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Charite hatte ihren fünfzehnten Frühling erreicht, ohne ihr Herz zu fühlen. Ihr Blumenbeet und ihre Vogelhecke waren ihre einzige Freude; und indeß Lykas und Choris im verschwiegenen Busche sich küßten, und Daphnis der geschwätzigen Echo seine Liebe zur jungen Maja vertraute, schlich Charite einer Grasmücke nach, um ihr Nest zu entdecken, und es auszunehmen. Eines Tages hatte sie eine Nachtigall verfolgt, und nach langem Suchen endlich ihr kleines Wochenbett in einem dunkeln Buchenhag ausgespürt. Sie trat hinzu; sie fand die junge Brut schon mit Federn bedeckt. Sie hüpfte vor Freuden, und wies in Gedanken ihre Beute schon ihrer Mutter und ihren Gespielinnen; weil es aber schon spät war, so besann sie sich, und dachte, es wird besser seyn, wenn ich den Morgen erwarte, um meinen Schatz zu heben. Diese Nacht mögen die lieben Kleinen noch unter den Flügeln ihrer Mutter zubringen.
Charite kehrte in ihre Hütte zurück; allein sie konnte nicht schlafen. Immer dachte sie an ihre Vögel. Ich hatte doch Unrecht, sagte sie, daß ich das Nest nicht gleich mitnahm; kann nicht ein vorwitziger Schäfer es nach mir ausgespäht und 189 fortgetragen haben? Kann er mir nicht morgen noch zuvorkommen? O, das wäre traurig! Noch nie habe ich so schöne Nachtigallen gesehen; zudem sind sie schon flick, wer weiß, ob sie nicht beim ersten Morgen mit ihrer Mutter ausfliegen. Dieser Gedanke ließ ihr keine Ruhe. Kaum grauete der Tag, so sprang sie aus dem Bette; sie warf ein dünnes Gewand um, und schürzte ihre Haare, blond, wie der Aehrenkranz der Ceres, in einen wallenden Knoten. Jetzt verläßt sie ihre Hütte, frischer und glänzender, als die bethauten Wiesenblumen, über die ihre beflügelte Sohle hinwegschlüpfte. Schon erreicht sie den Busch, der das Nest verbirgt. Mit klopfendem Herzen tritt sie hinzu: ach, sagte sie leise, wenn sie geraubt oder ausgeflogen wären! Ein leises Gezisch ertönt aus der dämmerichten Hecke. Ah, sie sind noch hier, lispelt sie wonnezitternd; kommt, kommt, ihr lieben Kleinen, nun will ich eure Mutter seyn. Bei diesen Worten löst sie das Nest von den Zweigen, die es trugen, und hüllt es in ihr Gewand, das sie mit beiden Händen zusammenhält, und leicht, wie ein Zephir eilt sie damit ihrer Hütte zu. Bei der Schnelligkeit ihres Laufes verschiebt sich ihr Kleid, und öffnet den kleinen Gefangenen ihren Kerker; sie arbeiten sich zwischen den lockern Falten hervor, und zwingen Chariten, stille zu stehen. Schon flattert 190 einer über ihren Kopf weg, der andere setzt sich auf ihre Schulter, ein dritter taumelt zur Erde. Charite weiß sich nicht zu helfen, sie möchte sie alle auf einmal fangen. Bald aber verliert sie die Hoffnung, und will wenigstens nur Einen retten; sie läßt ihr Gewand fahren, und nun entschlüpfen auch die beiden übrigen dem Neste. Sie hascht rechts und links, bald nach diesem, bald nach jenem, und endlich gelingt es ihr, zween von den kleinen Flüchtlingen zu ertappen.
