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Wieder waren wir eines Tages ausgezogen und hatten uns diesmal eine Stube im dritten Stock eines Zinshauses genommen. Das Fenster ging auf einen winzigen Garten hinaus, der wie ein kleines Vogelnest zwischen den Mauern lag. Jetzt im Mai war es herrlich, hier oben zu hausen. Die Fenster der anderen Häuser verschwanden unter den Blüten und Laubkronen der alten Bäume. Abends wogte es unter unseren Augen in weißem Duft, und in der Frühe sangen Hunderte von Vögeln zu uns herauf. Hätte ich in diesen Tagen nicht gar so schwere Arbeit leisten müssen, wie viel Genuß und Freude hätte mir dann diese Frühlingswelt geschenkt, der ich hier zum erstenmal seit meiner Kindheit wieder näher treten konnte. Nur daß ich jetzt mit wissenderer Innigkeit vor diesen Wundern gestanden wäre denn einst als Knabe, wo der Blick achtlos über ihre tiefere Schönheit geglitten war und ich in der Natur nur die reichlichen Möglichkeiten zum Spiel geschätzt hatte.
Ich war jetzt auf einem Neubau beschäftigt, wo ich mit noch zwei Taglöhnern eine Arbeit zu bewältigen hatte, die sonst von sechs Männern geleistet wird. Die Folge davon war, daß wir nach Arbeitsschluß unsere Füße kaum mehr heben und mit Mühe nach Hause gehen konnten. Da gab es zu Hause dann natürlich kein Schwelgen in den Freuden des Frühlings mehr, und ich war froh, ins Bett zu kommen, in dem ich dann meist schon halb schlafend das Nachtmahl zu mir nahm. Des Morgens aber verdunkelte mir der Gedanke an die kommende Plage die grüne und farbenbunte Pracht des Gartenlandes unter unserem Fenster und machte sie in meinem verdrossenen Gemüt zu einer Regenlandschaft. Auch die Trennung von meinem Freund Ludwig, der auf die »Walz« gegangen war, drückte schwer auf mich. Ich hatte mich so innig an ihn geschlossen, daß ich mit der Zeit immer weiter von den übrigen befreundeten Kameraden weggerückt war und nun mit keinem von ihnen mehr verkehrte. Seine nicht unterzukriegende Lebenslust, die Findigkeit, mit der er sich in allen Lagen unseres Schicksals zurechtzufinden wußte, und sein liebevolles Eingehen auf meine Eigenheiten und Wünsche ließen ihn mich jetzt überall vermissen. Besonders am Sonntag, wenn ich die Mutter nun auf den Friedhof begleitete, fühlte ich mich ganz verlassen und konnte selbst in den Büchern keinen Ersatz für den treulos fortgewanderten Freund finden, den die Sehnsucht nach Abenteuern in die Ferne gelockt hatte.
Ich fing nun an, diese trostlose Stimmung in Worte zu fassen, die dann oft zu Versen wurden und die ich dann in einem Heft niederschrieb. Sie hatten alle nur ein Thema: die Sehnsucht nach dem verlorenen Freund, und liehen mit Vorliebe die schwermütigen Worte und Wendungen Lenaus und Heines, deren Gedichte jetzt meiner Traurigkeit am besten entsprachen und die ich deshalb immer und immer wieder las.
Eines Abends, als ich von der Arbeit nach Hause kam und mich wie immer mißmutig zum Abendbrot setzen wollte, fiel mir die gute Laune der Mutter auf, die während des Kochens wieder ihre alten geliebten Volkslieder sang, was sie schon lange nicht mehr getan hatte. Anfangs glaubte ich mißtrauisch und ängstlich, die unerwartete Heiterkeit der Mutter auf den Genuß des Alkohols zurückführen zu müssen, doch beruhigten mich bald ihre klaren Augen und ihr sonst ruhiges Wesen. Bald erzählte sie mir voll Freude, daß die Hausfrau heute nachmittag bei ihr gewesen sei und ihr erzählt habe, ihr achtjähriges Söhnchen bedürfe dringend einer Nachhilfe für den Schulunterricht, da er sonst seinen Kameraden nicht recht nachkommen könne; sie habe gehört, daß ich mich viel mit Büchern abgebe und auch im Schreiben bewandert sei, ob ich nun deshalb nicht diese Nachhilfe übernehmen möchte. Ihr Mann sei auch bereit, mich in die Fabrik, die sich im Hause befinde, aufzunehmen und mir dann jeden Mittwoch und Samstag nachmittag zwei Stunden für den Unterricht freizugeben. Ich könnte gleich am nächsten Montag die Stelle in der Fabrik antreten, und sie würde trachten, daß ich eine leichte Arbeit bekäme. Der Lohn wäre zehn Kronen die Woche und eine Aufbesserung bei guter Aufführung zu erwarten. Mit dem Richardl sollte ich halt trachten, gut auszukommen, er sei ein kränkliches und nervöses Kind.
Ich war über den unerwarteten Vorschlag der Hausfrau sehr erstaunt, da ich sie bisher nur als sehr erhabene Dame kannte, die meinen Gruß kaum erwiderte. Die Veränderung meiner Arbeitsstelle wäre mir schon recht gewesen, aber zum Schulmeister fühlte ich nicht die geringste Begabung in mir, welches Bedenken ich auch der Mutter vorbrachte. Die erzählte mir aber, sie hätte einmal irgendwo gelesen, daß in früheren Zeiten sogar einfache Handwerker und invalide Soldaten in den Dorfschulen als Lehrer verwendet wurden; so hätte es gar nicht so viel auf sich, wenn ich mit meiner guten Schulbildung versuchen wollte, aus einem Dummerian, wie es der Hausherrnbub wahrscheinlich war, einen halbwegs guten Schüler zu machen.
So willigte ich trotz meiner kläglichen Erfolge seinerzeit in der Schule und der nicht hohen eigenen Meinung von meinen Kenntnissen in den Vorschlag der Hausfrau ein. Ich sagte mir mit der Leichtlebigkeit meines Vaters: Probieren geht über Studieren.
Noch am selben Abend stellte ich mich mit sorgfältig ausgebürsteter Hose und einem frischen Hemd angetan bei dem hausherrlichen Ehepaar vor, das mich mit der Gnade reichgewordener Kleinbürger empfing und vornehm-würdig meinen Dank entgegennahm.
Mit Genugtuung verlangte ich den darauffolgenden Samstag mein Arbeitsbuch von dem Polier, der mir noch in der Eile eine gewürzte Moralpredigt hielt. Sonntags aber kramte ich meine Schulbücher hervor, die ich ihrer Schadhaftigkeit wegen nicht verkaufen konnte, und vertiefte mich von neuem in die Irrgänge der deutschen Grammatik und Arithmetik, die ich vor drei Jahren mit so viel Vergnügen verlassen hatte.
Am nächsten Morgen trat ich meine neue Arbeit an. Der Weg in die Werkstätte bestand nur in den sechzig Stufen, die ich vom dritten Stock herunterzusteigen hatte, was mir äußerst angenehm war, konnte ich doch dafür um so länger schlafen. Freilich zeigte es sich später, daß dies auch seine schlechte Seite hatte.
