterprinzessin mit dem Fächer einen Klaps gab und ihr von vorne anfingt. Siehst du, das haben mir die Schwalben zugetragen.«

Die Sache war richtig, und daher die Verlegenheit Jodoks um so größer; da erbarmte sich 233 die gutmütige Zöllnerin: »Der Apotheker von Rattenberg, der droben einkaufte, hat es uns erzählt; es war eine alte Schachtel, um welche dich niemand beneidete; dafür singst du am Sonntag mit Gretel das Magnificat, und ihr zwei werdet euch wohl nicht irre machen.«

So blieb wieder alles beim Alten; es hatte sich aber doch manches entwickelt, was er erst allmählig beobachtete. Die Bauernbursche, welche vor der Kirchthür die Mädeln musterten, tuschelten einander ins Ohr, wenn Gretel kam, ja einer bot ihr sogar einmal eine prachtvolle Nelke, die er vom Hute nahm. Mehr hätte wohl keiner gewagt, denn sie meinten, Gretel sei nicht für einen Bauern; sie werde einmal ein Bräuer oder Postwirt holen, das Höchste, was sie sich vorstellen konnten. Seiner Würde mehr bewußt war sich der Tagschreiber von Rattenberg; er kam, und man wies ihm nicht die Thür; er ging, man lud ihn nicht ein. Indes Zeit bringt Rat. Jodok nahm die Sache gleichgültig, obgleich er ihn zum Teufel wünschte, wenn er sie bei der Arbeit im Garten störte. Dem welterfahrenen Münchener schärfte Eifersucht den Blick, und er sah Dinge, die er vorläufig noch gar nicht sehen konnte. Er beschloß, den wahrscheinlichen Nebenbuhler auszubohren; da er es hinter dem Rücken mit 234 heimtückischem Spotte nicht vermochte, wagte er einmal einen offenen Angriff. Jodok und Gretel saßen abends vor der Thür; er hatte ein neues schönes Lied von einem gewissen Schiller auf dem Schoße ausgebreitet und sang ihr leise die Arie: »Ach, aus dieses Thales Gründen!« Da stellte sich der Schreiber bolzengerade vor ihn hin und herrschte: »Was steht Er nicht auf?«

Jodok schaute spöttisch herum: »Kommt denn die Monstranz?«

Jener trat einen Schritt näher, ihm fast auf die Zehenspitzen: »Weiß Er nicht, daß ich der Gerichtsschreiber bin?«

Der Student maß ihn von oben bis unten mit einem verächtlichen Blicke: »Also der Schreiber! Warum sagt Er mir das? Ich kann Ihn ja doch nicht zum Aktuar machen. Solche Schreiber haben wir zu Innsbruck genug; wenn man was will, giebt man ihnen ein kleines Trinkgeld. Vielleicht brauche ich Ihn auch einmal, und da werd' ich Ihm schon ein Zwanzgerl in die Hand drücken.«

Da rief die Mutter, welche den Streit gehört hatte: »Herr Suiter, pack' Er zusammen; mit dem Jodok hat Er nicht zu haggeln, sonst giebt's blaue Flecke.«

Die Sache wurde bald bekannt, und weil den schmutzigen Kerl niemand mochte, blieben Sticheleien 235 nicht aus, so daß er sich endlich nach Passau versetzen ließ.

Jodok eilte nach Kundl. Die Stiefmutter ließ sich die Seidenschürze, welche er für sie mitgebracht, gefallen; als er jedoch lieber in den Wald, als auf das Feld ging, um dort Garben zu schneiden oder Heu zu mähen, machte sie allerlei vieldeutige Anspielungen. Am meisten ärgerte es sie, daß er seinen armen Vater hier und da ins Wirtshaus führte, ohne sie einzuladen oder ihr ein Seidel zu bringen. Das Gewitter stand am Himmel, der Ausbruch konnte beim kleinsten Anlaß erfolgen; da kam ein Bergknappe und übergab dem Herrn Jodok Rumpler einen Brief, worin ihn der Hüttenmeister von Brixlegg ersuchte, seinen Sohn für die Wiederholung einer Prüfung vorzubereiten. Wenn er zustimme, werde der Knappe seinen Koffer aufladen. Er schickte den Mann ins Wirtshaus, wo er ihm zur Labung einen Steinkrug Bier geben ließ, packte schnell, hängte die Büchse über die Achsel und verabschiedete sich von der frohen Stiefmutter mit einem höflichen Knix. Der Vater begleitete ihn eine Strecke; Jodok gab ihm etliche Gulden, die der Alte unter einem Stein verbarg; sie heimzutragen wagte er nicht, hatte ihm doch sein Weib die Silbersechser, welche er angelötet als Knöpfe trug, von der 236 Weste geschnitten! Das war die Rute, welche sich der schwache Greis in seiner Thorheit auf den Rücken gebunden.

Im Mai des nächsten Schuljahres empfing Jodok wieder eine Todesnachricht; der Zöllner war am Zehrfieber gestorben. Was er Tröstliches wußte, bot er in einem wohlgesetzten Brief auf; als er jedoch die Witwe und Gretel, welche Trauerkleider trugen, zum erstenmal besuchte, weinten alle drei, als wäre der Vater erst hingegangen. Die Frau setzte den Pacht des Zolles fort; nicht umsonst hieß sie Barbara, denn sie trug Haare auf den Zähnen. Wenn so ein Bäuerlein, um etwas abzuzwicken, mit ihr markten wollte, gab sie ihm eine Lektion im Einmaleins, die es gewiß nicht vergaß.

Zu Kundl hielt Jodok sich dieses Mal kaum eine Woche auf; hatte doch die Stiefmutter seinen Koffer durchstöbert, ob kein Geld zum Versaufen drin sei. Erzürnt sagte er es dem Vater; dieser bat ihn jedoch mit aufgehobenen Händen, zu schweigen, sonst habe er Tag und Nacht die Hölle. Wieder holte ein Knappe sein Gepäck, denn der Hüttenmeister war mit seinen Leistungen im vorigen Jahre sehr zufrieden gewesen. Nachdem die wichtigsten Arbeiten auf den Feldern gethan waren, bestellte er sich den Vater für eine kurze 237 Sommerfrische, um ein bißchen auszuschnaufen, nach Brixlegg und gab ihn bei einer guten alten Bäuerin in die Kost.

Die Ferien neigten sich dem Ende zu; heuer bezog Gretel mit ihm die hohe Schule zu Innsbruck. Es herrschte nämlich in den wohlhabenden Familien auf dem Lande der Brauch, die Töchter im siebzehnten, achtzehnten Jahre in die Landeshauptstadt zu schicken, damit sie dort für ihren künftigen Beruf den feinen Schliff erhielten. Da gab es einen Vetter, eine Base, die das Küchlein unter die Fittiche nahmen, oder alte Jungfrauen und Witwen, die eine kleine Zubuße zur Jahreseinnahme bedurften, Geschäfte für die Freunde auf dem Lande besorgten und unter Aufsicht des Klerus ihre Kinder in die strenge Hauszucht nahmen, stets bedacht, den guten Ruf und dadurch die Rente zu wahren. Gewöhnlich hatten diese Damen eine lange Nase, ein spitzes Kinn mit einer oder der anderen grauen Borste. Frau Barbel handelte schon vor Jahren, um nichts zu versäumen, die Sache mit der Zenzel aus; kreuzerweise, wie's üblich und auch die Freundschaft nicht störte. Ein Teil der Kosten wurde in Lebensmitteln abgetragen. Frau Barbel und Gretel, die mit pochendem Herzen von den Blumenstöcken Abschied nahm, tauchten unter die Blache des Boten, 238 die mit Haselreifen ausgespannt war, denn die Stellwagen waren noch nicht erfunden; das Studentl, freilich bereits ein gewaltiger Laggel vor dem Herrn, trottete nebenbei, erklärte und zeigte rechts und links von der Straße alle Merkwürdigkeiten.

Die Gesellschaft traf abends um neun Uhr zu Innsbruck ein; am nächsten Morgen hatte jedes für sich zu thun. Zenzel führte Barbel, Gretel und ein Fräulein aus Imst, mit dem sie nun zusammen das Zimmer teilte, erst in den Pfarrwidum, wo sie kochen lernen sollte, dann zur Schneiderin, zur Weißnäherin, zur Stickerin, zur Hutmacherin; auch ein bißchen welschen war nötig, so daß Jodok nicht so viele Professoren hatte, wie Gretel Lehrerinnen. Nachmittags wurde in den Läden eingekauft. Am zweiten Tage in der Frühe tauchte Frau Barbel wieder unter die Bache, obwohl sie eine verläßliche Magd gedingt hatte. Gretel und Jodok sahen sich höchstens abends auf einen Sprung; sie hatten so viel zu thun! Sonntags gingen sie zu selbst vieren, die beiden Mädchen voran, dann er und die Zenzel rechts in die Stadt herum bis Wiltau, Hötting und Mariahilf, dann in den Rosenkranz; während der vierzigtägigen Fasten beteten sie wohl auch den Kreuzweg bei den Franziskanern. Als endlich der Lenz über den Patscherkofel schaute, 239 wurden kleine Ausflüge zur Maibutter, dann auf das Mittelgebirge gewagt. Jodok vergaß den bleieingefaßten Stock und den Schlagring nie, denn man hörte hier und da von den Raufereien mit den Blauen, die sich übermütig vordrängten; freilich konnten sie gegen die taktfesten Bauern nicht aufkommen, die wohl auch mit den schwer genagelten Holzschuhen dreinschlugen, was jene um so mehr erbitterte.

