Gottlieb Conrad Pfeffel
Prosaische Versuche / 4. Theil
Gottlieb Conrad Pfeffel

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Charlotte.

Elise war die Wittwe eines jungen Landpredigers aus dem Hollsteinischen. Sie stammte aus einer von jenen Colonien, womit die französische Bekehrungssucht Deutschland bereicherte. Nach einer zweijährigen Ehe hinterließ ihr Gatte sie mit einem Säugling an der Brust in sehr kümmerlichen Umständen. Ihre Lage rührte das edle Herz seines Nachfolgers. Um sie zu erleichtern, behielt er sie im Hause, und bat sie, ihm seine kleine Wirthschaft zu führen. Elise war noch in ihrer ersten Blüthe; ein ausgebildeter Verstand und ein großes Herz erhöhten ihre äußern Annehmlichkeiten. Hellborn, so hieß der neue Pfarrer, lernte sie kaum näher kennen, so trat die reinste Hochachtung an die Stelle des Mitleidens. Sein edles Benehmen gegen sie erweckte in ihr gleiche Gefühle. Hellborn und Elise wurden Freunde: bald sagten ihnen ihre Herzen, daß sie sich noch mehr werden konnten: sie wurden ein Paar.

Die Pfarre war gering: sie gewährte ihnen blos ein kärgliches Auskommen. Die Geburt 2 einer Tochter vermehrte die Freuden und die Sorgen der Familie. Lange hatte Hellborn sich auf diesem dürftigen Posten durchgeschlagen, als ihm eine einträglichere Pfründe zu Theil wurde. Er genoß sie kurze Zeit: ein früher Tod entriß ihn seiner Gattin und seinen Kindern. Gustav, ihr hoffnungsvoller Sohn, ein Jüngling von achtzehn Jahren, hatte eben seine akademische Laufbahn in Kiel angetreten, als er seinen zweiten Vater verlohr. Lottchen, ihre Tochter, war vier Jahre jünger: ein trefliches Mädchen, dem aber die Blattern außer einem schönen Wuchse nichts als ein geistvolles Auge und eine angenehme Stimme von ihren ehmaligen Reizen übrig gelassen hatten. Ihre Spuren waren zwar noch vorhanden, allein man mußte sie aufsuchen, um sie zu finden.

Die französische Sprache war Elisens zweite Muttersprache, und sie brachte sie ihren Kindern so früh und so geschickt bei, daß sie auch ihre zweite Muttersprache wurde. Ihr Vater war ihr Lehrer in allen nützlichen Kenntnissen gewesen, die den Jüngling zu seinem gelehrten Berufe vorbereiten und das Mädchen zur angenehmen Gefährtin eines vernünftigen Mannes bilden konnten. So hatte Gustav mehr wahre Schätze mit sich auf die Universität gebracht, als man gewöhnlich von der Schule mitbringt, und Lottens 3 Verstand war in ihrem fünfzehnten Jahre schon so reif, ihr Charakter war schon so gediegen, daß sie nach dem Tode des Vaters ihrer Mutter seinen Verlust zwar nicht ersetzen, aber doch erträglicher machen konnte.

Alle ihre Ersparnisse wandte Elise an, ihren Sohn zu unterstützen und die Erziehung ihrer Tochter zu vollenden. Sie konnte ihren Kindern zu wenig hinterlassen, um ihnen ein unabhängiges Leben zu versichern; sie wollte sie daher in den Stand setzen, sich ohne Vermögen in der Welt fortzuhelfen. Charlotten hoffte sie einst in irgend einem angesehenen Hause wo nicht als Gouvernante, doch wenigstens als Gehülfin einer aufgeklärten Mutter anzubringen, bis etwa ihr Bruder eine Versorgung finden und sein Brod mit ihr theilen würde.

An sich selber dachte sie nie; ihre hinfällige Gesundheit versprach ihr kein langes Leben, und dieses wollte sie ganz ihren Kindern aufopfern. Sie war Meisterin in der Stickerei und in jeder andern Nadelarbeit. Da nun ihrer einsamen Stunden mehr waren, wandte sie einen Theil derselben dazu an, ihrer Tochter die bereits gefaßte Kunst, die ihr einst zur Empfehlung dienen konnte, bis zu einem hohen Grade von Vollkommenheit beizubringen.

4 Lottchen hatte schon als Kind große Lust zur Musik gezeigt, und vom Cantor des Dorfes, einem mehr als gemeinen Clavierspieler, Unterricht darin erhalten. In wenig Jahren übertraf sie ihren Meister, der sich nun vergnügte, ihren Geschmack durch die Mittheilung der besten Muster auszubilden. Auch dieses Talent des Mädchens suchte Elise immer mehr zu vervollkommnen und Lottchen theilte ihre Erholungsstunden zwischen ihrem Instrument und der Lesung der besten deutschen und französischen Schriften, wovon ihr Vater ihr einen kleinen, aber auserlesenen, Vorrath hinterlassen hatte.

So verlebte Charlotte in seliger Verborgenheit zwei Jahre an der Seite ihrer Mutter. Der Tod des treflichen Weibs zerstörte ihr Glück und machte sie zur hülflosen Waise. Dieser Schlag schmetterte sie zu Boden. Man mußte sie mit Gewalt von dem theuren Leichname wegreissen, und als die Erde ihn deckte, verweinte sie oft halbe Nächte auf dem Kirchhofe zwischen den Gräbern ihrer Eltern. Ihre Schwermuth rührte den ehrlichen Lambert, der ihr und ihrer Mutter seit dem Tode des Vaters eine Stube in seiner Wohnung eingeräumt hatte. Er hatte keine Kinder, und erbot sich mit seiner Gattin, sie so lange zu behalten, bis sie eine Versorgung finden würde. 5 Lotte fühlte den Werth dieses Anerbietens, sie dankte ihm mit Thränen, allein sie nahm es nicht an. Der Augenblick ist gekommen, sagte sie, da ich mein Brod in der Welt suchen soll. Meine Mutter hat mich darauf vorbereitet: ich will ihrem Plane folgen. Ich muß vor allen Dingen meinen Bruder fragen, ob er mir keine Unterkunft verschaffen kann. Sie schrieb an ihn; seine Antwort vereitelte ihre Hoffnung und schlug ihrem Herzen eine neue Wunde. Er war im Begriffe, Kiel zu verlassen, und mit einem dänischen Seefahrer, den er bei einer Reise nach Hamburg kennen gelernt hatte, als Schiffsschreiber nach Westindien unter Segel zu gehen.

Charlotte las den Brief ihres Bruders ihrem guten Wirthe, der ihr jetzt seinen ersten Antrag wiederholte; sie bestand aber auf dem Vorsatz, ihren Unterhalt in der Welt zu suchen. Lange berathschlagte sie sich mit ihrem einzigen Freunde. Endlich sagte dieser: es fällt mir ein Vorschlag ein, den ich Ihnen blos darum eröffne, weil ich nichts bessers für Sie weiß. Ich habe eine Schwester in Hamburg, eine unbescholtene Wittwe, die sich als Putzmacherin ein hübsches Auskommen erwirbt. Sie hat einige junge Mädchen als Gehülfinnen in ihrem Laden; wenn Sie mich durchaus verlassen wollen, so wird es mir ein 6 Leichtes seyn, Ihnen eine Stelle bei ihr zu verschaffen. Sie sind zu jeder Arbeit geschickt, die sie Ihnen auftragen wird, und ich denke, Sie sollen immer so viel gewinnen, als ihre Ausgaben erfordern.

Lotte besann sich keinen Augenblick, ihre Unerfahrenheit verbarg ihr die Bedenklichkeiten, die mit diesem Vorschlage verbunden waren; sie nahm ihn mit dankbarem Herzen an, und in acht Tagen erhielt Lambert eine günstige Antwort. Er wollte seine junge Freundin selber in ihre neue Laufbahn einführen. Lotte konnte den Augenblick ihrer Abreise kaum erwarten, und dennoch brach ihr das Herz bei dem Gedanken: daß sie die lieben Gräber ihrer Eltern verlassen sollte. Sie hätte ihr ganzes kleines Vermögen darum gegeben, wenn sie ihre Asche in einer gemeinschaftlichen Urne hätte mit sich nehmen können. Sie besuchte ihre Ruhestätte nun öfter, als jemals, und Lambert mußte sie von dem Kirchhofe holen, als der ungedultige Fuhrmann ihm anzeigte, daß er nicht mehr länger warten könne.

Frau Nilsen empfieng ihre neue Hausgenossin sehr wohl, und als diese ihr einige Stickereien zur Probe vorlegte, erstaunte sie über den Geschmack und die Vollendung der Arbeit. Keines meiner Mädchen kann es Ihr gleichthun; sey Sie 7 nur fein fleißig, meine Tochter, so soll Sie es gut bei mir haben. Um den Vorzug zu rechtfertigen, den sie ihr einräumen wollte, traf man die Abrede, sie für ihre Anverwandtin auszugeben, und Lotte wurde unter diesem Titel in der Arbeitsstube eingeführt. Vier junge Mädchen saßen darin, theils mit dem Nährahmen, theils mit dem Haubenstocke beschäftigt, und hefteten ihre vorwitzigen Blicke auf sie, als sie mit kunstlosem Anstande sie grüßte. Drei unter ihnen wandten ihre Augen gleich wieder auf ihre Arbeit; ihre Miene schien zu sagen: du wirst uns nicht verdunkeln. Die vierte, obgleich die schönste von allen, weilte mit ihren Blicken auf der neuen Gespielin. Charlottens Blicke begegneten den ihrigen, die eine stille Melancholie trübte. Die kann deine Freundin werden, sagte Lotte zu sich selbst, du wirst hier nicht ganz einsam seyn. Dieser trostvolle Gedanke mahlte sich in ihrem Auge, und flog auf den Schwingen der Sympathie in die Seele der trauernden Julie. Eine Thräne rollte über ihre blaßrothe Wange; sie schien darüber zu erschrecken und drehete ihr Gesicht hastig auf ihr Geschäfte.

Am folgenden Tage verreiste Lambert mit der Zufriedenheit, die ein gelungenes gutes Werk begleitet. Es fiel Charlotten schwer, sich von 8 ihrem Beschützer zu trennen; sie drückte ihm noch auf dem Wagen dankbar die Hand, und versprach ihm fleißig zu schreiben.

In wenig Tagen war sie mit ihrer neuen Lage vertraut. Ihre Arbeiten zeichneten sich vor allen andern durch Vollendung und Nettigkeit aus; sie erhielten überall den Vorzug, und Frau Nilsen ließ ihr angenommenes Bäschen den Vortheil mitgenießen, den sie von ihrer Geschicklichkeit zog. Sie erlaubte ihr, sich ein Clavier zu miethen, und räumte ihm eine Stelle in ihrer eigenen Stube ein. In ihren Feierstunden, und besonders des Sonntags übte sie sich in der Musik, und wenn ihre Gespielinnen, die alle außer dem Hause wohnten, sich auf den öffentlichen Spaziergängen oder bei ihren Bekannten belustigten, saß Charlotte entweder an ihrem Instrument, oder bei einem lehrreichen Buche.

Diese Absonderung ward ihr als ein Stolz ausgelegt, und setzte sie dem Spotte ihrer Mitarbeiterinnen aus, die keinen Sinn hatten für die reinern Ergötzungen des Geistes. Nur Julie trat nicht in ihren Bund, Charlotten zu kränken. Sie brachte ganze Stunden in ihrer Gesellschaft zu, und oft, wenn sie ein schmelzendes Andante spielte, oder eine melancholische Arie sang, zitterte eine Thräne in ihrem Auge, oder sie drückte 9 Charlotten mit stummer Wehmuth die Hand. Sie hieng sich immer mehr und mehr an das edle Geschöpf, und Charlottens liebendes Herz wurde durch ihr Betragen um so mehr gerührt, jemehr es gegen die Aufführung der drei andern Mädchen abstach. In wenig Wochen entstand zwischen ihr und Julien eine Verbindung, die noch nicht Freundschaft war, die aber doch bei Personen, welche das Schicksal vereinigt, die Stelle der Freundschaft vertritt; ihre Seelen bedürfen noch eines äußern Stoßes, wenn sie ganz zusammenschmelzen sollen.

Juliens Herz war sanft und gefühlig, aber ihr Geist war zu wenig angebaut, als daß Charlottens Geist in ihrem Umgange alle seine Bedürfnisse hätte befriedigen können. Allein ihre Gutmüthigkeit und ihre stille Melancholie zogen sie an sich, und es war ihr wohl in der Gesellschaft des einzigen Geschöpfes, das sich an sie anschmiegte. Indessen wuchs Juliens Traurigkeit mit jedem Tage. Ihre Wangen verblüheten, das Feuer ihres großen schwarzen Auges erlosch, und sie blieb mehrmals Unpäßlichkeit halber auf dem Stübchen, das sie in einer benachbarten Straße bewohnte. Lotte fragte sie öfters um die Ursache ihrer Niedergeschlagenheit; ein wehmüthiger Blick, ein tiefer Seufzer waren ihre einzige Antwort.

10 An einem Feiertage blieb Charlotte wie gewöhnlich nach Tische zu Hause. Sie spielte einige von Gellerts geistlichen Oden, die sie mit ihrer Silberstimme begleitete, als Julie hereintrat. Charlotte ließ sich nicht stören: sie nickte ihr einen freundlichen Gruß zu, und fuhr in ihrem Gesange fort. Julie hörte ihr zu: einige Bücher lagen auf dem Clavier: es waren Gellerts Schriften, die Lottchen mit sich nach Hamburg genommen und nun hervorgelangt hatte, um eine von den Oden, die sie nicht recht auswendig wußte, nachzuschlagen. Julie ergriff absichtslos den Band, der ihr am nächsten lag; sie öffnete ihn, verweilte einen Augenblick auf dem aufgeschlagenen Blatte; ein plötzliches Zittern wandelte sie an, ein Thränenstrom stürzte auf das Blatt und das arme Mädchen sank halbohnmächtig auf den Stuhl zurück, den sie sich neben ihrer Freundin hingesetzt hatte.

Charlotte erschrack: sie sprang auf, um der Unglücklichen beizustehen. Bleib, Liebe! es ist nichts, sagte sie schluchzend, es ist schon vorbei. Charlotte warf nun einen Blick auf das Buch; noch glänzte das Blatt von Juliens Thränen. Inkle und Yariko! eine schrecklich-rührende Geschichte, sagte Lottchen, ich muß dich küssen, 11 liebes Kind, für die Thränen, die du der getäuschten Unschuld weihest.

Jul. Ach Gott! Gott!

Ch. Fasse dich, Liebe! dein Schmerz entzückt mich, er ist mir ein ehrwürdiger Bürge deiner eignen Unschuld.

Julie. (verzweifelnd.) Meiner Unschuld? ha! die ist dahin, ein Inkle hat sie gemordet; länger, meine Charlotte, kann ich dir das schreckliche Geheimniß nicht verbergen und sollte ich darüber deine Freundschaft verlieren, dein Mitleid muß und wird mir übrig bleiben.

Lotte drückte Julien an ihr Herz. Großer Gott! was sagst du? was ist dir begegnet?

Jul. Ein Bösewicht hat mich betrogen; ach! er entlehnte die Sprache der reinsten Aufrichtigkeit. Durch einen heiligen Eid gelobte er mir die Ehe, und als er mich Leichtgläubige hintergangen hatte, verschwand er.

Lottchen weinte auf dem lautklopfenden Busen der Unglücklichen. Arme Julie! ach! warum habe ich nur Thränen, um dich zu trösten?

Jul. Mich trösten? oh, mein Kind, die ganze Welt hat keinen Trost für mich; sie hat nichts als Spott und Verachtung für die Elende, die ihre Schande ihr nicht verbergen kann; sie wird 12 mich mit jenen Nichtswürdigen vermengen, die mit dem Laster ein Gewerbe treiben.

Ch. Das wird sie nicht: das kann sie nicht.

Jul. Sie wird es. Gott! warum mußte ich meine Mutter in der Wiege und meinen guten Vater voriges Jahr verlieren? Einsam und verlassen, ohne Rathgeber, ohne Freund mußte ich den schlauen Verführer für meinen Freund halten, der das Herz, das sich ihm mit kindlicher Arglosigkeit hingab, unter die Füße trat. Er ist entflohen, keine Spur kann ich von ihm entdecken: nicht für mich, sondern für die unschuldige Frucht seines Verbrechens würde ich ihn um Barmherzigkeit anflehen. Ich verdiene mein Schicksal.

Nun ergründete Charlotte erst die ganze Tiefe des Abgrunds, darein ihre Freundin gesunken war. Sie bot alle Kräfte ihrer Seele auf, um das arme Mädchen aufzurichten. Julie war nicht im Stande, ihr eine zusammenhängende Erzählung ihres Unglücks zu machen. Dennoch erfuhr sie so viel, daß ihr Liebhaber ein junger Handlungs-Bedienter war, der in ihrer Nachbarschaft wohnte. Seine Gestalt, sein einschmeichelnder Ton fesselten allmählig das unerfahrne Mädchen. Er sprach ihr von einem Antheil, den sein Herr ihm an seiner Handlung geben wolle, und besiegte ihre Unschuld durch eine schriftliche 13 Ehversprechung. Kaum hatte seine Geliebte ihm die Folgen ihres Umgangs eröffnet, so wurde er unsichtbar und nun fiel die Decke von ihren Augen. Ihr Herz blutete noch unter den ersten Schlägen ihres widrigen Verhängnisses, als Charlotte im Trauergewand und in ihrer stillen jungfräulichen Würde vor ihr erschien. Ihr Anblick erschütterte ihre Seele; es war ihr, als sähe sie die Tugend um sie trauern. Sie konnte ihre Verwirrung, ihren Schmerz nicht verbergen, und fühlte schon in jenem ersten Augenblick einen mächtigen Trieb, der sie zur liebenswürdigen Unbekannten hinzog. Umsonst suchte Charlotte die Unglückliche zu beruhigen; sie hörte nicht auf, über das Vergangene zu weinen und vor der Zukunft zu schaudern.