Die Bronzewarenfabrik des Herrn Zehentner, so hieß unser Hausherr, nahm die ebenerdigen Räumlichkeiten und die des ersten Stockes ein. Die Stanz- und Prägewerkstätte, der ich zugeteilt war, befand sich in einem großen fünffenstrigen Saal, dessen eine Tür in den Garten, die andere in den Hausflur mündete. Wir waren in dem Raum nur vier Arbeiter und verloren uns beinahe darin. Der Werkführer, ein etwa dreißigjähriger Mann, war der Stiefsohn der Hausfrau; er zeigte mir die Bedienung einer Stanzmaschine, die mit einem Fuß und einer Hand in Bewegung gesetzt wurde und kleine Blechschließen für Zigarren- und Zigarettenetuis ausstanzte. Also eine leichte Arbeit, die nur den Nachteil der Eintönigkeit hatte; denn auch sonst War es uns nicht möglich, miteinander zu sprechen, da der Lärm der Maschinen jedes Wort verschluckte.
Außerdem waren zwei der anderen Arbeiter schon ergraute Männer, die sich nicht im geringsten um mich kümmerten und ihre Tische an den anderen Enden des Saals hatten, so daß schon die räumliche Entfernung eine Unterhaltung nicht zuließ.
So saß ich denn wie allein auf der Welt vor meiner Maschine und konnte meinen Gedanken freieste Wanderschaft gewähren. Denn meine Tätigkeit beanspruchte ja auch nicht ihre Aufsicht. Dazu waren die Hände und höchstens die Augen notwendig, aber nimmer das Gehirn. In den ersten Tagen gefiel mir dieses gedankenlose Dasitzen, dieses Aufgehen des Körpers in einer Maschine; aber dann stellte sich langsam das unbehagliche Gefühl der geistigen Überflüssigkeit ein, der Stolz auf die eigene Intelligenz fühlte sich verletzt, und ein leiser Haß gegen diese, mich zu einer Maschine herabwürdigende Beschäftigung stieg manchmal in mir auf. Am gleichen Nachmittag sollte ich noch die Bekanntschaft des Hausherrnsöhnchens machen, dessen Unterricht man mir anvertraut hatte.
Er kam wie ein Kreisel sich drehend in die Werkstätte getanzt und brüllte dabei wie besessen, ohne auf die Ermahnungen seines Stiefbruders zu achten. Nachdem er die übrigen Arbeiter mit allerlei bösen Streichen bedacht hatte, hopste er plötzlich zu mir hin und spreizte sich vor mir auf. Es war ein schwacher, zurückgebliebener Knabe, der aber wenig Kindliches an sich hatte; vor allem fielen mir seine glanz- und ausdruckslosen Augen auf, mit denen er mich nun anstarrte. Endlich fragte er mich in frechem Ton, wer ich sei und was ich hier wolle. Ich antwortete ihm kurz, er möge, wenn er mit mir spreche, zuerst grüßen und nicht wie ein junger, unerzogener Hund die Leute anbellen.
Ganz verdutzt riß der Kleine die Augen noch weiter auf, um sich dann wie geprügelt davonzuschleichen.
Die anderen waren froh, daß ich es »gewagt« hatte, ihn ordentlich zurechtzuweisen, und ich erfuhr in einer kleinen Arbeitspause, was ich mir schon im vorhinein gedacht hatte: daß der Knabe ein verhätscheltes Nesthäkchen war, dem man alles erlaubte und der, so klein und zurückgeblieben im Geist er war, sich zum Tyrann des Hauses entwickelte. Arbeiter, die schon lange Jahre hier beschäftigt waren, hatten gekündigt, da sie sich die immer ärger werdenden Flegeleien des Buben nicht gefallen lassen wollten.
Ich fand meine Zukunft als Hauslehrer immer komplizierter und blickte mit bangem Zagen der ersten Unterrichtsstunde entgegen. Glücklicherweise wurde mein Debüt auf den nächsten Samstag verschoben, da mein Schüler am Mittwoch eine Wallfahrt mit seiner Mutter nach Mariazell unternehmen sollte. Dort wollte diese zehn Wachskerzen spenden, um damit die Erleuchtung ihres Sohnes zu erbitten. Der Stiefbruder meinte, zehn saftige Hiebe täten besser als diese Wallfahrt, aber er hütete sich wohl, dies der Mutter zu sagen. So ward mir unverhofft eine Galgenfrist gewährt, aber ich hatte insofern an dem Umgang mit Ludwig gewonnen, daß ich wenig daran dachte, was der nächste Tag bringen mochte.
Ich konnte mich jetzt, da die Kräfte meines Körpers weniger überanstrengt wurden, wieder eher als Mensch fühlen und das genießen, was die Welt mir eben bescherte. Wie glücklich fühlte ich mich deshalb, wenn ich mich nach Schluß der Arbeit zum Fenster setzte und wieder, von keiner quälenden Müdigkeit gehemmt, in die Wunder und fremdartigen Zustände ferner Länder und Völker versank und dabei hundert Leben lebte. Der Garten unten wuchs dann zu mir empor und weitete sich aus, wurde ein Urwald, eine herrische Wüste, Berge wuchteten sich zum Himmel und Meere brachen sich an ihnen. Die ganze Welt lag für mich in diesem kleinen Garten. Die Menschheit kämpfte ihre großen Schlachten darin, und die grünen Bäume gaben die Bühne eines tragischen Puppentheaters ab, auf dem die Gestalten meiner Bücher agierten.
In diesen freundlichen Stunden geschah es immer öfter, daß ich auf etwas hören mußte, was nicht aus den Büchern, sondern aus mir selbst hervorklang und mich zwang, es auf ein Stück Papier zu schreiben. Es kamen immer Verse, aber sie klangen nicht mehr so traurig wie ihre Vorgänger. In manchen versuchte ich schon ein fremdes Schicksal sprechen zu lassen, und eines Abends war es mir gelungen, in einigen Versen das Leid und die Freude eines Arbeiters, wie ich es war, schüchtern und spröde zum Ausdruck zu bringen. Sonst waren aber die meisten meiner damaligen Ergüsse erfüllt von dem Denken eines siebzehnjährigen Burschen, der den Wilhelm Meister noch immer schrecklich langweilig fand und lieber zu Felix Dahn und Julius Wolff griff. In einem aber hatte ich mich ganz verändert; aus dem ehemaligen Klosterschüler und späteren Antisemiten war ein ebenso dummer und blindwütiger Schreier gegen den Klerikalismus geworden. Statt Karl Lueger hieß nun mein Held K. H. Wolf, und ich verschlang jede in der Zeitung abgedruckte Rede dieses alldeutschen Führers. Ich schrieb eine Menge Kampf- und Spottverse gegen die Pfaffen, in denen ich, wie früher in den Juden, die alleinigen Urheber alles Übels auf Erden erblickte. Corvinus' Pfaffenspiegel, den mir eine Nachbarin geliehen, nährte meinen kindischen Haß nur noch mehr, und mit Scham und Unmut erfüllte mich der Gedanke, daß diese Pfaffen durch viele Jahre meine Lehrer gewesen. Nur das Abstoßende und Unangenehme meiner Schulzeit kam mir wieder in den Sinn; mit der jugendlichen Sucht zu übertreiben erblickte ich in mir ein trauriges Opfer klerikaler Erziehung, und ich schwor den »Finsterlingen« Rache. Mein sehnlichster Wunsch war deshalb, aus der katholischen Kirche aus- und in die protestantische einzutreten. Gesteigert wurde er durch die Los-von-Rom-Bewegung, die in diesen Tagen ihren Höhepunkt erreichte und deren begeisterter Sprecher und Apostel wieder der von mir so vielverehrte Wolf war. Wäre ich nicht so stillen und scheuen Gemüts gewesen, ich hätte einen großen Radaumacher abgegeben. So aber war mir mein ruhiges Plätzchen am Fenster doch lieber als die Gasse und der Versammlungssaal.