Nun will sie ihren Weg fortsetzen; ein ängstliches Gewinsel hält sie zurück. Sie horcht der Stimme des Jammers entgegen, und verfolgt mit beklemmter Brust ihre Fährte. Jetzt erblickt sie hinter einem Zaune die arme Cleone, auf einen Stab gestützt. – Sie zählte kaum vierzig Sommer; aber ein unglücklicher Fall auf dem Eise hatte ihren Fuß gelähmt. – Sie besaß nur eine einzige Ziege, von deren Milch sie sich nährte; sie weidete neben ihr, am Klee bewachsenen Rain, als ein fremder Hund sie verscheuchte, und bis in den nahen Wald verfolgte. Die gute Wittwe weinte, sie fürchtete die Ernährerinn ihres Alters zu verlieren. Wie unglücklich bin ich! sagte sie zu Chariten; die sich ihr näherte. Ich hatte sieben Schaafe und zwo Ziegen; die Seuche, die voriges Jahr unter den Heerden 191 wüthete, hat mir alle wegrafft, bis auf eine einzige Ziege. Sie tröstete mich, denn sie gab mir täglich das Wenige, was ich brauche; sie war meine treue Gefährtinn; des Tages wich sie nicht von meiner Seite, des Nachts folgte sie mir in meine Hütte; sie legte sich neben mich, wenn ich am nächtlichen Feuer spann, und auf meinem Lager wärmte sie mich mit ihrem Odem. Wie wird es mir ergehen! wo soll ich nun meinen Unterhalt hernehmen? denn meine Ziege wird sich im Walde verlaufen, und den Wölfen zur Beute werden.
Die Schluchzer erstickten ihre Worte. Aber Charite faßte sie bei der Hand und sagte: Sey ruhig, gute Mutter, ich will deiner Ziege nacheilen; du weißt, sie kennet mich, ich werde sie dir gewiß zurückbringen. Sie sprach es, und ließ ihre beiden Nachtigallen fliegen, und ohne die Antwort des frohstaunenden Weibes zu erwarten, sprang sie, wie ein junges Reh ins Gehölz, und suchte die Ziege mit eben der gierigen Emsigkeit, womit sie vor einer Stunde ihrem Nest nachspürte; sie durchstreifte das Dickicht, und achtete nicht der Dornen, die ihre Beine und ihre zarten Arme ritzten. Jetzt erblickte sie die Ziege, die am Rande einer Quelle grasete. Sie lockte sie an sich, und streichelte sie, und ließ sich von ihr die glühende Wange lecken, dann löste 192 sie ihren Gürtel ab, knüpfte das eine Ende dem folgsamen Thier um den Hals, und leitete es am andern zum Walde heraus. Frohlockend und hüpfend brachte sie es der guten Cleone zurück, die das holde Mädchen in ihre Arme schloß, und Thränen der Dankes an seinem Halse weinte. Ach! sagte sie, nun bin ich Schuld daran, daß du deine Vögel verloren hast. Ein leiser Seufzer hob Charitens Gewand; aber sie erstickte den Seufzer, und dachte an die Freude der Wittwe und kehrte mit frohem Herzen in ihre Hütte zurück.
Die Zeit der Kirschen war vorbei, und die purpurne Pflaume fieng an, sich zu färben, als Ariston, der schönste und reichste Hirt des Gaues, mit seiner Heerde von einer fremden Flur zurückkam. Er hatte sie voriges Jahr in eine ferne Gegend getrieben, um sie vor der Seuche zu retten, und Pan, der Beschützer der Heerden, hatte sie gerettet. Sechzig Schafe und Ziegen hüpften vor ihm her, ohne die Lämmer zu rechnen, die noch an ihren Müttern sogen. Alles lief zusammen, ihn zu bewillkommen; denn Ariston war gut und ein Freund der Götter. Des folgenden Tages opferte er ihnen drei Lämmer, weiß wie die Wolken des Himmels, und drei zierlich geschnitzte Schaalen mit Sahne. Die Hirten und Hirtinnen folgten ihm zum Altar, und 193 stimmten in seine Hymnen. Dann trat Ariston in den Kreis, und sprach: in acht Tagen will ich den jungen Hirtinnen ein Fest geben, frohe Tänze und muntere Wettgesänge sollen dabei abwechseln, und das schönste Schaf meiner Heerde soll der Preis der besten Sängerinn seyn.
