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*

Früh am Morgen hört man schon wieder die befehlenden Rufe des Telegrafisten. Und das Poltern der Schlittenkufen im Eis.

Um die Mittagszeit stehen hell beleuchtete Wolken am Himmel. Und die Helle dauert vier Minuten länger an.

Jeden Tag treten einige Minuten hinzu, – bald, daß man schon Tag und Dämmern unterscheiden kann. Die Sonne ist natürlich noch nicht da, aber sie wartet hinter den Bergen auf den Tag, an dem sie ihr Licht in die Tiefe des Fjords schicken kann.

»Hoire – – Hoire, – – venstre, so, gut, Palo.

Immer voran!«

Durch leichten Schneewind gleiten sie jetzt, der das Mondlicht verdeckt, für Stunden. Aber Oien geht seinen Weg, ohne auch nur für Sekunden zu zögern. Ohne Kompaß. Er kann seine Gerade auch ohne Kompaß ausfahren. Nur der Schlitten eckt häufiger an, weil es unmöglich ist, den Hindernissen der Bahn rechtzeitig auszuweichen. Man muß das Tempo verlangsamen. Besser, der Schlitten bleibt heil; ist kein Vergnügen, Zelt und Proviant auf dem Rücken zu schleppen.

In dieser Nacht schneit das Zelt bis zum First ein. Im tiefen Neuschnee pflügt der Schlitten am Morgen vorwärts, und Palo dreht den Kopf immer häufiger nach Oien um, der mit eckigen, krausen Falten im Gesicht neben dem Gespann herläuft. Aber Oien kennt keine Gnade.

»Palo! Vorwärts!«

Da duckt der Leithund wieder den Bärenkopf in den Schnee unter der Last des Schlittens.

Der Weg führt hoch ins Gebirg. Tausend Meter, zwölfhundert Meter, wo die Hochebene beginnt.

»Wenn wir auf der anderen Seite ankommen, haben wir noch zwei Tage zur Hauptstation«, meint der Telegrafist. »Es scheint, daß wir Schlechtwetter bekommen. Der Himmel zieht sich zu. Und die Temperatur steigt. Wenn wir Glück haben, sind wir noch vor dem Umschlag zu Hause.«

»Abfahrt!« brüllt er ein paar Stunden später zu Ragnar hinüber. »Bremsen!« Der Schlitten kommt in sausende Fahrt, rattert auf die breite Rückenfläche eines tiefverschneiten Gletschers hinaus. Von den Hunden ist nichts zu sehen. In einer dichten Schneewolke fliegen sie voraus. Mit einem Satz ist Oien auf dem Schlitten, sticht seinen Skistock durch die Taue der Verschnürung in den vorbeijagenden Schnee. In breitem Fächer sieht man das Gespann voraushetzen, zurückfallen, als der Telegrafist seine primitive Bremse in Wirksamkeit setzt. »Hoire! Palo! links ist ein Abgrund!« Der Hund zerrt in den Riemen, wirft sich nach rechts hinüber mit dem ganzen Gewicht seines Körpers. Die andern Hunde folgen. »Ratsch!« Der Schlitten dreht sich um sich selbst, haut dann längsseits in den Schnee, kollert langsam weiter bergab.

Irgendwoher kommt Oien aus dem Schnee gestiegen, wirft sich über den trudelnden Schlitten, über die rasenden Hundeleiber. »Stop! Stop!« Flüche, Gewinsel.

»Well, das ist noch gut gegangen, dieses Mal. Wir könnten jetzt leicht einige hundert Meter tiefer liegen.« Wie ein kunstvoll geflochtenes Netz haben sich die Zugtaue der Hunde ineinander verschlungen. Jeder einzelne der Gesellen muß ausgespannt und neu eingesetzt werden.

»Weiter!« kommt schließlich das Kommando. Die Schneebretter im Gletscher knarren. Schneebrücken, die über gähnenden Spalten liegen, beginnen sich zu rühren, während der Schlitten in Sprüngen weiter der Tiefe entgegensaust.

Nachtlager! Weiter. Immer weiter. Hastig.

Noch eine Nacht. Der Schnee beginnt in Fahnen den Grund entlang zu ziehen. »Einschneien?« Lieber verzichtet man auf die Rast. Fährt weiter. Noch sechs Stunden.