Ich hatte mir dieses recht heimlich hergerichtet. Um das Fenster zog ich Schlingbohnen und stellte Pelargonien dazwischen und andere bunte Blumen. Knapp daneben stand der Küchen-, Näh- und Schreibtisch und ein uralter Lehnstuhl, aus dem schon von allen Seiten die Eingeweide aus Holzwolle hervordrängten. Hinter diesem hatte ich das Bügelbrett der Mutter mit starken Eisenhaken an der Wand befestigt und meine Bücherschätze daraufgestellt, die in der Mehrzahl aus den gelben Heftchen der Reclamschen Universalbibliothek bestanden und die ich jede Woche durch den Ankauf einiger Bändchen zu vermehren suchte. Ich kaufte sie in einem kleinen Buchladen antiquarisch um acht Heller die Nummer und freute mich die ganze Woche lang auf diese Samstagsfreude.
Unter der Bücherstellage streckte sich mein gutes Sofa aus, auf dem ich des Nachts schlief und bei Regenwetter des Sonntags die Pfeife rauchte und las. Ja die Pfeife rauchte ich wie ein Student mit zehn Semestern, zum Ärger meiner guten Mutter, der ich die Stube arg volldampfte. Aber sie sah das noch immer lieber, als wenn ich Zigaretten geraucht hätte, was sie für das größte Laster der Welt hielt. Ich selbst war kein Freund von Zigaretten und sah es als Verweichlichung an, wenn man solche rauchte.
So war ich vorderhand wieder halbwegs mit meinem Schicksal ausgesöhnt; eine einzige Wolke beschattete den klaren Himmel meines Lebens: es war die Rolle des Schulmeisters, die ich nun bald zu übernehmen hatte.
Die erste Stunde kam heran. Ich war eben noch vor meiner Maschine gesessen – Hände und Füße hatten sich längst an diese Arbeit gewöhnt und taten mechanisch ihre Pflicht –, als ich durch die Stimme des Herrn Zehentner aus meinen Träumereien aufgeschreckt wurde. Er stand dicht bei mir, spielte mit seiner dicken goldenen Uhrkette und mußte sich sehr anstrengen, um den Maschinenlärm mit seiner Stimme zu übertönen.
»Petzold«, sagte er, »lassens jetzt die Arbeit stehn und kommens zu mein Buben auffi. Tuns zwei Stunden mit ihm lesen und rechnen, er hat am nächsten Montag a Prüfung in der Schul! Auf a Viertel Wein und a guats Zigarrl soll's mir net ankommen, wanns ihm die fadn Sachn beibringen können. Fangans die Gschicht nur recht gut an! Wissens, er is halt a klans Zornpinkerl und wird immer glei grantig. Mei Gott, das hat er halt von mir. Und dann is es gar so zart und kriegt glei Kopfweh, wann er sich z' viel anstrengen muß, das arme Teuferl. Alsdann, kommens jetzt.«
Mir war recht jämmerlich zumute, und es überlief mich bei der Aufforderung eiskalt. Was hätte ich darum gegeben, wenn ich jetzt auf dem Neubau hätte Ziegel schleppen dürfen, statt dem Hausherrn zu folgen. Aber ich hatte zugesagt, nun mußte ich auch die Folgen tragen. Ich warf meiner Maschine, die mir plötzlich in der Verzweiflung wie ein guter Freund erschien, einen letzten Blick zu und verließ die Werkstatt mit meinem Brotherrn.
In einem kühlen, mit Möbeln, Teppichen, Photographien und geschmacklosen Nippes überladenen Zimmer hatte ich auf Richard zu warten, der davongelaufen war, da er, wie Herr Zehentner mir erklärte, »vor dem Lernen einen rechten Spundus hätte«.
»Ich kann's ihm nicht verargen«, fügte er hinzu. »Und dann wissens, für was is eigentlich die ganze Lernerei in die Schulen? Ja wann 's a arms Kind war, das si amal allani fortbringen muß, aber so? – Das, was er amal brauchn wird, lernt a von selbst. Hab i net recht?«
Gut, daß mein Chef nicht auf eine Antwort meinerseits wartete, sondern sich auf die Suche nach dem Sohn begab. Abgesehen von meiner Schüchternheit wäre es mir sowohl aus pädagogischen wie aus Gründen der Selbsterhaltung unmöglich gewesen, eine passende Antwort zu finden.
Im übrigen sah die Sache immer schlimmer und schlimmer aus. Ich sollte einem verzogenen, schlecht veranlagten Buben Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen und durfte dabei nicht auf die Unterstützung des Vaters hoffen, da dieser selbst wenig von diesen Dingen hielt, die Schule als unnütze Einrichtung ansah und seinen Sohn als ihr Opfer bedauerte. Und wenn schon der Vater, dem doch die Erziehung des Sohnes am meisten angelegen sein sollte, solche Prinzipien hatte, wie mochte es erst mit der Mutter sein, die ja meistens dazu neigte, ihre Kinder zu verziehen. Ich winkte den schönen, jüngstvergangenen Tagen mit ihrer Ruhe und relativen Sorglosigkeit wehmütig ade zu und bereitete mich auf das Schlimmste vor.
Unterdessen waren schon einige Minuten vergangen, ohne daß sich jemand blicken ließ. So unterzog ich meine Umgebung einer genaueren Musterung; ich wurde in der Überfülle an Dingen, mit denen das Zimmer angeräumt war, vor allem von einer großen Gipsfigur angezogen, die halb so groß war wie ich und eine nackte Frau darstellte. Auf einem schwarzen Sockel stehend, erschien sie mir« in ihrer goldenen Haut wie eine seltsame Heiligengestalt. Auf den Zehen schlich ich mich zu ihr hin und las die Inschrift, die auf dem Sockel eingegraben war: »Venus.«
Also das war die berühmte Venus, deren Namen ich in so vielen Büchern gelesen und der stets im Zusammenhang von Frauenschönheit und dem Reiz ihrer Liebe stand? Hier stand sie, im Zimmer des reichen Hausbesitzers mit dem dicken Bauch und der breiten goldenen Uhrkette, der so wenig von Bildung hielt? Sie, die dem griechischen Meer entstiegen und die Göttin der Jungfrauen und Jünglinge des alten Griechenlandes war? Immer näher zog es mich zu ihr hin, und ich mußte endlich zaghaft über ihre Glieder streichen, wie um sie wegen ihres Standorts zu trösten und sie meines Mitleids zu versichern. Als ich meine Hand wieder zurückzog, war sie ganz mit Goldstaub bedeckt, und ich hatte große Mühe, ihn zu entfernen. Es erfaßte mich große Verlegenheit, gleichzeitig war ich aber auch tief enttäuscht über den so wenig dauerhaften Glanz meines Idols.
Während ich nun noch heftig meine Haut von den verräterischen Spuren zu befreien suchte, hörte ich auf dem Gang ein ohrenzerreißendes Gebrüll, in das hinein eine mehlige Frauenstimme ermahnende Worte rief.
»Aber, Richard, sei a bravs Bubi! Nur a halbe Stund tua mit den Herrn drin dei Rechenaufgab machen. Mei Buberl, tua net weinan. Der Papatschi kauft dir morgn a weiß Hoserl.«
Die Tür ging auf, und die Hausfrau zerrte mit dem unglücklichsten Gesicht der Welt ihren widerstrebenden Sohn herein, dessen Gesicht mit Schmutz und Tränen bedeckt war.