Nun übten die Mädchen sich die ganze Woche hindurch im Singen, und jede hoffte den Preis zu gewinnen. Charite, jünger als ihre Gespielinnen, und im Singen wenig erfahren, übte sich nicht. Was soll ich, sagte sie zu ihrer Mutter, mit Meisterinnen streiten, und statt des Preises nur Schaam ärndten? Sie fuhr fort, ihrer Blumen zu warten, Vogelnester zu suchen, und ein Paar Turteltäubchen, die ihr Nachbar, der alte Philemon, ihr geschenkt hatte, aus ihrem Munde zu ätzen. Ariston war ihr unbekannt; denn bei seinem Opfer war sie nicht zugegen; indeß ihre Mutter ihm beiwohnte, hütete sie die Ziege des kleinen Bruders. Dennoch freuete sie sich auf das Fest; sie wollte es als Zuschauerinn besuchen, und die Freude der Siegerinn theilen.
Als der Tag erschien, schmückte sie sich mit ihrem Feyerkleid; ein Röschen blühete in ihren Haaren, und ein Gewinde von Levkoien umgürtete ihre schlanken Lenden. Später, als ihre Gespielinnen, 194 langte sie bei der großen Linde an, in deren Schatten die Jünglinge und Mädchen ihre Ringeltänze zu halten pflegten, denn sie hatte unterwegs einen jungen Sperling erblickt, der seine Flügel zum erstenmal zu versuchen schien. Er flatterte in den niedrigen Büschen umher, bis sie ihn endlich erhaschte, und in ihren Busen verbarg. Schon waren die Sängerinnen, jede von ihrem Hirten geführt, vor die hohe Rasenbank getreten, die sonst den Flötenspielern zum Sitze, und nun dem Ariston zum Richterstuhle diente. Er grüßte sie mit freundlicher Miene, indeß die neugierige Menge einen Kreis, gleich dem wachsenden Monde, hinter ihnen schloß. Zuerst feierten die jungen Hirten in einem Chore, von Flöten und Schalmeien begleitet, die Rückkunft Aristons, und jeder überreichte ihm einen Strauß von Immerschön, zum Zeichen unverwelklicher Freundschaft.
Nun hob der Wettgesang an. Phyllis besang die Liebe und ihre Seligkeiten; Chloe den Frühling; Galathee die ländlichen Freuden; Iris den Wasserfall am blumigten Hügel; Phöbe die Majestät einer stillen Mondnacht. Alle sangen lieblich und harmonisch, wie Philomele, und Ariston, der eine Rosenkrone in der Hand hielt, wußte nicht, welcher er sie aufsetzen sollte. Jetzt erblickt er die junge Charite im Kreise der Zuschauer, und sein Auge bleibt auf 195 sie geheftet: wie schön ist sie, dachte er, welch ein Leben strahlt aus jedem ihrer Züge! Und diese offene, heitere Stirne . . . . Nie hatte die Unschuld einen schönern Thron! O, schade, schade, daß das himmlische Mädchen nicht mit um den Preis rang! Charite langte gerade jetzt ihren Sperling aus dem Busen hervor, weil er ihr zu warm gab. Es war der schalkhafte Amor, der diese Gestalt annahm, um das arglose Mädchen zu überraschen. Einen seiner Pfeile hatte er ihr und einen dem Ariston ins Auge gelegt und nun begegneten sich ihre Blicke, eben da Charite den kleinen Gefangenen küßte, der mit zuckenden Fittigen und lautem Gezisch in seinen schönen Kerker zurückkehren wollte. Ein Feuerstrom ergoß sich über ihre Wangen und ihr Auge senkte sich nieder auf ihren Blumengürtel, als Ariston ihr die freundlichen Worte zurief: Wie kömmt es, holdes Mädchen, dem Cythere noch mehr, als ihren Vogel, borgte, daß du nicht auch im Kreise der Sängerinnen stehest? Mit leiser, schüchterner Stimme antwortete Charite: ich kann nicht singen. Gern hätte sie mehr gesagt, aber die Glut, die ihre Wangen