Plötzlich schimmert ein kleines Lichtpünktchen voraus. Wie die Toplaterne eines Schiffes.

Ein Hund heult auf in der Ferne. Palo hebt den Kopf, sendet die Antwort durch die Nacht. »Wir kommen – ja, wir kommen!«

Durch fegenden Schneestaub gewahren sie nach einiger Zeit wieder das Licht. Wieder heulen die Hunde auf, mit einer letzten Kraftanstrengung zerren sie in den Riemen, reißen den schweren Schlitten voraus, als hatten sie eine leere Kiste hinter sich, – los, los! Der Hütte entgegen. Mit einemmal flammt der Lichtpunkt zu einer Flamme hoch, – beginnt, im Kreis zu wandern. »Mein Kamerad gibt das Signal; er weiß nicht, daß wir schon so nahe an der Hütte sind. Nun, es steht Sturm in der Luft. Sieh, wie die Wolken schieben. Vorsicht ist auf Grönland nie fehl am Platze.«

»Hoi, Tag auch, – Sverre!« ruft er kurz nachher einem Mann zu, der vor der großen Haupthütte steht. »Wir sind da!«

»Rrrrrrrr!« brüllt der dem tobenden Hundegespann entgegen. »Stop! – Die Kerls fahren einen glatt über den Haufen! Donnerwetter, – wo kommst du her?« Die Frage gilt Ragnar, der langsam die Skibindung löst und auf den andern zuschreitet.

»Vom ›Polarwolf‹. Ragnar Hoel. Er ist der einzige von der Besatzung, der noch am Leben ist«, gibt Oien Auskunft.

»In unserer Nebenstation habe ich ihn aufgegabelt. Hatte verdammtes Glück, der Junge«, fügt er hinzu, »du hast wohl einen waschechten Sprit zum Willkomm, denk ich mir, Sverre!«

Das ist der zweite Mensch, den Ragnar trifft. Ein gutmutiges bärtiges Gesicht. Mit lustigen Augen. Nur die scharfe Hakennase verrät, daß ihr Besitzer auch ungemütlich werden kann. Jetzt strahlt sein Gesicht und tausend kleine und kleinste Fältchen ziehen aus den Augenwinkeln heraus über die Backenknochen und nach oben, zur Stirn.

»He, willkommen! Willkommen! Das ist ja fein, daß wir Gesellschaft kriegen. Nun erst mal rein in die gute Stube. Klönen wir nachher. Richtig, – die Hunde können wir erst noch aus den Tauen lösen.«

»Also vom ›Polarwolf‹! Skal! Skal for Norge! Skal for ›Ulven‹!« Das scharfe Zeug brennt in der Kehle, als hätte man die Hölle verschluckt! »Frag mal den Jungen nicht zu viel für heute. Als ich ihn fand, war er im Begriff, zum Teufel zu gehen«, bedeutet Oien seinem Kameraden, der Ragnar immer noch wie ein Wunder anstarrt.

»Setz dich mal zu mir an den Sender. Ich will gleich Nachricht nach Norwegen geben. Hab' mir alles aufgeschrieben, was sie drunten zu wissen brauchen.«

Ein Notizblatt legt er auf den Tisch, mit wirren Buchstaben bekritzelt. Beugt sich dann seitlich, wirft den Dynamo an. Brummend geht der Motor auf Touren, singt kurz danach in der höchsten Umdrehungszahl. Oien legt seine Pranke auf den Tongeber, sein Kamerad stülpt sich den Kopfhörer über.

»So, nun geht es los!«

»Radio Myggbukta, – Radio Myggbukta – taa taa taa taa ta – – hallo, hallo – Geophysisches Institut Tromsö – – das Geophysische Institut Tromsö – – hallo Geophysisches Institut Tromsö! Anruf von Myggbukta Radio!«

