Gottlieb Conrad Pfeffel
Prosaische Versuche / 7. Theil
Gottlieb Conrad Pfeffel

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Reginald und Pauline.

Carl der Kühne belagerte den Herzog von Lothringen in seiner Hauptstadt. Der junge Reginald von Vassy diente unter der adelichen Leibwache des Burgunders: er war der Sohn eines seiner tapfersten Hauptleute, der bei Murten den Tod fand. An diesem blutigen Tage kämpfte der edle Jüngling als ein Mann an der Seite des Herzogs, der ihn zum Lohne für seinen Heldenmuth zum Ritter schlug, ohngeachtet er sein ein und zwanzigstes Jahr noch nicht zurükgelegt hatte.

In einem Ausfalle der Belagerten wurde Reginald am Kopf und am Arme verwundet, nach Lüneville in ein Beginenkloster gebracht, und nach der damaligen Sitte der Pflege der Nonnen übergeben. Seine Wärterin war eine siebzehnjährige Novizin, die erst seit einigen Wochen den Schleier angenommen hatte. Sie bediente den Kranken mit rastloser Sorgfalt, sie verband seine Wunden, sie wachte an seinem Bette.

Pauline war eine Waise; ihr Vater, ein flammändischer Kaufmann, hatte sich mit ihr, seinem 148 einzigen Kinde, in Lüneville niedergelassen und durch eine Reihe von Unglüksfällen sein Vermögen eingebüßt. Der Gram über diesen Verlust kostete ihn das Leben und verbannte seine Tochter in das Kloster, die einzige Zuflucht, die ihr gegen die Armuth übrig blieb. Die Liebe allein hätte sie in der Welt zurükhalten können; aber sie kannte die Liebe noch nicht, und ihr Herz entschloß sich um so leichter zu diesem Schritte, da sie bis in ihr fünfzehntes Jahr bei den Dominicanerinnen in Mons war erzogen worden.

Mit voller Hingebung übte sie die Pflichten ihres neuen Standes, und Reginald hätte selbst von seiner zärtlichen Mutter nicht besser verpflegt werden können. In den ersten Tagen sah er in Paulinen blos die Krankenwärterin; seine erschöpften Lebensgeister ließen ihn das reizende Gesicht nicht bemerken, das unter dem Nonnenschleier hervorglänzte. Als er aber allmählich sich selbst wiederfand und dann auch seine Wohlthäterin aufsuchte, verweilte sein Blik solange auf der jungfräulichen Stirne, auf den blühenden Wangen und auf den dunkelblauen seelenvollen Augen des Mädchens, daß dieses voll Verwirrung die Binde fallen ließ, die es um seine Schläfe wand. Noch nie war Pauline so ungeschikt gewesen, und es that ihr leid, daß sie es eben jezt seyn mußte. Mit zitternden Händen vollendete sie den 149 Verband und zog hierauf den Bettvorhang zu rechte, um dem Kranken ihre Schaamröthe zu verbergen.

Reginalds edle Bildung wurde durch die Schmerzen, die er litt, nur desto rührender; sein Gesicht war bleich; sein einst feuriges Auge war jezt erloschen; aber noch die hohe männliche Schönheit seinen Zügen aufgeprägt. Das alles hatte Pauline noch nicht gesehen; aber sie sah es jezt. Beide schienen sich nun erst zu erkennen und sich zu wundern, daß sie einander zween Tage lang fremd geblieben waren.

Reginald dankte seiner holden Wärterin mit stillen gebrochenen Worten; ein leiser Druk begleitete seinen Dank, so oft er ihre Hand fassen konnte. Pauline antwortete ihm nicht, allein ihr Auge wurde feucht, so oft er sie seine Lebensretterin nannte, und sie berührte seine Wunden kaum mit den Spitzen ihrer zarten Finger, aus Furcht sein Leiden zu vermehren.

Die Ehrfurcht für ihren Stand und für das heilige Gastrecht schloß dem jungen Ritter den Mund. Als er aber von Paulinen erfuhr, daß sie noch durch kein Gelübde gebunden sey, so wurden seine Blicke beredter, und er erstikte die Seufzer nicht mehr, die seiner Brust entstiegen.

Pauline antwortete nicht auf diese Blicke und auf diese Seufzer, allein sie fieng an, ihre Sprache zu verstehen. Ein neuer Sinn erwachte in ihr; sie 150 fühlte, daß es nicht mehr bloßes Mitleid, bloße Berufspflicht war, was sie an dem Bette Reginalds länger, als bei den zween andern Verwundeten, zurükhielt, die sie in einem Nebenzimmer zu besorgen hatte. Was es eigentlich war, errieth sie nicht, und ihr Herz war zu unbefangen, um dieser Entdeckung nachzugrübeln. Dennoch erröthete sie über die Vorsicht, womit sie zum erstenmal die Thür hinter sich zuzog, als sie aus dem Seitengemach in Reginalds Kammer trat. Sie überraschte sich über dem Wunsche bei ihm allein zu seyn, und gleichwohl unterliess sie es von nun an selten, diesem räthselhaften Instinkte zu folgen. Wenn der Jüngling sich auf ihren Arm lehnte, so hütete sie sich wohl ihn zu rühren, aber er fühlte alsdann unter seiner Hand die lauten Schläge ihres Pulses.

Mit jedem Tage ward ihre Sorge für ihn zärtlicher; sie suchte sie ihm zu verbergen, und dennoch that es ihr wohl, wenn Reginald sie bemerkte. Die Unschuld lächelte auf ihren Lippen, wenn er bei ihrem Eintritt in das Zimmer seinen verbundenen Kopf ihr zukehrte, oder, wenn sie ihm eine erquickende Speise brachte, die ihre Hände zubereitet hatten.

In der dritten Woche konnte er das Bette verlassen, und nun gieng er bisweilen, auf ihre Schulter gestüzt, das kleine Zimmer auf und nieder. Zärtlich preßte er dann die neidisch verhüllte Schulter; aber er fühlte dann auch das sanfte Wallen ihres Busens, 151 aus dem ihm eine elektrische Wärme entgegenströmte. Pauline sah ihm oft mit der liebenswürdigsten Arglosigkeit ins Auge. aber den Blik des seinigen konnte sie nicht lange aushalten. Sie sah erröthend vor sich nieder, und ein leiser Seufzer erleichterte ihr schwellendes Herz.

So näherte sich allmählich der Tag seiner Genesung. Reginald, mit dessen Kräften auch die Blüthe seiner Wangen zurükkehrte, fürchtete diesen Tag. Pauline fürchtete ihn nicht. Die Herstellung ihres Patienten war noch immer ihr erster Wunsch, ihre einzige Sorge. Allein je näher er ihrem Herzen kam, desto begieriger hörte sie ihm zu, wenn er von seiner Mutter und seiner Schwester sprach. Er hatte ihrer schon mehrmals mit der innigsten Rührung erwähnet. Clothilde, sagte er ernst, ist die beste unter den Müttern und Alise . . . . o, die solltet Ihr kennen! eine zärtlichere Schwester, eine treuere Freundin ward nie gebohren. Wie würde sie meiner Retterin, meiner Pauline danken, wenn sie sähe, was diese edle, heilige Seele für mich thut! Bei den Worten: meiner Pauline, floß eine Thräne über ihre Wange. Reginald, der sich eben traulich an ihre Seite lehnte, küßte die Thräne mit brennender Lippe hinweg, und ließ dann ihren Arm fahren, den er umschlungen hielt.

Einen Augenblik stand Pauline wie versteinert vor ihm: jezt ergoß eine blitzende Flamme sich über 152 ihr Gesicht; ihre Beine zitterten; sprachlos, aber mit einem tiefen Seufzer sezte sie sich auf einen Stuhl. Gleich dem neugebohrnen Kinde, das auf einmal Licht und Luft umströmt, versank sie in eine süße Ohnmacht, die alle ihre Sinne in einem einzigen neuen auflöste. Endlich ermannte sie sich. Immer noch sprachlos, aber mit einem Blicke, in dem alle ihre Gefühle sich mahlten, schlüpfte sie davon, ohne daß Reginald es gewagt hätte, sie aufzuhalten. Die Decke war von ihren Augen gefallen, die sie vor sich selbst verbarg; ihr Herz sagte ihr endlich, was es ihr bisher verhehlet hatte, daß Reginald ihr mehr war, als die übrige Welt; aber nun fieng es auch an, die Leiden zu ahnen, welche die Entfernung des Urhebers ihres neuen Daseyns verursachen würde.