Die Ankunft der Frau Nilsen unterbrach die traurige Scene. Julie entfernte sich, und Charlotte begleitete sie nach Hause. Meine Freundin, sagte sie zur Trostlosen, die mit der Verzweiflung rang, wenn du den Muth verlierst, so ist alles verlohren. Du bist es dir selber schuldig, deine Ehre zu retten; mäßige deinen Kummer und suche so lange du kannst deinen Zustand zu verbergen; kannst du es nicht mehr, so entziehe dich den Blicken unsrer Gespielinnen und erwarte in der Einsamkeit die Stunde deiner Entbindung.

Jul. Ach, liebes Kind! wohin soll ich 14 entfliehen, wo soll ich meinen Unterhalt hernehmen? Fünfzehn bis zwanzig Thaler sind alles, was ich mir ersparen konnte, und eben so viel könnte ich aus einigen Geschenken ziehen, die der Treulose mir machte.

Ch. Sey außer Sorgen, ich kann dich wenigstens mit fünfzig Thalern unterstützen und . . . . doch warte, ich habe einen Gedanken, wenn der mir gelänge . . . . . Charlotte dachte an den ehrlichen Lambert. Dieser, hoffte sie, würde Julien einen Zufluchtsort verschaffen können. Sie eröffnete ihr diesen Einfall. Julie warf sich ihr weinend in die Arme und ertheilte ihr die Vollmacht, an den wackern Cantor zu schreiben. Sie that es noch denselben Abend in so rührenden, zudringlichen Ausdrücken, daß Lambert, so groß auch die Verlegenheit war, darein dieser Auftrag ihn setzte, sich nicht entbrechen konnte, an ihrem edlen Werke Theil zu nehmen. Er gieng mit seiner Gattin zu Rathe, und nach einigen Tagen erhielt Charlotte eine erwünschte Antwort. Auf einem einsamen Hofe, der zu seinem Pfarrdorfe gehörte, hatte er Julien bei einem gutmüthigen Ehepaar eine Freistätte ausgemacht, die sie, sobald sie wollte, unter dem Namen einer von ihrem Manne verlaßnen Ehefrau beziehen konnte.

15 Charlotte war über diese Nachricht außer sich, und theilte sie ihrer Freundin mit. Seit vielen Wochen schimmerte der erste matte Strahl der Freude in ihre trauernde Seele. Es ward ausgemacht, daß Julie unter dem Vorwand eine ihr vorgeschriebene Milchkur zu gebrauchen, sich auf das Land begeben, und daß Charlotte bei Frau Nilsen um die Erlaubniß anhalten sollte, sie auf einige Tage zu begleiten.

Beinahe täglich unterhielten sich die zwo Freundinnen über diesen Plan, den die Jahrszeit (es war mitten im Sommer) gegen allen Verdacht sicherstellte. Ihre Vertraulichkeit hatte nichts auffallendes mehr weder für Frau Nilsen noch für die drei übrigen Mädchen: nur gab sie diesen immer neuen Stoff zu Spöttereien, und die Einsiedlerin Charlotte wurde bisweilen von ihnen so boshaft geneckt, daß das liebreiche Betragen ihrer Pflegemutter nicht hinreichte, sie für diese Kränkungen zu entschädigen. Julie war oft Zeuge dieser unangenehmen Auftritte, die sie um so mehr schmerzten, da es ihr nicht entgehen konnte, daß Lottens Vorliebe zu ihr die vornehmste Ursache derselben war. Diese that alles, um sie zu beruhigen; sie stellte sich bei ihrem Verdrusse gleichgültiger an, als sie es würklich war; dennoch konnte sie den Wunsch nicht verbergen, 16 ihre peinliche Lage mit einer erträglichern zu verwechseln.

Juliens Vater, ein verunglückter Kaufmann, hatte einen alten Freund, der als Buchhalter in einem der ersten Häuser zu Kopenhagen stand. Er kam von Zeit zu Zeit nach Hamburg und versäumte nie, seinen Freund zu besuchen. Julie hatte ihn mehrmals gesehen, und ihm, da sie durch ihn bei irgend einer Herrschaft als Kammermädchen unterzukommen hoffte, den Tod ihres Vaters und zugleich ihr Anliegen gemeldet. Vierzehn Tage vor der zu ihrer Abreise festgesetzten Zeit kam Herr Jansen nach Hamburg, und besuchte Julien in ihrer Wohnung. Er nahm warmen Antheil an ihrem Verlust, und trug ihr in dem Woldemarischen Hause, dessen Geschäfte er besorgte, die Stelle eines Mädchens bei der einzigen fünfzehnjährigen Tochter seines Patrons an, deren gute Eigenschaften er rühmte. Julien brach das Herz bei diesem Anerbieten, das ihr Fehltritt sie nöthigte auszuschlagen Sie that sich Zwang an und sagte Herrn Jansen: sie habe ihre Gedanken geändert, und wolle sich wenigstens noch eine Zeitlang in den Arbeiten einer Putzmacherin üben, um mit der Zeit im Stande seyn, selbst ein kleines Gewerbe von dieser Art anzufangen. Allein, setzte sie hinzu, ich habe eine Freundin, für deren Sitten ich hafte, und die außer der 17 französischen Sprache noch eine Menge andrer Talente besitzt, die mir fehlen. Erlauben Sie mir, ihr die Stelle anzutragen; wenn sie, wie ich nicht zweifle, sie annimmt, so weiß ich gewiß, daß sie Ihrer Empfehlung Ehre machen werde.

Herr Jansen versprach auf den folgenden Tag wieder zu kommen, da denn Julie ihre Freundin zu sich bescheiden sollte. Thränen der Freude und des Schmerzens füllten ihr Auge, als sie Charlotten den Vorschlag eröffnete. Diese nahm ihn mit froher Rührung, aber doch nur unter der Bedingung an, wenn sie zuvor das arme Mädchen an den Ort ihres künftigen Aufenthalts würde begleiten können. Deine Freundschaft gegen mich, antwortete Julie, wird deinem kleinen Glücke nicht im Wege stehen, weil ich von Herrn Jansen gehört habe, daß seine Geschäfte ihn noch einen ganzen Monat hier und in Altona zurückhalten werden.

Des folgenden Tages traf er Charlotten bei Julien an; es war ein Mann von Einsicht und Erfahrung: Charlottens Sittsamkeit, ihr angenehmer Umgang, ihre Kenntnisse nahmen ihn für sie ein; er bot ihr die Stelle an, und Charlotte gab ihm ihr Wort, daß sie in einem Monat ihn nach Copenhagen begleiten wolle. Sie eröffnete ihren Entschluß der Frau Nilsen, der sie 18 ihre unangenehme Lage immer verhehlt hatte. Sie verlohr sie ungern, allein sie liebte das Mädchen zu sehr, um ihren Vorsatz zu bestreiten oder sie an ihrem Glücke zu hindern.

Nun hatte Charlotte einen ganz unverdächtigen Vorwand, Julien auf das Land zu begleiten. Ihre Freundschaft gegen den redlichen Lambert, der ihr kleines Vermögen als Vermund verwaltete, würde diese Reise ohnehin nöthig gemacht haben. Sie wurde nicht länger aufgeschoben. Julie erbot sich, bei ihrem Abschiede der Frau Nilsen so viel Arbeit zu liefern, als die Sorge für ihre Gesundheit ihr zu fertigen gestatten würde. Ihr Anerbieten wurde willig angenommen, und sie verließ die Stadt, ohne durch ihre Entfernung den mindesten Argwohn zu erwecken.

Die beiden Pilgerinnen wurden vom ehrlichen Lambert und seinem Weibe mit vieler Liebe aufgenommen. Lottchen gab sich alle Mühe, dem guten Paare den Fehler ihrer Freundin als ein bedaurenswürdiges Unglück vorzustellen, und der rührende Anblick des armen Mädchens unterstützte ihre Fürsprache so kräftig, daß Lambert nun aus Zuneigung für die Unglückliche das that, was er anfänglich blos aus Gefälligkeit gegen seine Pflegetochter gethan hatte. Julie wurde von ihm 19 auf die verabredete Weise bei ihren neuen Hauswirthen eingeführt, und in den acht Tagen, welche Charlotte bei ihrem alten Freunde zubrachte, täglich besucht.

Je mehr die Trennung der Stunde sich näherte, desto größer wurde Juliens Schwermuth. Den Abend vor ihrer Abreise brachte sie in Thränen zu. Sie gab die Hoffnung auf, ihre Freundin wieder zu sehen, und dankte ihr in den beweglichsten Ausdrücken für ihre Treue. Lotte sprach ihr mehr Muth ein, als sie selber hatte: allein im Augenblicke des Abschieds konnte sie sich nicht länger bemeistern. Sie weinte lange am Busen der Trostlosen, und Lambert sah sich endlich genöthigt, sie mit Gewalt mit sich fortzuführen. Vor ihrer Rückkehr nach Hamburg empfahl sie ihm nochmals ihre Freundin mit dem zärtlichsten Eifer, und bevollmächtigte ihn, im Nothfalle den ganzen Rest ihrer bei ihm niedergelegten Baarschaft zu ihrer Unterstützung anzuwenden. Dagegen hatte Julie ihr einen Brief an Herrn Jansen mitgegeben, darin sie bedauerte, daß ihre Entfernung auf das Land ihr nicht erlaubte, ihm Charlotten noch einmal mündlich zu empfehlen. Sie setzte zum Lobe ihrer Freundin alles hinzu, was die Dankbarkeit einem fühlenden Herzen eingeben 20 kann, und beschwor ihn, Vaterstelle bei ihr zu vertreten.

Mit zärtlicher Wehmuth verließ Charlotte zum zweitenmale die Gräber ihrer Eltern und das gastfreie Dach ihrer Wohlthäter. Sie blieb nur noch wenig Tage in Hamburg. Ihre Trennung von Frau Nilsen fiel ihr schwerer, als sie sichs vorgestellt hatte; sie mußte der guten Frau versprechen, zu ihr zurückzukehren, falls es ihr in der Fremde nicht gefallen sollte. Mit nassen Augen folgte sie Herrn Jansen, der sie abholte, und gieng in schüchterner Erwartung der Zukunft mit ihm zu Schiffe. Er gab sich alle Mühe, sie aufzumuntern; sein offenes, wohlwollendes Benehmen gewann ihr Vertrauen. Sie wagte es, ihn um eine Schilderung ihrer künftigen Herrschaft zu bitten. Dieses kann mit wenig Zügen geschehen, antwortete er: Herr Woldemar ist ein weiser, rechtschaffener Mann, der sich durch den Seehandel ein glänzendes Vermögen erworben hat, von dem er den edelsten Gebrauch macht. Seine Gattin besitzt bei vielen guten Eigenschaften einige Schwachheiten. Sie liebt den Aufwand, die großen Gesellschaften, und die brausenden Vergnügungen. Bisweilen hat sie Launen von Stolz und Eitelkeit; allein ihr Herz erlaubt ihr nicht lange eine Rolle zu spielen, für die es würklich zu gut 21 ist. Emilie, ihre einzige Tochter, ist ein liebenswürdiges Kind; sie fängt an zu fühlen, daß sie schön ist, und ihre Mama verbirgt ihr zu wenig, daß sie reich ist. Sie hat den leichten Frohsinn ihres Alters, und zu ihrem Schaden wurde sie zu früh dem Unterricht einer würdigen Erzieherin entrissen. Ich darf sie so nennen, ungeachtet sie seit einem Jahre mein Weib ist. Sie hat mir oft ihre herrlichen Anlagen gerühmt, und es eben so oft beklagt, daß der Strudel her Zerstreuungen ihr so wenig erlaubte, sie auszubilden. Diese Emilie, so schloß Jansen, wird Ihre Gebieterin seyn, und ich hoffe, Sie werden recht gut mit ihr auskommen. Uebrigens können Sie sich von mir und meiner Gattin bei jeder Gelegenheit allen Rath und Beistand versprechen. Nun war's Charlotten leichter ums Herz: sie hoffte, in Frau Jansen sich eine Freundin zu erwerben, deren Leitung sie sich anvertrauen könnte, und die Zufriedenheit, welche diese Hoffnung in ihre Seele goß, vermehrte ihre Zuneigung gegen ihren Begleiter, und versüßte ihr die Unannehmlichkeiten der kleinen Seereise.

Als sie in Kopenhagen ankamen, führte Herr Jansen, der dem Woldemarischen Hause gegen über wohnte, sie sogleich zu seiner Gattin, wo sie seine Rückkunft erwarten sollte. Hier, 22 liebe Sophie, sagte er, bringe ich dir eine junge Freundin, die ich dir nicht empfehle, weil sie sich selber empfiehlt. Weisheit und Güte leuchteten aus Sophiens Blicke. Sie war eine Person von fünf und dreißig Jahren; ihre Gestalt war beides, edel und angenehm; in ihrem Wesen athmeten Freundlichkeit und Würde. Sie empfieng Charlotten als eine liebreiche Mutter, und während ihr Gatte sich entfernte, um seine Ankunft dem Hausherrn anzukündigen, entspann sich eine Unterredung, in welcher die junge Waise Sophien ihre ganze Lage mit jener Offenherzigkeit entdeckte, welche die Tugend der Tugend einflößt. So anspruchslos und bescheiden auch Charlotte in allen ihren Reden war, so sehr sie ihre Geistesbildung und das hohe Gepräge ihres Charakters zu verbergen suchte, so konnte es doch dem Scharfblick, und der Erfahrung der Frau Jansen nicht entgehen, daß das Mädchen nicht auf die niedere Stufe gehöre, auf die das Schicksal sie gestellt hatte. Fürchten Sie sich nicht, sagte sie zu ihr, in eine Laufbahn zu treten, für die Sie nicht gemacht scheinen. Die Vorsehung läßt ihre Lieblinge oft von unten hinauf dienen. Mein eigenes Beispiel hat mich überzeugt, daß man sich in jedem Stande Achtung erwerben kann, und es thut wohl nach vollbrachten Wanderjahren im Schatten 23 eines Baumes auszuruhen, den unsre eignen Hände gepflanzt haben.

Dieses Gespräch wurde durch die Ankunft des Herrn Jansen unterbrochen, der zurückkam, um Charlotten ihrer neuen Herrschaft vorzustellen. Das tiefgerührte Mädchen warf sich Sophien in die Arme. Erlauben Sie mir, Sie so oft es seyn kann zu besuchen, und mich durch die Befolgung Ihrer Lehren in den Stand zu setzen, einst den Titel Ihrer Schülerin zu verdienen. Charlotte wurde von Frau Woldemar mit vornehmer Kälte, von Emilien mit einem Blicke des Wohlwollens empfangen, der sie für den Stolz der Mutter entschädigte. Nach einer Weile kam auch Herr Woldemar in das Zimmer: Jansen hatte ihn für seine Reisegefährtin zu interessieren gewußt. Er redete Charlotten in französischer Sprache an, und schien die Reinheit und Zierlichkeit, womit sie sich ausdrückte, nicht erwartet zu haben. Er sagte ihr einige Worte der Güte, und ermahnte sie durch Treue und Eifer das Vertrauen seiner Gattin und seiner Tochter zu verdienen. Charlotte neigte sich, Woldemar sah sie an; eine Thräne stieg ihr ins Auge. In einem liebreichen Tone setzte er hinzu: nicht nur die Dienste, sondern auch das Herz meiner Hausgenossen weiß ich zu schätzen.

Nun wurde die Haushälterin gerufen und erhielt 24 den Auftrag, Charlotten ihr Zimmer anzuweisen, und sie von ihren Beschäftigungen zu unterrichten. Frau Hedwig stand an der Spitze der weiblichen Dienerschaft, und betrachtete sich als die Statthalterin der Dame des Hauses, die sie mit schmeichlerischer Arglist beherrschte. Sie empfieng Charlotten mit finsterer Stirne, und nachdem sie ihr in einem gebieterischen Tone ihre Pflichten vorgepredigt hatte, führte sie sie an der Gesindetafel ein, wo sie kein sonderliches Aufsehen machte: die Bedienten fanden sie nicht schön genug, und die Mägde glaubten in ihrer Miene zu lesen, daß sie ihre Gesellschaft nie suchen würde.

Des folgenden Morgens (es war ein Sonntag) trat die neue Zofe ihr Amt bei Emilien an. Sie wußte sie mit so vielem Geschmack und Behendigkeit aufzuputzen, daß die junge Schöne ihr mit einem freundlichen Lächeln ihre Zufriedenheit bezeugte: selbst die Mama sagte: gut! recht gut! und warf ihr einen Blick zu, der sie ihrer Gnade versicherte. Des Abends kam Gesellschaft, und Charlotte benutzte diese Zeit, um Sophien zu besuchen. Diese hörte mit Vergnügen den Bericht an, den sie ihr von den ersten Auftritten ihrer neuen Rolle abstattete, und gab ihr verschiedene Lehren, wie sie sich der Zuneigung ihrer Herrschaft versichern könne. Madame Woldemar, sagte sie unter 25 andern, fordert von ihren Untergebenen Ehrerbietung: ihrer Tochter dürfen Sie Liebe zeigen, wenn Sie finden, daß sie Ihre Liebe verdienet. Mit der Haushälterin müssen Sie's nicht verderben: es ist ihr nicht recht, daß sie ihre Tochter nicht an die Stelle bringen konnte, die Ihnen zu Theil wurde. So groß ihr Credit bey Madame Woldemar ist, so konnte sie doch ihre gerechte Abneigung gegen die ungezogene Dirne nicht besiegen. Daher kam die üble Laune, die Sie an ihr bemerkten, achten Sie nicht darauf, und gehen Sie Ihren Weg gerade fort, so wird sie nie die Macht haben, Ihnen zu schaden.

Charlotte erblickte ein Clavier in dem Zimmer, und bat Sophien um die Erlaubniß sich bisweilen darauf zu üben, um, wie sie sagte, ihr bißchen Musik nicht zu vergessen. Sehr gern, antwortete sie, ich gebrauche es ohnehin zu wenig. Wie wäre es, wenn Sie gleich izt eine Probe damit anstellten? Charlotte ließ sich nicht zum zweitenmal bitten, sie setzte sich hin und spielte mit der grösten Feinheit und Leichtigkeit einige Opernarien, und schloß mit einer schweren Sonate, die Sophien als einer Kennerin Gelegenheit gab, ihre geschmackvolle Stärke zu bewundern. Herr Jansen, der sie über ihrem Spiel antraf, war davon bezaubert, und wiederholte ihr seine Einladung, alle ihre müßigen Stunden seiner Gattin 26 zu schenken. Mitten in der Residenz, sagte er, ist meine Sophie eine Klausnerin; es wird eine Wohlthat für sie seyn, wenn Sie ihre Einsamkeit beleben, zumal da meine Geschäfte mich zu öftern Abwesenheiten nöthigen. Charlotte dankte der Vorsehung, die ihr in diesem würdigen Paar ihre Eltern ersetzte, und fand in Sophien nicht nur eine erfahrne Rathgeberin, sondern auch eine weise Lehrerin, deren Umgang ihre Kenntnisse erweiterte.