Der Telegrafist legt den Hebel am Schaltbrett zurück, nimmt seinen Hörer über, langsam fällt das Geräusch des Dynamos wieder ab. Bis alles wieder ruhig ist. Gespannt hocken die beiden Überwinterer vor dem schwarzlackierten Apparat, in den der Lautsprecher eingebaut ist. Unablässig läßt Oien den Verstärker spielen, – stellt die Peilklappen ein. Allerlei Signale und Morsezeichen schwirren durch den Raum. Ein Dampfer an der Südecke der Neufundlandbank bittet um Peilung, Nebel und Sturm, – – zwischen Spitzbergen und Norwegen ist eine Unterhaltung im Gang, die der Spitzbergenkollege ausnützt, um allerhand Persönliches und Intimes aus dem Mutterland drunten zu erfahren. Ein Schiff, das irgendwo in der Ostsee drunten seine Bahn durch die Wellen zieht, hat eine Kursänderung vorzunehmen. Dann piepst plötzlich eine dünne Stimme los, – – »bukta Radio, – – – hallo, Myggbukta Radio. Hier ist Tromsö, das Geophysische Institut! Wir schalten um!«

Hastig wirft Oien den Hebel wieder hoch, das Summen des Dynamos steigert sich, klettert in die Höhe.

»Myggbukta Radio an das Geophysische – – hallo, hallo – Mitteilungen über den Untergang des M. K. ›Polarulv‹ Ibestadt. Überlebenden aus der Besatzung Ragnar Hoel, zweiter Schütze an Bord, in Nebenstation Süd aufgefunden. – – taa ta taa – ta ta taa – – Besatzung im Packeis Grönland Ost durch Schneetreiben getrennt. Steward, Schiffsjunge tot, Jon Björvik tot nach Erreichen der Ostküste, Ragnar Hoel in guter Verfassung, Schicksal übriger unbekannt, wahrscheinlich umgekommen, ta ta – – taa ta – –« der Sender knistert und sprüht noch eine Reihe von Einzelheiten über das starrende Eis und durch die stürmende Nacht hinunter nach dem Festland. Dann stirbt das Geräusch des Motors wieder ab, – – die Hörklappen her. Erst wieder fremde Zeichen – – ärztliche Anweisungen für die Behandlung einer Blinddarmentzündung an Bord eines Frachtbootes zwischen New York und Hamburg – – eine Mitteilung – – »Radio Myggbukta – – Radio Myggbukta – – Sendung wird wiederholt – – Danke, – – weiter guten Winter.« Oien lehnt sich in seinem Stuhl zurück, sieht über die Schulter nach hinten – – wo Ragnar steht und durchs Fenster nach draußen starrt.

 

Nun spielt der Telegraf die norwegische Küste entlang, von Vadsö bis nach Kristiansand hinunter. Frauen verbergen ihr Gesicht in den Händen, sehen dunkle Gestalten im unfaßbar großen Eis dahinwanken, eine Schute, die im Eisdruck zerbirst. Und in zwölf Hütten wird heute die letzte Hoffnung zerbrechen, es wird kein Raum mehr sein für den Gedanken, daß vielleicht die Toten doch wieder auferstehen, eines Tages mit einem frohen Wiedersehensgruß zur Tür hereinkommen, den Pelz ablegen. Nur einer steht noch da, von den Toten. Ragnar ist noch da. Durch einen einfachen Zufall. Drunten an der Küste rüsten sie jetzt zur Fahrt ins Eis! Das Lofotfischen ist ja nun gleich vorbei – – dann fahren sie wieder ins Wester-Eis – die Besten von den Booten. Und die Besten von den Männern! In Aalesund und Tromsö, Hammerfest, sitzen die Leute am Radiokasten, sehen auf beleuchtete Ziffern der Skala und warten auf die Eismeldungen der Telegrafisten von Grönland und Spitzbergen. Reimen sich zusammen, was sie hören. Und fahren doch los, wenn die Zeit gekommen ist, ob die Meldungen von Jan Mayen noch so schweres Eis ankündigen und Stürme, – nun, es kann ja nichts schaden, wenn man weiß, was einem bevorsteht.