Am 15. Mai übergab der Amtsdiener ein gesiegeltes Schreiben; Jodok mußte den Empfang im Protokoll bestätigen. Doch wohl deine Rekrutierung? Er war ja Student! – Der Gemeindevorsteher schickte ihm die Abschrift des Testaments seines Vaters, der bald nach Ostern verschieden war; es sei rechtsgültig, wenn er nicht binnen vier Wochen Einsprache thue. Die Stiefmutter hatte ihm die Krankheit verhehlt, um Hab' und Gut für sich zu erschleichen. Ihm wurde nur hinten eine Kammer vorbehalten; die Kost möge er entweder durch Arbeit verdienen oder zahlen; den Anteil, der auf ihn träfe, habe er ja längst verstudiert. Den Eindruck des Schmerzes schwächte der Zorn und die Erkenntnis, daß hier der Tod ein Erlöser gewesen sei. Die Frist ließ er ungenützt verstreichen; so wie so wollte er das Testament des Vaters ehren.

240 Die Garnison zu Innsbruck war unter dem schneidigen Oberst Ditfurt um eine Schwadron Chevauxlegers verstärkt: wenn der Soldat auch das Volk verachtete, wollte man sich doch vom Sturme nicht überraschen lassen, den manches stumme Zeichen anzudeuten schien. Nur eine Schwadron, – wie lachten die Bauern! Die hübschen, schlanken Offiziere, die so flink vor den Fenstern courbettierten und so artig salutierten, suchten die Herzen der Mädchen für sich und den König zu erobern und waren sehr von den nichts weniger als zierlichen Körben, die ihnen zuflogen, überrascht. Die Tirolerinnen und die Tiroler, – ein eigenes Volk!

Am 30. Juli 1808 hatte Jodok das Gymnasium absolviert. Nun stand er freilich vor einer versperrten Thür, – wo ein und wo aus? Die Universität Innsbruck war aufgehoben, ob er sich zu Landshut durchschlagen würde, sehr fraglich. Indes hatte er noch zwei Monate Zeit zum Nachdenken; Gretels Lehrjahr schloß erst mit dem letzten September; bis dahin konnte er ja singen.

Auch sie war der Aufmerksamkeit eines Offiziers nicht entgangen, wies jedoch die Huldigungen, die jedes Mädchen so gern annimmt, wenn ihr der gefällt, welcher sie darbringt, schnippisch ab 241 und reizte ihn um so mehr. Er hatte gut an der Straßenecke passen; sie verlegte entweder die Stunde oder ließ sich von Zenzel abholen; vor der wäre aber auch der tapferste Landsknecht ausgekniffen, wie Hans Sachs so anmutig schildert. Einmal schickte der Offizier einen prachtvollen Strauß; die Alte fing den Burschen vor der Thür ab: er möge ihn auf den Altar des heiligen Aloysi bei den Jesuiten stiften, denn dieser sei der Patron der Keuschheit!

Diantre! Ein tapferer Lieutenant erobert eine Stadt. Warum nicht, wenn er aushält, ein Mädchenherz?

Durch eine Hausmagd hatte er erfahren, daß am Michaelitag die ganze Gesellschaft, auch der verfluchte Kerl Jodok, auskriechen werde, um dem alten Wein in Altrans die letzte Ehre zu erweisen. Schlag zwei öffnete sich die Hausthür. Zenzel voran. Sie trug die braune Pelzkappe, mit dem grünen Schild auf dem Scheitel, wie ich diese Tracht der Bürgersfrauen noch vor fünfzig Jahren, wenn auch bereits selten, beobachtete: ehrsame Himmelsgrenadiere, stets kampfbereit wider den Teufel und die böse Welt! Besonders schön war die Seidenschürze, die aus dem Violett in Gold schillerte. Dann Gretel, dann die Luise aus Imst, dann Jodok mit dem knotigen Tremmel 242 und dem wuchtigen Schlagring aus dem Hufeisen einer Hexe, die der Teufel über Joch in die Hölle geritten hatte.

In der Wirtsstube qualmte Rauch, wie beim Wetter am Sinai; an der langen Tafel saßen Ellbogen an Ellbogen die Bauern; hinten in die Ecke, unter dem Kreuz, hatte sich ein einsamer Mann gestreckt, den breitkrämpigen Hut tief in die Stirn gedrückt, daß man kaum die Züge ausnehmen konnte. Vorspringende Augenknochen, eine gebogene Nase, die Unterlippe eingezogen, – dieses Adlergesicht konnte niemand vergessen, der es einmal gesehen. Mit einem Päckchen Papier beschäftigt, hatte er unterlassen, den Wein einzuschenken, der auf einem Zinnteller vor ihm stand. Unsere vier nahmen in der Fensternische Platz, öffneten aber gleich die Flügel für die frische Luft. Kaum eine Viertelstunde später tänzelte der Leutnant herein; die Bauern stießen sich an und begannen alsogleich das Trutzliedl:

»Die Boarn und Facken,
Die sein von o'an Stamm,
Koa Ja und koa Na nit,
Nur wui (oui) bringen's z'am.

Der Offizier richtete sich hoch auf: »Ihr wollt mich necken?«

Höhnisches Gelächter antwortete. Da donnerte 243 es aber aus der Ecke: »Ruh', noch ist nit Zeit!«

Plötzlich Schweigen, als flöge ein Engel durch das Zimmer.

Der Leutnant kehrte sich um; er begegnete dem durchdringenden Blicke des Bauern im Winkel und mußte unwillkürlich den Blick senken. Nun trat er an den Tisch, wo unsere vier zechten. Niemand grüßte ihn, niemand beachtete ihn; Jodok that wie Eulenspiegel, der dem Papst den Rücken kehrte, als er von ihm eine Audienz erlangen wollte, und legte sich mit gekreuzten Armen breit auf den Tisch.

Jener wandte sich an Zenzel: »Es scheint, man weiß nicht, daß ich Soldat des großen Kaisers bin!«

Sie schaute ihn giftig an, zog den Mund zusammen, daß sich Kinn und Nase fast berührten, und murrte: »Des großen Kaisers, ja! Der Nabuchodnoser war noch größer, ein Riese, wie's in der heiligen Schrift heißt, und mußte doch Gras fressen wie ein Ochs.« Drauf that sie einen Schluck, daß man den Boden des Glases sah; Jodok warf sich in die Lehne des Stuhles zurück, die Mädchen kicherten.

Der Zurückgewiesene brauchte einen Blitzableiter und packte den Studenten bei der Schulter. »Platz du Bauernlümmel!«

244 Der schielte beiseite, drehte den Knopf des Schlagringes zurecht und antwortete: »Ich meine, der Sohn eines Kundlerbauern ist gerade so viel wert, als der des Schweinemetzgers von Audorf, wenn er auch in der Montur steckt.«

Er hatte das von einem Kufsteiner erfahren. Der Hieb saß so gut, daß der hochmütige Offizier erblaßte, dann aber wütend nach dem Säbel griff. Ehe er ziehen konnte, traf ihn der Schlagring so heftig auf das Gelenk, daß er mit einem Schmerzensschrei zurückfuhr. Dann schob ihn Jodok sachte zur Thür hinaus und kehrte ruhig auf seinen Platz zurück.

Der Wirt eilte jenem nach, – der Offizier stand noch verblüfft da, – und sagte, die Mütze in der Hand: »Herr, Sie sind mein Gast, ich kann nicht dulden, daß Ihnen was geschieht, und werde Sie auf einem Feldweg bis zur Straße nach Amras begleiten; schnell, sonst trage ich keine Verantwortung.«

Er ging voraus, und der Bayer folgte, finster grollend.

Indes hatte sich der Bauer aus dem Winkel erhoben; er faßte Jodok bei der Hand und schüttelte sie kräftig. »Das hast gut gemacht, Studentl; wenn d' auch schießen könntest, wär's noch besser!«

245 »Was, schießen?« fuhr dieser auf; »siehst du dort die Tauben fliegen? Gieb mir ein Gewehr, und du kannst dir eine braten lassen.«

Der Bauer holte hinter dem Ofen einen Stutzen hervor. »Ich mein' halt, du Federfuchser kannst nicht einmal recht anschlagen.«

Der Student riß das Gewehr an die Wange, setzte jedoch augenblicklich ab. »Willst du mich etwa foppen? Da ist ja die Mücke verschoben!«

Jener schmunzelte; er ließ sich dann erzählen, wer und woher Jodok sei, was er zu thun gedenke, und sagte: »Recht so, dich kann ich wohl noch gebrauchen. Nächstes Jahr wird ein lustiger Fasching, darauf kommt ein trauriger März, dann ein blutiger April. Merk' dir das und sag' es dem Einsiedler von der Brettfall, der kann dir's erklären; dann suche mich auf: ich bin der Speckbacher von Rinn.«

Nun erhob sich ein und der andere Bauernbursch vom langen Tische und bot Jodok das volle Glas zum Bescheid.