Bei ihrer Herrschaft empfahl sie sich täglich mehr durch ihre Eingezogenheit, Ordnungsliebe und Geschicklichkeit. Freilich hielt Frau Woldemar alles dieses für die Pflicht eines Dienstboten, gestand aber doch, daß ihre Tochter weit besser bedient sey als sie selbst; nur mißbilligte sie den vertraulichen Ton, in welchem Emilie sich oft mit ihrem Mädchen unterhielt, sie meynte, es sey ihrem Stande zuwider, und das Gesinde würde durch zu viel Güte nur verdorben. Herr Woldemar war der einzige, der Charlotten nach ihrem Werthe schätzte. Er fuhr einst zufälliger Weise mit ihr und seiner Tochter nach seinem Landgute, das eine Meile von Copenhagen lag. Seine Gattin befand sich mit einigen Gästen in einem andern Wagen. Nach und nach wurde sie mit in die Unterredung gezogen. Der edle Mann that allerhand Fragen an sie, die sie mit einem Geiste und mit einer 27 Bescheidenheit beantwortete, die ihn einnahmen. Halte mir das Mädchen in Ehren, sagte er zu Emilien, als er mit ihr allein war, und suche ihr einen Stand zu erleichtern, für den sie wahrlich nicht gebohren ist. Diese Aufforderung war dem guten Kinde willkommen; sie sanctionierte gleichsam die Sympathie, die sie zu Charlotten hinzog, und so oft sie es unbemerkt thun konnte, zeigte sie ihr ein Wohlwollen, dem nur der Name der Freundschaft fehlte. Sie überhäufte sie mit kleinen Geschenken, und ihr gutes Herz war sinnreich, die Anlässe dazu aufzusuchen. Die neidische Hedwig betrachtete diese Wohlthaten als eine Beute, die ihrer Tochter entgieng: allein Charlottens Aufführung war so untadelhaft, daß sie keine Gelegenheit fand sie zu verleumden, und endlich aus Staatsklugheit nicht die einzige seyn wollte, die ihr unfreundlich begegnete.

Charlotte hatte insgeheim alle ihre Geschicklichkeit aufgeboten, um einen Straus von künstlichen Blumen zu verfertigen, den sie Emilien an ihrem Geburtstag überreichte. Nie wurde die Natur glücklicher nachgeahmt; ihre zauberischen Finger schienen mitten im Winter die schönsten Kinder des Frühlings aus ihrem Staube hervorgezogen zu haben. Eine stille, heitere Thräne begleitete das Dankopfer des guten Mädchens. Von Freude 28 hingerissen, belohnte es Emilie mit einem überraschenden Kusse, den Lotte aus der Fülle ihres Herzens erwiederte. Plötzlich besann sie sich, und trat erröthend einen Schritt zurück. Emilie bemerkte ihre Verlegenheit, und wiederholte ihre Umarmung. Scheue dich nicht, gute Lotte, mir deine Liebe zu zeigen, sagte sie mit der holdesten Vertraulichkeit; es thut mir oft weh genug, daß ich dir die meinige verbergen muß. Wir sind allein, und wenn wir allein sind, bin ich nichts als deine Freundin. Dieses Wort wäre hinreichend gewesen, die gefühlvolle Charlotte auf ewig an das liebenswürdige Kind zu fesseln.

Emilie hatte bisher wenig Geschmack an Lektur; ihre Mutter sah sie lieber mit Karten oder höchstens mit ihrem Piano beschäftigt, und wollte nicht haben, daß sie sich den Kopf mit Büchern zerbrechen sollte. Sie hatte sich oft deßwegen mit ihrer Erzieherin herumgezankt. Charlotte faßte den Entschluß, ihre guten Anlagen unvermerkt anzubauen. Sie gieng deßwegen mit Sophien zu Rathe. Ihrer Wahl überließ sie es, die deutschen und französischen Bücher zu bestimmen, aus denen sie ihr des Abends vor dem Schlafengehen einige Blätter vorlesen wollte. Der Anschlag gelang, Emiliens Geist verschönerte sich zusehends unter der unsichtbaren Hand seiner Bildnerin, und bald konnte 29 sie ohne diesen Abendsegen, wie sie es nannte, nicht mehr einschlafen. Ihr Vater behorchte einst diesen nächtlichen Unterricht; er hütete sich wohl, ihn zu stören oder seine Entdeckung seiner Gattin mitzutheilen, die bey jeder Gelegenheit sein Wohlwollen gegen Charlotten durch bittere Spöttereien rügte.

So verlebte das edle Mädchen ihr erstes Jahr in dem Woldemarischen Hause: ihre Tage floßen ihr dahin, wie ein leichter Kahn über einen ruhigen See hinweggleitet. Sie vergaß in ihrem Glücke die Freundin nicht, deren Unglück sie es zu danken hatte. Drei Monate nach ihrer Abreise war Julie mit einem Sohne niedergekommen. Der Kummer, der an ihrem Herzen nagte, hatte ihr Wochenbett in ein Siechbett verwandelt. Sie brauchte beinahe ein halbes Jahr, um sich völlig zu erholen. Charlotte beschwor ihren alten Freund, den Rest ihres kleinen Vermögens, das noch etwa hundert Thaler betrug, zur Verpflegung der Mutter und des Kindes anzuwenden. Lambert machte ihr Vorstellungen, allein vergebens, und der wackere Mann rechnete sichs endlich zur Sünde, sie in ihrem frommen Werke zu stören, zumal da Charlotte ihm und seiner Gattin von Zeit zu Zeit kleine Geschenke zusandte, die ihn überführten, daß sie nichts weniger als Mangel litt. Nun verlohr Julie ihr Kind; seine schwächliche Gesundheit hatte ihr bisher nicht 30 erlaubt, ihren dunkeln Zufluchtsort zu verlassen; jezt konnte sie es thun, allein aller Vorsicht ungeachtet hatte man in Hamburg die Ursache ihrer Entfernung gemuthmaßet, und die quälende Furcht vor der Schande erlaubte der Unglücklichen nicht, zu Frau Nilsen zurückzukehren. Sie begab sich nach Lübeck, wo sie eine Stelle fand, mit der sie, wie sie Charlotten meldete, alle Ursache hatte zufrieden zu seyn.

Herr Jansen, den seine Geschäfte jedes Jahr nach Altona riefen, wo sein Patron mit einem der vornehmsten Wechselhäuser in Sozietät stand, war nun im Begriffe, diese Reise vorzunehmen, welchen der Tod dieses Handelsgenossen um so nöthiger machte. Er mußte Charlotten versprechen, den rechtschaffenen Lambert zu besuchen, von dem sie nun zween Monate keine Briefe hatte, und Sophie bekam bald hernach von ihrem Gatten den Auftrag, Charlotten den Tod des rechtschaffenen Mannes beizubringen. Sie beweinte ihn, wie man einen Vater beweinet, und bat Herrn Jansen, in ihrem Namen seiner Witwe eine Unterstützung anzubieten. Sie schlug sie aus, weil sie keine bedurfte, indem sie im Begriffe stand, sich mit ihrer kleinen Habe ins Mecklenburgische zu einer wohlverheiratheten Nichte zu begeben, bey der sie ihre Tage beschließen wollte.

31 Wenig Wochen nach Jansens Rückkunft erschien Herr Osten, der Sohn und Nachfolger des altonaischen Handlungsgenossen, in Kopenhagen. Er wurde von Herrn Woldemar wie ein Blutsverwandter aufgenommen, und in seinem Hause beherbergt. Osten war ein schätzbarer junger Mann von dreyßig Jahren, der beynahe die Hälfte seines Lebens auf Reisen und in den vornehmsten Handelsstädten von Europa zugebracht hatte. Er besaß mehr als gemeine Kenntnisse und ein sehr ansehnliches Vermögen, wovon der größte Theil in der Woldemarischen Kasse lag. Er hatte seinen Geist und Charakter unter den Britten gebildet. Aus seinem ganzen Wesen leuchtete eine zwanglose Würde hervor; seine Miene war ernsthaft, ohne finster zu seyn, und aus seinen Augen blitzte ein stilles Feuer, das einen hellen Geist und ein warmes Herz verrieth. Woldemar wünschte seine Verbindung mit Emilien, weil er ein edler Mann war; seine Gattin wünschte sie, weil er eine Million besaß. Beyde glaubten diese Heyrath sey der vornehmste Beweggrund seiner Reise, und Frau Woldemar konnte es nicht begreifen, daß er schon drei Wochen verstreichen ließ, ohne den Titel eines Freyers anzunehmen. Sie verbarg ihre Erwartung so wenig vor ihrer Tochter, daß sie mit dem Lächeln der eitelsten Zuversicht Herrn Osten ihren 32 künftigen Bräutigam nannte, und Charlotten den gemessenen Befehl ertheilte, mehr Sorgfalt auf ihre Toilette zu verwenden.

Emiliens Herz war zu neu, um die Gesinnungen dieses Freyers auszuspühren, der ihr jederzeit mit ausnehmender Achtung begegnete. Ihre Einbildungskraft beschäftigte sich aber darum nicht weniger mit der Idee dieser Heyrath, ohne daß es ihr dabey einfiel, an die Liebe zu denken. Sie vertraute sogar Charlotten den Plan ihrer Mutter, und setzte mit der liebenswürdigsten Treuherzigkeit hinzu: nicht wahr, meine Lotte, wenn ich mich verheyrathe, so ziehst du mit mir nach Altona? ich würde mich fürchten, so mit Herrn Osten allein zu seyn. Versprich mir das, du sollst es recht gut bey mir haben. Charlotte versprach es ihr; sie hoffte in Emiliens Herzen den Ersatz für den Umgang ihrer Freundin Jansen zu finden, und würde sich ohnehin nie haben entschließen können, ihre junge Gebieterin mit ihrer stolzen und grillenhaften Mutter zu vertauschen.

Eines Abends besuchte die ganze Familie das Theater. Charlotte wurde durch allerley Putzarbeiten abgehalten, diese Freystunde bey ihrer Freundin zuzubringen. Als sie fertig war, setzte sie sich an Emiliens Piano, um eine Arie zu spielen, der sie es versucht hatte, einen Text unterzulegen. 33 Nur in Emiliens Abwesenheit, wagte sie sich bisweilen an ihr Instrument. Da sie ihr an Stärke weit überlegen war, so vermied sie jede Gelegenheit sich vor ihr hören zu lassen. Jezt konnte sie der Versuchung nicht widerstehen. Ihr Vater hatte ihr ehedem eine kleine Anweisung zur deutschen Poesie gegeben; außer einigen Nachahmungen ausländischer Lieder, war es ihr aber nie eingefallen selbst zu dichten. Die Arie auf die Freundschaft aus der französischen Oper, Castor und Pollux, die Herr Jansen ihr unter andern Musikalien mitbrachte, hatte ihr besonders des Textes wegen so viel Vergnügen gemacht, daß sie es wagte, sie in ein teutsches Gewand umzukleiden. Hier ist ihre Uebersetzung:

O Freundschaft! Du, der Menschheit höchstes Gut,
Komm, Tochter des Olymps, mit uns Dich zu vermählen;
Du wärmst, Du läuterst unsre Seelen,
Und adelst jeden Trieb durch Deine reine Glut.
Der Freuden Götterchor bezeichnet Deine Stätte;
Die Zeit, der Schönheit Grab, verschönert Dich allein.
Du stählest Amors Blumenkette;
Dein Nahme würde Wollust seyn,
Wenn noch der Mensch die Unschuld hätte.

Sie spielte sie mit dem ganzen Feuer der Begeisterung, und begleitete ihr Spiel mit den 34 vollsten, lieblichsten Accenten ihrer Zauberstimme. Zum drittenmal fieng sie an, ihren Gesang zu wiederholen, als sie ein leises Geräusch zu bemerken glaubte. Sie sah sich um, und hinter ihrem Stuhle stand Osten. Charlotte sprang auf, und schlug das Piano zu.

Befehlen sie etwas, mein Herr?

Ost. Wenn ich das Recht dazu hätte, Mademoiselle, so würde ich Ihnen befehlen in Ihrem reizenden Geschäfte fortzufahren.

Charlotte. (verwirrt.) Oh vergeben Sie mir, ich glaubte allein zu seyn.

Ost. Ich verdiene den Vorwurf, den Sie mir machen. Einige Briefe haben mich auf meinem Zimmer zurückgehalten; ich wollte mich zur Gesellschaft in das Schauspielhaus begeben; als ich im Vorbeygehen Ihren seelenvollen Gesang vernahm. Ich näherte mich dem Zimmer, aus dem er mir entgegentönte: ich fand die Thür halboffen, eine unwiderstehliche Macht zog mich herein.

Ch. Oh mein Herr, Sie dürfen sich nicht entschuldigen, ich allein habe gefehlt.

Ost. Ich kenne die Arie auf die Freundschaft; allein ich wußte nicht, daß sie ins Deutsche übersetzt ist; wer ist der Uebersetzer?

Charlotte erröthete bis in die Fingerspitzen, 35 und schlug die Augen nieder. Sie wußte nichts zu antworten.

Ost. Oder vielleicht die Uebersetzerin?

Ch. Wer es auch sey, so finde ich die Uebersetzung weit unter dem Original.

Ost. Sie sind vermuthlich Emiliens Lehrerin?

Ch. Ihr Mädchen, mein Herr.

Osten, der sie mit tiefem Erstaunen anblickt. Ihr Mädchen?

Ch. Ja, mein Herr; ich verdanke dieses Glück dem guten Herrn Jansen.

Osten. Emilie hat ihm wenigstens ein eben so großes zu verdanken.

In diesem Augenblicke ließ die Entenstimme der Frau Hedwig sich im Vorsaale hören. Charlotte fuhr unwillkührlich zusammen. Osten bemerkte ihre Verlegenheit; er machte ihr stillschweigend eine ehrerbietige Verbeugung, und entfernte sich. Frau Hedwig steckte bloß den Kopf zur Thür herein, und zog ihn wieder zurück, ohne einen Laut von sich zu geben.

Charlotte brauchte Zeit sich von ihrer Verwirrung zu erholen. Sie war unentschlossen, ob sie Emilien etwas von dieser Begebenheit eröffnen sollte. Da sie es aber nicht thun konnte, ohne sich des Eigenlobes verdächtig zu machen, so beschloß sie endlich ganz davon zu schweigen. Uebrigens war 36 ihr diese Scene nicht unangenehm. Die Art, wie Osten ihr begegnete, gab ihr die Hoffnung, in ihm einen künftigen Fürsprecher zu finden, wenn Emilie gegen ihre Mutter das Verlangen äußern sollte, sie mit sich nach Altona zu nehmen.

Am folgenden Tage machte sich Osten bey seinem alten Freunde Jansen ein Geschäfte. Er richtete seinen Besuch vorsetzlich auf eine Stunde, da er wußte, daß er ihn bey seiner Gattin antreffen würde. Jansen stand ehmals in seinem väterlichen Hause, wo er dem jungen Osten die ersten Grundsätze der Handlungs-Wissenschaft beybrachte. Dieser setzte ein eben so großes Vertrauen in seine Rechtschaffenheit als in seine Talente, und wußte auch Sophien nach Verdienst zu schätzen. Nun lenkte er das Gespräch auf Emiliens Mädchen, deren Namen er nicht wußte. Jansen und seine Gattin, welche ebenfalls in der Ueberzeugung standen, daß zwischen dem jungen Manne und Emilien eine Heyrath im Werke sey, und sich von dieser Nachfrage eine glückliche Aussicht für Charlotten versprachen, beeiferten sich um die Wette, ihr das verdiente Lob beyzulegen. Es ist ein vortreffliches Mädchen, sagte Jansen; eine verwaiste Predigerstochter aus dem Holsteinischen, die wir wie unser Kind lieben. Ihre Kenntnisse, setzte Sophie hinzu, verrathen die beste Erziehung; dabei 37 hat sie ein edles, engelreines Herz, und einen festen, ja ich möchte sagen, großen Character. So wenig sie für ihren jetzigen Stand gebohren ist, so hörte ich sie doch nie auch nur mit einem Worte über ihr Schicksal klagen. Sie verrichtet ihre Dienste mit der pünktlichsten Unverdrossenheit, und hat sich dabey noch in der Stille das hohe Geschäft aufgelegt, Emiliens Geist und Herz auszubilden. Dieses gelingt ihr um so besser, da sie hinter dem Vorhang arbeitet, und keines von den Hindernissen im Wege findet, die ich zu bekämpfen hatte. Auch liebt Emilie sie von ganzem Herzen; und ich bin gewiß, daß es ihr sehr schwer fallen würde, sich von ihrer Lotte zu trennen. Könnte ich nicht Gelegenheit haben, sie zu sprechen? sagte Osten. Warum das nicht, erwiederte Sophie, das kann übermorgen geschehen: sie bringt den Abend jedes Sonntages bey uns zu: sie hat sonst keine Gesellschaft als die unsrige, und übt sich zuweilen bey mir auf dem Piano, das sie vortrefflich spielt. Herr Osten that noch verschiedene Fragen an das rechtschaffene Paar, die es alle zu Charlottens Vortheil beantwortete, und verließ es mit dem Versprechen am nächsten Sonntage seinen Besuch zu wiederholen.

Der Sonntag erschien. Madame Woldemar hatte ein großes Gastmahl angeordnet. Nach Tische wurde gespielt; die Dame des Hauses 38 veranstaltete eine Parthie Whist, und ernannte Herrn Osten zu ihrem Partner. Dieser zog die Uhr aus der Tasche; ich muß die Ehre bis zu meiner Rückkunft verbitten, erwiederte er, ich habe eine halbe Stunde nothwendig auszugehen. Die Dame warf die Lippe auf, und Osten nahm seinen Abschied.