Was sollte ich beginnen? Wie meinen Schüler beruhigen und zum Lernen zwingen? O alle ihr beinernen Knipser und Rohrstaberln, mit denen ich in meiner eigenen Schulzeit so oft Bekanntschaft schloß, im Angesicht dieses Bürschchens erkannte ich eure Lebensberechtigung und tat euch Abbitte. Wie gern hätte ich von euch Gebrauch gemacht, um dieses verzogene Muttersöhnchen jetzt zur Vernunft zu bringen!
»Hua, hua«, plärrte es, »i mag net lernen, i mag net, na, i mag net – i – i – i hab so Kopfweh. Hua, hua – – – –«
Durch Worte oder gar durch einen Blick zu erziehen ist ein weiser Satz der modernen Pädagogik, und ich hatte damals schon oft mit Unmut daran gedacht, wie wenig in meiner Schulzeit danach gehandelt wurde, wie mittelalterlich dagegen die Methode der körperlichen Züchtigung war, mit der wir so oft behandelt wurden. Jetzt aber fühlte ich mich ganz klein werden, sah ein, daß es eine eigene, große Gabe sein mußte, ein guter Lehrer zu sein, und daß ich diese Gabe wohl kaum besaß, denn es juckte mir schrecklich in der Hand, und ich hätte meinem Schüler als Empfang gern eine Tracht Prügel verabreicht. Er schrie auch in meiner Gegenwart ununterbrochen weiter, und erst als ihm seine Mutter eine Krone in die Hand drückte und sie ihm erlaubte, sich dafür das zu kaufen, wonach ihn am meisten gelüstete, hörte er auf zu flennen und hatte die Gnade, sich mit meinen mathematischen Anliegen zu beschäftigen.
Die Mutter warf mir einen befriedigten Blick zu und entfernte sich, stolz im Bewußtsein ihres erzieherischen Erfolges.
Ich plagte mich nun eine halbe Stunde, dem lieben Richard die Geheimnisse der Addition beizubringen, was mir aber nicht gelang, da er von einer unerhörten Begriffsstutzigkeit war. Außerdem zeigte er mir im Ton jeder Antwort, die er mir gnädig gab, daß er wohl wußte, welche Stellung ich im Hause seiner Eltern einnahm. So atmete ich erlöst auf, als mein Schüler auf einmal kategorisch erklärte, er habe so arges Kopfweh, daß er die Tintenstriche nicht mehr vom weißen Papier unterscheiden könne, was er dadurch zu bekräftigen suchte, daß er in ein jammervolles Weinen ausbrach. Die erschrockene Mutter eilte herbei und verabschiedete mich sogleich. Wie froh war ich, als ich wieder vor meiner lieben Maschine in der Werkstätte saß und mit befreitem Gemüt meine Metallplättchen ausstanzte. Am Abend war ich müder, als wenn ich Tausende von Ziegeln getragen hätte. Ich begegnete beim Heimgehen auf der Stiege noch dem beneidenswerten Vater; er hatte mir gönnerhaft auf die Schulter geklopft und gemeint: »Guat is gangen, nix is gschehn! Gellns, mei Kleiner is ganz a gscheiter Fratz, nur a bißl lebhaft is er halt!«
Vergebens griff ich nach dem Nachtmahl zu den Büchern; in keinem von ihnen blieben Blick und Seele haften. Bald stand die angestrichene Venus, bald das zeternde Richardl vor meinen Augen, und auch im Garten, in den ich zur Ablenkung hinabsah, tauchten die zwei Erscheinungen hinter jedem Baum und Strauch auf.
So griff ich mißmutig zu meinem Rock und machte mich auf den Weg zu einem Kameraden, den ich in der Volksbibliothek kennengelernt hatte und der in der Nähe wohnte. Dieser war über mein Kommen sehr erfreut. Er war Schriftsetzer und hieß Franz Kommarek. In theatralischem Pathos erzählte er mir, daß er zur Bühne und gleich, nachdem seine Lehrzeit beendet sei, eine Schauspielschule besuchen wolle, wenn auch seine Eltern dagegen seien. Er mache sich auf harte Auseinandersetzungen mit diesen gefaßt, fürchte sich aber vor nichts, denn die hohe Kunst habe ihn gerufen. Dies alles machte großen Eindruck auf mich, und als er mir erst seine Bibliothek zeigte, die nebst anderem sämtliche Werke Schillers enthielt, war ich so begeistert, daß ich ihm in meinem Innern ewige Freundschaft und Treue schwur. In einem Park schwärmten wir uns beide an, und ich beichtete ihm sogar, daß ich schon eine Menge Gedichte geschrieben hätte. Drauf verriet er mir, daß auch er heimlich schreibe; aber nicht Gedichte! Mit so etwas gäbe er sich nicht ab; er schreibe Theaterstücke, von denen eines schon fertig, das andere bis zum dritten Akt vollendet sei. Wir verabredeten uns nun gleich für den nächsten Abend, wo er zu mir kommen sollte, und Franz Kommarek deklamierte noch zum Abschied herrliche Verse, in denen edle Jünglingsfreundschaft über alle Maßen gepriesen wurde und die ich in meiner Begeisterung ihm zuschrieb. Später erfuhr ich, daß sie von Körner waren.
Wir versprachen uns nun noch, vereint für die heilige Dicht- und Schauspielkunst zu kämpfen, und riefen Sonne, Mond und Sterne zu Zeugen an, daß uns mit allem recht ernst war.
In einem Rausch von Begeisterung kam ich heim. Die gipsene Venus und Richard Zehentner waren verschwunden, und nur mein neuer Freund, die Verkörperung aller meiner eigenen Wünsche und Sehnsucht, lebte mehr für mich.
Meine Mutter war über meine Veränderung sehr erstaunt und schrieb sie erst einer Begegnung mit einem Mädchen zu; als ich sie aber aufklärte, brachen wir beide in ein fröhliches Lachen aus; wir saßen nun noch eine Zeit beisammen, und während die Mutter an einer kranken Hose flickte, reimte ich ein Gedicht zusammen, das die Freundschaft über alles hob und sie zur Beschützerin aller Künste, vor allem der Dicht- und Schauspielkunst, machte.
Am nächsten Tage machte ich während meiner Arbeit noch zehn Strophen zu meinem Gedicht dazu; um sie nicht zu vergessen, mußte ich von Zeit zu Zeit den Abort aufsuchen und sie auf den Rand einer Zeitung aufschreiben, was den Werkführer zu der mitleidigen Frage veranlaßte, ob ich vielleicht am Abend vorher eine schlechte Wurst gegessen habe. Da er ein rechter Salbader war, gab er mir gleich ein Pulver, das ich aber in meine Hosentasche verschwinden ließ.
Auch sonst glaubte sich der Werkführer verpflichtet, so viel an uns herumzudoktern wie nur möglich, und fragte uns gleich jeden Morgen vor Beginn der Arbeit nach unserm Befinden aus. Große Befriedigung gewährte es ihm dann, wenn einer von uns wirklich über eine Unpäßlichkeit klagte. Er bekam dann eine aufrichtige Erklärung seines Leidens, den besten Weg zur Heilung vorgetragen und mußte zum Schluß eines der hundert Pulverchen oder Medizinen nehmen, die der Werkführer in seiner Schublade hatte.
Er selbst war keine besonders gute Reklame für seine Heilmethoden und Mittel, denn er war von schmächtigem Wuchs und käseweiß im Gesicht; seine Stimme war dünn, und es gelang ihm nur mit Mühe, laut zu sprechen, wobei er meistens zum Schluß mit der Stimme umkippte, was uns oft heimlich lachen machte.