Der Mann von Rinn begann noch einmal: »Studentl, jetzt schau, daß d' zum Loch 'naus kommst; nach Innsbruck darfst d' nit mehr zurück, sonst stecken sie dich in den blauen Kittel. Du übernachtest heut' auf meinem Hof; vor Tagesanbruch schleichst du über die Volderbrücke und 246 gelangst dann durch den Gnadenwald zur Fähre bei Buch; dort setz' über den Inn und bleib' bis auf weiteres zu Kundl. Die Zeche zahl' ich; hast Geld zur Heimfahrt?«

Jodok nickte.

»Um die Madeln braucht dir nit bang z'sein; die führ' ich bis zum Fürstenweg. Ich mein', die da,« – er deutete auf Gretel, – »wird schon für dich beten, daß es dir gut geht. Jetzt schau, daß d' weiter kommst.«

Jodok gab Gretel schnell einige Aufträge: sie möge seine Sachen mitnehmen und einstweilen beim Zoll liegen lassen und der Mutter sagen, daß er sie übermorgen um ein Nachtquartier bitte. Noch ein Händedruck, und er war mit etlichen Burschen aus Rinn auf dem Waldsteige dahin.

Kaum eine halbe Stunde später kam schon eine Patrouille mit aufgepflanztem Bajonett, um ihn abzufassen; der Wirt sagte dem Feldwebel: »Der Vogel ist aus dem Neste, dem Brenner zu; versucht es lieber mit dem Rotkropf im Keller.«

Die Soldaten ließen sich Wein bringen; der Wirt hatte nur so geredet, um sie fest zu halten und von der Spur abzulenken.

Auch Gretel und Luise verreisten am nächsten 247 Morgen. Natürlich tauschten sie vorher, wie es bei Mädchen Brauch, die Schwüre ewiger Freundschaft, Schwüre, die jedoch nie über die Hochzeiten hinaus halten. Es sind eben Blümchen des Lenzes, und diese – welken vor dem Sommer.

Am dritten Oktober, etwa um vier Uhr, stand Jodok vor dem väterlichen Hause. Sollte er eintreten oder nicht? Die Thür war offen, er hörte in der Küche das Feuer prasseln. Seine Stiefmutter rührte am Herd mit dem Löffel den dicken Brei; als sein Schatten hinein fiel, drehte sie sich um. Die Augen aufgerissen, starrte sie ihn an; ohne Händedruck oder Grüß Gott schrie sie: »Was willst du hier, du Vagabund?«

»Meine Kammer, die mir das Testament zuspricht, das einzige, was du mir nicht geraubt hast. An deinem Tisch werd' ich nicht essen.«

»Da hör' ein Mensch! Deine Kammer! Ersetz' erst, was du aus dem Hause hinausgetragen; – deine Kammer! Ich habe das Obst droben, es ist für dich kein Platz.«

»Nun, so gieb mir die Flinte mit Schrot und Pulver, wie ich sie vorigen Herbst zurückgelassen.«

»Hat man deinen Vater umsonst begraben? Ich habe sie verkauft.« Dabei hob sie den kochenden Brei vom Herde: »Jetzt geh', oder ich schütte dir die Pfanne ins Gesicht!«

248 Jodok wandte sich schweigend. Auf dem Hausflur gedachte er seiner glücklichen Jugend und trat dann ins Freie, unschlüssig, wohin er sich wenden sollte. Der neue Pfarrer kannte ihn nicht; was kümmerten sich Vettern und Basen um ihn? Vater und Mutter lagen im Grabe; sie wollte er auf dem Friedhof besuchen. Er kniete vor ihrem Hügel nieder; die Hände gefaltet, betete er für die armen Seelen, daß sie, weil er auf Erden sich ihnen nicht mehr anvertrauen könne, ihm aus dem Fegefeuer Rat und Trost zusenden möchten. Ein kalter Herbstregen begann zu rieseln. Er wischte die Stirn ab und spritzte noch mit dem Wedel Weihwasser auf die Gräber; dann schlich er, den Blick oft rückwärts gewendet, zum Gitter hinaus. Ohne Zukunft, aus der Heimat verstoßen! Er fühlte sich so gedemütigt, daß er sich an Gretel gar nicht zu denken getraute; wie sollte er ihr die Schmach, das Elend des heutigen Tages erzählen?

Er ging; er folgte den Füßen, die ihn vorwärtstrugen, nicht die Füße ihm. Es regnete stärker, er spannte den Schirm auf und schritt weiter, ohne rechts und links zu schauen.

Da weckte ihn das Plätschern eines Brunnens: er stand neben der Kapelle vor Rattenberg. In der Vorhalle setzte er sich auf eine Bank; den 249 Arm auf das Knie gestützt, barg er das Gesicht in der Hand und ließ die letzten Ereignisse an sich vorüberziehen. »Wer ein Einsiedler wäre, wie Bruder Michael!« seufzte er tief. Da fühlte er sich leise berührt und schaute auf. Der Bruder Michael stand vor ihm, – wie ein Wunder, – die Augen voll Teilnahme auf ihn geheftet.

»Ich weiß alles, was sich in der letzten Zeit zugetragen, – auch was heut in Kundl geschah; hat es doch deine Stiefmutter jubelnd auf dem Platz erzählt, wie sie dich aus dem Haus geschafft. Du hast keine Heimat mehr, – wohl! Aber wer nichts hat, hat Gott! Zu deinem Haupt ist der Himmel, unter deinen Füßen die feste Erde; noch hast du, was der Mensch nur einmal besitzt, die Jugend, die Kraft der Hoffnung.«

Aus Jodoks Auge quoll eine Thräne; der Einsiedler ahnte die geheime Sehnsucht, die hoffnungslose, und begann wieder. »Vielleicht liegt das Glück vor deinen Füßen, und eine treue Hand hilft dir den Schatz heben. Wie oft habe ich erfahren, daß die Menschen sich am nächsten sind, wenn sie am weitesten aus einander schienen!«

Jodok schwieg noch immer. Da setzte sich der Einsiedler neben ihn. »Mein alter Leib muß ein bißchen rasten, und auch für dich ist es nicht gut, am hellen Tag durch Rattenberg zu gehen, denn 250 es könnt' ein Steckbrief eingetroffen sein. Wahrscheinlich nicht; die Bayern haben jetzt anderes zu denken, als an eine Wirtshausmette. Doch lassen wir das; selbst schlimmsten Falls ist die Sache bald spurlos in den Akten vergraben. Du mußt weiter denken.«

Jodok zuckte mit den Achseln.

Der Einsiedler blickte ihn ernst an; »Sei nicht so verzagt; du weißt nicht, was ein Mann leidet und leiden muß. Du bist unschuldig an Leib und Seele, du weißt nicht, was es ist, wenn die Schuld am Elend hängt. Ich werde dir etwas erzählen, und dann jammere noch, wenn du kannst. Vorerst mußt du dich jedoch laben; auch Brot und Wein sind ein Trost.«

Er zog aus dem Lederranzen eine Flasche Wein und zwei Semmeln: »Das hat mir der Pfarrer von Breitenbach mitgegeben; mög' es dir Gott gesegnen!«

Der Student, welcher fast noch nüchtern war, griff gierig zu. Der Einsiedler dachte wohl: »Wenn der Hunger erwacht, ist alles gewonnen!« und steckte die leere Flasche ein; dann begann er: »ich habe versprochen, dir etwas zu erzählen, behalt' es für dein Leben. Hüte dich: es giebt nichts Schrecklicheres, als wenn sich Unglück und Schuld an deine Ferse heften. . . .

251 »In Ungarn war ein Soldat, der hatte manchen Strauß mitgefochten, und nachdem er mit vierzig Jahren als Feldwebel den Abschied erhalten, wollte er sich ein warmes, trauliches Häuslein einrichten und schaute nach den Töchtern des Landes aus. Der Vater hatte ihm eine Hütte vererbt; ein sonniger Weinberg, ein tiefgründiger Acker und etliche Wiesen sicherten den Unterhalt. Darum schauten auch die Mädchen des Landes den Mihaily freundlicher an, bis er sich mit der schwarzäugigen Tochter eines Betyaren, der mit seiner Roßherde über die Pußta streifte, vermählte. Schon nach zwei Wochen brach der Türke über die Donau, der Landsturm wurde aufgeboten, auch Mihaily rückte aus, er wurde gefangen und nach Jean d'Acre am Meer in die Sklaverei verkauft. Das war ein Sturz aus dem seligsten Glücke in das tiefste Elend. Jeden Morgen betete er für sie; jeden Abend, wenn die Ketten klirrten, dachte er an sie, die ihm durch den Priester unlösbar verbunden war. Nach zwei Jahren gelang es ihm, auf ein österreichisches Schiff zu entrinnen; von Triest bettelte er sich in die Heimat. Er konnte schreiben, wollte jedoch überraschen. – Thor! Wenn er mit ergrauendem Haar und gekrümmtem Rücken vor sie hingetreten wäre! – Etliche Stunden von seinem Dorfe, wo 252 sich mehrere Pfade kreuzen, war eine Schenke. Von den Gästen hätte ihn schwerlich jemand beachtet; er gesellte sich zu den Zigeunern, die neben den Schweinen im Kote lagen. Nun erfuhr er durch allerlei Fragen: der Stuhlrichter habe ihn für verschollen erklärt, weil er binnen einem Jahre auf keine Ladung geantwortet, und dann sein Gut seinem Vetter Istvan als nächstem Erben zugesprochen. Bald darauf habe Maria diesem die Hand gereicht. Ein Zigeuner fügte bei: er habe auf der Hochzeit gefiedelt; da sei es lustig zugegangen. Der Tausch war auch nicht schlecht: für den alten Feldwebel den schönsten Burschen weitum, den Istvan! Das schien dem Mihaily unmöglich, er ließ jedoch nichts merken und schlich auf einem Seitenpfad in die Haselbüsche vor der Hütte. Da sah er den Istvan und sie, wie sie unter der Ulme, wo er so oft geruht, das Mittagsmahl verzehrten, lustig und schäkernd; sie hob dann die weiße Decke von einem Knäblein und zeigte, wie gesund es schlief. Maria war nicht seine Tochter, sie war sein Weib; wäre sie seine Tochter gewesen und hätte mit Istvan sein Brot, – ich meine das Brot des Mihaily, weil es ja auf seinem Felde wuchs, – gegessen und seinen Wein getrunken, er hätte sie gesegnet und wäre, um ihr Teil nicht zu schmälern, als Bettler 253 fortgewandert; hätte der Knabe Istvans Züge getragen, er hätte den Enkel geküßt. Jetzt aber grinste ihm aus dem reinen Antlitz der Unschuld Spott entgegen; er zog den Dolch und schwur Rache, – die Hölle hat den Schwur erfüllt.