Charlotte befand sich bereits bey ihren Freunden, und hatte eben angefangen ihnen ihre Begebenheit mit Osten zu erzählen, als dieser in das Zimmer trat. Er that es mit jenem zwanglosen offenen Wesen, womit man alte Bekannte besucht. Charlotte gerieth in Verwirrung. Er begegnete ihr mit einer Achtung, die sie um so mehr überraschen und rühren mußte, je weniger sie mit dem, was man in der großen Welt Höflichkeit nennt, gemein hatte. Man setzte sich; Charlotte blieb stehen, und wollte sich beurlauben. Bleiben Sie, Mademoiselle, sagte Osten, Sie sind hier bey Ihren Freunden, und ich bey den meinigen. Er bot ihr einen Stuhl; Charlotte gehorchte. Nach und nach verschwand ihre Schüchternheit. Sophie lenkte das Gespräch immer so, daß sie Antheil daran nehmen mußte. Sie that es mit der liebenswürdigsten Bescheidenheit. Ueber jeden Gegenstand sagte sie nur so viel, als sie sagen mußte, um nicht ganz fremd darin zu scheinen. Allein Ostens Scharfblick sah auch das, was sie verbarg; er wußte, was 39 man wissen und seyn muß, um sein Wissen zu verbergen, ohne daß dieses Incognito, wie das der reisenden Großen, zu einer abgeschmackten Ziererei werde.

Osten kannte die Welt: er besaß jene Lebensweisheit, die man nicht aus Büchern, aber doch auch nicht ohne Bücher lernt, und die man weder in der Welt noch in den Büchern findet, wenn Geist und Herz nicht fähig sind, sie aufzunehmen. Diese Empfänglichkeit fand er in einem hohen Grade bei Charlotten, die in dem Woldemarischen Hause, das ein moralisches Gesellschaftstheater war, auf ihrem dunkeln Posten vieles bemerkt hatte, das ihre Begriffe berichtigte, und den Saamen ihrer Lektür zur vollen Reife brachte. Was er von ihren Eigenschaften schon wußte, ließ er unberührt, weil er vornehmlich Charlottens Art zu denken und zu empfinden kennen lernen, und dabei die Miene eines Forschers vermeiden wollte. So spann die Unterredung sich von selbst fort, und Osten befand sich so wohl in dem kleinen Zirkel, daß ihm erst nach einer starken, aber nicht langen Stunde sein der Frau Woldemar geleistetes Versprechen einfiel. Er nahm Abschied, ohne auch nur ein Wörtchen zu Charlottens Lobe zu sagen: allein sein Stillschweigen verrieth nichts weniger als Gleichgültigkeit, sondern es hatte blos das Ansehen, als 40 ob alles, was er an ihr entdeckte, ihm schon lange bekannt wäre. Madam Woldemar empfieng ihn mit vieler Kälte. Er fand den ihm bestimmten Platz an ihrem Spieltische durch einen andern Gast besetzt, und begnügte sich bald hinter ihrem Sessel den stummen Zuschauer zu machen, oder mit Woldemarn, der auch nicht spielte, im Saal auf und nieder zu gehen.

Charlotte, mit ihrem Abend vergnügt, kam; mit der heitersten Laune nach Hause. Beim Auskleiden erzählte sie Emilien, daß sie Herrn Osten bei ihrer Freundin angetroffen, und in ihm einen Mann von reinen Grundsätzen und einem sehr feinen Geschmacke gefunden habe. Das freuet mich, antwortete Emilie, destoweniger wirst du dich bedenken, uns nach Altona zu folgen. Von den angenehmsten Bildern umschwebt gieng Charlotte zu Bette. Ostens Betragen erfüllte ihr Herz mit Bewunderung, aber dieses Gefühl war nicht das einzige, das in ihr aufloderte. Welch ein Freund muß ein solcher Mann seyn! sagte sie zu sich selbst, und vielleicht kann er mirs werden; allein wird mein Stand ihn nicht abhalten, es mir zu sagen? und wenn er es mir sagte, wird es der Dienerin meiner Gattin zukommen, das süße Band der Freundschaft mit ihm zu knüpfen? Warum wird er mirs nicht sagen, da er edel genug war, mir vor seinen 41 Freunden eine Achtung zu bezeugen, die mir beweißt, wie sehr er über die Denkart gemeiner Seelen erhaben ist: und wird alsdann die Dienerin ihren Stand nicht auch vergessen, und Freundin seyn dürfen? Ein unbekanntes ätherisches Feuer strömte bei diesem Gedanken durch ihren Busen, und ihre Seele wiegte sich in eine sanfte Schwermuth, die sie für keine ihrer jemals genossenen Freuden hingegeben hätte.

Des folgenden Morgens war sie mit Emiliens Anputz kaum zu Ende, als die Haushälterin hohnlächelnd in das Zimmer trat. Da, Jungfer, sagte sie, schickt Ihr die Madame Ihren halbjährigen Lohn, und läßt Ihr befehlen, augenblicklich ihr Haus zu verlassen. Blaß und sprachlos stand Charlotte vor dem Weibe: sie hatte die Kraft nicht, ihre Hand aufzuheben, um Ihr das Geld abzunehmen. Emilie saß unbeweglich auf ihrem Stuhle; Hedwig legte das Geld auf den Tisch, und watschelte triumphierend davon: gleich einer Schlange des Abgrunds, der es gelungen ist, der schlafenden Unschuld ihr Gift ins Antlitz zu spritzen. Großer Gott! rief endlich Charlotte, und ein Strom von Thränen rettete sie von einer Ohnmacht, großer Gott! womit habe ich diese Begegnung verdient? Itzt sprang Emilie von ihrem Sitz auf: arme Lotte, man muß dich verleumdet haben; warte hier, 42 ich will mit Mama sprechen. Emilie entfernte sich, und Charlotte taumelte auf das Canape; alle ihre Gebeine zitterten, die krampfichten Schläge ihres Busens benahmen ihr den Odem: die Gegenstände, die sie umgaben, verlohren ihre Farben und Formen, und jeder Gedanke, der in ihrer Seele aufstieg, zerrann im Entstehen.

Es läßt sich leicht errathen, daß Hedwig die boshafte Elfe war, welche dieses Ungewitter über das arme Mädchen ausschüttete. Es hatte ihr bisher nur an einem Vorwande gefehlt, ihren alten Groll auszulassen, der durch die Gunst, worin Charlotte bei ihrer Herrschaft stand, und durch ihre Gleichgültigkeit gegen die aufgeblasene Favoritin täglich neue Nahrung erhielt. Sie hatte die Frau Woldemar von Charlottens tête à tête mit Herrn Osten unterrichtet, und von ihr den Auftrag erhalten, beide auf das genaueste zu beobachten. Sie hatte des Abends zuvor ihre beiderseitige Zusammenkunft in Jansens Hause ausgespäht, und ihrer Gebieterin hinterbracht. Ihre Verleumdung fand bei dieser um desto leichter Gehör, da in einem Winkel ihres Herzens ein geheimer Unwille gegen das Mädchen schlummerte, dem ihr Gemahl, ihrer Meynung nach, allzu freundlich begegnete. Sie schämte sich, dieses Gefühl Eifersucht zu nennen, und hatte einen zu hohen Begriff von ihren noch nicht 43 verblüheten Reizen, als daß ihr eine glanzlose Zofe hätte Unruhe erregen sollen. Indessen war ihr dieses Gefühl doch lästig, und sie griff begierig nach der Gelegenheit, die sich ihr anbot, sich auf immer davon zu befreien.

Von dem allem argwohnte die arme Charlotte nichts; sie lag noch wie in einem schrecklichen Traume auf dem Canape, als Emilie zurückkam. Das gute Kind weinte, und fiel ihr um den Hals: Ach liebe Lotte! rief sie schluchzend, ich habe vergebens für dich gesprochen: gottlose Leute haben der Mama gesagt . . . . doch ich glaube es nicht, nein ich glaube es nicht. Ach! wenn nur Papa hier wäre, allein er ist diesen Morgen mit Herrn Osten auf zween Tage verreist. Was hat denn Ihre Frau Mutter gesagt? rief itzt Charlotte, ach, ich beschwöre Sie, beste Emilie, verhehlen Sie mir nichts. Ich glaube es ja nicht, Lotte, es ist ganz gewiß eine Lüge. Man hat ihr gesagt: du wollest mir Herrn Ostens Liebe entziehen. Charlotte hob die Hände gen Himmel. Nach einigen Augenblicken richtete sie sich mit jener heiligen Würde auf, die nur das Gefühl der Unschuld geben kann. Ich gehe, sagte sie, auch wenn ich mich rechtfertigte, würde ich nicht in ihrem Hause bleiben können. Emilie schluchzte: ach! nicht wahr, meine Lotte, du gibst mir keine Schuld. 44

Ch. Ihnen? nein, edle Freundin: itzt da ich Sie verlasse, darf ich Ihnen diesen Namen geben; für Sie bürgt mir Ihr Herz, ewig wird das meinige Sie lieben und segnen.

Em. Deiner Freundin darfst du nichts abschlagen. Sie zog ihre Goldbörse heraus, und legte sie in Charlottens Hand. Charlotte blickte sie mit weinenden aber heiterglänzenden Augen an, ohne ihre Hand zu schließen. Emilie drückte ihr die Hand zu, Charlotte preßte die Börse an ihr Herz, und steckte sie ein.

Em. Glaube mir, liebe Lotte, die Wahrheit wird an den Tag kommen, wir werden nicht lange getrennt seyn.

Hedwig öffnete jetzt die Thür, und brachte Emilien den Befehl, zu ihrer Mutter zu kommen. Ohne sich vor der Harpie zu scheuen, warf sie sich noch einmal in Charlottens Arme, und verließ sie mit nassen Wangen.

Nun begab sich Charlotte auf ihr Zimmer, um ihre Sachen einzupacken. Die Schattenrisse ihrer Eltern hiengen unter ihrem kleinen Spiegel. Sie waren der erste Gegenstand, der ihr ins Auge fiel; sie lief darauf zu, nahm sie ab, und heftete ihren feuchten Blick auf die lieben Bilder. Nie war ich Euer unwürdig, rief sie, nie will ich es seyn, und der Vater, dem Ihr mich anbefahlt, 45 wird mir helfen. Auf einmal ward sie ruhig, gleich einem rosigen Thaue fuhr der himmlische Friede auf sie herunter und senkte sich in ihre Brust. Ihre Thränen vertrockneten; ein sanfter Purpur färbte ihre Wangen; sie eilte beinahe freudig an ihre Arbeit, und in weniger als einer Stunde war ihre Reisekiste gepackt. Sie verschloß sie und begab sich mit ruhigem Schritte in Herrn Jansens Behausung.

Ei woher, meine Lotte, zu dieser ungewöhnlichen Stunde? rief Sophie ihr zu, wollen Sie unser Gast seyn? Ja, meine Freunde, antwortete Charlotte, es ist eine Verbannte, die Sie um das Gastrecht bittet. Mit unbewölkter Stirne und in dem schlichten Tone der Wahrheit erzählte sie, was ihr begegnet war, ohne nur die mindeste Bitterkeit noch Klage in ihre Erzählung zu mischen; nur brach ihr die Stimme, als sie ihres Abschieds von Emilien erwähnte. Sie verschwieg die Ursache ihrer Verbannung. Erstaunen und Unwillen rießen das edle Paar wechselsweise hin. Ich wette, sagte Herr Jansen, daß Hedwig an dem Allem schuld ist. Sie beneidet Ihnen die Gewogenheit Ihrer Herrschaft. Morgen Abends kommt Herr Woldemar zurück: ich werde ihn sprechen, und das Geheimniß der Bosheit entdecken. Thun Sie das nicht, erwiederte Charlotte.

Jans. Ich muß es thun, Ihrer Ehre wegen, 46 meiner Ehre wegen; ich muß Ihre Unschuld an den Tag bringen.

Ch. Nun so zwingen Sie mich, Ihnen die Ursache meines Unfalls zu eröffnen. Emilie sagte mir: ihre Mutter beschuldige mich, daß ich ihr ihren Freyer abspannen wolle. Urtheilen Sie nun selbst, ob eine solche Beschuldigung eine Untersuchung verdient; ob es Ihr Zartgefühl, und meine Ehre erlauben, ihrer gegen Herrn Woldemar auch nur mit einem Worte zu erwähnen.

Jans. Sie haben Recht, liebes Kind; allein da ich die Ursache Ihres Unglücks bin, weil ich Herrn Osten in meinem Hause eine Unterredung mit Ihnen verschaffte, so dürfen Sie unter keinem andern Dache, als unter dem meinigen eine Zuflucht suchen.

Soph. Seyn Sie unsre Tochter.

Charlotte an Sophiens Busen. Das bin ich schon lang durch Ihre Güte, und durch mein Herz. Ihr Anerbieten, bestes Paar, durchdringt es, ohne es weder zu überraschen, noch zu drücken; allein ich kann, ich darf es nicht annehmen. Wenn Ihre Freundschaft keine Gränzen kennet, so muß ich ihr Gränzen stecken. Sie vergessen die Verhältnisse, darin Sie mit dem Woldemarischen Hause stehen; Sie verbergen sich die zahllosen Verdrießlichkeiten, denen Sie sich durch meine Aufnahme aussetzen würden. Nein, meine großmüthigen 47 Freunde; lassen Sie mich allein das Opfer eines Argwohns seyn, der sich selbst widerlegen wird, und helfen Sie mir heute noch einen Plan ausführen, der mir die Ruhe geben kann, ohne Sie Ihnen zu nehmen.

Sophie. Welchen Plan, mein Kind?

Ch. Sie wissen, daß ich einige Geschicklichkeit in Putzarbeiten besitze. Meine Ersparnisse, und besonders Emiliens Goldbörse, die fünfzehn Dukaten enthält, setzen mich in den Stand, einen kleinen Kram anzufangen, und mein Brod zu gewinnen. Verschaffen Sie mir bei unbescholtenen Leuten ein Zimmer, wo ich gegen die Verleumdung gesichert in der Stille arbeiten und meine Arbeit durch eine fremde Hand verkaufen kann; allein wo möglich heute noch, damit ich vor Herrn Woldemars Rückkunft, dessen Güte und Gerechtigkeit ich kenne, die Rückkehr in sein Haus unmöglich mache, in welchem ich auch als Siegerin nicht mehr erscheinen kann.

Jansen und seine Gattin sahen wohl, daß es vergebens seyn würde, Charlottens Vorsaz zu bestreiten, und giengen daher blos über die Mittel zu Rathe ihren Wunsch zu befriedigen. Mehr als ein Vorschlag wurde gethan und verworfen: endlich fiel Sophien eine ehrbare Witwe ein, die sich samt ihrer vierzehnjährigen Tochter mit 48 Spitzenklöppeln ernährte. Sie wohnte vormals in Herrn Jansens Nachbarschaft, hatte aber seit einiger Zeit ein abgelegeneres Quartier bezogen. Gleich nach Tische eilte Sophie zu ihr; es brauchte mehr nicht als ihre Empfehlung, um sie zu bewegen, Charlotten gegen monatliche Vorausbezahlung in die Kost zu nehmen, und ihr ein Stübchen auf dem Stockwerk des ihrigen zu verschaffen. Noch vor Abend ließ Jansen ihre Kiste in dem Woldemarischen Hause abholen; sie selbst mußte die Nacht bei ihren Freunden zubringen, oder vielmehr durchwachen; denn sie saßen bis nach Mitternacht beisammen, und beschäftigten sich mit Planen für die Zukunft. Es wurde verabredet, daß Charlottens neue Wirthin ihre Arbeiten in den ihr bekannten vornehmen Häusern verkaufen, und sie so der einzigen Mühe überheben sollte, die ihr ihre neue Lage drückend gemacht hätte.

Am folgenden Morgen begleitete Sophie ihre junge Freundin in ihre neue Wohnung. Die Physionomien der Frau Reinold und ihrer Tochter Nantchen, noch mehr aber ihr freundlicher Empfang versprachen Charlotten eine mehr als erträgliche Gesellschaft. Beide ließen ihre Arbeit liegen, und waren um die Wette bemühet, ihr und Sophien ihr kleines Zimmer einrichten zu helfen. Charlottens Thränen waren vertrocknet, allein 49 sie fiengen an zu fliessen, als sie sich von ihrer Begleiterin trennte. Ich werde Sie öfters sehen, meine Tochter, sagte Sophie auf französisch zu ihr, und jeden Sonntag müssen Sie, wie bisher, bey uns zubringen. Diesen Trost erwiederte sie, muß ich mir bis zur Entfernung des Mannes versagen, den ich lezten Sonntag bey Ihnen antraf, er wird meine Begebenheit erfahren, und mich vielleicht sprechen wollen; ich beschwöre Sie, ihm meinen Aufenthalt zu verbergen. Ein fester Händedruk war Sophiens Antwort und Abschied.

Den Rest des Tages brachte Charlotte mit Anlegung ihrer kleinen Werkstätte zu. Sie kaufte sich einige Ellen Nesseltuch, Flor, Schleyer und überhaupt alle Materialien und Werkzeuge, die ihr Gewerbe erforderte, und mit dem folgenden Morgen fieng sie an zu arbeiten. Freilich entwischte ihr bisweilen ein Seufzer, wenn sie an das Woldemarische Haus zurükdachte. Das Bild der guten Emilie schwebte ihr oft vor den Augen; selbst Ostens Unterredung konnte sie nicht vergessen. Sie wiederholte sich alle seine Worte, und fand etwas süsses in dem Gedanken, ein Opfer der Hochachtung dieses edlen Mannes zu seyn.

Fünf Tage hatte Charlotte in ihrer Einsamkeit zugebracht, als sie einen Besuch von Sophien erhielt. Es war Sonntag. Frau Reinold und 50 ihre Tochter waren ausgegangen; Charlotte saß auf ihrem Zimmer bei einem Buche. Sie flog in Sophiens Arme; o wie gut sind Sie, daß Sie mich an dem Tage, den ich sonst immer an Ihrer Seite feyerte, nicht vergessen.

Soph. Sie werden doch nicht denken, daß ich Sie an einem der vorigen Tage vergessen konnte? Nein, liebes Kind, mehr als jemals war ich und Ihre Freunde mit Ihnen beschäftigt.