Schüchtern und stilltraurend betrat sie nun das Zimmer ihres lieben Kranken, und oft hieng noch die Thräne an ihrer Wimper, die den Gedanken an seinen Abschied fast immer begleitete. Auch Reginald war tiefsinnig; eine trübe Wolke ruhte auf seiner Stirne, und die wiederkehrende Blüthe seiner Wangen fieng an von Neuem zu erbleichen. Pauline schrieb seine Traurigkeit dem Tode seines Fürsten zu, der in diesen Tagen die lezte Frucht seiner Tollkühnheit einärndeteDen 5ten Januar 1477., und ihre Besorgnisse für Reginalds Gesundheit wachten wieder auf. Sie 153 vergaß sich selbst, und pflegte nun des schwermüthigen Kranken mit verdoppelter Emsigkeit; sie nöthigte ihn zu essen. Sie bettelte bei einer reichen Wohlthäterin ihres Klosters eine Flasche griechischen Wein, und eilte zu ihrem Patienten, um ihn durch dieses Cordial zu laben.

Reginald bemerkte ihre Ankunft nicht: mit geschloßnen Augen lag er in seinem Lehnstuhl; seine Seele ward in einem Sturme von Empfindungen umher geschleudert: keine stritt mit seiner Tugend, alle droheten seiner Ruhe. Das, was sein Zeitalter Ehre nannte, lag mit dem einzigen Wunsche seines Herzens im Kampfe. Pauline schlich einige Schritte näher. Heiliger Gott! er ist ohnmächtig! rief sie, als sie ihn in diesem schreklichen Zustand erblikte. Reginald fuhr auf: Nein, himmlisches Mädchen, das bin ich nicht; vielmehr hat Dich der Himmel hieher gesandt, um meiner Seele alle ihre Kraft wieder zu geben. Bei diesen Worten schloß er sie in seine Arme: ich kann, ich will mich nicht von Dir trennen. Meine Freundin, meine Schwester mußt Du seyn, wenn Du nicht . . . . Hier erlosch ihm die Stimme. Er zog das staunende Mädchen neben sich auf sein Bette und preßte ihre Hand mit einer krampfigen Bewegung an sein Herz. Er schwieg; Pauline bebte; eine Minute saßen sie so in stummer Betäubung neben einander. Endlich fand Reginald die Sprache wieder. Pauline, sagte er 154 in einem feierlich zärtlichen Tone, ich habe hier nichts mehr zu thun, der Tod des Herzogs giebt mich meiner Familie wieder. Dir verdanke ich mein Leben; allein Dein Geschenk ist mir nichts ohne Dich. Das Unglück führte Dich in das Kloster, laß die Dankbarkeit Dich herausführen. Ich bin Herr eines ansehnlichen Vermögens; Dein Vater, sagtest Du mir neulich, verlohr 4000 Kronen: das Einkommen, das der meinige mir hinterließ, ist wohl doppelt so stark. Meine Pauline darf sich also nicht scheuen, von der Hand der Freundschaft den Betrag ihres verlohrnen Erbes anzunehmen.

Pauline sah ihm durch eine lichte Wolke von Thränen ins Gesicht; zum erstenmal drükte sie seine Hand zwischen die ihrigen, aber sprechen konnte sie nicht. Reginald bot ihr auch nicht Alles an, was ihr fehlte. Auch er fühlte, daß er ihr noch etwas anzubieten habe; aber dieses Gefühl war beides zu zart und zu mächtig, als daß er sogleich einen Ausdruk dazu hätte finden können. Er hielt einige Augenblicke inne: Du hast keine Eltern mehr, meine Theure, und wenn du wahre Freunde hättest, so wärest Du in ihre Arme und nicht in diese Mauern geflohen. Das Haus meiner Mutter bietet Dir eine sichere Freistatt an, und meine Schwester . . . . o, die wird auch Deine Schwester seyn! Daß ich Dich schon jezt als die meinige betrachte, sagt Dir die 155 trauliche Brudersprache, in der ich mit Dir rede; jede andere würde für mein Herz kraftlos seyn.

Ach! edler Ritter, Euere Güte! lasset mir Zeit . . . . Gott, Gott! was soll ich Euch sagen? Ja, ja, sollst Du sagen, unterbrach sie Reginald, zu Allem, Allem, sollst Du Ja sagen. Pauline saß noch eine Weile an der Seite des Jünglings; ihre Wange glühete, ihr Herz klopfte. Auf einmal schien es eine große Last abzuwälzen; ihr Mund öfnete sich zum Sprechen und sprach doch nicht. Endlich sagte sie leise, aber in der süßesten Melodie der Zärtlichkeit: nun ja, zu Allem, Allem, Ja, und indem sie es sagte, legte sie ihr Gesicht auf Reginalds Schulter. Gern wäre er vor Freude aufgehüpft: seine holde Bürde hielt ihn zurük. Ein Kuß, den er auf die hingebotene jungfräuliche Stirne drükte, wekte sie langsam aus ihrer Entzückung, und nun besprachen sich die beiden Glüklichen mit vertraulicher Redseligkeit über die Anstalten zu ihrer Abreise.

Reginald ließ die Priorin um eine Unterredung ersuchen. Er eröfnete ihr sein Vorhaben, Paulinen in den Schoos seiner Familie zu verpflanzen. Die treuherzige Sprache der Dankbarkeit, die er redete, und die ansehnlichen Geschenke, die er der ehrwürdigen Mutter und dem Kloster machte, hoben alle ihre Bedenklichkeiten. Doch verwies sie den Ritter an den Vormund, den die Form der Gesetze der unglüklichen Waise gegeben hatte. Dieser, ein 156 ehemaliger Nachbar ihres Vaters, betrachtete das Anerbieten des Ritters als ein Glük, dessen er seine Pflegetochter nicht berauben wollte. Selber arm, hatte er nichts für das Mädchen thun können, und freuete sich nun aufrichtig über die Veränderung ihres Schiksals. Um allem Verdachte vorzubeugen, ließ Reginald sich seine Einwilligung schriftlich geben. Diese Urkunde und das rühmliche Abschiedszeugniß der Priorin schüzten Reginalds und Paulinens Ehre, und waren hinreichend der tausendzüngigen Verläumdung den Mund zu stopfen.

In drei Tagen war Alles zum Aufbruche fertig. Einer von Reginalds Knechten, der in dem Ausfalle gefangen worden, hatte sich nach aufgehobener Belagerung wieder gefunden; ein ehrlicher alter Diener, der über die Erhaltung seines Herrn, den er für todt hielt, sich vor Freude nicht zu fassen wußte. Als er vom Ritter erfuhr, daß er sein Leben Paulinens Wartung verdankte, warf er sich vor ihr auf die Kniee und küßte den Saum ihres Rockes. Sie reist mit uns, guter Bertram, sagte Reginald zu ihm, meine Mutter und meine Schwester müssen die Retterin meines Lebens kennen lernen. Recht so, erwiederte der Alte, sie muß meinen Schimmel reiten, der geht sanft und sicher wie ein Maulthier. Was das für ein Jubel seyn wird, bei der gnädigen Frau und dem Fräulein Alise, wenn wir eine so schöne und so liebe Kriegsgefangene mit heimbringen!

157 Pauline mußte einen ledernen Koller anziehen und ihre schönen silberblonden Haare unter eine leichte Sturmhaube verbergen. Die Straßen waren mit dienstlosen Kriegsleuten bedekt, deren Ausgelassenheit diese Vorsicht nothwendig machte. So sah sie einem Edelknaben ähnlich, der seinen Herrn begleitete. Reginald und Bertram waren in ihrer Rüstung, und so oft sie an einem Schwarme Landstreicher vorbeizogen, nahmen sie den Junker Guido (so nannte sie ihr Liebhaber) zwischen sich in die Mitte. Sie machten kurze Tagreisen, nicht nur um Paulinens willen, sondern auch wegen der kaum geheilten Wunden des Ritters, und, wenn sie in eine Herberge einkehrten, so wußte dieser es immer so einzurichten, daß der müde Guido das beste und oft das einzige Bett erhielt; indeß er selbst das Lager seines grauen Gefährten theilte.

Bertram segnete insgeheim die Eingezogenheit seines Gebieters, die freilich in jenen Zeiten der Zügellosigkeit selbst unter den Rittern keine herrschende Tugend war, und sein Auge verweilte oft mit innigem Wohlbehagen auf dem Gesichte der behelmten Grazie, das wie eine Maienrose aus einem dunkeln Busche hervorstrahlte. Herr, flüsterte er einmal dem Ritter zu, als Pauline einige Schritte voranritt: meynt Ihr nicht, daß der Erzengel Michael in seiner Jugend so mag ausgesehen haben? Sage lieber die Mutter Gottes, erwiederte Reginald lachend. 158 Ihr habt bei Gott! recht, versezte der Alte, denn, wenn ich sie so des Morgens und Abends in einem Winkel beten sehe, möchte ich immer neben sie hinknieen und zu ihr sagen: Heilige Jungfrau, bitte für mich armen Sünder.