Heute abend hocken die Leute mit gespannten Gesichtern vor dem Lautsprecher. Da ging wieder einer von ihnen, ein Boot, mit Mann und Maus. Im letzten Jahr sind es nun vier, die gegangen sind. So, einer ist gerettet. Nun, so groß ist die Neuigkeit nicht, denn keiner von den Männern, die sich nun für den Eisfang rüsten, hat den Leuten vom »Polarwolf« auch nur eine Handvoll Atem mehr gegeben. Totalverlust. Da gingen gewöhnlich alle mit. Marsch übers Eis, – »ah, sie hatten das Schiff verlassen, nachdem sie sahen, daß sie es nicht mehr auf den Pumpen halten konnten.« Ein Marsch über Eis. Das war immer das letzte, das blieb, sofern das Schiff nicht im Sturm mit einem Schwereisberg zusammengesegelt war. Aber es waren wenige, die von einem Marsch über Eis erzählen konnten, – verdammt wenige. »Kennst du einen davon, – – ja richtig, das war Oien, der früher im Eis fuhr, ein Eislotse – – dann, ja – es sind noch einige da, – vielleicht hat sie auch das Eis inzwischen geholt. – – – Forlis!«

Du triffst zwei Leute auf der Straße. Schiffer. Ihre Unterhaltung? Fang. Jagd! Plötzlich kommen sie auf einen dritten zu sprechen. »Ich Hab ihn schon lange nicht mehr gesehen, – hast du?« »Nein«, sagt der andre, zuckt die Achseln. Da spuckt der erste seinen Priem aus. »Möglich«, sagt er, »das Eis hat ihn geholt! Jaha! Er wird forlist sein.« »– – – jahaul« sagt der zweite wieder, »er ist wohl im Eis geblieben.« Das sagen sie nur vielleicht, weil sie den andern lange nicht getroffen haben.

 

Sverre hat inzwischen ein Stück Bärenfleisch vom Beischlag hereingeholt, hackt sorgfältig mit dem Beil lange Streifen davon weg, legt sie in die bruzzelnde Pfanne.

»Hoi! Bärenbiff und Sprit, richtig für einen solchen Tag!« und sein Gesicht, das eben noch die Funken des Senders zwischen kleine, an den Fels gedrückte Fischerhütten sprühen sah, – schwere Nachrichten, – schwer für die, deren Männer im Eis verlöscht waren, – sein Gesicht wandelt sich von einem starren Ausdruck kraß zum Gegenteil. »Nun, – hier war noch Leben. Und wenn man genau hinsah, – jaha, das war nun eben das Los der Mutigen. Einmal mußte der Mut das bittere Ende durchhalten. Der große Einsatz wird doch tausendfach vergolten. Denn Tausende haben ihr Leben frei vom Hunger durch diesen Einsatz. Der Tod ist nicht das Schlimmste. Bei weitem nicht. Man mußte ihn nur nehmen wie einen Kameraden. Ihm auf die Schulter klopfen. »Eh, – wir sind ja nun lange genug nebeneinander hergelaufen! Wir kennen uns gut. Du hocktest in der Gletscherspalte und im Berg, damals, oder in der brüllenden, nachtschwarzen See. Du konntest wohl hundert Male sagen: Hoho, Jung! Nun ist es aber Schluß mit dir! Nichts davon! Fein bliebst du sitzen, bis man vorbei war und in Sicherheit! Sind wir nicht alte Bekannte? Und hunderte und tausende Male hast du dich auch in unsern Dienst gestellt. Nun ja, – ein Dienst ist den andern wert! Jaha, – nun müssen wir wohl letzte Freundschaft eingehen, die es hier auf Erden gibt. Well! Well! Norwegen lebt, – das ist die Hauptsache! Und unsere Freunde leben. Nun, – – komm schon!«

Der Tod verachtet die, die nicht sterben können. Auch er liebt freie und stolze Menschen. Was hat er schon davon, wenn er einem armseligen Kerl den Hals bricht, – der stöhnend verendet. Was ist das schon eine Kunst? Hoho, der Tod sucht sich seine Freunde aus, läßt sie leben, schenkt ihnen ein Leben voll blitzender Kraft, Taten, – die größte Freude, die größte Liebe, wie sie nie einer vom Durchschnitt erlebt hat. Solch einen Mutigen, solch einen Kräftigen zu brechen, mitten in seiner Arbeit, in seinem Schaffen, – das macht Freude. And ihn frei sterben zu sehen. Keine Bitte um Gnade! Kein Winseln. »Hoi! Kamerad! Nun wachsen wir zusammen. Einen fairen Kampf wird es geben, Kamerad Tod!«

Nun, so denkt ein Telegrafist auf Grönland, – ganz einfach, was er so denkt.

Kein richtiger Mann, wer anders denkt.