Ch. Sie und meine Freunde? Habe ich denn ausser Ihnen und Ihrem Gatten noch Freunde in der Welt?

Soph. O ja, meine Lotte, Sie haben noch einen Freund, dem ich und Jansen mit Freuden den Vorrang einräumen. Hören Sie mich an.

Sophie sezte sich neben Charlotten auf ihr Bette. Sie faßte ihre Hand zwischen die ihrigen; feyerliche Wonne entstrahlte ihren Blicken. Zween Tage nach unsrer Trennung, so fuhr sie fort, besuchte uns Herr Osten, und bat mich, ohne Umweg ihm noch eine Unterredung mit Ihnen zu verschaffen. Dieses ist keine leichte Sache mehr, antwortete ich; wir haben Charlotten versprechen müssen, ihren jezigen Aufenthalt zu verschweigen, denn vermuthlich wissen Sie, daß sie nicht mehr in dem Woldemarischen Hause ist. Er erblaßte. Davon weiß ich nichts. Sie dürfen doch der 51 Freundschaft die Ursache ihrer Entfernung anvertrauen. Ihre Ehre, liebste Lotte, erlaubte mir nicht, sie ihm zu verhehlen. Sein Gesicht flammte, aber er schwieg und saß unbeweglich auf seinem Stuhle. Nach einigen Minuten sagte er ganz gelassen: ich weiß nicht, wo Madame Woldemar den Gedanken hernimmt, daß ich Absichten auf ihre Tochter habe: sie ist liebenswürdig, und ich halte sie für ein sehr gutes Kind; allein für einen Mann von meinen Jahren und von meiner ernsten Laune ist sie zu jung. Der Geist und der Charakter meiner Gattin müssen schon gebildet seyn, sie muß schon am ersten Tage meine Gesellschafterin, meine Freundin seyn können. Diese Eigenschaften, fuhr er fort, glaubte ich bey Mademoiselle Hellborn zu finden: das Gemählde, so Sie mir von ihr machten, bekräftigte die Ahnung meines Herzens. Sophie hielt inne; Charlotte war an ihre Brust gesunken, ihr Herz klopfte heftig, und die Züge ihres Odems waren so schnell als seine Schläge. Sophie umarmte sie, und faßte mit ihrem Gesichte die Thränen auf, die heiß über ihre Wangen rieselten. Sie ließ ihr Zeit, sich zu erholen. Können Sie mich aushören? sagte sie endlich mit freundlichem Lächeln.

Ch. Ich will es versuchen.

Soph. Ich sah Herrn Osten mit einem Blik an, der ihm Freude aber kein Erstaunen ausdrückte. 52 Er verstand mich, und sagte zu mir im Tone des innigsten Vertrauens: da Sie mir keine Unterredung mit Charlotten verschaffen können, so muß ich ihr meine Gesinnungen schriftlich eröffnen. Sie wollen doch meine Briefträgerin seyn? Mit Vergnügen, versezte ich, ich bin stolz auf einen Auftrag, der mich zum Werkzeuge der edelsten Handlung macht, die das Leben eines Mannes zieren kann. Dann wandte er sich nach meinem Gatten: Sie wissen, mein lieber Jansen, daß die Vorsehung mich in eine Lage versetzt hat, die mir die Freiheit läßt, bei der Wahl meiner Gefährtin blos der Stimme meines Herzens zu folgen. Dieses Herz sehnet sich nach einem stillen häuslichen Glücke, und meine Vernunft sagt mir, daß ich es in dem Besitze ihrer jungen Freundin finden werde. Was ich von ihr gesehen und gehört habe, überhebt mich der Mühe, sie durch einen langen Umgang zu prüfen. Sie werden glauben, daß ich nicht ohne Ueberlegung handle, und daß mein Entschluß keine Würkung einer flüchtigen Leidenschaft ist. Charlotte kennet mich weit minder, als ich sie kenne: allein ich denke, unsre gemeinschaftliche Freundin kann sie besser mit mir bekannt machen, als ich selber es hätte thun können; die Liebe, sagt man, verleitet auch die guten Menschen, sich nur von ihrer vortheilhaften Seite zu zeigen. Morgen bringe ich Ihnen meinen Brief an Charlotten. 53 Hier ist er, fuhr Sophie fort, indem sie ihn aus ihrem Busen zog: er hat ihn uns offen zugestellt. Charlottens Hände bebten, als sie das Blatt entfaltete; sie las:

»Wir sind einander nicht mehr fremd, liebenswürdige Charlotte! Sie müssen schon wissen, daß ich Sie sehr hoch schätze, ich darf Ihnen also nur noch sagen, daß ich Sie liebe, daß ich Sie zur Gefährtin meines Lebens zu machen wünsche. Ist Ihr Herz so frei als das meinige, und hoffen Sie, an meiner Seite glücklich zu seyn, so biete ich Ihnen meine Hand an. Ich denke, der unerwartete Vorfall, der mir heute Ihre Thüre verschließt, werde Sie nicht hindern, mir zu erlauben, Ihre Antwort in Sophiens Begleitung selber bei Ihnen abzuholen. Sie würden mir das nicht seyn, was Sie mir sind, wenn ich es für Sie oder für mich nöthig fände, Ihnen mehr zu sagen.

Eduard Osten

Unnennbare Gefühle erhoben sich bei Lesung dieser Zeilen in Charlottens Brust. Lange hielt sie schweigend das Blatt in ihrer Hand, die Buchstaben flimmerten ihr wie Sterne des Himmels vor den Augen: nun weihte sie es mit Thränen der Wonne und des Dankes, und drückte es an ihr Herz. Ich kann, sagte sie nach einem langen gedankenvollen Stillschweigen, dem Besten unter den Menschen 54 nicht anders als schriftlich antworten. Sie werden meine Antwort lesen, theure Freundin, und meinen Entschluß billigen. Morgen früh will ich sie Ihnen durch Nantchen zuschicken. Ich hoffe, ich werde auch die Antwort selbst billigen, erwiederte Sophie. Das werden Sie, sagte Charlotte, indem sie ihr um den Hals fiel, ich werde sie unter den Augen meiner beiden Mütter niederschreiben.

Sophie verließ sie. Noch lange wogte ihre Seele in einem Meere von Empfindungen, die den Busen eines Engels nicht entweiht hätten. Bald hob sie ihre gefalteten Hände gen Himmel, bald segnete sie den Mann, dessen wohlthätige Hand ihr die Pforte des höchsten Erdenglückes aufschloß; dann setzte sie sich hin, und schrieb ihm folgende Antwort:

»Möchte dieser seltene Mann dein Freund werden! so sagte ich zu mir selber, als Sie letzten Sonntag das Haus meiner zweiten Mutter verliessen: und nun will dieser Mann die arme Waise, die diesen stolzen Wunsch hegte, zu einer noch höhern Würde erheben. Ich müßte den Werth Ihrer Güte, ich müßte die Seligkeit, von Ihnen geliebt zu seyn, nicht in ihrem ganzen Umfange fühlen, wenn ich Ihnen den Eindruck schildern wollte, den Ihre Zuschrift auf mein Herz machte. O glauben Sie mir, mein edler Freund, es ist der innigsten Dankbarkeit fähig; daß es auch der 55 innigsten Zärtlichkeit fähig sey, weiß ich seit einer Stunde. So übergebe ich es Ihnen; es ist alles, was ich habe, ich fühle, daß es wenigstens durch das Gepräge Ihres Bildes den Werth erhält, den Sie ihm beilegen; Sie müßten es aber ganz kennen: Dankbarkeit und Freundschaft knüpfen es an Emilien Woldemar. Die holde unschuldvolle Seele ist vielleicht in ihrem ganzen Hause die einzige, die mich des Verdachtes unfähig hält, dem ich aufgeopfert wurde. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, selbst um Ihretwillen, bester Mann, kann ich ihn nicht ertragen, daß Ihr so unerwartetes großmüthiges Anerbieten die Verläumdung rechtfertigen, und mir die Achtung meiner jungen Freundin entziehen könnte. Wenn also einst mein Glück vollkommen seyn, wenn es durch keine Wolke getrübt werden soll, so muß ich erst alsdann in den vollen Genuß desselben eintreten, wenn die Hand meiner jungen Freundin vergeben ist. Emiliens Reitze, die liebenswürdigen Eigenschaften ihrer Seele und ihre glänzenden Glücksumstände sind mir Bürge, daß das Ziel, welches ich der Erfüllung meiner süssesten Hoffnung setze, nicht weit entfernt seyn kann. Lassen Sie, mein Geliebter, die erste Bitte Ihrer Lotte nicht unerhört. Unterdessen wird ein schriftlicher Umgang sie Ihnen näher bekannt und vielleicht Ihrer würdiger machen. 56 Wenn Sie meine Gründe billigen, und ich habe die stolze Zuversicht es zu hoffen, so werden Sie mir selbst rathen, jede persönliche Zusammenkunft mit Ihnen bis auf günstigere Augenblicke zu verschieben. Wir werden beobachtet, davon habe ich Beweise; das sicherste Mittel, die Schmähsucht zu besiegen, ist, ihren Pfeilen auszuweichen. Lassen Sie uns in der Stille den Tag erwarten, an dem mir vergönnt seyn wird, mich vor der Welt zu nennen, wie ich mich jezt im geheimsten Heiligthum der Freundschaft nenne

Ihre ewig dankbare  
Charlotte Hellborn

Osten laß diesen Brief zweimal, und das zweitemal mit heiterer Stirne. Charlotte ist mehr, als ich erwartete; beinahe mehr als ich wünschte, sezte er lächelnd hinzu; doch nein, ich muß dem edlen, holden Geschöpfe sein Zartgefühl lassen. Indessen würde es mir wehe thun, wenn ich sie vor meiner Abreise nicht wenigstens einmal sprechen könnte; ich will ihr nichts davon schreiben; so gern ich ihr dieses Vergnügen verdankte, so will ich es doch eher von irgend einem günstigen Umstand erwarten. Die reinste Hochachtung und eine auf sie gegründete Zärtlichkeit athmeten in jedem Ausdrucke seines Briefes an Charlotten. Die Liebe, sagte er, wollte mich abhalten, die mir auferlegte 57 Bedingung einzugehen. Ich las sie zum zweitenmal, und nun leitet die Liebe selbst mir die Hand zur Unterschrift. Indeß ich aber den Zeitpunkt unsrer Verbindung in Altona erwarte, will ich nicht, daß meine Geliebte sich die Bedürfnisse ihres Lebens durch ihrer Hände Arbeit erwerbe. Unser Freund Jansen wird Ihnen vierteljährig eine Summe von hundert Thalern zu Ihrem Unterhalte voraus bezahlen. So gering diese Summe ist, so bin ich doch so eigennützig zu wünschen, daß diese Zahlung mit dem ersten Quartal aufhören möge; Ihrem Freunde, Ihrem Verlobten dürfen Sie seine Bitte nicht abschlagen.

Charlotte schlug sie ab. Ich bin zur Arbeit gewöhnt, sagte sie in ihrer Antwort, und auch als Eduards Gattin werde ich diese Gewohnheit nicht ablegen. Lassen Sie mir, mein Geliebter, die Freude, zu versuchen, ob meine Hände mich ernähren können; mißlingt der Versuch, so verspreche ich Ihnen, meine Zuflucht zu Ihrer Güte zu nehmen. Was würde über dieses meine Wirthin, was würden meine übrigen Hausgenossen sagen, wenn sie sähen, daß eben das Mädchen, das bereits seine kleine Werkstatt eingerichtet hatte, auf einmal die Hände in den Schooß legte, um von unbekannten Renten zu leben, Ich kann meinem Verlobten ausser meinem Herzen nichts zubringen 58 als einen unbescholtenen Namen. Lassen sie mich, mein Theuerster, diese Mitgift auch vor dem leisesten Hauche der Verläumdung bewahren, und bis zum Augenblik unserer Verbindung nur das scheinen, was ich bin, eine arme Waise.

Ich muß der lieben heroischen Schwärmerin wohl ihren Willen lassen, sagte Osten, als ihm Sophie diesen Brief vorlas. Ihnen, meine Freundin, trage ich die Sorge auf, sie wenigstens vor allem Mangel zu schützen. Sie selbst, versezte Sophie, bietet mir dazu ein leichtes, unschuldiges Mittel an. Ich werde ihr durch die dritte Hand alle ihre Arbeiten abnehmen und so bezahlen, daß sie jedes ihrer Bedürfnisse daraus bestreiten kann. Ihr Einfall ist vortrefflich, rief Osten, ich lege einen Beschlag auf alle ihre Waaren, Lotte soll sie einst in ihrer Garderobe wieder finden. Er schrieb ihr, daß er nie einen andern Willen als den ihrigen haben werde, und meldete ihr zugleich, daß er auf einige Tage mit der Woldemarischen Familie auf das Land gehen müßte. Sophie konnte ihr diesen Brief nicht selbst überbringen, weil eine Unpäßlichkeit sie nöthigte, das Zimmer zu hüten. Drei Tage vergiengen, ohne daß Charlotte ihre Freundin zu sehen bekam. Da ihre Unpäßlichkeit anhielt, so konnte sie dem Drang ihres Herzens, sie zu besuchen, nicht länger widerstehen. Ostens 59 Abwesenheit hob die einzige Bedenklichkeit, die sie von diesem Besuche abhalten konnte: sie würde sich noch weniger besonnen haben, wenn sie gewußt hätte, daß diesesmal auch die Kundschafterin Hedwig mit auf dem Gute war, wo das Geburtsfest des Herrn Woldemar gefeyert wurde. Sie kam zu Sophien. Arm in Arm saß sie neben ihr, und unterhielt sich mit ihr von ihrem Geliebten, von ihrem Glücke, von ihren Planen, als dieser Geliebte in's Zimmer trat. Beide waren überrascht; die froheste Verwirrung röthete Charlottens Wangen. Lächelnd näherte sich Osten dem holden Mädchen, das kaum die Kraft hatte sich aufzurichten; er faßte sie bei der Hand, die er an seine Lippen drückte. Der Zufall, liebe Charlotte, der uns zum erstenmale zusammenführte, giebt mir einen neuen Beweiß seiner Gunst. Doch nein, ich mag dem Zufall nicht zuschreiben, was das Werk einer wohlthätigen Fügung und ihrer reizenden Stimme war. Mein heutiges Glük verdanke ich der Freundschaft: sie hat uns beide zu Sophien geleitet; mich, um sie zu bitten, mir eine Unterredung mit Ihnen auszuwürken. Ein Brief, den ich diesen Morgen von meinem Oheim in Helsingör empfieng, welchen ich seit meiner Rükkehr in's Vaterland noch nicht gesehen habe, nöthigt mich, Kopenhagen auf einige Wochen zu verlassen, und mein 60 Herz, liebste Lotte, schmeichelt sich, in dem Ihrigen seine Verzeihung zu finden, daß es sich mit keinem schriftlichen Abschiede begnügen wollte. Mit einem Blicke, den Apelles dem Auge einer Charis hätte leihen können, erwiederte Charlotte: der Edelste unter den Menschen wird nie meiner Verzeihung bedürfen; mein Herz weiß, was es ihm schuldig ist, und wenn es sich dem Zwange der Umstände unterwirft, so geschieht es darum, weil es die Hochachtung seines Wohlthäters nicht ohne seine eigene glaubt erhalten zu können. Sophie und Osten nahmen sie zwischen sich auf das Kanapee, und nun begann ein Gespräch, darinn die reine, schöne Seele des Mädchens sich ganz entfaltete. Osten fühlte in vollem Maaße die Seligkeit, von einem solchen Geschöpfe geliebt zu seyn. Er schlang seinen Arm um Charlotten, und drückte den ersten Kuß auf ihre hochglühende Wange. Nun zog er einen kostbaren Diamant hervor und stekte ihn an ihren Finger: weil ich aber weiß, setzte er hinzu, daß die bescheidene Lotte dieses Pfand unsers ewigen Bundes jezt noch vor der Welt verbergen wird, so mag indeß dieses seine Stelle vertreten. Mit diesen Worten übergab er ihr einen andern höchst einfachen Ring, der eine goldene Schlange, das Sinnbild der Ewigkeit, vorstellte, und in deren innerem Rande, da, wo die beiden Ende sich 61 vereinigten, die Buchstaben E und C verschlungen waren. Charlotte sank an seine Brust, ihre Schluchzer erstikten ihre Worte. Gott! Gott! es ist also kein Traum, stammelte sie endlich, werde ich mein Glück ertragen können? Lange ruhte ihr Herz auf dem Herzen ihres Geliebten; es fühlte seine Schläge, die den Schlägen des ihrigen antworteten, und beider Seelen schienen ihre Wohnungen zu wechseln. Sophie und Jansen feierten schweigend die himmlische Szene. Noch eine Stunde blieben sie beisammen im Heiligthume der Freundschaft und Liebe. Es fieng an dunkel zu werden. Charlotte wand sich empor aus dem Strudel der Wonnegefühle, in dem sie schwebte. Genug Seligkeit für einmal, sagte sie zu ihrem Geliebten, lassen Sie mich in meine Einsamkeit zurükkehren, so lange ich noch Kraft habe zu gehen. Jansen bot ihr seinen Arm an. Leben Sie wohl, mein Freund, mein Geliebter, die Vorsehung bringe Sie gesund wieder zurück; ich werde keinen Augenblick von Ihnen getrennt seyn. Sie sprach es, und küßte ihn mit dem heiligen Kusse der Liebe. So küsset die entkörperte Seele den Schuzengel, der ihr die Pforte des Paradieses öffnet.