Am Abend des siebenten Tages sahen sie endlich Reginalds väterliche Burg zwischen den beschneiten Rebhügeln hervorragen. Die lezten Strahlen der Sonne vergoldeten die Thürme, indeß ein bläulicher Nebel über dem zu ihren Füßen liegenden Dorfe schwebte. Nun mußte Bertram voraus, um die Mutter und Schwester seines Herrn auf seine Rükkunft und vornehmlich auf die Erscheinung seiner Gefährtin vorzubereiten. Diese Vorsicht war nicht überflüssig; ein falsches Gerücht von Reginalds Tode hatte die noch trauernde Wittwe vollends niedergeworfen und ihr eine gefährliche Krankheit zugezogen, die sich nur seit wenig Tagen zur Besserung lenkte. Als Bertram allein sich dem Burgthore näherte, erblikte ihn Alise durch das Fenster; weinend lief sie ihm entgegen, um ihn von dem Bette der Kranken abzuhalten. Doch bald verwandelte die Botschaft des redlichen Dieners ihren Schrecken in eine Freude, die ihr beinahe eben die Gefahr drohete, die sie ihrer Mutter verhüten wollte. Sie warf sich in ihrem Wonnetaumel dem Alten um den Hals und küßte seine runzlichten Wangen. Es dauerte lange, bis sie seinen ganzen Bericht anhören, und noch länger, bis 159 sie ihn ihrer Mutter hinterbringen konnte. Diese wollte ihren Worten nicht glauben, Bertram mußte selbst hereintreten und ihr die frohe Kunde zehnmal wiederholen. Ein neues Leben flimmerte aus ihren matten Augen: sie faltete ihre Hände und von ihren blassen Lippen stieg ein stilles Dankopfer gen Himmel.

Indessen hatte Alise sich davon geschlichen. Ihre Ungedult erlaubte ihr nicht die Reisenden auf der Burg zu erwarten. Sie eilte ihnen bis an den Eingang des Dorfes entgegen, und ehe Reginald sichs versah, fiel sie seinem Pferd in den Zügel. Er warf sich ihr in die Arme, und hieng noch an ihren Lippen, als Pauline, die ebenfalls abgestiegen war, mit schüchternem Schritte herbeitrat. Alise, die sie für ihres Bruders Buben hielt, hatte ihr nur einen flüchtigen Blick zugeworfen. Auf einmal besann sie sich und sah sich um: wo ist sie denn? wo ist sie? – An Deinem Schwesterherzen, sagte Reginald und zog das hocherröthende Mädchen an ihren Busen. Das soll es ewig für sie seyn, rief Alise, indem sie die Wangen des holden Geschöpfes mit Küssen und Freudenthränen bedekte.

Der Bruder und die Schwester nahmen sie zwischen sich, und führten sie Arm in Arm vor das Bette der harrenden Mutter. Welche Scene! kein dürftiger Schattenriß soll sie entwürdigen. Das Herz allein sprach dabei und seine Sprache, die leichteste, die verständlichste von allen, ist auch von allen die 160 unübersezlichste. Nach den ersten Ergießungen der Zärtlichkeit und Freude, mußte Reginald die flüchtige Erzählung des alten Bertram ergänzen. Bei dem Gemählde, das er von den Diensten seiner holden Wärterin machte, wußte Pauline sich nicht zu fassen. Bald verbarg sie ihr Gesicht in ihr Taschentuch, bald lehnte sie sich hinter den Bettvorhang zurük, oder sie verweilte mit ihren Blicken auf den Familienbildnissen, womit die Wände des Zimmers behangen waren. Nicht wahr, theure Mutter, endigte Reginald, von nun an ist meine Retterin ein Glied unsrer Familie? Das ist sie, antwortete die Kranke, indem sie dem gerührten Mädchen die Hand reichte, das sie ehrerbietig küßte. Schon haben wir uns nichts mehr zu sagen, sprach Alise und schloß das reizende Geschöpf von Neuem in ihre Arme.

Mit jedem Tage besserte sich die Gesundheit der getrösteten Mutter. Die Freudensbezeugungen, welche die Gutsunterthanen, von ihrem würdigen Pfarrer Godard angeführt, bei der Rükkunft ihres jungen Herrn anstellten, und die edle Güte, womit dieser sie empfieng, waren ein neuer Balsam für ihr Herz. Pauline bekam ihren Antheil an dem Seegen der Redlichen, und feierte in der Stille diesen reinen Triumph ihres Helden. Das zärtlichste Band verkettete sie mit Alisen, und Reginald, den die Innigkeit entzükte, machte seine Schwester gar bald zur Vertrauten seiner geheimsten Wünsche. Alise 161 stimmte ihnen mit aller Wärme ihres Herzens bei, ohne ihrem Bruder den Widerstand zu verhehlen, den sie von Clothilden befürchtete. Sie liebt mich, antwortete der Ritter, sie wird sich meinem Glücke nicht widersetzen. Täglich erhielt seine Leidenschaft eine neue Nahrung, weil jeder Tag ihm in Paulinens Charakter einen neuen reizenden Zug entdekte. Seine Sprache war die Sprache der Freundschaft, aber sein ganzes Betragen athmete die wärmste, edelste Liebe.

Pauline überließ sich mit sorgloser Hingebung dem Hange ihres Herzens. Gleich einer biegsamen Epheuranke, die sich um den Stamm der schützenden Ulme windet, schmiegte sie sich immer fester an ihren Reginald, ohne daß es ihr jemals in den Sinn kam, sich über sein Stillschweigen zu wundern. Sie fand es ganz natürlich, daß er ihr das nicht wiederholte, was sie schon wußte, und es that ihr wohl, daß er Alles in ihrem Herzen lesen konnte, was ihr Mund unvermögend gewesen wäre, ihm auszudrücken. Dennoch hatte Reginalds Zurükhaltung einen andern Grund: sein Zartgefühl erlaubte ihm nicht, sich ihr eher ganz zu entdecken, als bis er des Beifalls seiner Mutter versichert seyn würde, und diesen versprach er sich hauptsächlich von ihrer nähern Bekanntschaft mit dem liebenswürdigen Mädchen, das er ihr zur Tochter bestimmte.

162 Clothilde verkannte keine von Paulinens Eigenschaften; ihr gesunder Verstand und die heilige Unschuld ihres Herzens entgiengen ihr eben so wenig, als ihre äußern Reize, die durch die netten Kleider, welche sie ihr angeschaft hatte, noch mehr erhoben wurden. Sie liebte Paulinen zärtlich; sie bewies es ihr bei jeder Gelegenheit, und einer ihrer sehnlichsten Wünsche war, sie glüklich zu machen. Allein sie würde ihr Glük eher um jeden andern Preis, als durch die Hand ihres Sohnes erkauft haben. Sie klebte fest an den Vorurtheilen ihres Standes, und ihr Eifer für den Ruhm ihres Hauses schauderte vor dem bloßen Gedanken einer Mißheirath zurük. Ueber dieses bestimmte sie ihrem Sohn von Kindheit an eine ihrer Nichten, die mit einem glänzenden Namen ein großes Vermögen, aber freilich keine von Paulinens Annehmlichkeiten verband. Auch mit weniger Scharfsicht hätte sie die Leidenschaft des Ritters errathen können; sie errieth sie, und kannte ihn zu gut, um ihr eine unedle Absicht zu leihen. Aber eben deswegen wich sie jeder Gelegenheit aus, die er suchte, ihr sein Anliegen zu eröfnen. Sie begnügte sich, Paulinen mit unablässiger Wachsamkeit zu beobachten. Sie sah wohl, daß eine geheime Glut in ihrem Busen loderte; sie bemerkte aber auch, daß sie sich ihrer Liebe kaum selbst bewußt war, und daß die unerreichbare Höhe, auf der sie den Gegenstand derselben erblikte, dem 163 frommen, demüthigen Geschöpfe nie erlauben würde, nach der Hand seines Liebhabers zu streben. Sie hielt es daher fürs Beste, unwissend zu scheinen, bis die Umstände sie nöthigen würden, ernsthaftere Maasregeln zu ergreifen.