Übereinstimmend mit den Regeln der Hygiene, die er uns stets predigte, war seine peinliche Sauberkeit. Der Hemdkragen war stets blendendweiß, und selbst die Arbeitsbluse zeigte selten einen Riß oder Ölflecken. Er wusch sich alle Augenblicke die Hände und putzte darauf sorgfältig die Fingernägel. Um ja keine Bazillen zu verschlucken, aß er im Gegensatz zu uns anderen Arbeitern nie während der Arbeit.
Großen Kummer bereitete ihm sein spärlicher Haarwuchs, und er ließ aus allen Weltgegenden Mittel kommen, um ihn zu bessern. So roch es auch in seiner Umgebung stets ganz merkwürdig, halb nach Apotheke, halb nach Friseurstube.
Als Vorgesetzter war er äußerst angenehm, denn er ließ die Dinge in der Werkstatt gehen, wie sie wollten, wenn es sich nicht, wie gesagt, um medizinische Fälle handelte. Um seine Eltern schien er sich nicht viel zu kümmern, ja seiner Stiefmutter wich er sogar geflissentlich aus, wenn er ihre Stimme auf der Stiege hörte, wo sie gern mit den Nachbarinnen tratschte. So gütig und nachsichtig er gegen uns war, so sehr haßte er seinen kleinen Stiefbruder. Er nannte ihn nie anders als den Banken und wurde noch um einen Schatten blasser, wenn er dessen kreischende Stimme in der Nähe hörte. Die kleine Bosheit tat ihm aber auch überall die schlechtesten Streiche an, zertrampelte die Vergißmeinnicht- und Nelkenbeete, die der Werkführer angelegt hatte, verstümmelte seine geliebten Rosenstöcke, an denen er sich nach Feierabend und oft während der Mittagspause so lange erfreut hatte, und verdarb, wenn es ihm möglich war, die Werkzeuge seines Stiefbruders. Trotz aller dieser Lausbübereien durfte ihn nie jemand strafen, und die Eltern nahmen stets seine Partei, wenn man sich bei ihnen beklagte. Karl war nach ihrer Meinung der mißgünstige Stiefbruder des Märchens, der seinen armen kleinen Bruder am liebsten zu Tode quälen würde.
Weil ich nun schon von unserem Werkführer gesprochen habe, will ich auch meiner übrigen Kollegen Erwähnung tun.
Da war es nun vor allem der Schnitt- und Stanzenmacher, der mich seines eigenartigen Wesens wegen interessierte. Trotz seiner siebzig Jahre war er noch sehr rüstig, stand mit seinem breiten Körper wie der Jüngsten einer vor dem Amboß und hämmerte von früh bis abends drauflos, ohne die geringste Ermüdung zu zeigen. Er trug einen üppigen Backenbart, und auch sein Haupthaar war von seltener Dichte, so daß sein Kopf wie ein Bartwisch aussah und man kaum die Augen und Ohren unterscheiden konnte. Er hatte daher auch den Namen Rübezahl bekommen, der um so besser zu ihm paßte, als er auch durch seine große Schweigsamkeit etwas unheimlich und geisterhaft wirkte. Oft verging eine ganze Woche, ohne daß wir ein Wort aus seinem Munde hörten. Er verständigte sich dann nur durch Zeichen und, wenn's gut ging, durch ein tiefes Baßgrunzen, das kein Mensch verstand.
Dann konnte aber wieder einmal ein Tag kommen, wo er gleich zu Beginn der Arbeit schon gewaltig über alle möglichen Dinge der Welt zu schimpfen begann. Da gab es keinen Mächtigen der Erde, keine staatliche und städtische Einrichtung und kein Gesetz, das von seinem Zorn verschont blieb. Allen politischen Parteien wurde der Krieg bis ans Messer geschworen; sie waren alle eine Bande von Verbrechern, und er kündigte ihnen ein großes Strafgericht in den wildesten Ausdrücken an. Aber auch von Gott hielt er nichts, von der Bibel und den Kirchen. Sie waren ebenfalls nur ein Schaden für die Menschheit, die Menschen selbst aber die blutigsten Bestien, für nichts anderes wert, als daß man ihnen den Schädel einhaue.
Überzeugt davon, daß die anderen Arbeiter seine erbittertsten Widersacher seien, polterte er seine Anklagen auf uns Unschuldige los und wurde über vermeintliche Gegenmeinungen immer wütender. War er dann am Höhepunkt seines Zornes angelangt, so konnte dieser in einem Augenblick verrauchen und Herr Rübezahl wieder bester Laune sein.
Die seltsamsten Gerüchte waren über ihn im Umlauf. Er sei Besitzer eines schönen Zinshauses, in dem nur entlassene Zuchthäusler oder die Familien von Verbrechern wohnten. Da er von ihnen keinen Zins nehme, müsse er in die Fabrik gehen und arbeiten, um das zu verdienen, was er für sein Leben und die Erhaltung des Hauses benötigte. Ein anderes Gerücht bezeichnete ihn als Obmann einer geheimen Anarchistenvereinigung; in einer Dachstube weit draußen in Hernals fabriziere er Bomben und halte die aufrührerischsten Reden in einer Branntweinschenke. Der eine oder andere der Arbeiter wollte ihn trotz seines hohen Alters mit Prostituierten am Arm gesehen haben.
Trotz aller dieser Geschichten, die man sich von ihm erzählte, hütete man sich im Hause, ihm zu kündigen, denn er war ein ausnehmend geschickter Arbeiter und schon an die zwanzig Jahre in der Fabrik beschäftigt, ohne ein einziges Mal gefeiert zu haben, wie mir der Werkführer einmal erzählte. Selbst am ersten Mai, an welchem Tage jeder Arbeiter sonst der Werkstatt fernbleibt, kam er pünktlich in die Fabrik, und es wäre deshalb einmal bald zu einem Streit zwischen ihm und anderen Arbeitern gekommen.
Mein dritter Arbeitskollege war auch schon über fünfzig Jahre alt. Er hatte einen aufgeblähten Körper, wenigstens schien es, als wäre er mit Gas gefüllt. Herr Krtek sprach ein schreckliches Deutsch, obwohl er schon seit seiner Lehrzeit in Wien war. Meist saß er mit mürrischem, zusammengekniffenem Gesicht vor seinem Holzstock, auf dem er die ausgestanzten Bleche bauchig hämmerte, und summte unablässig Begräbnismärsche vor sich hin.
Trotz seiner sozialdemokratischen Gesinnung, die sich äußerlich durch ein Karl-Marx-Medaillon an der Uhrkette und einem Lassalle als Krawattennadel kenntlich machte, war er auch ein begeistertes Mitglied eines Veteranenvereins, bei dem er die Würde eines Bombardonbläsers bekleidete. Seine Spezialität bildete nun in dieser Eigenschaft das feierliche Hinausblasen eines verstorbenen Kameraden auf den Friedhof. Da sein Instrument sehr gesucht war, wurde er auch von anderen Veteranenvereinen oft eingeladen, bei diesen traurigen Anlässen als Gast mitzuwirken, was ihn alles mit größtem Selbstbewußtsein erfüllte.
Mit einem chronischen Magenübel behaftet, war er ein dankbares Objekt für unseres Werkführers Medizinkunst, obwohl er sich schon selbst eine eigene Heilmethode zurechtgelegt hatte. Sie bestand in fast ununterbrochenem Essen. Hinter dem Lederlatz seiner Schürze stak jeden Morgen ein tellergroßer Brotlaib, der bis zu Mittag aufgegessen war.