»Eh, Ragnar«, – stutzt Sverre plötzlich, tritt näher an das Fenster, »da draußen war eben wieder der schwarze Teufel, der hier seit Wochen herumstrolcht. Sagtest du nicht, daß du einen Hund verloren hättest?«

Der Jäger fährt aus seinen Gedanken auf, späht durch die Scheiben. Nichts zu sehen!

»Eben war er noch da!« versicherte Sverre.

»Raus!« ruft Oien dazwischen. »Aber Ragnar soll allein gehen.«

Schneller als ein Gedanke hat der Angerufene den Annorak übergestreift, verschwindet. »He Storm, he Storm! Storm!«

Die Meute der Schlittenhunde tobt wild im Zwinger bei seinen Rufen, springt an den hohen Gittern hinauf, daß der Schnee aus den Maschen stäubt. Ragnar hält die Augen dorthin gerichtet. So wird er nicht den dunklen Fleck gewahr, der auf weniger als zwanzig Meter hinter ihm auftaucht, still im tiefen Schnee stehen bleibt. »He Storm, – Storm!«

»Nichts zu sehen. Nichts zu seh – –«, macht Ragnar, dreht sich um, will wieder zur Hütte zurück, als er plötzlich sieht, wie ein schwarzer Schatten in einer Mulde verschwindet, dem Strand zu!

»Komm her, Storm! Storm! Denk, das ist wirklich der alte Storm. – – Storm, was ist denn los, – komm, Storm!«

Aber Storm trabt unaufhörlich weiter, dreht sich nicht einmal um. Doch! Jetzt hockt er sich in den Schnee, schaut herüber. Ragnar geht langsam auf ihn zu. Redet ohne Aufhören auf den Hund ein. Schmeichelnd, schilt ihn aus, verspricht – – saftige Keulen von Moschusochsen – Prügel. Alles, was er haben will, der Hund.

Aber Storm springt plötzlich auf, rennt los, als ob ihm der Teufel ins Genick gesprungen wäre. »Stooorm! Stooorm!«

»Nichts zu machen.« Der Hund ist schon bald nicht mehr zu sehen. Kehrt! Im Laufschritt zur Hütte zurück. Vielleicht hundert Meter. Ragnar ist beinahe beim Hütteneingang, als eine schwarze Gestalt an ihm vorbeifegt, in fegendem Lauf. Stoppt! Auf ihn einspringt, an ihm hochspringt, eine nasse Schnauze fliegt ihm ins Gesicht, an die Hände. »Storm, – – ja, mein Storm, – – mein Storm! He, wo bist du die ganze Zeit gewesen? Bist mager wie ein Stecken, – hoho Storm!«

Der Hund gebärdet sich wie ein Verrückter in seiner Freude. Er war die ganze Zeit hindurch Wolf gewesen, – nun war er wieder Hund! Und Kamerad. Soll man Wolf sein, – soll man den Schlitten ziehen für die seltsamen Zweibeiner? Eine schwere, entscheidende Frage für einen grönländischen Schlittenhund. Immer wieder muß dieser Zwiespalt überwunden werden. –

Ragnar faßt den Wiedergefundenen an seiner dichten Halsmähne und schleppt ihn in seinem Kielwasser in den Hüttenraum hinein, wo die beiden Telegrafisten warten. »Da ist er!« Eine kurze Vorstellung, denn kaum hat Ragnar seinen Griff gelockert, ist der Hund mit einem Satz unter der Koje. »Sein Stammplatz!« lacht Ragnar.

 

Im Frühjahr, als längst die Sonne über den Horizont heraufgestiegen ist, hat Storm sich bereits eine neue kleine Frau vom Zwinger geholt. Happy. Die Glückliche! Das ist ihr Name. Mit einem seidenweichen Fell – schwarzen Flecken auf dem weißen Körper und einer weichen Schnauze, die in immerwährender Bewegung ist.

Die Männer von der Station sind bald den ganzen Tag auf der Bai, wo die gelbglänzenden Robben zu Hunderten umherliegen. Hinter dem Sonnensegel, einem weißen, dreieckigen Tuch, schieben sie sich an die Seehunde heran, knallen die spitzigen Stahlmantelgeschosse der Krag-Jörgensen-Rifle in plumpe Köpfe mit großen, schwarzen Augen. Streifen buntgezeichnete Decken von dickspeckigen Körpern. Und in der Hütte dampft es des Abends und Morgens von frischem, jungem Seehundbraten.