Reginald entdekte nur stufenweise den Plan seiner Mutter. Als er ihn aber einmal ganz durchschaute, versank er in eine düstere Schwermuth, welche der muntere Scherz seiner Schwester, und selbst die unschuldvolle trauliche Zuthätigkeit seiner Geliebten nicht zerstreuen konnten. Clothilde war eine zärtliche Mutter; sie liebte ihren Sohn über Alles; seine Melancholie drang ihr in die Seele. Nun glaubte sie, daß es Zeit sey, einen Anschlag auszuführen, mit dem sie sich schon einige Wochen herumtrug. Anstatt die Heilung ihres Sohnes von seinem Gehorsam zu erwarten, hielt sie es für sicherer, sie Paulinens Tugend anzuvertrauen. Ihr liebreiches Benehmen gegen das Mädchen hatte ihr schon lange den Weg zu dessen Herzen gebahnt, und die warme, aber ehrfurchtsvolle Zärtlichkeit, womit es ihre Güte erwiederte, mußte ihr den glüklichen Erfolg ihres Vorhabens verbürgen.

Reginald und seine Schwester waren bei einem benachbarten Edelmanne zu Gaste. Ihre Mutter, welche mit Paulinen ebenfalls eingeladen war, entschuldigte sich mit einer leichten Unpäßlichkeit, und das gefällige Mädchen erbot sich, ihr zu Hause 164 Gesellschaft zu leisten. Clothilde benuzte diesen günstigen Augenblik zur Ausführung ihres Planes. Mit mütterlicher Vertraulichkeit erzählte sie Paulinen allerhand Familien-Anekdoten, wozu die in ihrem Zimmer aufgehängten Bildnisse ihr einen reichen Stoff lieferten. Bei jeder Gelegenheit erhob sie die strenge Sorgfalt der Herren von Vassy, das edle Blut ihrer Ahnen rein zu erhalten, und ihrer Stiftsmäßigkeit selbst die reichsten Verbindungen aufzuopfern. Ich hoffe, sagte sie zulezt, mein Reginald werde dem ehrwürdigen Beispiel seiner Voreltern folgen, und ihre Stammtafeln nie durch eine schmähliche Mißheirath beflecken. Hier blikte sie dem horchenden Mädchen in die Augen: es schlug sie nieder; Todesblässe und flammende Röthe wechselten auf seinem Gesichte. Jezt faßte sie seine zitternde Rechte: Liebes Kind, wenn mein Sohn Dir seine Hand anböte, würdest Du wohl den Muth haben, sie auszuschlagen?

Pauline schwieg; alle ihre Lebensgeister, selbst die Schläge ihres Busens stokten. Würdest Du mir, fuhr Clothilde fort, die heilige Pflicht erfüllen helfen, ihn von einer Thorheit abzuhalten, die er nach wenig Wochen bereuen würde? nicht wahr, meine Liebe, Du würdest es thun? Du bist gut und fromm, und würdest nicht mir ihm in einen Bund treten, um seine Mutter zu Tode zu kränken, um die Asche seiner Vorfahren zu stören. 165 Könntest Du es, so würde Deine Reue der seinigen auf dem Fuße folgen; Du würdest nie dieses Zimmer betreten, ohne in den Blicken dieser Bilder die bittern Vorwürfe zu lesen, die Du vielleicht bald selbst in den Blicken Deines Gatten, oder doch gewiß auf der Stirne euers Erstgebohrnen lesen würdest.

Pauline schwieg noch, aber ein Thränenstrom und ein tiefer Seufzer machten ihrem gepreßten Herzen Luft. Endlich rafte sie ihre Kräfte zusammen: Ihr habt nichts zu fürchten, edle Frau, sagte sie mit entschloßner Stimme, ich weiß, was ich Euch und Euerm Sohne schuldig bin; und ich, erwiederte Clothilde, indem sie das glänzende Antliz des Mädchens küßte; ich werde nie vergessen, was ich seiner Lebensretterin schuldig bin; ich werde Dich immer als meine Tochter betrachten. Als ihre Tochter? sagte Pauline bei sich, und dennoch will sie nicht, daß ich es werde.

Nun suchte Clothilde das Gespräch auf andere Gegenstände zu lenken, und das gute Mädchen zwang sich, Theil daran zu nehmen. Auch nach Reginalds Rükkunft verrieth kein Wort, keine Miene den Zustand ihrer Seele. Des Abends nahm er Gelegenheit ihr mit Alisen auf ihr Zimmer zu folgen: Nun, liebe Freundin, wie ist es heute gegangen? Nicht übel, erwiederte sie, Euere Mutter hat mir manche gute Lehre gegeben, die ich nie vergessen werde. Die Lehren der Mutter haben Dich 166 doch wohl nicht gehindert, auch ein Bischen an den Sohn zu denken? O, gewiß nicht! sagte sie mit erlöschender Stimme, und suchte vergebens die Thräne wegzublinzeln, die ihr ins Auge trat. Bestes Mädchen! riefen Bruder und Schwester zugleich, und schlossen sie gemeinschaftlich in ihre Arme. Pauline konnte nicht sprechen; allein sie erwiederte den Kuß des Bruders und der Schwester mir der innigsten Zärtlichkeit, und rief ihnen noch unter der Thür ein wehmüthiges Lebewohl nach. Welch ein Herz! sagte Reginald beim Weggehen zu Alisen, nein, länger kann ich mir seinen Besiz nicht versagen; morgen werde ich mit unsrer Mutter sprechen und ihr feierlich erklären, daß ich entschlossen bin, mich auf ewig mit diesem Engel zu verbinden; wenn sie mich nicht zu Tode martern will, so darf sie sich meinem Wunsche nicht widersetzen.

Des folgenden Morgens erschien Pauline nicht beim Frühstük. Alise gieng auf ihr Zimmer, um sie zu rufen. Sie fand sie nicht; sie suchte sie im Garten, wo sie seit der Wiederkehr des Frühlings oft ganze Stunden in stiller Einsamkeit umherwandelte. Auch hier war sie nicht. Sie fragte das Gesinde aus: niemand wollte etwas von ihr wissen. Voll banger Unruhe eilte sie auf ihr Zimmer zurük. Nichts zeigte Paulinens Entfernung an: alle ihre Kleider fanden sich in ihrem Schranke; das bescheidene Hausgewand, das sie am vorigen Tage trug, 167 war Alles, was fehlte. Nun konnte Alise ihre Besorgnisse nicht mehr für sich behalten. Pauline ist nirgends zu finden, sagte sie zur Mutter, die Reginald eben zu der großen Unterredung vorbereitete, welche sein Schiksal entscheiden sollte. Sie ich nicht zu finden? rief er, indem er von seinem Stuhl aufsprang. Gott! was ist vorgegangen? Er lief wie ein Sinnloser auf ihr Zimmer. Er wollte dem Berichte seiner Schwester, er wollte seinen eigenen Augen nicht trauen. Er durchsuchte Alles und fand Alles, was er nicht suchte. In einer Ecke des Schranks erblikte er ein kleines Kästchen; der Schlüssel stak darin; er öfnete es, außer einigen Juwelen, die Clothilde ihr gegeben, enthielt es die Verschreibung von 4000 Kronen, die Reginald bald nach seiner Ankunft ihr aufgedrungen hatte. In dieser Verschreibung lag ein offenes Briefchen, mit bebender Hand entfaltete es Reginald und las: »Die Dankbarkeit hat mich unter dieses ehrwürdige Dach geführt, die Dankbarkeit zwingt mich, es zu verlassen. Mein Herz bleibt darin zurük, ewig wird es seine theuren Bewohner segnen. Wenn Sie meine Ruhe lieben, so werden Sie mich nicht aufsuchen. Auch wenn Sie mich fänden, könnte ich nicht mit Ihnen zurükkehren.« Pauline Dupuy.