»Warum klagte er nicht vor Gericht? Der Stuhlrichter hätte ihn für den bloßen Versuch, seinen Spruch umzustoßen, von den Panduren als Betrüger auspeitschen lassen, und dann? . . . . Enterbt von der menschlichen Gesellschaft, in seinem heiligsten Recht mit Füßen getreten, ward er Räuber unter Räubern. Oft schlich er um das Dorf, wie der Wolf der Pußta, oder lag im Schilf der Theiß versteckt, wo die Bauern zu fischen pflegten. Da kam endlich Istvan, ein schöner, kräftiger Bursch; er pfiff lustig den Rakoczi-Marsch, – warum nicht? Mihaily sprang hervor und stieß ihn lautlos nieder. Später gelang es seiner Bande, die Post abzufangen; sie teilten die reiche Beute und zerstreuten sich dann, denn man war ihnen auf den Hacken. Mihaily legte die Uniform des Soldaten an, den einer vom Kutscherbock geschossen, und nahm dessen Paß, weil er sich dann für einen Urlauber oder Verabschiedeten ausgeben konnte. Er verließ Ungarn . . . . Weißt du nun, was Elend ist? Gott wußte ihn aber auch im Abgrund zu finden; 254 er führte ihn auf den harten Pfad der Buße, wo sich ihm vielleicht noch der Eingang in den Himmel öffnet . . . .«

Er schwieg. Jodok faßte tief gerührt seine Hand und küßte sie.

Die Nacht war hereingebrochen, dem Regen mischten sich einige Schneeflocken bei. Sie wanderten eilig vorwärts. Aus dem Erdgeschoß des Zöllners schimmerte Licht; der Student wollte anklopfen, Michael zog ihn zurück.

»Sie erwarten dich. Heut aber bist du zu aufgeregt; geh vorwärts; ich rufe hinein, du seiest in Sicherheit.«

Er that es. Schweigend stiegen sie zur Brettfall empor; der Einsiedler führte Jodok in die leere Zelle, wo auf dem Bett eine neue Kutte ausgebreitet war, und verabschiedete sich kurz: »Morgen erfährst du wichtige Dinge!«

Müde und erschöpft hätte der Student die Posaunen des jüngsten Gerichts verschlafen; er erwachte erst, als ihn der Klausner heftig am Arme rüttelte. Es hatte tief herab angeschneit; erst die kalte Luft, welche durch das offene Fenster hereinströmte, brachte ihn zur Besinnung. Er wollte nach seinen Kleidern greifen, Michael reichte ihm die Kutte.

»Folge mir, du sollst alles hören!«

255 Er ging auf die kleine Terrasse voraus, die er auf der weitschauenden Warte des Felsenvorsprunges angelegt hatte. Bald klapperte Jodok mit den Sandalen auf dem Pflaster; er kam sich vor, wie eine Maske, und mußte trotz der düsteren Stimmung über seinen Anzug lächeln.

Der Waldbruder begann ohne weitere Einleitung: »Du bist ein Tiroler, darum hassest du die Franzosen; du weißt, wie der Groll im Herzen des Volkes kocht. Man hat ihm jedes Recht entrissen, ihm ins Gesicht gespuckt, die Schergen Bonapartes auf die Priester gehetzt und die Altäre in den Kirchen geplündert; wir brechen los, die Kreidefeuer auf diesen Bergen rufen die Welt zur Freiheit. Wir sind nur eine kleine Schar, aber denk an Gideon, an Simson, die Makkabäer! Gott ist nicht nur ein Gott der Liebe, sondern auch der Rache! Wenn wir nach Menschenkräften thun, was wir können, wird er seine Engel mit dem Flammenschwert der Wunder aussenden, wie gegen Sennaherib; sie schleudern Apoljon von dem Throne Babels in den Brunnen der Finsternis und drücken das Siegel des Erlösers auf den Stein, der ihn auf ewig verschließt. Mag der Fuß der Verwüstung in unsere Thäler treten, unser Blut fließen! Hilft er uns, den ich nur im Staub zu nennen wage, – o, 256 mir ist oft, als sähe ich den Himmel aufgethan, und tausend Märtyrer mit Kronen und Palmzweigen schweben empor aus dem finsteren Qualm dieser Erde in das ewige Licht!«

Jodok sah ihn staunend an. Das war nicht mehr der alte Michael: in den Augen loderte schwärmerische Glut; von den bebenden Lippen floß der schneeweiße Bart nieder wie ein Wasserfall; die Hand zuckte krampfhaft, wie die Kralle des Falken, der eine Schlange zerdrückt.

Nachdem er Atem geschöpft hatte, begann er wieder: »Wir müssen jedoch mit menschlichen Mitteln anfangen. Im nächsten Jahre beginnt Österreich gegen die Franzosen; auch bei uns sind die Minen gelegt, die Lunten bereit. Sie sind in die Hand von Männern gelegt, die dem Volk wie Feuersäulen in der Wüste voranziehen. Schon im Februar wird es zucken da und dort, denn der Übermut der Fremden will einen lustigen Fasching; da sollen die Bürger Frauen und Töchter nach Sodom und Gomorrha zu ihren Tänzen schicken. Im März werden die Blauen noch obenauf sein, sie träumen ja von neuen Siegen; der April steht blutrot im Kalender. Verstehst du nun, was der Speckbacher gemeint hat? Er ist einer der ersten; er hat dich an mich gewiesen. Wenn die Lawinen niederbrechen, 257 bist du Offizier, vorläufig jedoch Einsiedler, denn in der Kutte kannst du am besten Botschaft tragen von Widum zu Widum. Mein Geist ist zwar willig, aber der Leib schwach; da mußt du mir deine Jugendkraft leihen. Willst du?«

Jodok schlug freudig ein.

»Vielleicht ziehst du dieses Gewand gar nicht mehr aus. Im nächsten Jahre siehst du schreckliche Dinge; du erfährst, daß alles Irdische ist wie Tau, den die Sonne der Ewigkeit aufzehrt; du erkennst vielleicht, daß es besser ist, dieser sogleich als treuer Planet zu folgen. O, ahntest du, welch ein seliger Frieden hier um diese Klause, diese Kapelle schwebt! Das steht jedoch bei Gott!«

Jodok blickte bei dieser Anrede auf das Häuschen am Ziller. Nun holte Michael aus der Küche ein kräftiges Frühstück. Als sie fertig waren, nahm er den Stab und hängte einen Zwillichsack über den Rücken, in dem Papier knisterte.

»Ich bringe jetzt dem Pfarrer Siard diese Schriften; bei ihm laufen viele Fäden zusammen. Er kann die Adressen schreiben; morgen verträgst du sie. Die Frauen am Zoll werde ich verständigen; denen darf man schon trauen; Barbel und Gretel thäten, wie Joel und Judith, wenn 258 es der Herr verlangte. Du gehst in die Zelle, schreibst die aufgelegten Nummern ab; daneben liegt ein kleines Büchlein über Vorposten, das ich zusammengestellt, und du kannst daraus manches lernen, was du wissen mußt. Siehst du dort den Stadel, – er steckt tief zwischen den Erlen der Au, – Marxens Stadel. Komm bis zwei hin; ich lehre unsere Buben dort ein bißchen exerzieren. Vergiß nicht, mittags um zwölf das Ave zu läuten.«

So ging es in diesem Sturm mit den Schicksalen der einzelnen Menschen; wer sollte sie beachten?

Jodok sah die Frauen nur noch selten und zufällig, kaum auf ein paar Minuten; ihr Gespräch war so ernst, daß nicht einmal die Kutte zu einem naheliegenden Scherz Anlaß bot. Die Vorbereitung zum Kampf von 1809, die Großthaten und Siege der Tiroler, bis sie der Übermacht erlagen, erzählt die Geschichte; wir können sie höchstens als Hintergrund andeuten, wenn sich unsere Freunde davon abheben.