Wenn sich auf dem Fjord draußen ein Bär zeigt, stürmt die Hundemeute aus dem offenen Zwinger, jagt in rasender Fahrt dem Todfeind entgegen, stellt ihn, nagelt ihn fest auf seinem Platz, daß ihm keine noch so wütenden Prankenschläge die Freiheit geben. Fliegt einer oder der andere der Hunde blutend in den Schnee, – da sind noch die andern, die ihm wieder und wieder an die klobigen Hinterbeine springen, – bis zum Ende ein Schuß dröhnt und der weiße Riese mit taumelnden Bewegungen aufs Eis niederklatscht. Und die Männer kommen lachend herbei nach einem solchen Schuß, befühlen das Fell, das Fleisch und schlagen sich auf die Schenkel. »Ho, – das war ein gewaltiger Bengel. Und wie er niedersauste. Wie ein Stein!« oder: »Hast du auch gesehen, wie er versuchte, die Kugeln mit der Pranke wegzufangen. Pah, – und dabei saßen sie ihm doch schon im Kopf derweil. Eine Kragrifle ist kein Eskimospeer, alter Eisbär!«

Das nennt man jagen. Die Skier flitzen übers Eis, die eine Hand wiegt die Büchse, während die andere in der Tasche nach Patronen kramt. Alles im Laufen. Unvermittelt springt man dann auf den Skiern quer, »ratsch! – – da hast du deinen Teil! Oder willst du noch eine Kugel zwischen die Rippen?« Ja, das nennt man jagen. Die blonden Haare flattern auf braungebrannte Stirnen, die doch vor wenigen Wochen noch totenbleich waren von dem Lichtmangel der Polarnacht, – weiß wie keimende Pflanzen in einem dunklen Keller.

Die Sonne bringt das Leben zurück mit ihren gleißenden, brennenden Strahlen. Durch den Harsch brechen schon zarte lichtgrüne Grasspitzen, neben den Robbenweibchen liegen hellgelbe Fellbündel auf dem Eis, – die Neugeborenen. Und wenn eine Bärin den Distrikt durchzieht, lotst sie meist zwei kleine weiße Geschöpfe hinter sich her, die mit trippelnden Schritten und todernsten Gesichtern bemüht sind, möglichst erwachsen zu sein und es der Alten gleichzutun im Anschleichen und Schlingen. Wenn die Bärin mit einer Robbe unterm Arm zu ihnen zurückkommt und das Fell des erlegten Tieres mit den schweren Pranken aufreißt, hocken sich die kleinen Kerle auf den blutenden Kadaver und zerren mit den bläulichen Katzenzähnchen das Fleischgewebe auseinander, obschon sie dabei des öfteren sich mit einem Ruck aufs Hinterteil setzen, weil die schwachen Beine des Gehens und Stehens noch allzu unkundig sind.

Eines Tages gliemt es im Eis; ein steifer Nordwest kommt herangepfiffen und rüttelt an dem weißen Panzer, der die Bai bedeckt, – reißt Scholle um Scholle los und wirft sie in die brausenden Wellen, die begierig nach ihnen schnappen und sie in Hüpfen und Spielen weitertragen, zur offenen See hinaus, die dumpf und grollend draußen schäumt, – von unzähligen Großeisbanken gefesselt und überritten.

Scharen von Vögeln ziehen landein, – – – Alten, Lummen, Enten und die buntgeschnäbelten Seepapageien – – – brausende Flüge in endlosen Ketten.

Das ist die Zeit, in der drei Männer unruhig in der Hütte auf und ab schreiten, wie gefangene Raubtiere, die spähend und suchend ihre Augen in der Ferne haben. Der Kalender spielt eine große Rolle in den kommenden Wochen, – bis in den Herbst hinein, – wo eines Tages unvermittelt kräftige Signalzeichen aus dem Lautsprecher pfeifen.