Reginald erstarrte. Leichenblaß und in sich selbst verlohren, traf seine Schwester ihn an. Seine Lippen klebten auf dem Papiere, seine Augen waren 168 halb geschlossen. Bruder! Bruder! um Gottes willen, was ist Dir begegnet? Reginald antwortete nicht; aber er hielt ihr das Briefchen dar, ohne es aus der Hand zu lassen. Alise las und weinte, und nun konnte Reginald auch weinen. Er folgte ihr wie ein willenloses Kind zu seiner Mutter, deren Schrecken bei Lesung des Briefchens von einer so auffallenden Verwirrung begleitet war, daß sie selbst dem irren Blicke des Ritters nicht entgehen konnte. Er sah ihr steif ins Gesicht, und die plözliche Röthe, die es überströmte, bestätigte seinen Argwohn. Arme Pauline! sagte er, und versank wieder in seine stumme Betäubung. Was ist nun zu thun? sprach die trostlose Alise nach einer langen Pause. Diese Frage erwekte den Ritter: was zu thun ist? sie aufsuchen, sie in jedem Winkel der Erde aufsuchen, und sie zu meinem Weibe machen. Allein, erwiederte die Mutter, Du siehst ja, daß sie verborgen bleiben und selbst, wenn sie entdekt wird, nicht mehr zu uns zurükkehren will. Ich sehe, was ich sehe, sprach Reginald in einem Tone, der die Gewalt verrieth, die er anwandte, um seine Erbitterung zu verbergen; lebt wohl. Er gieng nach der Thür: Alise warf sich ihm in den Weg; sie weinte an seinem Halse: Fahre wohl, Bruder, und komm bald mit ihr zurük. Mein Herz sagt mir, daß Du sie finden wirst. Sie oder den Tod, antwortete er, indem er ihr konvulsivisch die Hand drükte. Sie wollte ihm folgen; er drehte 169 den Schlüssel der Thüre hinter sich zu, und in weniger als einer halben Stunde sah sie ihn, vom getreuen Bertram begleitet, zum Burgthor hinaussprengen.

Während seiner Abwesenheit lag Clothilde auf einer beständigen Folter, Tag und Nacht wurde sie von den schreklichsten Bildern geängstigt. Reginald war der Abgott ihres Herzens; seine lezten Worte ließen sie Alles von seiner Verzweiflung erwarten. Mit oder ohne Paulinen wünschte und fürchtete sie seine Rükkunft. Sein strafender Blik war ihr nicht entgangen, und hatte einen glühenden Stachel in ihrem Busen zurükgelassen. Ihre lezte Unterredung mit Paulinen tönte ihr immer in den Ohren, und übertäubte jeden Grund, wodurch sie sich gegen den innern Vorwurf, ihre Flucht verursacht zu haben, zu vertheidigen suchte. Der heldenmüthige Schritt des Mädchens zwang ihr eine reuige Bewunderung ab, und sie konnte es kaum begreifen, daß ein so großer Entschluß in einer bürgerlichen Seele Raum finden konnte. Wäre sie von edler Geburt, sagte sie einst zu Alisen, wer weiß wozu mütterliche Liebe mich, ungeachtet ihrer Armuth, verleitet hätte? Mit Paulinens Herzen ist man weder unedel noch arm, versezte Alise in der Sprache ihres Bruders, welche die Freundschaft, die sie an das holde Mädchen knüpfte, schon längst zu ihrer eignen Sprache machte. O, ich weiß wohl, 170 daß Du mit zum Bunde gehörst, erwiederte die aufgebrachte Mutter, und vermied von nun an jedes Gespräch über diesen Gegenstand.

Indessen wuchs ihre Unruhe mit jedem Tage. Schon fünf Wochen waren verstrichen, ohne daß ihr die mindeste Nachricht von ihrem Sohne zukam. Sie lebte von allem Troste, von aller Gesellschaft getrennt in einer melancholischen Einsamkeit. Ihre Burg war selbst dem wackern Pfarrer Godard verschlossen, den sie ehrte und schäzte. Bei einem Besuche, den er bald nach Paulinens Flucht bei ihr ablegte, hatte er sie durch das warme Lob, womit er von dem Mädchen sprach, in eine Verlegenheit gesezt, der sie sich nicht zum zweitenmal blos stellen wollte. Godard hatte eine Nichte bei sich, die Alisens Gespielin war. Pauline brachte bisweilen mit ihrer Freundin einige Abendstunden bei ihr zu, und jedesmal waren Oheim und Nichte von dem liebenswürdigen Mädchen bezaubert. Insonderheit rührte den ehrlichen Alten der kindliche Ton, indem sie sich mit ihm unterhielt, und die Ehrerbietung, die sie seiner Tugend noch mehr als seinem Stande bezeugte. Clothilde betrachtete ihn daher als einen Bundsgenossen ihrer Kinder, und so groß sonst ihr Vertrauen in ihm war, wollte sie es doch nicht wagen, ihm das Anliegen ihres Herzens zu eröfnen.

Endlich kam Reginald zurük; allein anstatt ihren Kummer zu lindern, erfüllte sein Anblik sie 171 mit bangem Entsetzen. Er sah einem Gespenst ähnlich; sein Gesicht war blaß und eingefallen; sein Auge starr und finster; sein Gang glich dem matten Schritte eines Gefangenen, den seine Kette zu Boden drükt. Sprachlos umarmte er seine Mutter, und vor Schrecken konnte auch sie nicht sprechen. Alise weinte an seinem abgezehrten Busen. Reginald weinte nicht, aber in seinem Händedruk lag die Antwort auf ihre Thränen. Weder sie, noch Clothilde hatten den Muth, nach Paulinen zu fragen, und Reginald erwähnte ihrer mit keinem Worte. Als er sich aber auf sein Gemach begeben hatte, rief Alise den alten Bertram, der ihr eine umständliche Beschreibung seiner Reise machen mußte. In den ersten Tagen wurden alle Wege und Nebenwege der benachbarten Gegend ausgespührt; kein Reisender blieb unbefragt, keine Herberge, keine Köhlerhütte unbesucht. Endlich beschloß Reginald, bis nach Lüneville zu gehen, in der Hofnung, daß Pauline vielleicht in ihr ehemaliges Kloster zurükgekehrt sey. Auch dieser Zug war vergebens; die Priorin betheuerte, daß sie nicht das Mindeste von ihr wisse. Auf dem Rükwege wurde eine ähnliche Nachfrage in allen Frauenklöstern der Gegend aber überall fruchtlos vorgenommen. Seit acht Tagen, so schloß Bertram seine Erzählung, waren wir in Autun, wo mein Herr bei seinem Oheim, dem Comthur, von seiner rastlosen Fahrt ausruhen wollte. Aber, 172 leider! fand er wenig Ruhe. Ich hörte ihn oft ganze Nächte seufzen und mit sich selbst reden. Der liebe Gott weiß was in die Länge aus ihm werden wird. Gestern sagte er mir, er habe eine weite Reise vor, und fragte mich, ob ich ihn wohl begleiten möchte? Die Frage that mir weh; er hätte wissen sollen, daß der alte Bertram, der im Schlachtgetümmel nie von seiner Seite wich, ihm bis ans Ende der Welt folgen würde.

Vergebens fragten Clothilde und Alise, was das wohl für eine Reise seyn möchte? Bertram wußte nichts weiter, und ihre Einbildungskraft bemühte sich umsonst, das Räthsel zu lösen. Reginald zog sie nur zu früh aus ihrer Unwissenheit. Er erschien des folgenden Morgens mit dem Ordenszeichen der Rhodiser-Ritter auf seinem Kleide. Dieser so ganz unerwartete Anblik, der alle Plane seiner Mutter vereitelte, war ihr ein Donnerschlag. Weinend hob sie ihre Hände gen Himmel: Wie, sagte sie, mein Sohn, die einzige Hofnung seines Stammes, will mit eigner Hand seinen Namen der Nachwelt entreißen? – Daran ist die Mitwelt schuld, antwortete er mit bitterm Lächeln, mein Oheim, der Comthur, hat mich unter die Novizen eingeschrieben, und zu Ende der Woche werde ich meine Caravane nach Rhodus antreten. Clothildens Vorstellungen und selbst ihre Thränen glitten von seinem Herzen ab, in dem nur noch ein 173 einziges Gefühl, der Lebenseckel, zurükblieb. Er bat seine Schwester um den Schlüssel zu Paulinens Zimmer. Hier brachte er in dämischer Schwermuth alle die Stunden zu, die seine Reiseanstalten ihm übrig ließen. Seine Mutter sah er selten anders, als bei Tische. Alise folgte ihm bisweilen in seine Clause, und suchte seinen Vorsaz durch die Hofnung zu bestreiten, daß er seine Geliebte doch noch finden könne. Sie ist verloren, antwortete er seufzend, wenigstens für mich verloren; ihr Brief und die zurükgelassene Verschreibung beweisen mir, daß sie sich auf immer vor mir verbergen will. Sie kannte meine Liebe, aber gewiß auch die Hindernisse, die man ihr in den Weg legte. Sie hat mir ein großes Opfer gebracht, ich will ihr kein geringeres bringen.