Jodok focht unter Speckbacher in erster Reihe. Er war bei der Schlacht am 10. April, wo die Franzosen vor Teimer die Waffen streckten, und eilte, als der General Chasteler, der vielleicht recht gut auf das Schachbrett des Exerzierplatzes 259 taugte, die Stellung bei Wörgel verloren hatte, in das Unterland, um ihn zu bewegen, den Paß von Rattenberg oder vor Straß am Klauseck zu besetzen. Der flog aber schon zu Margarethen in rasender Hast, barhaupt, die Haare gesträubt, an ihm vorüber; kein Zuruf vermochte ihn aufzuhalten. Er hat jetzt in der Kirche St. Giovanni in Paolo Ruhe gefunden; die Grabschrift verkündet seinen Sieg über die Francogalli in den rhätischen Bergen, und daneben prangen die Denkmäler glorreicher Dogen.

Bald fluteten Jodok in wüster Unordnung die Trümmer des gesprengten Heeres entgegen, ohne Kanonen, ohne Pferde, viele ohne Waffen, als ob ihnen Wrede schon in den Nacken hiebe. Da war kein Bescheid zu erlangen; jeder sorgte für sich. Die Angst beflügelte seinen Schritt; an sich dachte er kaum noch, nur an Gretel und ihre Mutter.

Endlich zu Straß! Das Dorf war noch nicht verlassen, Schützen in größeren und kleineren Gruppen berieten, Weiber drängten ängstlich herbei, um zu horchen. Bei der Kirche stand der Einsiedler, gab Befehle und ermutigte. Als er Jodok sah, rief er: »Bringst du Hilfe?«

»Übermorgen früh rücken Speckbacher und Straub mit dem Landsturm des ganzen Innthals, der Stubai und Sellrain an.«

260 »So verteidigen wir den Paß. Läutet Sturm!«

Bald rief eine Glocke der anderen von Dorf zu Dorf, die Kreidefeuer flammten von Berg zu Berg, in das Rasseln der Trommeln mischte sich der grelle Schrei der Schwegelpfeife. Michael trat vor die Front der etwa zweihundert Schützen.

»Weiß keiner, wie weit der Feind vorgerückt ist?«

»Bis Kropfsberg noch nicht,« antwortete Gredler, der Wirt von Gertrauden; »von den Österreichern war gar nichts zu erfragen; die hatten ihre Augen und Ohren an den Füßen, und auf diesen liefen sie davon!«

»Ich will mich vorwärts wagen!« schaltete Jodok ein.

Michael schüttelte den Kopf.

»Diese Räuber bringen Wehrlose um; was thäten sie erst dir! Ich selbst will gehen; du kannst mich begleiten, in der Kutte. Herr Pfarrer, fertigen Sie ein Schreiben an den Dechanten von Reut aus, wie wir es mit der Pfingstfeier halten sollen. Das wird uns decken.

Siard trat in den Widum und brachte bald einen Brief mit dem Amtssiegel. Die zwei Einsiedler nahmen eine Patrouille mit; die sollte sie am Hügel vor Kropfsberg erwarten. Beim Zoll 261 pochte Jodok an die geschlossene Thür; die Frauen erschraken vor seinem finsteren Blicke im Schatten der Kapuze.

»Ihr könnt nicht hier bleiben,« sagte er kurz; »richtet euch morgen auf die Dämmerung. Steckt ein, was ihr an Geld und Schmuck habt; bindet Lebensmittel, etwa für drei Tage, in ein Leintuch, in ein anderes zwei Kopfpolster und zwei warme Decken. Also morgen in der Dämmerung! Behaltet die Kleider an und betet, daß uns Gott alle behüte!«

Sie schritten vorwärts. Vor dem Wirtshaus in der Au brannte ein Feuer.

»Ein Piquet!« flüsterte Michael; gleichzeitig rief es aus einem Busche »Halt!«, und der Posten trat mit dem gefällten Bajonett vor sie hin.

Sie blieben stehen. Auf das Zeichen kam ein Feldwebel mit sechs Mann.

»Ah, Pfaffen! Das sind Spione! Durchsucht sie.«

Man fand den Brief an den Dechanten; ein Soldat las ihn bei dem Scheine der Laterne laut vor.

»Dieser Dechant muß auch ein Spitzbube sein; vielleicht hat ihn der Wrede schon hängen lassen, weil er ein Tiroler ist. Wir haben da 262 und dort einen solchen Kerl aufgeknüpft, daß er im Wind tanzte wie ein Hampelmann. Marsch!«

Man führte sie vor den Offizier. Dieser sah sie aufmerksam an, prüfte das Schreiben und befahl dann, sie vor den Kronprinzen in Matzen zu geleiten; der wolle ja Boten an die Tiroler schicken, weil man befürchte, daß sie gegen Kriegsrecht auf die Parlamentäre schießen, diese dummen Bauern. »Behandelt sie jedoch gut!« fügte der Offizier leise bei; »vielleicht ist etwas von ihnen zu erfahren.«

An den grauen Mauern der alten Burg zuckte ungewisser Feuerschein; im Hofe kochten die Soldaten, was sie zusammengeraubt, in den kupfernen Feldkesseln. Ein Offizier erstattete dem Kronprinzen die Meldung; man führte die Einsiedler über eine Treppe mit hölzernem Verschlag in eine getäfelte Stube. Hinter einem Eichentische saß ein feiner junger Mann, den die Kunstgeschichte als König Ludwig von Bayern preist; er hatte das Schreiben Siards in der Hand und musterte dann die zwei von oben bis unten.

»Nach Reut dürft ihr nicht; ihr wäret die richtigen Vögel für den Dohnenstieg Lefebres. Ich will euch nichts zu leid thun; aber gebt mir Bescheid, wahren Bescheid.«

Die zwei verneigten sich.

263 Der Kronprinz trat vor sie hin. »Ist die Brücke über den Ziller schon abgebrochen?«

»Nein!«

»Wurden Verhaue angelegt?«

»Nein!«

»Haben die Österreicher die Stellung besetzt?«

»Nein!«

»Ja, wo sind sie denn?«

»Davon gelaufen!«

»Warum haben die Tiroler diesen Krieg angefangen?«

»Weil die Bayern den Krieg mit Gott angefangen haben. Fragt nach, wie Eure Soldaten gehaust haben, und Euer Wrede hat ihnen nicht Einhalt gethan. Das Blut der ermordeten Greise, der hingeschlachteten Weiber und der erwürgten und gespießten Kinder schreit zum Himmel! Sogar im Tabernakel war unser Herrgott nicht sicher; sie traten die geweihten Hostien auf den Boden, als wollten sie sich an Gott rächen, weil sie es an den Schützen nicht können. Wir Tiroler verteidigen unser heiliges Recht, darum haben wir Krieg angefangen.«

Michael war dicht vor den Prinzen getreten, der einen Schritt zurückwich.

»Und weil wir die Franzosen nicht leiden können!« fügte Jodok bei.

264 »Ich auch nicht, ich auch nicht!« murmelte der Prinz halblaut. »Aber es hilft nichts! So kann es nicht weiter gehen; ich werde Einhalt thun, wo es mir möglich. Glaubt mir, man opfert euch. Dank von Wien? Vielleicht Versprechungen und einige Gnadenpfennige anstatt des Haltens! Prometter lungo et attender corto! Ich kenne Wien besser, laßt euch nicht mehr bethören! Haltet Frieden mit uns, dann sollt ihr Frieden haben. Was geschehen ist, ist geschehen! Verziehen! – Niemand soll ein Haar gekrümmt werden. Sagt den Hirten: ›Zieht auf eure Almen, singt eure Jodler und weidet die Rinder; wir schützen euch.‹ Sagt den Bauern: ›Kehrt zurück in eure Höfe!‹«

Ein greller Lichtschein drang durch das Fenster; alle drei blickten betroffen hinaus. Am linken Ufer des Inn brannten etliche Häuser und die Kapelle in der Mitte plötzlich auch. Prinz Ludwig lief etliche Male mit geballter Faust im Zimmer auf und ab. »O, diese Franzosen, diese Franzosen! Sie verderben mir Land und Leute!«

Michael blickte ihn teilnehmend an. »Ich war auch Soldat, – das ist, wie in den Türkenkriegen. Wenn Ihr der Sohn des Königs seid, befehlt, und wer nicht gehorcht, den laßt hängen, – wär's der Lefebre selbst.«

265 »Sagt den Tirolern, ich werde helfen, wo ich kann; aber ich bin nicht allmächtig.«

Er entließ sie mit einer leichten Handbewegung; die Patrouille führte sie etwa hundert Schritte über die Vorposten.

Als sie zu Straß auf dem Kirchplatz anlangten, schlug es eben zwölf Uhr. Der vierzehnte Mai! Aus dem Zillerthale waren noch die Rieder Schützen eingerückt; einzelne Landstürmer strömten hier und da zu. Diese kleine Schar war zum Kampfe gegen die große und siegreiche Armee Wredes und Lefebres bereit. Höher als die Begeisterung für den Ruhm, die sie den Soldaten gönnten, bewegte diese tapferen Herzen die Liebe zu Gott und Vaterland; darum wird der Eichenkranz auf den Bergen Tirols nie welken, das einzige, was es sich in diesen Kämpfen herausgeschossen.