In tiefer festlicher Stille wandelte sie an der Seite ihres Führers durch die volkreichsten Strassen der Residenz, ohne einen Menschen wahrzunehmen. 62 Jansen wollte sie nicht in ihrer Einsamkeit stören. Unfern ihrer Wohnung kam sie durch ein schmales Gäßchen, wo ihr aus einem niedern Hause die Stimme des Wehklagens entgegen schallte. Hier weint man, rief sie, indem sie plözlich wie aus einem Traume auffuhr. Ach, lieber Freund! lassen Sie uns hineingehen. Jansen ließ sich von ihr fortziehen. Sie traten in eine kahle Stube des Erdgeschosses: eine blasse weibliche Gestalt, die eben aus einer Ohnmacht zu erwachen schien, saß hingewelkt auf einer Bank von drei weinenden Kindern umgeben, wovon das älteste sie mit Wasser besprengte: von den beiden andern hielt jedes eine ihrer Hände, die es bald mit Thränen benezte, bald an seinen Mund drückte. Das Weib schien die fremde Erscheinung nicht zu bemerken. Was giebt es hier, liebe Kinder, ist eure Mutter krank? fragte Charlotte mit ihrer süssen Stimme. Ach! sie hat schon zween Tage nichts gegessen, antwortete das älteste Mädchen, unser Vater, der uns ernährte, ist seit voriger Woche todt, nun haben wir kein; Brod mehr: seine Säge und seine Axt sind verkauft, seit zween Tagen versuchten wir es, zu betteln. Die wenigen Pfenninge, die wir erhielten, brachten wir unsrer Mutter: sie kaufte ein Brod dafür, das sie unter uns vertheilte. Sie wollte nichts davon nehmen, sie sagte, sie habe keinen 63 Hunger; ach, lieber Gott! und doch wurde sie vor Hunger ohnmächtig. Hastig zog Charlotte ihre Börse aus der Tasche, und schüttelte sie dem Weibe in den Schoos. Hier, hier, gute Frau, kauft Euch zu essen für Euch und Eure Kinder. Seyd glücklich! ach um Gottes willen seyd auch glücklich, sonst bin ich es nicht mehr. Das Weib sah Charlotten in starrer Betäubung an; endlich versuchte sie's, ihre kraftlosen Hände zu falten. So nehmt doch euer Geld, liebe Frau, fuhr Charlotte fort. Geh, mein Kind, in die nächste Garküche, hole euch etwas zu essen: laufe, spare das Geld nicht. Sie gab dem Mädchen einen Thaler von dem hingeschütteten Gelde. Jansen redete nicht; er ließ Charlotten machen; es war ihm so wohl, ein Zuschauer dieses Auftritts zu seyn. Das Mädchen gieng: die Mutter wollte Charlottens Kniee umfassen: sie riß sich los, ergriff ihren Führer beim Arme und eilte mit ihm davon.

Die Hütte lag kaum hundert Schritte von ihrer eignen Wohnung. Jezt blieb sie an der Thüre stehen: gute Nacht, mein Vater, flüsterte sie mit einem langen Händedruck Herrn Jansen zu und flog die Treppe hinauf. Jansen kehrte im Vorbeigehen wieder bei der armen Wittwe ein: sie war noch kaum zu sich selbst gekommen. Er beschied sie auf den folgenden Morgen zu sich, und eilte, mit 64 Sophien die Gefühle seines frohgerührten Herzens zu theilen. Er traf Herrn Osten noch bei ihr; er erzählte ihm das göttliche Schauspiel, das er genossen hatte. Eine Zähre glänzte im Auge des edlen Mannes. Ich wußte wohl, sagte er, daß ich mich nicht an ihr betrog; nicht mich allein, alles, was sie umgiebt, wird sie glücklich machen. Er hinterließ Sophien ein Geschenck für die Wittwe, und trug Herrn Jansen auf, sie in der Baumwollenspinnerei eines seiner Freunde unterzubringen.

Während er bei Sophien allein war, sagte er ihr, daß, wenn er auch seines Oheims wegen nicht abgereist wäre, ein anderer Grund ihn genöthigt haben würde, sich auf einige Zeit von Kopenhagen zu entfernen. Seit drei Tagen habe ich einen vermeinten Nebenbuhler bei Emilien; es ist ein sehr angenehmer junger Mann, der von der Insel St. Croix zurückkömmt und beträchtliche Wechsel auf unser Haus hatte. Woldemar hat ihn mit seiner gewöhnlichen Leutseligkeit empfangen und zu Tische gebeten: seine Gattin hat diese Einladung schon zweimal wiederholt, entweder um mich aus Furcht vor einem Mitwerber zum Sprechen zu bringen oder um mich durch die Begünstigung desselben für mein Stillschweigen zu bestrafen. Der junge Mann, der mir mit der verbindlichsten Achtung begegnet, verräth schöne Kenntnisse und feine Sitten; Emilie scheint 65 Eindruck auf ihn zu machen, und wenn ich mich nicht sehr irre, so fängt sie an, Geschmack an ihm zu finden. Die Ehre und mein eigenes Glück verbinden mich, diesem Freier aus dem Wege zu gehen und die Projekte der Madame Woldemar durch einen Schritt zu begünstigen, der ihr über meine Gesinnungen keinen Zweifel mehr übrig lassen kann.

Charlotte hatte sich, als Jansen sie verließ, leise auf ihr Zimmer begeben und die Thür hinter sich verschlossen. Sie wollte, sie mußte allein seyn; alle Fibern ihres Herzens waren gespannt; der Anblick der unglücklichen Familie erhöhte noch die Farben der glänzenden Aussicht, die sich ihr öffnete. Eine leise Psalmodie, keinem sterblichen Ohre hörbar, stieg aus ihrem Busen gen Himmel. Sie hatte kein Licht, und dieses heilige Dunkel erhöhete ihre Andacht. Jetzt drang ein Strahl des aufgehenden Mondes in ihr einsames Heiligthum; sie glaubte den Abglanz des Unsichtbaren zu erblicken, den sie suchte. Lange saß sie hier in feierlicher Extase, alle Organe ihrer Seele schwiegen; die Seele selbst lag als ein Dankopfer zu den Füssen des grossen Einzigen hingegossen. Die Stimme ihrer Wirthin rief sie auf die Erde herab. Sie that sich Gewalt an, um an der Abendmahlzeit Theil zu nehmen. Der Gedanke, daß in diesem Augenblick eine arme Familie durch sie gesättigt ward, würzte ihr die 66 wenigen Bissen, die sie zu sich nehmen konnte; sie hätte ein Jahr ihres Lebens darum gegeben, wenn sie alle Hungrigen hätte sättigen, alle Traurenden trösten können. Gleich nach Tische kehrte sie auf ihr Zimmer zurück, und der Seigerschlag der Mitternacht wekte sie erst aus ihrer Entzückung, deren feierlich reizende Bilder sie in die Arme des Schlafes begleiteten.

Am folgenden Morgen kehrte sie so eifrig an ihre Arbeit zurück, als ob es nicht von ihr abgehangen hätte, sich unbesorgte bequeme Tage zu verschaffen, und in wenig Wochen war sie im Stande, für 25 Thaler Waaren zu verkaufen. Sie übergab sie der Frau Reinold, die sie in der Stille Sophien überbrachte, welche ihr den Preis dafür zustellte. Charlotte überließ ihrer Wirthin einen Theil ihres Gewinnes, und so half sie, ohne es zu wissen, das Geheimniß dieses Verkehrs sichern.

Da nun Osten verreist war, machte sich Charlotte weniger Bedenken, ihre Freundin ungescheut zu besuchen, und sie theilte ihre Erholungsstunden zwischen ihr und dem Briefwechsel mit ihrem Geliebten. Jeder ihrer Briefe machte sie ihm theuer, weil jeder einen neuen Zug ihres hellen Verstandes oder ihres lautern gefühlvollen Herzens enthüllte. Die Entfernung machte sie ihm schneller und inniger bekannt, als es bey einem persönlichen Umgange nicht hätte geschehen können: die sittsame 67 Schüchternheit des Mädchens, und selbst die Ehrfurcht, die sich in ihre Zärtlichkeit mischte, würden ihr in seiner Gegenwart die Zunge gebunden haben.

Bald nach Ostens Abreise berief Herr Woldemar Jansen auf sein Cabinet, und bezeugte ihm seine Unzufriedenheit über den raschen Entschluß seiner Gattin, Charlotten fortzuschicken. Wäre ich zu Hause gewesen, sagte er, so wäre es nicht geschehen. Indessen bin ich dem armen Mädchen eine Entschädigung schuldig. Geben Sie Ihr in meinem Namen diese zwölf Dukaten, mit der Versicherung, daß sie sich in jedem Anliegen mit kindlichem Vertrauen an mich wenden könne. Jansen durfte diesen Auftrag nicht ausschlagen, den er freilich mit einem einzigen Worte hätte ablehnen können. Charlotte sandte Herrn Woldemar das Geld mit einem rührenden Dankschreiben zurück, darinn sie ihm meldete, daß seine würdige Tochter ohne sein Wissen sie bereits in den Stand gesetzt habe, sich durch ein kleines Gewerbe ihren Unterhalt zu verschaffen. Jansen bestätigte diese Versicherung, die Herrn Woldemar beruhigte, und zugleich seine Hochachtung für das seltne Mädchen vermehrte. Die Ursache ihrer Verabschiedung erwähnte er nicht, aber sein Herz wußte es seiner Tochter Dank, daß sie dem seinigen zuvorkam, und es kostete ihn viel, daß er aus Schonung gegen ihre 68 Mutter ihr seinen Beifall verschweigen mußte. Doch konnte er sich nicht enthalten, als einst von Charlotten die Rede war, Emilien zu sagen: er sei überzeugt, daß Mißverstand oder Verläumdung ihr den Unwillen ihrer Mutter zugezogen habe.

Osten war schon sechs Wochen abwesend. In seinem lezten Briefe an seine Geliebte erwähnte er seiner baldigen Rükkunft, und Charlotte, deren Liebe auf dem festen Grunde der Freundschaft immer tiefere Wurzeln schlug, erwartete ihn mit zärtlicher Ungeduld. Eines Tages schickte ihr Sophie, die nicht ausgehen konnte, folgendes Briefchen, dessen Bestellung Emilie ihr aufgetragen hatte.

»Ich habe Dich nicht vergessen, liebe Lotte, Du versprachest mir einst, meine Hausgenossin zu werden, und nun nehme ich Dich beim Worte. Ich bin Braut, meine Freundin, ich bin eine glückliche Braut. Mein guter Vater, der den Wunsch meines Herzens errieth, war der erste, mir vorzuschlagen, Dich zu mir zu nehmen, und mein Bräutigam, der alles will, was mir Vergnügen macht, hat mit Freuden dareingewilligt; selbst Mama ist es zufrieden, und erlaubt mir, an Dich zu schreiben. Halte Dich also bereit, liebe Lotte, Deine vorige Stelle wieder bei mir einzunehmen. Ich sage Dir nichts von den Bedingungen, wenn Du sie meinem Herzen nicht überlassen willst, so sollst 69 Du selbst sie bestimmen. Melde mir Deinen Entschluß, in wenig Tagen hoffe ich Dich zu sprechen. Ich bleibe was ich immer war

Deine Freundin
Emilie.«      

Charlottens Herz wurde von einem Strome namenloser Gefühle hingerissen, als sie das Briefchen las, das ihr mit Emiliens Glücke zugleich ihr eigenes ankündigte. Sie lächelte, sie weinte, sie erröthete im gleichen Augenblicke. Ostens Bild trat ihr vor die Seele. Im süssesten Taumel der Liebe kündigte sie ihm an, daß nun die Stunde ihrer innigsten Vereinigung geschlagen habe. Doch mitten in ihrer Entzückung, vergaß sie die holde Emilie nicht, die ihr einen so rührenden Beweis ihrer Freundschaft gab. Oft hatte sie Sophien geklagt, wie sehr es sie schmerzte, nur wenig Schritte von dem guten Kinde entfernt und dennoch von ihr getrennt zu seyn, und sie hatte dieser Freundin mehr als einmal ihre heissen Grüsse an sie aufgetragen. Nun fand sie einen Anlaß an sie zu schreiben, und sie that es in der ersten Aufwallung ihrer Freude:

»Die edle, liebenswürdige Emilie ist sich immer ähnlich; o wüßte sie, was ihre gütige Zuschrift für eine Wohlthat für mich war: dennoch kann ich die nicht annehmen, welche sie mir 70 anbietet. Der Tag Ihrer Vermählung wird ein hohes, heiliges Fest für mich seyn; mit Thränen der Freude und des Segens werde ich Sie an den Altar begleiten. Sie werden Ihre treue Lotte nicht sehen, aber der wird sie sehen, zu dem meine Wünsche für Sie hinaufsteigen werden. Bald hoffe ich, mich meiner holden Wohlthäterin zu nähern, und ihr in einer stillen, einsamen Stunde mein Herz zu öffnen, das nie aufgehört hat, Ihres Andenkens – und – ich weiß, Sie erlauben mir es zu sagen – Ihrer Freundschaft würdig zu seyn.

Charlotte Hellborn«.

Charlotte saß an ihrer Arbeit, indeß ihre Seele sich an der heitern Aussicht weidete, die wie ein Elysium vor ihr lag. Sie sang mit halbleiser Stimme die Arie, der sie die erste Bekanntschaft mit ihrem Geliebten verdankte, als Jansen von einem Fremden begleitet in ihr Zimmer trat. Gott! mein Gustav, mein Bruder! rief sie, indem sie von ihrem Stuhl aufsprang und ihm in die Arme flog. Sie ist es, es ist meine theure Lotte, endlich find' ich Dich wieder, rief Gustav, der sie fest an sein Herz drückte und ihre Wangen mit Küssen bedekte. Lange hielten sie sich umschlungen; Charlotte hieng wonnebebend am Halse ihres Bruders, ihre Lebensgeister stockten, ihr Wesen schien in süsser Ohnmacht aufgelöst. 71

Jans. Fassen sie sich, liebes Kind, oder ich führe Ihren Bruder wieder mit mir fort; indem Sie ihn wieder finden, soll er Sie nicht verlieren.

Charl. O Heil Ihnen, mein Vater! Sie sind mir ein Engel vom Himmel. Ach Gustav, lieber Gustav, wie kömmst Du hieher?

Gust. Ich bin schon lange hier, aber erst heute erfuhr ich . . . .

Charl. O vermuthlich durch diesen wackern unschäzbaren Freund.

Gust. Nein, durch Deinen Brief an Emilien.

Charl. An Emilien, kennst Du sie?

Gust. Sie ist meine Braut.

Charl. Sie Deine Braut? (mit gefalteten Händen) Gott! hab' ich recht gehört? wache ich? o hilf mir meine Freude tragen! Emilie seine Braut? meine künftige Schwester?

Ihre Kraft war erschöpft; sie mußte sich auf ihr Bette setzen, ihr Bruder sezte sich neben sie. Ich war bey ihr, fuhr er fort, indem er den Arm um sie schlang, ich war bey ihr, als sie dein Briefchen erhielt. Sie hatte mir von ihrem Wunsche gesprochen; mit einer Thräne im Auge gab sie mir Deine Antwort zu lesen; auch ohne Deine Unterschrift würde ich Deine Hand erkannt haben. Ich verbarg ihr, so gut ich konnte, mein süsses Erstaunen, und erbot mich, selber mit Madame Jansen zu 72 sprechen. Bei ihr erfuhr ich alles, und eilte in Deine Arme.

Charl. O, lieber Bruder, sage ihr noch nichts von deiner Entdeckung, warte nur noch acht Tage.

Gust. Acht Tage? wohl, soviel es mich auch Ueberwindung kosten wird; allein unsrer Verbindung muß meine Schwester beiwohnen.

Charl. Das will ich, lieber Gustav, es würde mich sehr grämen, wenn ich es nicht könnte. Sommer (dieses war Gustavs Geschlechtsname) öffnete seine Brieftasche, und zog einen Bankozettel von dreihundert Thalern heraus. Nicht um meinetwillen, nicht um Emiliens willen, aber des Zirkels wegen, der uns umgeben wird, will ich, daß meine Schwester auf eine anständige Art, wie man es nennt, darinn erscheine.

Charl. Dank, lieber guter Gustav, ich bedarf nichts, ich habe hier einen offenen Wechsel, der mich in den Stand setzen wird, Deinem gerechten Wunsche zu entsprechen. Du erstaunest? das glaube ich. Hier mein zweiter Vater ist mein Zeuge, daß ich die Wahrheit sage, und daß ich es thun kann, ohne zu erröthen; allein darf Deine Lotte Dich fragen, wie Du zu dem Glanze kamst, in dem ich Dich erblicke?

Gust. Meine Geschichte ist kurz, aber ein grosses Dokument zum Glauben an eine höhere Fügung. 73 Du weißt, daß ich vor mehr als drei Jahren als Schiffsschreiber mit einem Westindienfahrer Europa verließ. Ich wollte nach dem Tode unsrer guten Mutter Dich ihrer kleinen Verlassenschaft nicht berauben, und da ich meine Studien nicht endigen konnte, in einem anderen Welttheil mein Brod suchen. Unsre Fahrt gieng nach der Insel St. Croix; hier hatte ich das Glük, durch die Empfehlung meines Schiffspatrons Hauslehrer bei einem der reichsten Pflanzer zu werden, der einen einzigen fünfzehnjährigen Sohn hatte. Ich erwarb mir das Vertrauen des Vaters, und die Liebe des Sohnes. Ich arbeitete mit Frucht und Beifall; ein glänzender Erfolg fieng an meine Bemühungen zu krönen, als der liebenswürdige hoffnungsvolle Jüngling nach sieben Monaten von den Blattern hingerafft wurde. Der trostlose Vater war Wittwer und ein kränklicher Greis von siebenzig Jahren. Er schlug mir vor, bis an sein Ende bei ihm zu bleiben, und versicherte mir einen Theil seines Vermögens, wozu er ohnehin nur sehr entfernte Erben hatte. Auch ohne diese Aussicht würde ich den edlen, rechtschaffnen Mann nicht verlassen haben; er starb lezten Frühling, und hinterließ mir ein Vermächtniß von mehr als achtzig tausend Thalern. Ich verwandelte es in sichere Wechsel, wovon die meisten auf das Haus Woldemar und Osten ausgestellt waren, 74 und lief vor beynahe zween Monaten glücklich hier ein. Ich schrieb in unser Vaterland und besonders an den guten Lambert, um Nachrichten von meiner Lotte einzuziehen, der ich von St. Croix aus zweimal aber vergebens geschrieben hatte; auch diese Briefe blieben unbeantwortet und mein Correspondent konnte nichts von ihr erfahren. Meine Geschäfte im Woldemarischen Hause machten mich mit Emilien bekannt; das übrige hat sie selbst Dir gemeldet.