Am Tage vor seiner festgesezten Abreise kam er gar nicht zum Vorschein. Seine Mutter ließ ihn durch Alisen zu Tische rufen. Sie fand ihn auf Paulinens Bette liegend; sein Blik war zerstört, ein brennendes Fieber schwellte seine Adern und färbte sein Gesicht mit einer flammenden Röthe. Neben ihm lag ein Armband mit Paulinens Bildnisse, das er kurz vor ihrer Entweichung hatte mahlen lassen. Alise holte die Mutter herbei. Bittend und weinend bat sie ihn, er möchte sich auf sein Zimmer begeben. Er schien sie nicht zu hören. Sie faßte ihn bei der glühenden Hand, er zog sie zurük. Alise vereinigte ihre Bitten mit den 174 ihrigen. Hier lag sie, antwortete er endlich, hier will ich sterben.

Man schikte nach einem Arzte. Er fand die Krankheit bedenklich, und seine Miene sagte noch mehr, als seine Worte. In der That wuchs das Fieber mit jeder Stunde, und schon am dritten Tage fieng er an, irre zu reden. Paulinens Namen schwebte beständig auf seinen Lippen; er strekte seine Arme nach ihr aus, und ließ sie traurig niedersinken, als Alise vor das Bette trat. Du bist nicht Pauline, sprach er, hier ist sie. Jezt nahm er ihr Bildniß und drükte es an seinen Mund. Clothilde ließ sich selten sehen; denn so oft er sie erblikte, forderte er bald in einem ernsten, bald in einem kläglich flehenden Tone Paulinen von ihren Händen. Die unglükliche Mutter weinte und schwieg; was hätte sie antworten können?

In den folgenden Tagen führte ihn seine schwärmende Phantasie in das Kloster, wo Pauline ihn verpflegt hatte. Er reichte ihr bald seine Stirne, bald seinen Arm zum Verbinden dar, und dankte ihr in den zärtlichsten Ausdrücken für ihre liebreiche Sorgfalt. O, wenn meine gute Mutter Dich sähe, sagte er einst, sie würde selber gestehen, daß nichts in der Welt, als die Hand, bei der Du mich vom Rande des Grabes zurükzogst, Dich belohnen kann. Clothilde und Godard, der eben gekommen war, um dem Kranken seinen geistlichen Beistand 175 anzubieten, wohnten dieser Scene bei. Die trostlose Mutter sank ohnmächtig in einen Armstuhl. Alise und der gute Priester bemühten sich lange vergeblich, ihre Lebensgeister zurükzurufen. Endlich kam sie wieder zu sich selbst, und der mitleidige Alte rieth ihr, sich von diesem Schauplatze des Jammers zu entfernen. Sie bat ihn, sie auf ihr Zimmer zu begleiten, und winkte Alisen bei dem Kranken zu bleiben. Kaum sah sie sich mit dem Geistlichen allein, so rang sie die Hände: Ach, mein Freund! rief sie weinend, mein Sohn stirbt, und ich bin seine Mörderin. Ich habe das edle, liebenswürdige Kind, an dem seine Seele hieng, aus meinem Hause vertrieben. Es hat meiner Ruhe seine Liebe, vielleicht sein Leben aufgeopfert. Ich hielt den Engel für unwürdig, meine Tochter zu werden, und ach! ich machte mich unwürdig, seine Mutter zu seyn.

Fasset Euch, edle Frau, sprach der gerührte Priester, es ist noch nicht alles verlohren. Alles, Alles ist mit Paulinen verlohren, unterbrach sie ihn; o! wüßte ich sie zu finden, wie würde ich meine mütterlichen Arme nach ihr ausstrecken, und ich weiß es, meine Thränen würden sie bewegen, das Vergangene zu vergessen. Bedenket wohl, was ihr redet, edle Frau, wenn in diesem Augenblicke Pauline vor Euch stände, würdet Ihr wohl eben so sprechen, und wenn die Furcht, Euern Sohn zu verlieren, Euch jetzt diesen Entschluß abnöthigte, würdet ihr ihn nie 176 bereuen? Nie, nie, das schwöre ich bei dem heiligen Gott. Wohlan, versezte Godard, er hat Euer Gelübde gehört, und morgen um die Stunde wird Pauline, die Ihr mit Recht einen Engel hießet, an Euerm mütterlichen Busen liegen.

Täuscht Ihr mich? Vater, sagte Clothilde, und Staunen und Entzücken blizten aus ihren Augen. Ich täusche Euch nicht, edle Frau; am Morgen, da Pauline Eure Burg verließ, flüchtete sie in meine Wohnung. Es war noch dunkel; sie hatte nichts mit sich, als ein Päkchen Wäsche und die Zeugnisse ihres Vormunds und ihrer geistlichen Mutter. Mit der Freimüthigkeit der Unschuld öfnete sie mir ihr Herz und erzählte mir die Unterredung, die ihre Flucht veranlaßte. Rettet mich, sagte sie, vor mir selbst und vor dem Undanke gegen die Mutter meines Geliebten, die bisher meine huldreiche Wohlthäterin war. Zween Tage verbarg ich sie in meinem Hause; sie theilte das Bette meiner Nichte und in Baurenkleider gehüllt, folgte sie mir verschleiert nach Dijon in das Clarissenkloster, dessen Vorsteherin mir nahe verwandt ist. Da sie keinen Einstand bezahlen konnte, so wollte sie blos als Laienschwester dienen, und wurde mit Freuden aufgenommen. Ich empfahl meiner Baase das Mädchen, wie man der Tugend die Tugend empfiehlt, und beschwor sie hauptsächlich, es vor den Augen Eures Sohnes zu verbergen. Wirklich führten seine Nachforschungen ihn auch in dieses 177 Kloster; allein sein Fragen und Bitten war vergebens, so sehr auch seine bange, traurige Miene das Mitleiden der Priorin erregte.

Clothilde fiel dem guten Alten um den Hals: Ihr seyd mir ein Bote des Lebens! Bertram mußte ohnverzüglich einen leichten Wagen mit den schnellsten Pferden bespannen, und in einer Stunde waren sie schon auf der Straße. Dieser treue Diener liebte Paulinen beinahe so sehr als seinen Herrn, und wußte, wie sehr sein Herr sie liebte. Die gewisse Hofnung, daß sie mehr als alle Aerzte zu seiner Erhaltung beitragen würde, gab ihm seine Jugendkraft wieder, und machte ihn zum erstenmal unbarmherzig gegen seine Rosse.

Bei seiner Ankunft im Kloster ließ Godard vor allen Dingen die Priorin rufen, um bei Paulinen dem allzugewaltsamen Eindruk einer Ueberraschung vorzubeugen. Die Vorsteherin konnte die Aufführung der jungen Laienschwester nicht genug loben, und schloß mit den Worten: erst heute haben wir in einem Kapitel einmüthig beschlossen, das gute, liebe Mädchen ohne Ausstattung als Religiosin unter uns aufzunehmen. Das freuet mich, sagte der Pfarrer, doch zweifle ich, ob dieser Schluß in Vollziehung kommen werde. Nun erzählte er ihr die Absicht seiner Reise, und bat sie, Paulinen von seiner Ankunft zu unterrichten, ohne ihr etwas anders 178 zu sagen, als daß er ihr ein Briefchen von der Frau von Vassy zu übergeben habe.

Mit der größten Bestürzung vernahm Pauline die Ankunft ihres Beschützers. Er hatte ihr angelobt, den Ort ihres Aufenthalts keinem Menschen, am wenigsten der Familie von Vassy zu offenbaren. Eine leichte Wolke von Unwillen verfinsterte ihren Blik, als sie in die Sprachstube trat. Wie war es möglich, mein Vater, daß Ihr mein Geheimniß verrathen konntet? Hier ist meine Rechtfertigung, erwiederte er, indem er ihr Clothildens Briefchen übergab. Es enthielt folgendes: »Komm, theure Pauline, Du meine zu lange verkannte und zu lange vermißte Tochter, komm in meine Arme zurük. Säume Dich nicht, einer Trostlosen die Ruhe und einem Sterbenden das Leben wieder zu geben. Säume Dich nicht, denn dieser Sterbende ist Dein Bräutigam, und diese Trostlose ist seine und Deine Mutter.« Clothilde von Vassy. Jedes Wort dieser Zuschrift erregte ein überraschendes, gewaltsames Gefühl in Paulinens Busen. Die Sprache, selbst der Odem, versagte ihr; ihre Kniee bebten, kaum behielt sie die Kraft auf einen Stuhl hinzuwanken, in welchem sie wie in einem Todesschlummer lag. Godard zog die Glocke. Die Priorin, welche ihn in seiner Unterredung nicht hatte stören wollen, eilte herbei und entriß sie ihrer Ohnmacht. Eine Thränenfluth 179 erleichterte ihr beklemmtes Herz. Der Brief war ihr entfallen; sie hob ihn von der Erde auf, und wollte ihn noch einmal lesen. Ich hoffe nicht, meine Tochter, sprach Godard, daß Ihr ihn wieder lesen müsset, um Euch zu entschliessen. Pauline stekte das Papier in ihren Busen: ich bin entschlossen mein Vater, laßt uns abreisen.