»D. S. ›Veiding‹,–ja, wir liegen bereits kurz vor der Küste! Aber das Eis ist schwer. Wir können nicht sagen, wann es uns gelingt, zu eurer Station durchzubrechen.«

»Die ›Veiding‹ aus Hammerfest kommt zu unserem Entsatz. Peder Skogvik ist an Bord als Schiffer. – Ein feiner Eisbär, Ragnar! Sie stehen kurz vor dem Fjordeingang, – kommen in einem oder ein paar Tagen, – Mensch, Ragnar! Hörst du?« brüllt Oien mit vollen Lungen durch den Raum.

»Sie werden wohl kommen!« sagt Ragnar, stützt den Kopf in die Hände, »sie werden wohl kommen. Aber die andern – – –!«

Oien, der Telegrafist, stutzt, – jäh verwandelt sich sein freudiges Gesicht.

»Sie werden nicht wiederkommen, die andern!« sagt er hart.

»Man muß das vergessen können!« fügt er hinzu, »wir müssen alles vergessen können, hier oben! Einmal wird es auch unser Los sein. Schluß damit! Basta!«

Kein weiteres Wort nötig.

 

Am nächsten Morgen heulen die Hunde wie rasend vom Zwinger her. Auf der Bai sucht ein Fangschiff zwischen treibendem Eis voraus, die Ankerkette rasselt. Die »Veiding« legt sich langsam mit dem Wind. Ein Boot stößt ab. Die Ruder tauchen wie Spinnenbeine in die leicht gekräuselte Wasserfläche. Schwere Gestalten kommen an Land. Schwielige Fäuste finden sich.

»Ja, da sind wir!« brummt der alte Stogvik, schiebt seinen Priem in den andern Mundwinkel!

»Geht es gut in Norwegen drunten?«

»Alles steht gut!«

»Tag, Hansen, –« tritt Oien auf einen schweren, breitschultrigen Mann zu, »du willst also die Station für den Winter übernehmen?«

»Ja, – das wird so sein!« sagt der Angeredete. »Der zehnte Winter an der Ostküste, dieses Mal!«

»Ja, gehen wir zur Hütte, – heut mittag wollen wir gleich mit dem Laden und Löschen beginnen.« Stogvik dreht sich zu den Telegrafisten. »Wir müssen weg, solange das Eis draußen die Durchfahrt gestattet. Hast du die neuesten Wettermeldungen, Oien?«

»Immer noch Nordwest für die nächsten Tage!«

»Dann ist es gut!«

»He, Ragnar, – willkommen, Ragnar. War wohl ein harter Winter, Junge?«

Ragnar tritt zu den Angekommenen.

»Ja, – das war er.«

»Jaha!«

Der Schiffer redet kein Wort vom »Polarwolf«. Er sagt nur: »Jahau, – du fährst wohl mit uns nach Hause, und im nächsten Jahr, nun, – im nächsten Jahr kannst du bei mir anheuern!«

»Ja, – – danke!«

»Das übrige können wir in Norwegen abmachen!«

»Jahau!«

»So, denn man los!«

Unzählige Male kreuzt am Nachmittag das Boot von der »Veiding« die Bai. Bauholz, Proviant, Kohlen und Paraffin. Die Maschinen sind schon fahrbereit, als das letzte Boot abstößt, dem Strand zu. Es holt die Telegrafisten und Ragnar an Bord.

Zwei Gestalten bleiben am Ufer zurück, eine von ihnen läuft zur Hütte hin, – die norwegischen Farben klettern am Mast hoch.

»Glück für den Winter! Haltet euch gut, Jungens!« Das Echo der Dampfsirene flattert durch die Berge.

 

Die »Veiding« wirft ihren schweren Körper schwankend durch die spritzenden Wellen, die in salzigen Bergen herangischten, wogen, – rauschen. Hoch steigt die Küste aus der See, – grüne Matten ziehen sich über Bergrücken, die getragen sind von himmelstürmenden Basaltsäulen, schwarz, grau, in den Klammen, rötlich leuchtend im Schein der Mitternachtssonne. Fischerboote liegen hart gegen den Wind. Schwere Gestalten im gelben Ölzeug hieven Netze, heißen sie hoch mit springendem, glitzernden Fang.

Der Schiffer der »Veiding« steht auf der Brücke. Ragnar an seiner Seite. Nach Steuerbord weist der Alte hinüber.