Herr Krtek hatte eine schreckliche Angst vor dem Tode. Wenn das Totenglöckchen des nahen Spitals die Erlösung eines armen Kranken ankündigte, fing unser Bombardonbläser erbärmlich zu zittern an und hatte nichts Eiligeres zu tun, als sich die Ohren zuzuhalten. Wie sich diese Furcht mit seiner Leidenschaft für die Begräbnismusik vertrug, war mir ein Rätsel. Heute, nach so vielen Jahren, weiß ich, daß manche Gegensätze im Menschenherzen Platz haben können, ohne die geistige Maschine in Unordnung zu bringen.
Nun aber wieder zu meinem letzten Erlebnis zurück. Ich brachte an dem Abend, an dem ich Franz Kommarek erwartete, meine Stubenecke in peinlichste Ordnung, stellte sogar ein paar Bierkrügeln voll Flieder auf den Tisch und die Bücherstellage, worauf ich mit Wohlgefallen bemerkte, daß sich meine Bücher in dieser Umgebung sehr vorteilhaft ausnahmen. Die Kartoffeln, die es zum Nachtmahl gab, verschlang ich eiligst, um dann mein Gedicht an die Freundschaft ins reine zu schreiben.
Ich war eben damit fertig geworden, als mein Freund nach einem energischen Anklopfen ins Zimmer trat. Er begrüßte mit einer herrlichen Phrase die Mutter und warf dann schwungvoll seinen breitkrempigen Velourhut auf den Diwan. Der prachtvolle Samtrock sowie das ungezwungene, wie mir schien, vornehme Wesen meines Freundes schüchterten mich plötzlich sehr ein. Ich schämte mich unserer armseligen Einrichtung, in der er mir wie der Sohn eines Grafen oder sonst eines mächtigen Mannes vorkam. Er aber beschäftigte sich gleich mit meinen Büchern, deklamierte aus dem einen oder andern eine besonders wirksame Stelle mit laut schmetternder Stimme und bat mich schließlich, ihn nicht mehr Franzl zu nennen, da jeder Schusterbub in Wien so hieße. Sein Künstlername sei Wolfgang Berghof. Mein Vorname gefiel ihm ganz gut, nur Petzold dürfe ich mich als Dichter nicht nennen, das klinge so, als wenn Schiller Nawratil geheißen hätte.
Nun kam der aufregende Moment, wo ich ihm meine Gedichte zeigen sollte, was ich mit Zittern und Bangen tat. Er flößte mir ja so großen Respekt ein, und ich fühlte mich vor ihm zu einem Nichts zusammenschrumpfen. Ich fühlte auch zum erstenmal, daß es ganz etwas anderes sei, für sich selbst Verse zu schreiben, als sie jemanden lesen zu lassen. Franzl, oder vielmehr Wolfgang, wie ich ihn nun nennen sollte, las mit höchst ernsthafter Miene ein Gedicht um das andere, während es mir bald kalt, bald heiß über den Rücken lief und ich voll Unruhe vor der Kritik auf dem Sofa herumrutschte. Endlich hatte er das letzte, meinen meterlangen Hymnus an die Freundschaft, beiseitegelegt und sagte, nachdem er sich gewaltig geräuspert hatte, einige meiner Gedichte hätten ihm sehr gefallen, doch vermisse er erstens die Metrik und zweitens die Liebe darin.
Über den letzten Einwurf erlaubte sich meine Mutter vom Ofen her, wo sie ihren geliebten Kaffee kochte, zu bemerken, daß sie, als alte, erfahrene Frau, anderer Meinung sei. Sie danke ihrem Herrgott, daß ich noch nicht den Weibern nachliefe, wie es leider sonst bei den Grünlingen in dieser Zeit der Fall sei. Ich verdiente kaum so viel, um mich über dem Wasser zu halten, und wüßte von der Welt so viel wie ein Hase vom Meer. Sie hoffe, daß noch eine lange Zeit vergehen würde, bis ich so dumm wäre, den Mädchen nachzugehen. Er möge mir nicht so überflüssige Gedanken in den Kopf setzen und selbst vorher etwas Tüchtiges lernen, bevor er sich mit solchen Eselseiern abgebe.
Vergebens winkte ich meiner, für die Sittlichkeit ihres Kükens so besorgten Mutter ab und stand eine Höllenangst aus, mein neuer und so bedeutender Freund werde sich auf diesen Angriff auf Nimmerwiedersehen empfehlen; auch schämte ich mich schrecklich dieser Bevormundung seitens meiner Mutter. Zu meiner größten Freude hatte aber mein Freund nichts übelgenommen, sondern er gab sogar meiner Mutter recht und erklärte in einer wohlgesetzten Rede, daß nur ein kleines Mißverständnis zwischen ihnen obwalte. Er meine nämlich nicht die leibliche Liebe, sondern die seelische oder platonische, die Liebe zum Idealen, von der jeder wahre Künstler ergriffen sein müsse. Meine Mutter, noch immer mißtrauisch, brummte etwas von neumodischen Alfanzereien, die ich doch nicht verstände, kümmerte sich aber von nun an nicht mehr um unsere Gespräche und schickte sich vielmehr an, auch dem Gaste einen guten Kaffee zu bereiten. Wolfgang erklärte mir nun an der Hand von Beispielen mit wichtiger und feierlicher Miene, was ein Streckvers, ein Blankvers, ein Pentameter und ein Hexameter sei, wo man den Daktylus, wo den Alexandriner anzuwenden habe. Ich aber hörte ihm zu, als hinge meine Seligkeit davon ab, diese Dinge zu wissen. Mit Andacht bemühte ich mich, die erstaunlichen Kenntnisse meines Freundes in mich aufzunehmen, wie ich nie mehr später im Leben empfunden habe, wenn es galt, etwas zu erlernen. Mein Lehrer versprach mir, das nächstemal eine gedruckte Metrik mitzubringen und sie mir zu leihen. Darin seien alle Versmaße erläutert, und es sei keine Kunst mehr, mit dieser Hilfe ein großer Dichter zu werden. Das Zeug dazu habe ich, nur dürfe ich (er warf einen scheuen Seitenblick auf die Mutter) die Liebe nicht vergessen. Alle großen Poeten hätten schockweise Liebesgedichte geschrieben und wären durch diese erst berühmt geworden. Wenn wir das nächstemal zusammenkämen, wolle er mir mehr über diese Liebe sagen.
Ich bedauerte es lebhaft im stillen, daß dieses nicht gleich sein konnte, denn ich ahnte, daß Wolfgang mit mir auch über das von der Mutter so verpönte Thema und nicht nur über die platonische Liebe reden werde.
Der Dampf des Kaffees, den meine Mutter jetzt auftrug, vertrieb ein wenig den Dunst unserer Phantasterei, und mein verehrter Freund entpuppte sich als ein prächtiger Unterhalter, als er durch fröhliche, harmlose Gespräche meine Mutter zum Lachen brachte und dadurch ganz versöhnte. Als er aufbrach und sich von ihr verabschiedete, bat sie ihn, recht bald wiederzukommen.
Bei seinem nächsten Besuch an einem Sonntag nachmittag händigte er mir die versprochene Verslehre ein, die ich nun mit großem Eifer und Fleiß studierte. Ich trug sie sogar hinter meinem grünen Lederlatz immer bei mir, um auch bei der Arbeit von Zeit zu Zeit einen Blick hineintun zu können.