»Wir haben Zeit,« rief Michael den Männern zu; »vor zehn, elf wird der Feind nicht an der Brücke eintreffen. Jodok führt Zimmerleute hin; dort tragen sie das Joch gegen Straß ab und legen einige Bretter, die man zurückziehen kann, wenn die Bayern stürmen. Die Kompagnie von Ried begleitet ihn; er läßt sie am Fuße des Klausecks, das er bei Anbruch des Tages besetzt; einen Zug stellt er hinter die Mauer von 266 Kropfsberg zur Beobachtung der Landstraße; aber ja nicht schießen, sonst ist der Feind gewarnt und rückt gleich in voller Schar an; wir müssen Zeit gewinnen!«

Zimmerleute mit dem Lederschurz, das Schlichtbeil auf der Achsel, traten vor; die Rieder ordneten sich in Doppelrotten; Jodok, der sich mittlerweile in den Offizier verwandelt, trat mit gezogenem Säbel an die Spitze. Beim Zoll sah er wohl zwei Schatten hinter dem Vorhang, er marschierte jedoch ohne Zeichen vorüber.

Endlich krähten die Hähne, die Sterne verblaßten, ein schmaler Lichtschein erhellte den Osten. Da klopfte es an die Thür. Die Frauen traten mit ihren Bündeln heraus; sie blickten Jodok an, was er verfüge. »Heut keinen guten Morgen,« sagte er, »aber gebe uns Gott einen guten Abend.«

Gretel getraute sich kaum, ihn anzuschauen, so prächtig stand er da. Die Krempe des Hutes war rechts aufgestülpt und mit einer grünweißen Kokarde, aus welcher der Federbusch emporstieg, angeheftet. Schräg über die breite Brust zog der Gurt mit dem Säbel, den das Portepee schmückte. Sie fühlte, sie wußte: Er ist ein Mann! und war stolz auf ihn.

»Legt die Päcke auf die Bank,« fuhr er fort »und schaut meinem Finger nach. Dort links 267 ober der Kapelle ist eine kleine Wand; ein Buschstreifen zieht mitten hinein. Dann trefft ihr ein Brettchen, das wie ein Steg zu den dichten Zundern führt. Biegt die Äste auseinander, und ihr steht vor einem Knappenloch, wo der Einsiedler und ich solche Dinge aufbewahrten, welche der Kuhle des Kellers bedürfen. Dort sucht und findet euch niemand, wenn ihr das Brettchen hineinzieht. Höchstens in drei Tagen ist ohnedem alles vorbei; ihr seid dort besser aufgehoben, als wenn ihr in ein nahes Dorf flüchtet. Vielleicht komme ich noch heut nachts. Habt ihr mich verstanden?«

Sie bejahten es.

»Nun, Jagg,« rief er einem Schützen zu, »rück' mit dem Karren vor. Alles, was ihr noch an Lebensmitteln habt, – Speck, Eier, Käse, das Fäßchen Wein, – wird aufgeladen; es ist besser, die Schützen zehren es auf, als daß es diese welschen Hunde verschlingen.«

Die Mutter zögerte, den Schlüssel abzugeben; Gretel nahm ihn mit einem raschen Griffe und reichte ihn Jagg.

»Nun kommt schnell; wir müssen retten, was zu retten ist. Alles können wir nicht. Es ist nur für alle Fälle, auch für den schlimmsten. Wir sind halt zu wenig, zu wenig!«

Die Frauen gingen voraus; zwei Schützen 268 folgten ihnen in die Küche. Dort führte eine Schlagthür in den Keller; Jodok zog sie auf. »Die wertvollen Sachen hinunter!«

Die Frauen und die zwei Bauern schleppten allerlei Gerät mit vollen Armen herbei. Nun ergriff Jodok Thongeschirr und schlechtes Porzellan und – schleuderte es auf dem Boden in Trümmer. Entsetzt starrte ihn die Mutter an.

»Sie sollen glauben, es sei hier schon geplündert worden; dann ziehen sie vorbei, wenn sie etwa nicht gar die Hütte anschüren, diese Mordbrenner!«

Dann ging er in die Zimmer, hackte da und dort mit dem Säbel in einen Stuhl, durchstach ein Bild, schlitzte ein Bett auf, daß die Federn herumstoben, – es war ein Greuel der Verwüstung. In der Küche warf er die Fallthür zu, stürzte den großen Wandkasten darauf, so daß sie vollkommen gedeckt war. Die Schützen hatten unterdes die Fenster eingeschlagen.

»Wo ist dein Geflügel?« wandte er sich plötzlich an Gretel.

»Drunten im Stall eingesperrt!«

»Laß es schleunig auf den Anger! Fangen werden sie's nicht; mit ihren Schießprügeln treffen sie zu schlecht, um etwas zu erwischen. Deine Blumen werden sie freilich zerstampfen, – 269 wären's die einzigen Blüten, die in diesem Lenze fallen!«

Er blieb eine Weile stehen und betrachtete sein Werk: »Fertig und fort!«

Vor dem Hause faßte ihn Gretel bei der Hand; sie blickte ihn treu und innig an. »Jodok, ob wir uns auf dieser Welt noch einmal sehen, liegt in der Allmacht Gottes; aber eines versprich mir: wenn du irgendwo krank oder verwundet liegst, laß es mir sagen; dann such' ich dich, – wär's auch barfuß durch Nesseln und Dornen, – und laß dich nicht verderben.«

Er drückte zitternd einen flüchtigen Kuß auf ihre Stirn und stürmte mit den Schützen, ohne umzusehen, zur Brücke. Die Mutter schluchzte; sie konnte ihm gar nicht mehr ein Kreuz machen.

Zum Verständnis der folgenden Ereignisse muß ich eine kleine Skizze der Gegend entwerfen. Der Inn fließt von West nach Ost; darauf senkrecht in der Richtung von Süd nach Nord erreicht ihn der Ziller. Etwa dreihundert Schritte von seiner Mündung drängt sich der Schrofen des Klauseckes so nahe an sein rechtes Ufer, daß der Weg in die Felsenwand gesprengt werden mußte; um einer Umgehung vorzubeugen, war er abgegraben. Einen Steinwurf unterhalb setzt die Landstraße ostwärts über eine hölzerne Brücke, 270 also parallel dem Inn. Das Dorf Gertrauden liegt in der Senkung zwischen dem langgestreckten Hügel links, der die Trümmer von Kropfsberg trägt, und den Schutthalden rechts, wo die Knappen das taube Gestein abgestürzt hatten. Darüber erhebt sich der Berg als eine Fortsetzung des Klauseckes, da und dort bewaldet, mit den Mundlöchern von Stollen und einzelnen Holzhütten. Von der Brücke abwärts standen damals rechts am Ziller einige starke Eschen, links etliche Stadel; die Ufer waren beiderseits flach, von nassen Wiesen und Erlbüschen eingesäumt.

Neben der Brücke hatte sich Michael aufgestellt, ohne Waffe, nur ein Kruzifix im Arme; auf und ab lauerten die Schützen hinter den Steindämmen der linken Seite; gedeckt durch einen Erdhaufen, kniete der Pfarrer, um Sterbenden die Sakramente zu reichen. In den Stadeln lagen Schützen versteckt, wenn sich etwa die Bayern am rechten Ufer ausbreiten sollten. Auf dem Klauseck und ober den Schutthalden standen die Rieder mit Jodok wie auf einer Bastei, um die Feinde in der Seite zu fassen. Alles war so ruhig, daß man den leisesten Pfiff der Meise, das Zirpen der Grillen hörte.