Alise hatte dem Pfarrer eines von ihren zurükgelassenen Kleidern mitgegeben. Indem ers ihr zustellte, schien er einige Augenblicke nachzusinnen. Plözlich rief er, wie aus einer Entzückung erwachend: O! vergesset ja nicht, meine Tochter, euer Klostergewand mitzunehmen, es kann uns große Dienste leisten; unter Weges will ich Euch dieses Räthsel erklären. Pauline lächelte; sie errieth seine Gedanken. Ihre Reiseanstalten waren bald gemacht. Alles trauerte bei ihrem Abschiede. Tief gerührt umarmte sie die Priorin und ihre gutherzigen Gespielinnen, und bestieg mit ihrem Mentor den flüchtigen Wagen.

Lange saß sie sprachlos an seiner Seite. Ihre Seele schien in einem schweren Traume zu liegen. Von Furcht und Hofnung umhergetrieben, öfnete sie mehr als einmal den Mund zu einer Frage, und schloß ihn wieder ohne sie zu wagen. Die Worte: säume Dich nicht, einem Sterbenden das Leben wieder zu geben, schwebten ihr immer in dicken schwarzen Zügen vor den Augen. Der beflügelte Wagen lief ihr zu langsam, und dennoch erbebte sie, wenn sie den 180 Blik auf die Straße heftete, die sie zum Ziel ihrer Reise führte. Godard las in ihrer Seele; er wollte sie nicht in ihrem Kampfe stören, und war selbst in tiefe Betrachtungen versunken. Endlich sagte sie mit leiser Stimme: also ist Reginald krank? Ja, meine Tochter, sehr krank. Die Farbe des Todes bleichte ihre Wangen. Untröstlich über Euern Verlust, so fuhr der Geistliche fort, hat er Euch lange überall gesucht, und als er Euch nicht fand, wollte er als Rhodiser-Ritter den Tod im Kriege suchen. Allein die Vorsehung warf ihn auf das Krankenbette; vielleicht um ein Opfer zu hindern, das nicht so rein als das Eurige war, oder doch gewiß um seiner Mutter vollends die Augen zu öfnen. Ich sage Euch nichts von ihr, der Brief sagt Euch Alles, und mir sagt mein Herz, daß Reginald leben und für Euch leben wird. Ein Strahl von Freude erheiterte Paulinens Stirne, indeß ihr Auge sich mit Thränen füllte. Ach, guter Vater, sagte sie mit einem tiefen Seufzer, wenn er nur lebt! wenn er auch nicht für mich leben kann, so werde ich dennoch mit leichtem Herzen in das Kloster zurükkehren, das mich vor ihm und vor mir selbst verbarg.

Jezt nahten sie sich der Burg. Der Flor der Nacht hatte ihre Zinne in ein feierliches Dunkel gehüllt; aber von den Rebhügeln duftete ein süßer Wohlgeruch entgegen. Ueberall herrschte eine melancholische Stille; nur schallten aus den Laubgewölben 181 des Parks Philomelens schmachtende Elegien. Pauline schauderte, als die knarrenden Flügel des Burgthores auffuhren. Kaum konnte sie sich von ihrem Siz erheben, und sank wie eine welkende Lilie an Alisens Busen. Er lebt noch, flüsterte diese ihr zu, und führte sie mit Hülfe ihres Begleiters halbschwebend in Clothildens Arme. Schluchzend sagte diese zum bebenden Mädchen: küsse mich, mein Kind, küsse Deine Mutter. Man brachte sie in eben das Zimmer, in welchem die furchtbaren Zeugen ihrer lezten Unterredung mit Clothilden hiengen. Pauline schlug die Augen nieder. Wende Dein Gesicht nicht von ihnen ab, sagte die Mutter, die es bemerkte, auch sie haben Dich an Kindesstatt angenommen.

Godard nahm jezt das Wort: Ich habe einen Einfall, von dem ich mir die glüklichste Wirkung verspreche. Vermuthlich ist der Kranke noch immer mit seiner lieben Begine beschäftigt? . . . . Ja wohl, unterbrach ihn Alise, noch immer glaubt er sich unter ihren Händen im Kloster zu Lüneville. Sie ist es, die bei ihm wachet, nur aus ihrer Hand nimmt er die Arzneien, und wenn er in seiner Wärterin mich erkennet, so weist er mich von sich, und ruft seiner Pauline. Erwünscht! rief Godard, wir haben also nichts von einer Ueberraschung zu befürchten. Da er sie immer vor sich sieht, so wird sie blos ihre Erscheinungen bei ihm fortsetzen, und 182 um die Täuschung durch nichts zu stören, habe ich ihre Nonnenkleider mitgebracht, die an Form und Farbe der Tracht der Beginen gleichen. Ein Engel hat Euch diesen Gedanken eingegeben, sprach Alise mit frohem Händeklatschen; komm, Schwester, ich will Dich umkleiden helfen. Wir müssen keinen Augenblik verlieren.

Jezt zog sie Paulinen mit sich fort, und in wenig Minuten brachten sie das holde Mädchen in der Gestalt einer grauen Nonne zurük. Leise traten sie von Clothilden und dem Pfarrer begleitet, in das Krankenzimmer: Pauline weinte, als sie hineintrat. Eine wogende Gruppe schwarzer Bilder stieg ihr vor die Seele; bald aber wurden sie von dem einzigen Bilde Reginalds verdrungen. Blaß und hager, wie das Fantom des Todes, saß er in seinem Bette; seine Blicke waren auf einen unsichtbaren Gegenstand geheftet; seine Lippen bewegten sich; er schien leise mit einer vor ihm stehenden Person zu sprechen. Nach und nach wurden seine Töne vernehmlicher. Gutes Mädchen, sprach er, wie gerne wollte ich Deine Liebe belohnen! allein noch ist die Hand mir gebunden. Doch warte nur. Siehst Du jenes Hüttchen auf der blumigen Wiese? Dort wollen wir leben und sterben. Dort will ich unser Grab machen; Ein Grab soll uns vereinigen; Ein Grab, liebe Pauline, dort unter jener blühenden Linde. Es ruht sich dort besser, als in der schwarzen Gruft 183 meiner Ahnen: man würde Dir ja ohnehin ein Pläzchen unter ihnen versagen. Dann müßte ich von Dir getrennt seyn, und das will ich nicht, ewig nicht. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: nun ja, ich will Dir ja gehorchen: Deine Hand, liebes Kind, dann will ich mich auf ein Ohr legen.

Jezt gab der Pfarrer Paulinen ein Zeichen. Mit wankenden Schritten nahete sie sich dem Bette, und reichte dem Kranken ihre Hand. Er hielt sie fest und sah sie lächelnd an: eine dünne Röthe färbte sein Gesicht: Habe ich Dich, rief er frohlockend, nun darfst Du mir nicht mehr fort. Pauline schluchzte. Wie, du weinst? armes Mädchen, nicht wahr, sie wollen uns trennen? sie wissen, daß ich Dich liebe. Nun trat Clothilde mit Alisen hervor: Niemand, niemand will Euch trennen, sagte diese, Pauline bleibt meine Schwester, und meine liebe Tochter, sprach Clothilde; ich selbst füge Eure Hände zusammen. Sieh hier den ehrwürdigen Godard, er ist Zeuge meines Gelübdes, und sobald Du gesund bist, soll er Euch einsegnen. Reginald schwieg; er starrte sie alle wechselsweise an. Endlich fragte er Paulinen halbleise: Ist das wirklich meine Mutter? Ja sie ist es, erwiederte das Mädchen, es ist unsre Mutter. Unsre? versezte er: nun wenn das ist, liebe Mutter, so laßt mich Euch auf den Knieen danken. Er wollte sich zum Bette herausstürzen: Clothilde und Godard hielten ihn auf. 184 Herr Ritter, sprach dieser, Euere Frau Mutter will Euch borgen, bis Ihr gesund seyd. Ihr sagtet, Ihr wolltet Euch auf ein Ohr legen: thut das, so seyd Ihr bis morgen gesund. Und ich verspreche Euch, sagte Pauline, daß ich Euch die ganze Nacht keinen Augenblik verlassen will, hier habt Ihr meine Hand darauf. Wohlan, meine Pauline, ich will dir folgen. Ohne ihre Hand loszulassen, legte er sich ruhig nieder, und in einer Viertelstunde sank er in einen sanften Schlummer, den ersten, den er seit eilf Nächten geschmekt hatte.