Romane oder andere Unterhaltungsbücher verloren vollständig an Interesse für mich, und ich zog sogar abends im Bett noch meine Metrik hervor, um bis Mitternacht zum Ärger meiner Mutter die Hebungen und Senkungen zu studieren. Man kann sich nun auch unmöglich das Glück vorstellen, das mich an dem Tage erfaßte, an dem ich zum erstenmal imstande war, eine Anzahl von Verszeilen in ein richtiges Versmaß zu bringen.
Ich konnte kaum den Moment erwarten, an dem ich mein Kunstwerk Freund Wolfgang zeigen durfte, der es laut deklamierte, wobei ich eine Art Ehrfurcht vor mir selbst empfand; ich wurde damals zum erstenmal von dem sonderbaren Gefühl ergriffen, ein Doppelwesen zu sein, wie es mir später meist geschah, wenn mir ein gutes Gedicht gelungen.
In stürmischer Weise gab Wolfgang seiner Befriedigung Ausdruck und prophezeite meiner Mutter, daß einst ein großer Dichter aus mir würde, so wie er gewiß ein guter Schauspieler; dann seien die Tage der Not für sie zu Ende, und sie würde ein Haus und Dienerschaft besitzen. Denn jetzt sei nicht mehr die Zeit, wo man die Dichter hungern lasse, nun vergolde man ihnen den Lorbeer reichlich.
Meine Mutter sagte, daß sie da wohl bis »Micheldut« warten müsse, daß wir überspannte Kerle wären und daß man in der Welt nicht auf uns warten würde. Ihr wäre es lieber, ich hätte das Glück gehabt, einen so schönen, gutbezahlten Beruf zu lernen, wie es Wolfgang gegönnt war. Er möge sich nicht versündigen und, anstatt solchen Dummheiten nachzuhängen, lieber trachten, etwas Tüchtiges zu leisten. Wir sollten uns im übrigen nur merken: der liebe Gott lasse der Ziege den Schwanz nicht zu lang wachsen, damit sie ihn nicht abstößt.
Ist es schon einmal geschehen, daß sich jugendliche Begeisterung vom klug warnenden Alter abschrecken ließ? Wenn ich auch keinen werdenden Schiller in mir vermutete, mein Dichterkamm fing doch gehörig zu schwellen an, und ich stelzte in den nächsten Tagen mit einem Hochgefühl sondergleichen einher und verbohrte mich noch mehr in das Zauberbüchlein der Metrik, das die Verse jetzt aus mir herauszog wie ein Magnet die Nadeln aus einer Schachtel.
Jetzt verging kein Tag, an dem ich nicht Gedichte schrieb. Die automatische Beschäftigung an der Maschine kam mir dabei sehr zugute, da sie mein Hirn gar nicht in Anspruch nahm und ich dieses ganz in den Dienst meines Dichterehrgeizes stellen konnte. All mein mageres Taschengeld verwandelte sich in Schreibpapier. Und wenn es nicht ausreichte, mußte das Frühstücksgeld, das zehn Heller betrug, dazu verwendet werden. Das Rauchen hatte ich mir abgewöhnt, um statt des Tabaks hier und da eine billige Gedichtsammlung von Chamisso, Brentano, Novalis und anderen Lyrikern kaufen zu können.
Wolfgang war ein täglicher Gast bei uns geworden. Meistens hockten wir in meiner Ecke am Fenster, und wir disputierten eifrigst über meine neuentstandenen Gedichte, die schon mehrere Schulhefte füllten. Einmal brachte mein Freund auch sein erstes Drama mit und las es mir vor. Soviel ich mich erinnern kann, spielte es in Neapel und hatte die Liebe eines leidenschaftlichen Fischers für eine schöne Nonne zum Sujet; es war in einer sehr blumenreichen Sprache geschrieben und endigte damit, daß sich die beiden Helden des Stückes ins Meer stürzten und elendiglich ersoffen. Ich gab ihm nun aus aufrichtigem Herzen sein Lob mit Zinseszinsen zurück und war mindestens ebenso über seine dramatische Veranlagung begeistert wie er über meine lyrische. So himmelten wir uns gegenseitig an, ähnlich wie es die anerkannten Dichter in den Zeitungen tun, nur mit dem Unterschied, daß wir allen Ernstes den andern für das große Genie der Zeit hielten, während dies bei unseren berühmten Kollegen nicht immer der Fall ist.
Das größte Vergnügen bereitete uns das Sprechen berühmter Theaterstücke mit verteilten Rollen, woran sich sogar meine Mutter beteiligte, die alle weiblichen Rollen übernehmen mußte, in der ich die Bösewichter und Wolfgang die Helden las. »Die Räuber«, »Wilhelm Tell«, »Das Käthchen von Heilbronn«, »Der Müller und sein Kind«, sogar die Schauerstücke von Müllner, Houwald und Werner erfreuten sich bei uns größter Beliebtheit. Ich spielte den Franz Moor so durchdrungen, daß ich mich einmal beinahe wirklich mit einer Schnur erdrosselt hätte. Wolfgangs energisches Einschreiten mit einer Schere bewahrte mich damals vor dem Opfertod für die Kunst.
Wir liehen uns aus der Volksbibliothek die Schauspielschule von Benedix aus, darin wir nun gar fleißig Rhetorik und die verschiedenen Gesetze des Auftretens auf der Bühne studierten. Zu unserer Betrübnis wollte dabei die Mutter nicht mittun. Lesen, wie sie es von ihrem gottseligen Vater gelernt, ja, aber diese Faxereien mitmachen, nein! Dafür sei sie schon viel zu alt, und das Zeug hätte überhaupt keinen Sinn.
So mußten wir uns in der Mimik allein vervollkommnen, und indes die Mutter behaglich in ihrem Lehnstuhl saß und ihre Rolle eintönig gemütlich herunterleierte, ganz gleich, ob sie das Klärchen oder Amalie vorzustellen hatte, schnitten Wolfgang und ich als Brackenburg, Tell, Franz Moor, Konrad usw. usw. die furchtbarsten, teuflischsten, melancholischsten Grimassen, taten bald spitzfindig, bald verklärt, heldenhaft oder blödsinnig und fuchtelten mit Händen und Füßen wie wahnsinnig herum und wanden und schlängelten oft dabei unsern Körper, daß die Mutter vom Lesen aufhören und in krampfhaftes Lachen ausbrechen mußte.
Wir schrien im Stil unserer Rollen auch manchmal so laut, daß wir die Fenster schließen mußten, um kein Aufsehen zu machen. Denn einmal hatte eine Nachbarin meine Mutter befragt, wieso es gekommen sei, daß ich, früher so ein ruhiger Bursche, jetzt so oft betrunken nach Hause käme und herumrandaliere, daß man es zehn Häuser weit hören könne.
Die besorgte Nachbarin sollte noch ganz andere Dinge zu hören bekommen, denn es begab sich, daß unsere kleine Gesellschaft einen Zuwachs erhielt, den Wolfgang eines Abends unerwartet mit zu uns brachte. Es war ein Freund aus früheren Zeiten, den er nach langem wieder auf der Straße getroffen und der den Wunsch geäußert hatte, in unserem Bunde der dritte zu werden, als er durch Wolfgang von unseren literarisch-
185 dramatischen Abenden gehört hatte. Er stand ungefähr im gleichen Alter wie wir, überragte uns aber gut um eine Kopflänge und war dabei von sehr hagerem Wuchs. Sein Gesicht war voll von Falten und zeigte eine unglaubliche Verwandlungsfähigkeit. Der Ausdruck konnte sich im Nu verändern, und es war oft komisch, sein Gesicht beim Sprechen anzusehen, da es so genau ausdrückte, was der Bursche sprach.