Charlottens Freudenthränen fiengen wieder an zu fliessen, und jeden Augenblick umarmte sie ihren Bruder von neuem. Wie werde ich die Stunden zählen, sagte sie, bis ich meine Schwester, die Liebste, die Du mir geben konntest, an mein Herz drücken darf. Für jetzt, lieber Gustav, muß ich Dich noch einmal um die strengste Verschwiegenheit bitten. Gehörte mein Geheimniß nur mir allein zu, so würde es keines mehr für Dich seyn. Erst wenn ich reden darf, wirst Du erkennen, wie viel mein Stillschweigen mich kostet. Sage indessen Emilien, daß ich sie in wenig Tagen selber sprechen werde, und Sie, mein theurer Vater, erlauben Sie mir nun, von dem Anerbieten Gebrauch zu machen, das ich vor ein paar Monaten ablehnen mußte. Morgen beziehe ich das Zimmer, das Sie mir damals einräumen wollten; ich habe keine Ursache 75 mehr, mir das Glück, unter Ihrem Dache zu wohnen, zu versagen. Charlotte mußte ihren Bruder erinnern, daß es Zeit sey, zu seiner Braut zurück zu kehren. Er mußte alle seine Kräfte anstrengen, um ihr die Aufwallung seines freudetrunknen Herzens zu verbergen; doch verhehlte er ihr nicht, daß Charlotte in wenig Tagen ihre Nachbarin werden, und ihr dadurch die Gelegenheit zu einer mündlichen Unterredung erleichtern würde. Nicht wahr, es ist ein trefliches Mädchen, sagte Emilie? o! ich gebe die Hoffnung noch nicht auf, sie auf andere Gedanken zu bringen. Ich auch nicht, erwiederte Sommer lächelnd, sie liebt Sie zu sehr, um sich nicht nach dem Glücke zu sehnen, Ihnen anzugehören.

Zween Tage hatte Charlotte unter dem Dache der Freundschaft verlebt, als ihr Geliebter nach Kopenhagen zurückkam. Woldemar hatte ihm die Verlobung seiner Tochter als eine Sache gemeldet, die zwar beschlossen, aber nur erst dem engen Zirkel der Familie bekannt sey, und sich mit der Hoffnung geschmeichelt, daß seine Geschäfte in Helsingör ihm erlauben würden, ihrem Hochzeitfeste beizuwohnen. Er wußte nicht, wie wichtig diese Nachricht dem Herzen seines Freundes war. Dieser dachte seine Geliebte damit zu überraschen, und eilte auf den Flügeln der Liebe nach Kopenhagen. 76 Woldemar und seine Tochter empfiengen ihn in herzlicher Freude, Sommer drückte ihm die Hand mit einer Wärme, die ihm an's Herz drang. Sobald er abkommen konnte, eilte er zu Sophien, um sie zu bitten, ihn zu seiner Geliebten zu begleiten: allein die Ueberraschung, die er ihr zubereitete, ergriff ihn selber, als Charlotte liebenswürdiger als jemals und mit der vertraulichen Zärtlichkeit, wozu sein Briefwechsel sie gewöhnt hatte, ihm mit ausgebreiteten Armen entgegenflog. Er blieb stehen, ihm war, als ob eine empiräische Flamme plötzlich ihn umfluthete. Seine Seele athmete ihre Strahlen ein, und fand im Kusse der Hochgeliebten mehr, weit mehr, als sie ihm noch nie gegeben hatte. Tief bewegt drückte er ihre beiden Hände an seine Brust, und sagte halbleise: Bald, meine Auserwählte, werde ich Dich vor aller Welt die meinige nennen dürfen. Wie? Sie wissen schon? erwiederte Charlotte mit dem Lächeln der Liebe. Osten zog den Brief Woldemars aus seiner Schreibtasche, der ihm die nahe Verbindung seiner Tochter anzeigte, und gab ihn Charlotten zu lesen. Sie war noch damit beschäftigt, als Sommer, der seine Schwester in ihrer neuen Wohnung besuchen wollte, in die Stube trat. Charlotte that einen frohen Schrei, sprang ihm entgegen und führte ihn ihrem Geliebten zu. 77 Sie kennen schon Emiliens Bräutigam: Charlottens Bruder kennen Sie noch nicht. Erst vor drei Tagen entdeckte ich, daß beide eines sind. Osten staunte einen Augenblick; dann umarmte er ihn freudig, so innig, wie man einen wiedergefundenen alten Freund umarmt. Charlottens Bruder ist auch der meinige, denn Charlotte ist meine Braut. Bei diesen Worten schloß er sie beide in seine Arme; Unsterbliche hätten sie um diesen Moment beneidet, wenn der Neid in ihrem Busen Zugang fände. Sieh, lieber Gustav, sagte endlich Charlotte, nun weißt Du das Geheimniß, das ich Dir verhehlte, weil es mir nicht allein zugehörte. Sommer war ausser sich; er faßte Ostens Hand und drückte sie an seine Brust. Also der edle, stillgroße Mann, sprach er mit feierlicher Rührung, den ich keine Stunde kannte, ohne seine Freundschaft zu wünschen, der wird mein Bruder! O Lotte, was für ein Geschenk machst Du mir! nun begreife ich, sezte er lächelnd hinzu, warum Du Emiliens Antrag ausschlugst. Was war das für ein Antrag, fragte Osten? Der liebreichste, freundschaftlichste, versetzte Charlotte, und gab ihm ihr Briefchen zu lesen. Indem er las, trat Sophie, die wie ein theilnehmender Schuzengel die hehre Szene in der Stille betrachtet hatte, aus ihrem Winkel hervor, und mischte sich in die Unterredung. Ich 78 kenne Emilien, sagte sie, und von uns allen kenne ich sie vielleicht am besten. Es wird eine Wollust für ihr trefliches Herz seyn, Charlottens Schwester zu heissen, und wenn ich eine Stimme im Familienrathe hätte, so würde ich darauf antragen, daß beide Verbindungen an einem Tage gefeyert würden. Recht so, schön, schön! riefen die beiden Bräutigame, indem jeder eine Hand Sophiens ergriff und an seine Lippen preßte. Charlotte drohte ihr mit dem Finger: nicht wahr, Sie möchten Ihrer Einquartirung los seyn? Doch, setzte sie hinzu, der Einfall ist zu schön, als daß eine falsche Schaam mich abhalten sollte, ihm ebenfalls beizustimmen. Vor allen Dingen aber müssen wir einige Schritte zurückthun, und uns erinnern, daß Emilie noch keines meiner Geheimnisse weiß. Meynen Sie nicht, sagte Osten zu seinem neuen Bruder, daß Herr Woldemar zuerst, und zwar ohne Zeugen davon unterrichtet werden sollte. Sein Vorschlag wurde einhellig gebilligt, und die Ausführung auf den folgenden Morgen beschlossen.

Nun eilte Sommer zu seiner Braut zurück; Osten und Charlotte verlängerten mit ihrer Freundin diesen genußreichen Abend, und verabredeten mit ihr die stillen Zubereitungen zu ihrer Verbindung. Jansen, der jetzt erst nach Hause kam, wurde mit zu Rathe gezogen, und nahm seinen 79 Antheil an jedem frohen Gefühle, das die Unterredung belebte. Nun langte er aus seinem Schreibtisch ein versiegeltes Paket mit der Aufschrift: meiner theuren Lotte hervor, und gab es Herrn Osten. Da Sie nun glücklich zurück sind, sprach er, so bedürfen Sie keines Archivars mehr, doch muß unsre Lotte wissen, daß unter diesem Umschlag sechs tausend Thaler in Bankozetteln verschlossen sind, die ihr von ihrem Geliebten auf den Fall bestimmt waren, wenn der Tod ihn gehindert hätte, seine Verbindung zu vollziehen. Charlotte erbebte und faßte weinend ihren Osten am Arm, als wollte man ihr ihn von der Seite reissen. Osten warf Herrn Jansen einen ernsthaften Blick zu: diese Thränen hätten Sie ihr ersparen können.

Charl. O schelten Sie ihn nicht! es sind süsse Thränen. Mein Osten kann mich durch keine edle That mehr überraschen; aber keine wird je mein Herz ungerührt lassen. Osten trat stillschweigend an den Schreibtisch und schrieb einige Worte auf den Umschlag des Päkchens. Dann nahm er seinen Hut und sagte: die Stunde ruft mich; Madame Woldemar sieht es nicht gerne, wenn man zu spät zu Tische kömmt. Er küßte Charlotte auf die Stirne, und stellte ihr das Päkchen zu, mit den Worten: es ist ein kleiner Auftrag, den meine Lotte statt meiner besorgen wird. Er eilte nach der 80 Thür, und ehe man ihn begleiten konnte, war er verschwunden. Charlotte besah das Päkchen; der Aufschrift: an meine theure Lotte waren die Worte beigefügt für ihre zweite Mutter Sophie. Mit einem lauten Freudengeschrei flog Charlotte an den Busen ihrer Freundin, und übergab ihr das Päkchen. Sophie las die Aufschrift, ihre Lippen bewegten sich; Charlottens Küsse erstickten ihre Worte. Nein, nein, ich kann es nicht annehmen, sprach sie endlich, und reichte das Päkchen ihrem Gatten. Sie müssen es annehmen, versetzte Charlotte, mein Eduard weiß wohl, daß sein Freund ein zu rechtschaffener Mann ist, um durch seine unermüdete Arbeit mehr als ein sorgenfreyes Auskommen zu gewinnen. Sie werden bald Mutter werden, meine Freundin, und Sie wissen aus meiner Erzählung, wie schwer es einer guten Mutter auf dem Sterbebette wird, unversorgte Waisen zu hinterlassen. Engel! schluchste Sophie, und schloß mit ihrem Gatten das holde Geschöpf in ihre Arme. Seit dem Abend, da Charlotte von ihrem Geliebten zum erstenmale den süssen Namen Braut erhielte, war keiner ihr so heilig, so genußreich als dieser. Ihre Seele schwamm in einem Ozean von Wonne.

Osten und Sommer waren nicht weniger glücklich; sie schmiegten sich den ganzen Abend so 81 traulich aneinander, daß der gute Woldemar sie mit inniger Zufriedenheit betrachtete. Kaum hörten sie des folgenden Morgens, daß er aufgestanden sey, so eilten sie Arm in Arm in sein Cabinet. Er lächelte ihnen liebreich entgegen: wie freuet es mich, sagte er, die Arme meines Freundes und meines Sohnes so brüderlich umschlungen zu sehen. Brüderlich im buchstäblichen Sinne, versetzte Osten. Beyde entdeckten ihm nun ihre neuen Verbindungen, und labten ihren Blick an seinem frohen Erstaunen. Bravo, mein Freund, rief Woldemar, indem er Osten auf die Schulter klopfte, Gott segne Ihre Wahl! Sie haben gewählt, wie Ihr rechtschaffner Vater; er holte seine Braut aus einer Hütte; sie war arm, und ihre weise Sparsamkeit verdoppelte sein Vermögen. Sie hat ihn zum glücklichsten Gatten und zum glücklichsten Vater gemacht. Lottens Werth entgieng mir nicht: hätte ich einen Sohn, und er liebte eine Lotte, ich würde sie ihm selber in die Arme führen.

Osten. Dieses Zeugniß ist der reichste Brautschatz, den sie mir zubringen konnte.

Wold. Weiß Emilie etwas von dieser Entdeckung?

Som. Gar nichts.

Ost. Sie, mein väterlicher Freund, hatten das erste Recht darauf. 82

Wold. O so sagen Sie ihr nichts, und bringen Sie diesen Abend Charlotten zu uns zu Tische. Ich muß meinem guten Mädchen eine angenehme Ueberraschung und Charlotten einen kleinen Triumph verschaffen. Sie verstehen mich . . . . lassen Sie mir die Freude, die Szene zu veranstalten.

Osten eilte mit dieser Nachricht zu seiner Braut, die er schon schreibend antraf. Sie benachrichtigte ihre Freundin Julie von ihrem Glücke, und freuete sich der nahen Hoffnung, es mit ihr zu theilen. Jansen und seine Gattin liessen Herrn Osten nicht Zeit, seinen Morgengruß anzubringen; ihre Danksagungen waren um so rührender, je weniger sie sich in Worte ergossen; endlich konnte er Woldemars Einladung ausrichten. So sehr sein edles Betragen Charlotten rührte, so konnte sie doch die Verlegenheit nicht verbergen, die sein Einfall ihm verursachte. Sie hätte gewünscht, daß ihr Bruder Emilien und ihre Mutter vor ihrer Erscheinung von allem unterrichtet hätte. Wir dürfen meinem Freunde seinen Plan nicht verrücken, sagte Osten, und hoffentlich werden Sie an meiner Seite die Blicke seines Weibes nicht fürchten. Uebrigens habe ich es mit Ihrem Bruder verabredet, daß er Sie abholen und Herrn Woldemar bitten soll, Sie zuerst als seine Schwester vorzustellen.

Auf die Nachricht von Ostens bevorstehender 83 Zurückkunft hatte Sophie insgeheim Charlotten ein ihrem künftigen Stande und zugleich ihrer Bescheidenheit angemessenes Kleid verfertigen lassen, das sie ihr nun überreichte. Ich habe diesen Augenblick vorausgesehen, sagte sie, und meine Lotte wird hoffentlich die Vorsorge ihrer Freundin nicht mißbilligen; sie darf nicht vergessen, daß sie heute an Herrn Ostens Hand und als seine Braut in die Welt geht. Für den Rest ihres Putzes hat sie selber gesorgt, ich überlasse ihn ihrer Wahl. Bey diesen Worten langte sie die verschiednen Arbeiten hervor, die Charlotte durch die Hände der Frau Reinold verkauft zu haben glaubte. Diese Ueberraschung veranlaßte einen neuen schönen Auftritt, wobey Charlottens Herz sich nicht verläugnete. Sie wählte sich die Stücke aus, die nach ihrem Geschmacke waren; Sophie mußte ein gleiches thun, das übrige bestimmte sie ihrer Wirthin. Da sie so gut für fremde Rechnung verkauffen kann, sagte sie, so mag sie nun dieses für eigene Rechnung verkauffen.

Der Abend kam. Osten und Sommer erschienen, um Charlotten abzuholen. Sie erzählten ihr, daß Herr Woldemar seiner Gattin bey Tische ein fremdes Frauenzimmer angekündigt habe, die des Abends ihr Gast seyn werde. Auf die Frage: Wer es wäre? antwortete er, es habe bisher incognito in Kopenhagen gelebt, und würde sich ihr 84 selber zu erkennen geben. Frau Woldemar und Emilie waren gleich neugierig auf diesen Besuch. Ein einfacher silbergrauer Anzug von einem leichten seidnen Stoffe, einige Blumen in den Haaren, und ihr diamantner Brautring waren Charlottens Putz. Sie weigerte sich, ihn durch die reiche goldne Uhr zu erhöhen, die Osten ihr mitbrachte. Er ließ ihr ihren Willen. Mit pochendem Herzen näherte sie sich zwischen ihren Begleitern dem Woldemarischen Hause. Es war eine kühle Herbstnacht: sie hatte eine Florkappe übergeschlagen. Mit einem unwillkührlichen Schauer trat sie über die Schwelle: sie erinnerte sich des schrecklichen Gefühles, womit sie diese Wohnung verlassen hatte. Eine Thräne, reichhaltiger als die erhabenste Hymne, zitterte in ihrem Auge. Schweigend gieng sie über den Vorsaal, der zu der Frau Woldemar Zimmer führte, wo ihr Mann und Emilie die Tischgesellschaft erwarteten. Sommer öffnete die Thüre; Osten reichte Charlotten die Hand, die Damen standen auf, Woldemar kam Charlotten entgegen; sie schlug ihren Schleyer zurück. Wie? Lotte? rief Emilie, indem sie ihr entgegensprang. Ihre Mutter warf sich mit einer hämischen Miene auf ihren Sofa zurück.

Som. Ja, liebe Emilie, es ist Lotte: Lotte meine Schwester, denn Halbschwester war sie mir 85 nie: Ihnen habe ich es zu danken, daß ich die Langgesuchte endlich wieder fand. Frau Woldemar wurde purpurroth; in diesem Augenblick würde sie Sommers Eheontract zerrissen haben. Emilie hieng an Lottens Halse, die, ohne ihrer Mutter Pantomime zu bemerken, mit Thränen der süssesten Entzückung ihre Umarmung erwiederte. Darf ich, sagte sie schüchtern, mir den stolzen Namen Ihrer Schwester beilegen? Nun hielt es Frau Woldemar nicht länger aus; sie erhob sich rasch von ihrem Sitze, um das Zimmer zu verlassen. Erlauben Sie, Madame, sprach Osten, indem er Charlottens Hand ergriff, daß ich Ihnen in der Schwester meines Freundes Sommer zugleich meine Braut vorstelle. Wie von einer Zauberruthe berührt blieb die Fliehende stehen; sie wußte nicht, ob sie den Bräutigam oder die Braut ansehen oder nicht ansehen sollte. Jetzt näherte sich ihr Mann: sagte ich dir nicht immer, liebes Weib, daß Charlotte mehr sey, als sie zu seyn schien; nicht wahr, nun wünschtest du, daß du mir geglaubt hättest? Charlotte, die ihre Antwort und jeden Rückblick in das Vergangene fürchtete, riß sich von Ostens Seite los, und ergriff ihre Hand, die sie mit einer so ehrerbietigen, so reizenden Innbrunst küßte, daß ihr Stolz selbst durch ihre Eitelkeit entwaffnet wurde. Es war nicht mehr Lotte, es war Ostens Braut, 86 die ihr die Hand küßte, und dieses that ihr so wohl, daß sie ihr mit einem huldreichen Blicke die Wange reichte, und schweigend nach ihrem Sofa zurückkehrte. Emilie bemächtigte sich ihrer Freundin; sie häufte Fragen auf Fragen, ohne ihr Zeit zu lassen, sie zur Hälfte zu beantworten. Sommer bekam einen harten Stand, daß er ihr seine Entdeckung drey Tage verschweigen konnte; Osten stellte den Frieden her, indem er die ganze Sünde auf sich nahm.