deckte, blitzte nun durch alle ihre Adern, und ein süßes Leben ergriff ihre Nerven. Alle Blicke waren auf sie geheftet, als Cleone sich aus dem Gemenge hervordrängte. Ist es mir vergönnt, sagte sie zu 196 Ariston, mit den Kindern des Frühlings zu wetteifern, mir, deren Locken der herbstliche Reif zu bleichen beginnet? Alles schwieg, die Sängerinnen sahen sich lächelnd an, und erwarteten unbesorgt den Ausspruch des Hirten. Warum nicht? antwortete Ariston. Wehe dem, der die Herbstblume verschmäht, oder in der welkenden Rose die Tochter Florens verkennet! Nun trat Cleone, auf ihren Stab gelehnt, vor den Rasenthron; der Hauch des Phöbus schien sie zu begeistern; ihr Angesicht blühete, wie es an ihrem Brautfeste blühete, und eine unsichtbare Hand wischte von ihren Wangen die Furchen des Grams. Einst die lieblichste Sängerinn der Flur, sang sie noch jetzt, zwar nicht so hochtönend, aber eben so melodisch, eben so rührend, wie sie an der Wiege ihres Erstgebornen sang. Ihr Lied feierte die Herzensgüte eines Kindes, das seine Lieblinge, ein Paar junge Nachtigallen, davon fliegen ließ, um die verirrte Ziege einer armen Hirtinn aufzusuchen. Alle Herzen schmolzen, und kaum schwieg Cleone, so entstand ein allgemeines, frohes Gemurmel, das ihr im Voraus den Preis zusprach. Selbst die Sängerinnen drängten sich um sie her, und sagten, indem sie ihr liebevoll die Hände drückten: der Sängerinn der Tugend gebühret die Krone.
197 Während des ganzen Gesanges hatte Charite gezittert, und als Cleonens malerische Töne die Freilassung der beiden Vögel schilderten, hatte sie hastig ihre Hand geöffnet, und den Sperling entfliegen lassen. Nun stieg Ariston herunter von seinem Throne, und wollte Cleonen den Kranz aufs Haupt setzen. Sie hielt seine Hand zurück. Höre mich, Ariston, rief sie, ihr Schäfer und Schäferinnen, höret mich: Nicht dem Lobe der Tugend, sondern der Tugend gehöret der Preis. Dann wandte sie sich um, und ergriff Chariten am Arme, und führte das blasse, bebende Mädchen dem Hirten zu: Dieses ist das fromme Kind, das seine liebste Freude einer Hülflosen aufopferte, und diese Hülflose war ich. Charite ist die Urheberinn meines Liedes; sie hat die Krone verdient. Sie nahm sie dem wonnestaunenden Ariston aus der Hand, und wollte sie Chariten aufsetzen, welche zurückwich, und ihre Lilienhände vors Gesicht hielt. Da nahm Ariston das Wort, und sprach: Ein Gott ist unsichtbar unter uns gegenwärtig; er sagt mir, was ich thun soll. Jede von euch, ihr holden Mädchen, verdient den Preis des Gesanges; jeder widme ich ein weißes Lamm aus den schönsten meiner Heerde. Charite schlägt den Siegeskranz aus; wohlan, himmlisches Mädchen, so nimm ihn als Brautkranz von mir an. 198 Schön erröthend, wie Hebe, als der Vater der Götter sie seinem Sohne zuführte, stand Charite vor dem entzückten Hirten. Jetzt warf sie sich Cleonen in die Arme und verbarg das Gesicht in ihren Busen. Du, ehrwürdige Cleone, so fuhr Ariston fort, du, die mir ihre innere Schönheit enthüllte, sey hinfort meine Mutter. Die Schäfer und Schäferinnen jauchzten dem Ariston Beifall zu, und begleiteten ihn und die süßbetäubte Charite in die Hütte ihrer Eltern. Thränen der Freude flossen auf das Herz ihres Kindes, und Thränen des Segens auf das Herz Aristons, und nach zehn Tagen ward unter der großen Linde ihr Brautfest gefeiert. 199