Eins! Der Posten hinter der Mauer von Kropfsberg lief den Abhang herab durch die 271 Büsche zur Brücke. – Pferdegetrappel! – Kein Blatt regte sich, kein Kopf tauchte auf. Ein Zug Chevauxlegers, den Karabiner bereit, sprengte her, voran der Leutnant von Altrans. Jodok erkannte ihn augenblicklich; gerade ihn wollte er nicht aus dem Hinterhalte treffen und sprang daher auf einen Steinblock; jener zielte mit der Pistole, die Kugel warf ein Lärchenzweiglein herab – zur Antwort ein Krach, das Roß bäumte, warf den Reiter aus dem Sattel und schleifte ihn kopfunter blutig am Bügel zurück. Nun wurde es lebendig; nur wenige Soldaten entrannen dem sicheren Blei, um dem Vortrab, – leichten Jägern mit dem Raupenhelm, – Nachricht zu bringen. In dichter Kette drangen sie vor – vergebens! »Heut blüht der Flachs!« riefen die Schützen einander zu, als sie die lange Zeile der Toten in der blauen Montur sahen. – Fünf! Es war eine jener Pausen im Gefecht eingetreten, wo sich die Gegner mit scharfen Blicken schweigend messen, um sich dann Leib an Leib im tötlichen Ringen zu umspannen. Die Batterien wurden vorkommandiert. Wrede sprengte hin und her; wütend, Schaum auf den Lippen, ordnete er die Sturmkolonnen, denn der Franzose Lefebre hatte ihn ausgelacht, daß er die Bauern nicht mit einem Nasenstüber vertreibe. – Dem 272 Herrn Marschall sollte es in den Schluchten der Eisak noch schlimmer gehen! Als sie in den Bereich der Schutthalden gelangten, stockte der Vormarsch, die Kugeln schlugen ein, Major Zaigner war zum Tode getroffen. Da legte sich an den Saum des Waldes dicker Rauch, Flammen züngelten empor und flatterten bald, vom Winde getrieben, in breiten Streifen aufwärts durch die Föhren: die Bayern hatten die Bäume angezündet, um die Schützen zu vertreiben. Bald stand das Klauseck da wie in einem Feuermantel, ein Funkenregen stob gegen die Brücke, über das ganze Thal breitete sich grauer, beißender Qualm. So schob sich Heersäule an Heersäule gegen die Brücke; wich eine, drängten zehn nach. Sappeurs wollten Bretter legen, da sprang Michael auf: »Wir haben zum Laden nicht mehr Zeit, schlagt sie mit den Kolben hinab!« Eine Salve erdröhnte; er fuhr mit dem Kreuze gegen die Brust und stürzte von einem Balken in die reißende Flut. Die Wogen wirbelten ihn fort; auf der Wasserfläche zog ein breiter, roter Striemen nach. Schützen sprangen mit Stangen hinzu; es gelang, ihn aufzufangen und an das Ufer zu ziehen – er war tot. Sie trugen ihn in den Stadel auf das Heu. Der Feind hatte die Bewegung bemerkt; er zielte mit den Haubitzen hin, bis eine 273 Granate einschlug und sogleich zündete. Aus allen Ritzen und Fugen fuhr das Feuer; kaum vermochten die Schützen sich zu retten. Der Stadel brannte bis auf den Grund nieder! von der Leiche des Einsiedlers war nicht ein weißes Knöchelchen mehr zu finden.

An der Brücke hatte eine kleine Zahl Schützen eine Armee fast einen halben Tag aufgehalten; jetzt war der Widerstand gebrochen, die Verteidiger zerstoben oder flohen zur Wand der Brettfall, wo sie das Feuer noch einmal eröffneten. Die Bayern schossen mit den Kanonen hinauf; drei Kugeln streiften die Kapelle. Das Fußvolk eilte im Laufschritt vorüber; die Stechschüsse von oben trafen weniger sicher. Beim Einbruch der Dämmerung war alles vorbei. Wie die Bayern im Dorfe wüteten, erzählt Siard; die Greuelthaten von Schwaz und Vomp mag man in Rapps Buch nachlesen. Wrede errichtete man in der Feldherrnhalle zu München neben Tilly ein Denkmal.

Jodoks Schützen waren versprengt; er entrann nach Hart im Zillerthale, übersetzte bei Schlitters, wo einzelne Höfe brannten, den Bach und stieg dann quer durch den Wald zur Brettfall. Er öffnete die Zelle, da stand und lag alles unberührt, – wo mochte der Einsiedler sein? Von der Terrasse schaute er ins Thal: die Stille 274 der Nacht unterbrach nur bisweilen das Bellen eines verlaufenen Hundes oder der Einsturz verkohlter Balken, von denen rote Funken emporflogen. Am Klauseck glostete es noch; beim Wehen der Luft zuckte hier und da eine Flamme von einem Busch, der bisher verschont blieb. Er schaute zum Himmel: die Sterne wandelten klar und ruhig durch das unermeßliche Blau; eitle Thorheit der Menschen, die an ihren erhabenen Gang ihr kleines Schicksal knüpft!

Hier oben war alles sicher. Der Steig war abgebrochen; über Rottenburg hätten die Bayern keinen Führer gefunden. Jodok holte die Frauen aus dem Stollen, hinter dessen Eingang sie, in die Decken gewickelt, kauerten. Die kirchliche Regel verbot ihm, sie in die Zelle zu führen; er schloß ihnen daher die Kapelle auf, wo vor dem Altar die ewige Ampel durch das rote Glas schimmerte. Nun kochte er eine warme Suppe; sie verzehrten sie auf dem Betschemel und erzählten sich die Ereignisse des Tages. Auch sie wußten von dem Schicksale des Einsiedlers nichts. Dann bereitete er ihnen ein bequemes Lager an den Stufen des Altars, – sie sollten ihn beim leisesten Geräusch rufen, – und ging in die Zelle, ließ aber die Thüren nur angelehnt. Alle bedurften sehr der Erquickung des Schlafes.

275 Pax vobiscum!

Hier will ich die geduldigen Leserinnen noch mit einem Waldbruder bekannt machen, der ihnen die Klausur erklären mag. Es ist – eigentlich es war, denn man hat ihn längst begraben – mein Freund, der Bruder Felix. Im Jahre 1848 zog er mit den Landesschützen an die welsche Grenze, beteiligte sich an mehreren Gefechten und pilgerte dann nach Jerusalem; ob aus romantischem Hang oder als Büßer, hat er mir nicht gebeichtet. Zurückgekehrt, siedelte er sich unter den Ruinen der Burg Thauer neben dem Kirchlein des heiligen Romedius an, der als Klausner auf einem Bären über den Nonsberg nach Rom geritten war. In Gold und Perlen gefaßt, blickt sein Schädel vom Hochaltare nieder.

Bruder Felix und ich saßen manches Stündlein vor der Hütte, auf dem Tische ein Krug frisches Quellwasser und ein Laib schwarzes Brot. Wir redeten von alten Tagen; er erzählte wohl auch Wunder aus dem Leben der heiligen Väter in der Wüste Thebais, wie es ein großes Fresko im Campo santo von Pisa darstellt. Da erfuhr ich auch näheres über die Klausur, und warum keine Frau die Zelle des Mönches oder Anachoreten betreten darf.

»Die Liebe zum Weibe ist ein Unkraut im 276 Acker Gottes; wo es wuchert, erstickt der englische Weizen und streut die Sünde ihren Samen. So ein Mädel gleicht einer Ziege, die in den Garten deines Herzens bricht; sie benagt und benascht die schönsten Triebe der Gottseligkeit, daß sie vertrocknen und abfallen.«

So fand er immer neue Gleichnisse und Bilder, deren ich nicht jedes wiederholen darf. Was mochte Felix erfahren haben? Zu Innsbruck erzählte ich mehreren jungen Damen von ihm; sie machten einen Ausflug, ihn zu besuchen. Als sie unvermutet durch den Zaun des Gärtchens traten, sprang er hinten durch das Fenster der Hütte: »denn wenn die heiligen Väter irgendwo recht haben, ist es in Bezug auf die Weiber.«

Vielleicht räucherte er dann die Zelle mit Schwefel aus. –

Die drei schliefen tief in den Tag. Jodok bereitete ein Frühstück; dann klomm er durch die Tannen, deren Rinde oft von Kugeln zerfetzt war, in das Thal hinab. Die Häuser waren verlassen und beraubt, das Vieh aus den Ställen fortgetrieben; der Sturm jedoch vorübergebraust, ja nicht einmal ein Nachzügler zurückgeblieben. Beim Zoll war alles unverändert, wie er es vorausgesagt hatte. Bauern, die sich in Wald und Au versteckt hatten, schlichen allmählich herbei 277 und holten dann Weiber und Kinder, bis so ziemlich wieder alle beisammen waren. Etliche Kompagnieen Soldaten marschierten ohne Aufenthalt durch die Gassen nach Schwaz; weil ihnen niemand feindlich entgegentrat, verließ keiner die Reihen. Nachmittags erfuhr Jodok auch das Schicksal und den Tod Michaels; er mochte nichts mehr hören und kehrte auf die Brettfall zurück. Dort betete er mit den Frauen in tiefster Trauer für die Seelen der Gefallenen; dann raffte er sich auf und ergriff den Stutzen. Den Frauen riet er, erst übermorgen mittag heimzukehren; sie sollten ihm, er werde ihnen Nachricht senden.

Auf Bergpfaden, wo sich ihm mancher versprengte Landstürmer anschloß, erreichte er die Seinen im Wippthal; von Zeit zu Zeit meldete ein Brieflein am Zoll, daß er noch heil und unverletzt sei. Auch nach dem Waffenstillstand bei Znaim, wo Österreich auf Tirol vergessen hatte, nahm er an der dritten, ruhmvollsten Erhebung teil; dort vergaß auch Lefebre das Prahlen.

    Adler, Tiroleradler!
    Warum bist du so rot! –
Vom roten Sonnenscheine,
Vom roten Feuerweine,
Vom Feindesblute rot,
Davon bin ich so rot!

278 Kennt ihr diese Strophe von Johann Senn, dem unglücklichen, mannhaften Dichter? Sie ist noch hier und da auf den Pfeifenköpfen der Schützen gemalt.