Die Mahlzeit war weit fröhlicher, als Charlotte es sich vorgestellt hatte. Woldemar belebte den ganzen Zirkel; seine muntern Scherze und Lottens ehrerbietiges Bezeugen gegen seine Frau entrunzelten nach und nach ihre Stirne, und kehrten den bessern Theil ihres Herzens heraus. Sommer hatte sich ohnehin ihrer Gewogenheit zu sehr bemächtigt; die frohe Lebhaftigkeit seines Charakters und sein glänzender Witz hatten ihm in ihren Augen einen so grossen Vorzug vor dem ernsthaften, kaltscheinenden Osten eingeräumt, daß sie Emilien für zu glücklich hielt, um Charlotten ihr Glück zu beneiden. Ueberdem verlohr diese in ihren Augen neben Emilien zu viel auf Seiten der äusseren Reize, als daß die Vergleichung der beyden Bräute einen widrigen Eindruck bey ihr hätte machen können; im Gegentheil, sie blickte mit einem 87 triumphierenden Wohlgefallen ihre Tochter an, und bemitleidete heimlich den schlechten Geschmack des Herrn Osten, der die glanzlose Charlotte ihrer bezaubernden Tochter vorziehen konnte.

Emilie hatte sich neben ihre neue Schwester gesetzt. Ihr unschuldvolles, liebendes Herz hatte ihr so viel zu sagen, und so oft sie den Mund öffnete, lehnte sie sich näher an ihren Busen. Charlotte entsprach dieser zärtlichen Vertraulichkeit mit einer bescheidenen Zurückhaltung, die aber die tiefen Gefühle ihrer Seele nicht verbarg. Sie sprachen aus ihren blitzenden Augen und aus jedem Zug ihres ausdrucksvollen Gesichtes. Mit innigem Entzücken beobachtete Osten diesen harmonischen Contrast, und ergänzte sich aus den Physionomien der beyden holden Geschöpfe, was ihm von ihrem halbleisen Gespräche entwischte.

Sommers Genuß war nicht weniger süß und reichhaltig; seine Emilie enthüllte ihm eine neue schöne Seite ihres Charakters. Das Verdienst seiner Schwester glänzte auch hinter dem Schleyer hervor, darunter es sich verbarg, und rechtfertigte die Wahl des Mannes, der es krönte. Woldemar nahm an ihrem Triumphe den grösten Antheil, er verwandte kein Auge von dem edlen Mädchen, und sprach so oft mit ihr, als die unerschöpfliche Emilie ihn zum Worte kommen ließ. Beym 88 Nachtische brachte er ihre Gesundheit aus, und forderte seine Frau in einem lustigen Ton auf, ihm Bescheid zu thun. Sie ließ sichs nicht zum zweytenmal sagen, und fragte bey dieser Gelegenheit Charlotten, wann ihre Hochzeit seyn würde? Mit der meinigen, hoffe ich, rief Sommer. Dieses würde mein Glück vollkommen machen, antwortete Charlotte, aber nur die Mutter meiner neuen Schwester kann diese Frage beantworten. Madame Woldemar lächelte; dieses Compliment gewann sie vollends. Mit einem freundlichen Kopfnicken sagte sie zu Charlotten: sehr gerne, wenn die Entscheidung auf mich ankömmt. Bravo, rief Woldemar, und warf ihr einen Kuß zu, aber eine Brautmutter muß die Braut unter den Augen haben, und ich denke, der Bräutigam werde es auch schicklich finden, daß Charlotte morgendes Tages ein Zimmer in meinem Hause beziehe. Emilie klaschte in die Hände, Osten warf seinem Freunde einen Blick des Dankes zu; Charlotte flog von ihrem Stuhle, und faßte die Hand der Madame Woldemar, die sie aber zurückzog, und sie freundlich umarmte. Dann flog sie zu Herrn Woldemar, und küßte ihn mit kindlicher Zärtlichkeit. Liebes Kind, sagte er, nicht nur Emiliens Freundin, auch die meinige muß die Geliebte meines Freundes seyn.

Nun fiel das Gespräch auf das zwiefache 89 Hochzeitfest. Frau Woldemar führte dabey den Vorsitz; Osten überließ es ihrem weisen Gatten, ihre Eitelkeit zu zügeln, welche sehr ungern diese Gelegenheit entwischen ließ, ihrer Prachtliebe ein Genüge zu thun: dennoch mußte sie sich endlich ergeben, und zu Charlottens großer Freude wurde beschlossen, daß die doppelte Verbindung zwar nicht ganz in der Stille, wie sie es gewünscht hätte, aber doch ohne Pomp gefeyert werden sollte. Freudig trennte sich die Gesellschaft; Osten und Sommer begleiteten Charlotten nach Hause, und statteten Sophien und ihrem Mann Rechenschaft ab von der glücklichen Wendung, welche diese gefürchtete Szene genommen hatte.

Des andern Tages bezog Charlotte ihre Wohnung im Woldemarischen Hause. Die Freundschaft und die Liebe öffneten ihr die Arme, und machten ihr die Tage zu flüchtigen Stunden. Doch ließ sie keinen vorbeygehen, ohne an Sophiens Seite ihre Seele zu sammeln, und ihren mütterlichen Rath einzuholen. Indessen fuhr Madame Woldemar fort, auf ihrem häuslichen Throne die Hochzeitanstalten zu verordnen, und die Talente der Juweliere und Putzmacherinnen in Requisition zu setzen. Nur zankte sie bisweilen mit Emilien, daß sie sich durch nichts von ihrer Freundin unterscheiden wollte, und als sie ihr einmal sagte: warum 90 soll ich prächtiger seyn, als Lotte, die ja nun viel reicher ist, als ich? so hätte diese Anmerkung die noch glimmenden Funken ihres beleidigten Stolzes beinahe wieder in Flammen gesezt. Charlotte erfuhr diesen Strauß von ihrem Bruder; sie zwang sich, ihren Geschmak in einigen Stücken dem Eigenwillen der Dame aufzuopfern, und durch diese Nachgiebigkeit machte sie alles wieder gut.

Unbewölkt und lieblich leuchtete die Sonne am Bundestage der Tugend und der Liebe. Emilie glänzte wie eine frische Rose am Busen des Frühlings; aber sie verdunkelte Charlotten nicht. Diese glich der sittsamen Nachtviole, die ohne es zu wissen, die zärtern Sinne des Naturfreundes fesselt. Sie wurde von ihrer Freundin Sophie, Emilie von ihrer Mutter ihrem Bräutigam zugeführt. Einige Grossen des Hofes wohnten dem Gastmahle bey. Emilien sagten sie Schmeicheleien; nachdem sie sich eine halbe Stunde mit Charlotten unterhalten hatten, schämten sie sich in ihrer Hofsprache keine Gemeinplätze zu finden, die auf sie paßten. Nach der Tafel ward ein kleiner Ball eröffnet. Charlotte entschuldigte sich, daß sie nicht tanzen könne. Die natürliche Grazie ihrer Haltung und ihres Ganges schien ihr Geständniß zu widerlegen. Der schulgerechte Höfling wunderte sich, einige Schönen lächelten, allein die 91 Anmuth, womit sie ihnen Erfrischungen reichte, die herzliche Freundlichkeit, womit sie einige ältere Damen, die dem Tanze entsagt hatten, unterhielt, versöhnten sie mit der Etikette, und öffneten ihr eine eigene Sphäre, darinn sie wie ein fremder Stern ihr sanftes Licht von sich strahlte. So oft es der Wohlstand erlaubte, sezte sie sich neben ihre Pflegmutter Sophie; und wenn sie ihren Arm umschlungen hielt, schienen ihre Blicke der ganzen Gesellschaft zu sagen: hier ist meine Freundin, hier ist ein Edelstein, den ihr übersehet. Mit geheimer Wonne beobachtete sie Osten, und segnete sein Schicksal: sein Freund Woldemar, dessen Augen ihr überall folgten, nikte ihm oft seinen frohlokenden Beifall zu, und selbst seine Gattin konnte sich nicht enthalten, ihrer Nachbarin, der das holde Mädchen mit bezaubernder Gefälligkeit eine Apfelsine anbot, zuzuflistern: il faut avouer qu'elle est bien aimable.

Noch vierzehn Tage blieb das glückliche Paar in Kopenhagen, dann traten sie die Reise nach Altona an, nachdem sie zuvor mit ihren Freunden das Gelübde gewechselt hatten, sich jährlich einmal zu besuchen. Die ganze Woldemarische Familie nebst Jansen und Sophie begleiteten sie an Bord ihres Schiffes. Beym Abschiede schob Charlotte ihr reich gefaßtes Bildniß Emilien in den Busen, 92 und wand sich mit trauerndem Herzen aus ihren Armen. Ein günstiger Wind schwoll ihre Segel; es war, als ob wohlthätige Genien voranflögen, und die Meereswogen ebneten. Nach drei Tagen erreichten sie Altona, und nach drei andern Tagen führte Osten seine neue Gattin in den Zirkel seiner Freunde und Bekannten ein. Auch hier glänzte sie nicht, aber sie rührte; sie überraschte niemanden, aber sie nahm jedermann ein, und selbst diejenigen, die anfänglich Ostens Wahl kaum entschuldigten, ehrten und erhoben sie, sobald sie das edle geistreiche Weib näher kannten.

Kurz vor ihrer Verbindung hatte Charlotte noch einmal an Julien geschrieben, und sie gemeinschaftlich mit Osten eingeladen, nach Altona zu kommen, und als Freundin bei ihr zu leben. Juliens Antwort traf sie nicht mehr in Kopenhagen an, sie ward ihr nachgeschikt; hier ist sie:

»Heil und Segen meiner theuren Lotte, deren Unschuld und ausharrende Tugend so herrlich gekrönt werden! Gerne wollte ich in deine Arme fliegen und die Thränen meiner Freude und meines Dankes auf deinen Busen weinen; allein neue Pflichten halten mich hier zurück. Auch mein Schicksal, theure Lotte, hat sich geändert, und weit glüklicher geändert, als ich es bei unsrer Trennung hoffen durfte. Vorigen Sommer starb die kränkelnde Gattin des 93 Leinwandhändlers, bei der ich als Ladenmädchen diente. Sie war älter, als er, und hatte ihn als Wittwe geheirathet: es gieng mir wohl bei ihr, und ich beweinte ihren Verlust mit desto gerechtern Thränen, da die Sorge für meinen guten Namen mir keinen längern Aufenthalt in diesem mir liebgewordenen Hause erlaubte. Ich wartete bis die Erbschaftsgeschäfte geendigt waren, und bat hierauf meinen Herrn um meinen Abschied. Ich verhehlte ihm den einzigen Grund, der mich zu diesem Schritte bewegen konnte, er schien ihn zu errathen, und ersuchte mich, nur noch ein Vierteljahr bey ihm zu bleiben. Als es bald zu Ende war, wiederholte ich ihm meine Bitte. Julchen! sagte er zu mir, ich habe dich nun achtzehn Monate beobachtet: deine Treue, deine Eingezogenheit, und vornehmlich die Liebe, die du meiner seligen Frau bewiesest, fordern eine Belohnung. Sie machte mir mein Glück, und was sie an mir that, will ich an dir thun. Es ziemt einem Manne von vierzig Jahren nicht, den Liebhaber zu spielen: darum aber liebe ich dich nicht weniger, und reiche dir meine Hand, wenn du sie annehmen kannst. Dieser Antrag überraschte mich, und zerriß mir das Herz. Ein schäzbarer, angenehmer Mann bot mir eine Versorgung an, weil er mich für untadelhaft hielt. Sie annehmen, hieß ihn also hintergehen, und mir neue 94 Gewissensbisse zubereiten. Doch durch die Offenbarung meines Fehltritts verlohr ich zugleich seine gute Meinung, und das angebotene Glück. O Freundin! dieser Augenblik war der schrecklichste meines Lebens, und du weist, ich hatte sehr schreckliche. Gottlob! ich besann mich nicht lange. Ich muß, mein gütiger Herr, das Glück, das Sie mir anbieten, ausschlagen, weil ich seiner nicht würdig bin. Ich bin eine Betrogene, aber eine Betrügerin will ich nicht werden. Erlauben Sie mir, mich auf einen Augenblick zu entfernen. So sprach ich, und eilte aus meine Kammer, meine Brieftasche zu holen. Ich übergab ihm mit zitternder Hand den eidlichen Ehverspruch meines Verführers und den Todtenschein meines Kindes. Hier sagte ich, lesen Sie, was ich die Kraft nicht habe, Ihnen zu sagen, und lassen Sie mich heute noch fliehen. Er las die Papiere, zerriß sie, und schob sie in seine Tasche. Julchen sagte er, du brauchst sie nicht mehr, du wirst mein Weib. Ich sank zu seinen Füssen, ich umarmte seine Kniee, er hob mich auf, und troknete meine Thränen ab. Seit acht Tagen, meine Lotte, bin ich seine Gattin; er fühlt es, daß ich jede Minute anwende, ihn glücklich zu machen und durch dieses Gefühl werde auch ich glücklich. Unser Handel geht gut, und gewährt uns ein anständiges Auskommen; noch bessere Aussichten sehen wir vor 95 uns, wenn mein Albert ungefehr zweitausend Thaler Legate an die Verwandten der Verstorbenen wird bezahlt haben. Nur noch ein Wunsch bleibt mir übrig, der Wunsch, dich, meine Freundin, meine Retterin, zu umarmen, und in der Nähe den edlen Mann zu segnen, der vielleicht im Augenblicke, da du diesen Brief erhältst, dich zum Altare führet.«

Nun bleibt auch mir kein Wunsch mehr übrig, sagte die frohe Charlotte, nachdem sie ihrem Eduard diesen Brief vorgelesen hatte, ich schämte mich, so überschwenglich glücklich zu seyn, indeß der Gram an dem Herzen meiner Freundin nagte. Lotte, wir reisen nach Lübeck, antwortete Osten, deine Julie ist ein treffliches Weib, und ihr Mann ist ihrer werth. Künftige Woche reisen wir, wenn es dir recht ist. Ob es mir recht ist? rief Lotte am Hals ihres Geliebten, wie kann mein Eduard mich fragen, ob ich ihm eine neue süsse Wohlthat verdanken will? die Reise gieng vor sich. Zufälligerweise kehrten sie in einem Gasthof ein, der Juliens Wohnung gegenüber lag. Charlotte erblickte sie durchs Fenster; sie war in ihrem Laden beschäftigt. Dort ist sie! dort ist sie! rief Lotte, und verbarg sich hinter den Vorhang. Osten betrachtete das blühende Weib, indeß seine Gattin sich fertig machte, sie zu überraschen. Sie bat ihn, ihr erst in einigen Minuten zu folgen, und gieng von Nantchen 96 begleitet, die sie zu ihrem Mädchen angenommen hatte, so langsam dem Laden zu, als wallende Ungedult es erlaubte. Julie bemerkte sie nicht, bis sie hereintrat. Es war kalt, Charlotte hielt den Muff vors Gesicht; sie zog ihn in dem Augenblicke weg, als ihr Julie mit einer ehrerbietigen Verneigung entgegen kam. Sie that einen Schrei, und Lotte lag in ihren Armen.

Osten hatte die Wonneszene aus dem Fenster beobachtet; nun konnte er nicht länger warten; er eilte herbey, und nahm seinen reichen Antheil daran. In wenig Minuten war er der gerührten Julie nicht mehr fremd; ihm war sie es schon lange nicht mehr. Ihr Mann war ausgegangen: ihre Freudenthränen flossen noch, als er in das Zimmer trat, wo die drey glücklichsten Menschen der Erde Hand in Hand beysammen sassen. Julie sprang auf, lieber Albert! meine Lotte und ihr Gemahl. Albert war anfangs etwas betreten: der vertrauliche Ton seiner neuen Freunde zerstreute seine Schüchternheit. Sie gaben ihm zu fühlen, daß er zu ihrer Gesellschaft gehöre, und mit diesem Gefühl begann seine Seele eine neue Periode ihres Daseyns.

Lotte blieb bey ihrer Freundin, indeß Osten einige seiner Correspondenten besuchte, deren Gattinnen er sie am folgenden Tage vorstellen wollte. Auch in diesem neuen Zirkel behauptete sie ihren 97 Charakter, und in einer Stadt, wo die Verdienste nur allzuoft nach dem Gewichte des Goldes abgewogen werden, scheuete sie sich nicht im Angesichte der Damen, die sie besuchten, der Leinwandkrämerin Julie mit der Zärtlichkeit einer Schwester zu begegnen.

Den lezten Abend brachten die Reisenden bey Julien zu, die sie auf ein freundschaftliches Mahl eingeladen hatte. Beym Nachtisch sagte Osten zu ihrem Manne: nun haben wir noch ein Handlungsgeschäfte mit einander abzuthun. Eine nahe Anverwandte Ihrer Julie, die nicht genannt seyn will, hat ehedem eine kleine Summe in meine Bank niedergelegt, mit dem Auftrage, sie ihr bei ihrer Verheyrathung auszuliefern. Tief erschüttert saß Julie da; ihr Mann wußte nicht, was er sagen sollte. Osten legte ihm zween Wechsel von tausend Thalern auf den Teller. Plözlich sprang Julie auf: Ja wohl eine nahe Anverwandte! rief sie, und stürzte sich ihrer Freundin in die Arme. Ostens Auge hieng einige Momente an dem himmlischen Gemählde; dann nahm er mit Lotten Abschied von dem dankbaren Paare, das die Reisenden nicht eher, als an der Schwelle des Gasthofes verließ.

Auch die Wittwe des redlichen Lambert wurde nicht vergessen. Osten setzte ihr ein Jahrgeld aus, 98 das ihr ein heiteres, unabhängiges Alter versicherte. Diese Werke des Edelmuths waren noch grössere Wohlthaten für Charlotten, als für die Personen, die sie empfiengen. Es waren Bande im Himmel geweiht, die ihr Herz immer fester an das Herz ihres Geliebten knüpfte. Jeden Frühling besuchte sie die Gräber ihrer Eltern, und theilte Almosen unter die Armen ihres Dorfes aus. In der Folge begleiteten ihre drei hoffnungsvollen Kinder sie auf dieser heiligen Wallfahrt; dann schmückte sie ihren und der Kinder Busen mit den Blumen der weissen Rosenheke, womit sie ehedem die Grabhügel bepflanzt hatte. 99

 


 


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