Godard leistete Paulinen Gesellschaft; auch Alise wollte sie nicht verlassen. Der Schmerz und die Hofnung, die in Paulinens Busen klopften, und die lauschende Unruhe, womit sie ihren stillathmenden Geliebten betrachtete, gab ihr eine Art von heiligem Reize, der Alisen entzükte. In dieser entscheidenden Nacht drükte sie wohl zehnmal das holdselige Geschöpf an ihre Brust, und flüsterte ihr den süßen Schwesternamen zu. Pauline beantwortetet ihn mit einer stillen Thräne, die den Glanz ihres Rosenantlizes erhöhete. Lächelnd beobachtete der gute Priester das feierliche Nachtstük, das eine sanft schimmernde Lampe beleuchtete, und sein Herz sagte ihm: das ist dein Werk!

Reginalds Schlaf war sanft und erquickend; die Natur bediente sich dieser Ruhe, um eine wohlthätige Krise zu bewürken. Ueber sechs Stunden lag 185 er ohne sich zu rühren, nur lallte er bisweilen mit leiser Stimme den Namen Pauline. Dann erheiterte sich seine Stirne uns verrieth die lieblichen Bilder, die ihr vorschwebten.

Beim Anbruche des Tages sagte Godard zu seinen Gefährtinnen: Reginald, der sich bisher immer in den Klostermauern zu Lüneville glaubte, ist mit der Idee eingeschlummert, daß er sich im Schoose seiner Familie befinde. Er hat seine Schwester und selbst seine Mutter erkannt, als sie die Hand seiner Geliebten in die seinige legte. Diese süße Vorstellung hat seiner Phantasie einen neuen Schauplaz eröfnet. Wir müssen alles anwenden, um sie darin zurük zu halten. Paulinens Verkleidung würde ihn irre führen; wir brauchen sie nicht mehr; er muß sie nun nicht als Begine, sondern als seine Braut wieder finden. Geht, meine Tochter, kleidet Euch um, wählet den Anzug, darin Ihr ihm am besten gefielet; den Augen der Liebe wird er nicht entgangen seyn. O, den kenne ich! sagte Alise, indem sie dem Pfarrer freudig die Hand schüttelte; es ist das himmelblaue Hauskleid, in welchem er sie mahlen ließ. Hier ist der Schlüssel zu Deinem Schranke; hurtig, ehe mein Bruder erwacht.

Leicht, wie eine Sylphide, schwebte Pauline in ein Nebenzimmer, und in einer Viertelstunde kam sie schöner als nie, an Clothildens Arme zurük. Das lazurne Gewand floß wie eine Aetherwolke von 186 ihren schlanken Hüften und eine junge Rose wetteiferte in ihren blonden Haaren mit dem jungfräulichen Incarnat ihrer Wangen.

Clothilde hatte die ganze Nacht in banger Erwartung durchweint. Die erste Bewegung, die sie hörte, trieb sie aus dem Bette; es war Pauline, die mit ihrer Verwandlung beschäftigt war. Aengstlich eilte sie zu ihr: Gott! was macht er? rief sie, indem sie in das Zimmer stürzte. Gut, sehr gut, antwortete Pauline, und flog in ihre Arme. Der neue Plan des vorsichtigen Alten entzükte sie; liebreich half sie Pauline ihre Umkleidung vollenden. Nun, nun, sagte Godard, indem er die himmlische Gestalt anlächelte, unser Patient ist in guten Händen; ich stehe für seine Cur.

Pauline mußte sich zum Haupte des Bettes sezen, so daß Reginald, der sein Gesicht im Schlafe der Wand zugedreht hatte, sie nicht leicht bemerken konnte. Alise und Godard saßen zu seinen Füssen. Clothilde sollte sich noch verborgen halten. Zu viel Gegenstände auf einmal, sagte der Priester, müssen eine zerrüttete Einbildungskraft nur noch mehr verwirren. Ein tief geholter Seufzer des Kranken kündigte sein Erwachen an. Alle Herzen klopften; Pauline bebte auf ihrem Stuhle. Ohne sich umzudrehen, schlug Reginald die Augen auf; er schien sich zu besinnen. Gott! ächzte er endlich, warum bin ich erwacht? Alles schwieg. 187 Godards Mienen drükten seine innige Freude über die zurükkehrende Vernunft des Patienten aus.

Reg. nach einem kurzen Stillschweigen. Sie ist verschwunden, auf immer verschwunden.

Al. Wer ist verschwunden? lieber Bruder.

Reg. Ach sie! Gott! warum bin ich erwacht?

Al. Paulinen meynst Du? sie ist nicht verschwunden; hier steht sie ja an Deiner Seite.

Reginald sah sich um. Fieberische Funken sprüheten wieder aus seinen weit aufgeschlagenen Augen. Hier bin ich, mein Reginald, sagte Pauline mit der Stimme eines Engels, indem sie ihre bethränte Wange an sein Gesicht schmiegte.

Reg. Ah, sie ists! Träume ich noch?

Al. Nein, mein Bruder, Du träumest nicht, es ist Deine Pauline, Deine Braut. Hier, dieser gute Mann (auf Godard weisend) hat sie Dir zugeführt.

Godard. (indem er Clothilden an das Bett hinzog) Und hier diese gute Frau, die beste unter den Müttern, hat sie berufen.

Cloth. Ja, mein Sohn, Pauline ist Dein, auf ewig Dein.

Reginald suchte sich aufzurichten; seine Geliebte unterstüzte ihn. An ihren Busen gelehnt, empfieng er in süßer Betäubung die Umarmungen der wonnetrunknen Gruppe.

Godard. Genug für einmal, die Freude soll ihn heilen, nicht tödten.

Jezt trat der Arzt herein. Lange stand er von ferne und heftete seinen Blik auf die feierliche Scene. Niemand bemerkte ihn, endlich trat er an das Bette. Er erstaunte über die glükliche Veränderung, die er in dem Zustande des Kranken wahrnahm. Lasset ihm Zeit, sich zu erholen, sagte Godard, und Ihr werdet Euch noch mehr verwundern. Wirklich fand er ihn nach einigen Minuten fast ohne Fieber, und erklärte ihn ausser aller Gefahr. Godard triumphirte: eine neue AgnodiceEine junge Athenerin, die mit dem größten Ruhme die Arzneikunst ausübte. hat Euch ins 188 Handwerk gegriffen: sie könnte wohl ohne Euch die Cur vollenden. Doch wir wollen Euch den Antheil an der Ehre nicht rauben. Hierauf nahm er ihn beiseite und unterrichtete ihn von allem, was er zu wissen nöthig hatte. Der Arzt theilte die Freude der Familie, und verordnete dem Kranken, statt aller Recepte, die Ruhe und die Gesellschaft seiner schönen Wärterin.

Reginald glaubte noch immer zu träumen, und es vergiengen mehrere Tage, ehe er sich ganz von seinem Glücke überzeugen konnte. Oft lag er auf seinen Arm gestüzt in einer stummen Entzükung, und heftete sein neubelebtes Auge auf Paulinen, die an seinem Bette saß. Plözlich ergriff er sie dann bei der Hand, um seine Sinne auf die Probe zu setzen und sich zu überzeugen, daß kein täuschender Zauber seine Einbildungskraft berükte. Alise übernahm es, ihm zu erzählen, wie Paulinens Aufenthalt entdekt wurde. Rührend und grenzenlos war seine Dankbarkeit gegen die Werkzeuge seines Glückes. Der gute Priester wurde der erste unter seinen Freunden, und Clothilde fand in seinem und in Paulinens Herzen den vollen Lohn ihrer edlen Selbstüberwindung. Jeder zärtliche Blik des liebenden Paares strömte ein neues Wonnegefühl in ihre Seele, und öfnete ihr die Aussicht in eine paradiesische Zukunft.

Nach drei süßverträumten Wochen weihte Godard in der Burgkapelle das Band, das die Liebe geknüpft hatte, und das die Tugend mit allen ihren Seeligkeiten krönte.

Pauline blieb als Freifrau, was sie als Begine war, und Reginald blieb ihr Liebhaber. Durch ihre Sanftmuth und Bescheidenheit entwafnete sie den Neid und den Stolz des benachbarten Adels und durch ihre Wohlthätigkeit wurde sie ihren Unterthanen, was Clothilde ihnen war, eine angebetete Mutter. Ihr graues Nonnenkleid behielt sie sorgfältig auf: sie zog es jährlich einmal am Gedächnißfest ihrer Vermählung an, und es wurde noch von ihren späten Enkeln als ein Familienheiligthum aufbewahret.

 


 


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