Als der Friede geschlossen war, sah Jodok ein, daß die Fortsetzung des Kampfes vergeblich, unrecht, verderblich sei; er widerriet, wo er konnte, entrann aber nur mit größter Not der Wut fanatisierter Bauern, die ihn als Überläufer totschlagen wollten. Das nützte ihm jedoch in anderer Weise, indem ihm die bayrischen Behörden schon für die letzten Tage des nächsten Februar die straffreie Rückkehr gestatteten. Er war dessen froh; das Gnadenbrot des Flüchtlinges in Klagenfurt wollte ihm nicht munden. Schon gar nicht mehr, als er auf der Post erfuhr, daß Andreas Hofer durch die Franzosen den Märtyrertod erlitten, während ihr Kaiser die Tochter des österreichischen Kaisers Franz I. als Braut heimführen wollte. Er dachte an die Warnung des bayrischen Kronprinzen zu Matzen und glaubte, es müsse sich jede Stirn verfinstern, jede Faust ballen. Die Leute erzählten sich aber die Nachricht gleichgültig, als wäre ein gemeiner Verbrecher ausgeführt worden, der sie eben auch nicht näher anging. Ein Beamter meinte gar: »Wär' er daheim geblieben, im Wirtshaus am 279 Sand hätt' ihm niemand was than.« Ingrimm faßte ihn; er hätte sich lieber in Tirol einsperren lassen, als noch länger in Kärnten bleiben. Dann zog ihn auch ein tiefes Heimweh nach Norden: wie oft träumte er von den Bergen bei Straß, von Gretel, mit der er im Gärtlein Blumen pflanzte; einmal flocht er mit ihr einen Kranz für das Grab Michaels und erwachte weinend.

Er kehrte über den Paß Thurn zurück. Überall waren die Leute beschäftigt, den Schaden auszubessern; Maurer, Tischler und Zimmerleute arbeiteten; die Herzensgüte des Königs Max gab Hoffnung auf schönere Zeiten. Auf Jodok drückte noch tiefe Schwermut; auch seine persönlichen Verhältnisse, der Ausblick in eine öde Zukunft hemmten Willen und Thatkraft. Darum wählte er die abgelegene Brettfall zum Aufenthalt; ja, man sah ihn sogar manchmal in der Kutte, als hätten die Worte, welche Michael über die Ruhe und den Frieden da droben sprach, bei ihm Nachklang gefunden. Den Zoll besuchte er fast alle Tage. Bald setzte ihn die Mutter an den Schreibtisch, er sollte helfen; am liebsten hätte sie es gesehen, wenn er ganz zu ihr gezogen wäre. Gretel war ernst und still; ihr reiner Sinn ahnte, daß die Nebel bald reißen und sich 280 dann die scheinbaren Widersprüche in Harmonie lösen würden. Von der Vergangenheit sprachen sie kaum.

Am Faschingssamstag abends ging Jodok durch das Dorf dem Berge zu. Etliche Bursche, mit denen er früher hier und da eine Halbe getrunken, hielten ihn auf. »Klausner,« begann einer, »kommst du morgen nicht in den Saal zum Eder? Wir haben die Musik bestellt!«

»Die Musik!« erwiderte Jodok, »in dieser Zeit?«

»Eben darum! Die Toten weckt niemand auf! Sollen wir uns dazu ins Grab legen? Sie haben ihre Zeit gehabt, und wir haben die unsrige. Sei gescheit! Du verstandest sonst einen Spaß; bring' die Gretel mit, dann tanzen wir, bis die Sohlen reißen!« –

Jodok ging unwillig weiter. Empörte ihn schon der Leichtsinn, was ging sie Gretel an? Sonntag abends drangen die Töne der Geige und Klarinette in seine einsame Zelle. Hier und da ein Juhschrei zum Stampfen der Füße – er hörte alles. Er mochte sich nicht ins Bett legen; um zwölf war Polizeistunde, da mußte der ganze Hexensabbath aufhören. Dort verstummte die Musik, die Lichter verloschen, und die Bursche stolperten über die Schwelle. Er meinte nun, 281 es solle Ruhe werden – doch nein! Da erscholl vom Zoll her wüster Lärm und dann ein Gesang, dessen Worte er nicht verstand. Schon wollte er mit dem Stutzen in der Faust hinunter; plötzlich Schweigen – hatte sie vielleicht der Gerichtsdiener heimgejagt? Er täuschte sich. Den Berg herauf kam Jauchzen – näher und näher bis vor seine Hütte. Sie stimmten ein Schnadahüpfel an, ein ganz neues, das sie beim Wein für ihn ersonnen:

Der Oasiedl im Wald
Hat nit warm und nit kalt,
Hat die Kutten aufg'hängt,
Und ist 'm Madel nachg'sprengt!

Schallendes Gelächter! Ihn erfaßte Wut, er griff zu einem Knittel und fuhr wie der Wetterstrahl mitten unter sie. Den einen schlug er rechts, den andern links; schreiend und heulend purzelte die Bande über den Steig herunter, schneller als sie heraufgekommen. Später bedankte sich der Wundarzt bei Jodok für den schönen Verdienst, den er ihm zugeschanzt.

Schon in der Dämmerung trat Barbel in die Zelle; sie war noch nicht gekämmt, keine Masche saß recht. Nachdem sie eine Weile gepustet, faßte sie ihn beim Skapulier der Kutte: »Jodok, so geht's nicht mehr!«

282 »Ja, was ist denn?«

»Hast du gestern das Schandliedl nicht gehört, das sie uns gesungen? ›Der Einsiedl im Wald!‹« – und dicke Tropfen perlten auf das Busentuch. »Gretel wird ausgeschrieen im ganzen Thal. Du mußt was thun.«

»Hab' ich sie nicht geprügelt, daß sie ihr Lebtag an den Segen des jungen Einsiedlers denken werden?«

»Du bist ein dummer Bub'.«

»Ja, was denn?«

»Heiraten mußt du die Gretel!«

»Heiraten!« schrie er und taumelte auf die Bank zurück.

»Ist sie dir etwa zu schlecht?«

»Du lieber Gott!« Er zupfte am Paternoster.

»Nun gut! Gieb mir den Kalender, dann setzen wir die Hochzeit fest.«

»Ja, will mich denn die Gretel heiraten?«

»Hast's nicht gespürt?«

»Daß sie mich gern hat, schon – aber heiraten!«

»Mir scheint, dich hat das Studieren dumm gemacht. Also ja, die Fasten hältst noch aus; am Osterdienstag ist dann die Trauung. Heut mittag kommst, und da trinken wir Gesundheit drauf.«

283 Um elf Uhr sprang er in großen Sätzen über den Berg hinunter; je näher er aber dem Zoll kam, desto langsamer wurden seine Schritte. Vielleicht wär' er am liebsten umgekehrt. Da schrie jedoch die Mutter zum Schubfenster heraus: »Laß die Suppe nicht kalt werden!« und er folgte dem Rufe Gottes.

Gretel wurde brennrot, als er vor sie hintrat; die Mutter brummte: »Sag' du ihm auch, daß er ein dummer Bub' ist! »Gretel sagte aber gar nichts. Nach den Karpfen wurden die Gläser gefüllt. Die Mutter hielt eine Rede: »Siehst du, Jodok, ich habe mir längst schon gedacht, du seiest ein braver Bub', wenn du auch nicht wußtest, wie man die Mädel anpacken muß. Du hast auch eine gute Schrift; ich bin alt und erthue es nimmer recht. Aber nur eines merk' dir: du mußt mit den Bauern nicht so viel handeln, sonst bist verspielt. Am besten, du giebst ihnen die Bollete und sagst gar nichts. Also du übernimmst das Amtl. Der Alte und ich haben erspart; ihr könnt's auch thun, so lange ihr jung seid; kommen Kinder, die sind dann ein fressendes Kapital. Unser Herrgott hat's mit euch nicht schlecht gemeint, drum behaltet ihn vor Augen. Freilich, freilich, ich hab' noch manches auf dem Herzen, aber wir bleiben ja beisammen, und da 284 ist Zeit dazu! So, jetzt sollt's leben hundert Jahre nach dem Tode!«

Die Gläser klingelten lustig an.

Am Osterdienstag traute sie Siard auf der Brettfall. In der Brautnacht ertönte vor dem Zoll der volltönige Chor der Dorfmusikanten:

Der Oasiedl im Wald
Hat nit warm und nit kalt,
Hat die Kutten aufg'hängt,
Und ist 'm Madel nachg'sprengt.

Aber Jodok stürzte dieses Mal nicht mit dem Knittel hinaus, um drein zu schlagen, sondern zahlte am nächsten Sonntage dem lustigen Gesindel eine Pazeide Wein.

Fünfzig Jahre darauf war die goldene Hochzeit. Ein Sohn, der hochwürdige Pfarrer von Angern, sprach in der festlich geschmückten Kapelle der Brettfall den Segen über die betagten Eltern. Beim Festmahle saßen unter jungem Volk ehrwürdige Greise und Frauen; als der goldige Terlaner eingeschenkt wurde, hob einer das Glas und begann schüchtern: »Der Oasiedl im Wald!« Jodok reichte der lieben Gretel gerührt die Hand und fuhr laut fort: »Hat nit warm und nit kalt,« und darauf folgte der volle Chor:

Hat die Kutten aufg'hängt,
Und ist 'm Madel nachg'sprengt.

285 »Der Oasiedl im Wald!« wiederholte der Toast, die Gläser klangen an, und das junge Volk fragte, was denn das G'satzl und der Spruch zu bedeuten habe?

Ach, wir glauben für die ganze Welt, für die weite Zukunft zu leben; aber die eigenen Enkel wissen nichts von den Thaten und Leiden der Ahnen.

Sei Jodok und Gretel die Erde leicht!

 

 


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