»Hecklingen Feuer, – vor uns!«

»Ja.«

»Norwegen!«

Ragnar nickt. – Wenn die »Veiding« ihren Kurs auf Steuerbord legt, wird man die ganze Tiefe des Malangenfjords einsehen können. Kurz nachher öffnet sich der Tromsö-Sund.

»Hart Steuerbord – jetzt! Aufs Feuer zuhalten!«

Längs der Backbordseite tanzt ein kleines Boot vorbei. »Welkom i Norge igjen!« brüllt der Käpten zu dem großen Bruder hinüber, von dem er weiß, daß er aus den weiten Eisgefilden Grönlands kommt. Achtung für die Männer, die im Kampf um Norwegens Weltgeltung mit an erster Stelle stehen!

»Willkommen in der Heimat!«

Ragnar zuckt zusammen! Sieht starr voraus. Es ist schwer, nach Hause zu kommen. Man braucht all seine Selbstbeherrschung, um sich in der Hand zu halten. Die Gedanken rasen durch den Schädel, – blitzschnell, flüchtig, freudig, – kehren wieder, Bilder rollen zwischendurch – – Grönlands Ostküste, – das Eis, – Norwegen, das nun vor den Augen aus den Fluten steigt – Ingeborg, das Mädel. Das faltige, harte Gesicht Isachsens, des Schiffers vom »Polarwolf« – – Jon, der alte Jon, liegt auf schweißig riechenden Moschusfellen.

»Gut, Jung – – halt gut durch bis zum Sommer – mein Jung. Und grüß die andern! Grüß Norwegen wieder vom alten Jon!« – – –

Die Nacht stürmt um die Hütte, – – – und doch ist es leuchtender Tag.

»Grüß mir mein Norwegen wieder!« – – –

»Sterbt als echte Norweger, Jungens, wenn es schon gilt!« War das nicht der alte Isachsen? – Ah, – das war Isachsen! Der Schiffer des »Wolfs«.

Das Eis räkelt sich in langem, schweifenden Dünen, – Brandung rauscht um die Schollen, Schneegestöber springt aus dem hellichten Tag, – – der Bär fällt, – her muß er, – brauchten sie nicht Fleisch? Storm. Ja, – das Fleisch hatte er aufgefressen, das sie hätte retten können – – – retten, vielleicht. Nun gehörten sie dem Eis, – alle – – Ragnar und Jon und die andern. Alle! Er stand hier auf der Brücke der »Veiding«. Heute, – um ein Jahr – wieder stand er dann auf der Brücke der »Veiding«! Los! – – Ins Eis! Ingeborg würde am Strand zurückbleiben. Nun, weinen würde sie erst, wenn sie allein war.

»He, Ragnar! Noch eine gute Stunde!« hört er Stogvit an seiner Seite sagen – schaut über die Schulter. Der Alte hat schon wieder das Glas an den Augen, sieht voraus, – als ob er nichts gesagt hätte. »Noch eine Stunde – – ja, – noch eine Stunde!«

Hinter der Walinsel diest eine Wolke in der Luft. Dunst, wie er über großen menschlichen Siedlungen liegt. Rauch von Schiffen, von Heringsfabriken, – aus den Schloten der Häuser. Tromsö!

Bei der nächsten Biegung des Fjords liegen plötzlich die großen Ölbehälter des Hafens vor dem Bug. Grau legt sich die Stadt über den Bergrücken. Unzählige Häuser. Die Kirche. Das Hospital.

Wie versteinert sieht Ragnar dem Näherkommenden entgegen. Das Blut schießt ihm in die Schläfen. Zurück! – Man darf das alles nicht näherkommen lassen – fliehen muß man – fliehen! Aber die Maschine der »Veiding« stampft unaufhaltsam ihren Takt. Unaufhaltsam kreisen die mächtigen Kolben im Maschinenraum, daß das Öl von der Schraubenwelle spritzt. Der Bug zieht in gerader Linie zur Reede hin.

Schwer, blutig schwer kann die Freude sein! Töten kann sie, – die Freude. Aber man kann ihr nicht entfliehen. Auskosten muß man sie, – das Herz bebt unterm Druck des Blutes – und doch verlangt es nach mehr – nach mehr! Nach dem Rausch, der es verzehrt.

 

Mit langsamen Schritten geht der Jäger die Uferstraße entlang, steigt höher, der oberen Stadt zu.


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