Wie Wolfgang hatte auch er nur eine Sehnsucht, der er Tag und Nacht nachhing: Schauspieler zu werden. Als Laufbursche in der Wiener Börse angestellt, verfügte er über viel mehr freie Zeit als wir; er benutzte jede freie Minute dazu, auf den Gängen und Vorräumen einiger Theater herumzubummeln und nach der Gelegenheit zu spähen, für einen ausgebliebenen Statisten einspringen zu dürfen, oder auch einen Bühnenarbeiter für ein paar Stunden zu vertreten. Er selbst bildete sich auf diesen Anfang seiner künftigen Bühnenlaufbahn nicht viel ein, wir dagegen beneideten ihn sehr darum. Wir rochen ordentlich das Parfüm dieser herrlichen Welt des Rampenlichts und des blendenden Scheins an ihm und ärgerten uns im stillen über seine anscheinende Blasiertheit, die uns wie Ketzerei vorkam. Auch seine gewählte Kleidung erregte meinen Neid, indes Wolfgang am anderen Tage sagte, der echte Künstler sei nicht wie ein Gigerl angezogen, und er halte auch von dem Können Heinrichs nicht viel. Der sei mehr mit dem Munde obenauf als mit dem Kopf. Immerhin wäre er ein guter Kerl und für kleine Rollen zu gebrauchen. Darum wolle er ihn regelmäßig mitbringen, wenn wir nichts dagegen hätten.
Auf meine Mutter hatte Herr Heinrich einen guten Eindruck gemacht; er sei sehr nett, habe eine feine Stellung und scheine lange nicht so verrückt wie die Kaffeebohne, wie sie Wolfgang seines braunen Samtrocks wegen nannte. Ich aber hätte jeden Vagabunden als Freund begrüßt, wenn Wolfgang, den ich vergötterte, ihn zu uns gebracht hätte.
Ach wie sehr sollte sich die Mutter in Heinrich getäuscht haben! Der wahrste Beelzebub war in Gestalt eines Lammes in unseren Kreis gekommen! So gebügelt seine Hosenfalte und so tadellos gebunden seine Krawatte stets war, so toll wirbelten die Narrenstreiche in seinem Hirn umher. Er war von einer Quecksilbrigkeit, die ruhelos nach Abenteuern und Abwechslung im grauesten Alltag fahndete.
Bald hatte er Wolfgang die Herrschaft aus der Hand genommen und gab den Ton an. Unter seiner Leitung wurden die Theaterstücke nun nicht mehr nur gesprochen, sondern wir mußten ganze Szenen wie auf der Bühne aufführen.
Trotz des Protestes meiner Mutter bauten wir aus den wenigen Möbeln Szenenbilder, drapierten uns mit ein paar alten Kleidungsstücken und Decken zu Königen und Bettlern um und hängten Wergbärte um die Wangen und unter die Nase.
Als gar Heinrich einmal einen Topf mit Schminke brachte, strichen wir uns so greulich an, daß meine Mutter ganz erschrocken vor uns flüchtete.
Die Rollen mußten nun auswendig gelernt werden, und einer von uns hatte die Frauenrollen zu übernehmen, da die Mutter uns ihre Mitwirkung als Schauspielerin versagte. Wegen meines mädchenhaften Gesichts wurde ich dazu auserwählt, ich mußte aber auch außerdem die Väter spielen, indes Heinrich der Intrigant und Bösewicht, Wolfgang der Held und Liebhaber war.
Ich war anfangs sehr betrübt, nicht mehr meinen Franz Moor und den Sekretär Wurm spielen zu dürfen, und erst die Rollen des herrlichen, hustenden Müllers Reinhold und des wahnsinnigen Königs Lear trösteten mich.
An den Abenden der Wochentage kamen wir nur zusammen, um vereint zu lernen, zu proben und mit Hilfe von buntem Papier, Farbe und Kleistertöpfen, den Abfällen aus meiner Mutter Flicklade unsere Theatergarderobe zu bereichern. Sonntags aber war dann stets die Aufführung einiger dramatischer Szenen aus den verschiedensten Tragödien. Das Lustspiel verachteten wir als zu wenig künstlerisch.
Der Lärm, den wir dabei machten, überbot alles bisher Dagewesene. Nicht nur, daß jeder einzelne von uns in dem größten Stimmenaufwand ein Zeichen vollendeter Schauspielkunst sah, wir kamen meistens auch in eine solche Begeisterung, daß wir das Dargestellte wirklich sehr realistisch brachten. Die Möbel mochten dabei umstürzen, die Fenster klirren und das ganze Haus zittern, was kümmerte uns das!
Zum Glück benutzten die anderen Parteien des Hauses die Sonntage, um Spaziergänge oder Vergnügungsfahrten zu machen, und so wurden sie nur selten Zeugen unserer lärmenden Begeisterung.
Das verhältnismäßig frohe und bunte Leben, das ich mit meinen zwei Freunden in diesen Tagen führte, zerriß ein wenig den Schatten der Bedrückung und Sorge, unter dem ich bisher meine Jugend verbracht hatte, wenn wir, meine Mutter und ich, auch nur gerade so viel verdienten, wie zum knappen Fortkommen nötig war. So tat das bißchen Sonne, das auf mich fiel, meiner verkümmerten Seele so wohl wie dem Blumenstock, der den Winter in einem Keller verbracht hatte und der nun an einem sonnigen Frühlingstag ins Freie gestellt wird. Langsam erinnert er sich seines Wachstums, seiner begrabenen Kraft, vorsichtig fühlt er mit neuen Trieben in die Luft hinein. Oh, da ist kein tödlicher Frost mehr vorhanden, zärtlich warm rinnt es über ihn hin, und in stillem Jubel fängt er zu blühen an; verlangt nichts von seinem Schöpfer, als immer in freier Luft und einem Stückchen Sonne stehen zu dürfen.
So war es mir auch gar nicht ernst damit, wenn ich, um nicht die Eintracht zu stören, mit meinen Freunden über die Welt und ihre Schäden schimpfte; wir träumten meist als Abschluß unserer Philosophiererei von einer Zukunft, die uns Gold, Ehre, Ruhm und Erhöhung vor den anderen bringen sollte.
Die Stunden, die ich dem Richardl geben mußte, verloren auch etwas von ihrem anfänglichen Schrecken, nachdem sich der lernbegierige Schüler meine Lehren Selten mehr als eine halbe Stunde gefallen ließ und gleich über Kopfschmerzen zu klagen begann, wenn ihm eine Aufgabe zu schwer vorkam. Sein auflehnendes Brüllen gegen meine guten Ratschläge und Unterweisungen war mir ein Gesang, denn gleich erschienen dann Mama oder Papa, um die Stunde aufzuheben und ihr Kind in den Garten zu schicken.
188 Für meine Nachhilfestunden erhielt ich eine Krone Lohnzulage in der Woche. Ich brüstete mich vor meinen Freunden nicht wenig ob meiner schulmeisterlichen Tätigkeit, die mir etwas vor ihnen vorausgab, sie aber wollten zu meinem Leidwesen nicht viel davon halten. So warf ich mich mit doppeltem Eifer aufs Dichten, das auch meines neuen Freundes Bewunderung erweckte; er meinte aber, ich möge lieber Theaterstücke schreiben, da diese mehr Geld einbrächten und man dadurch auch schneller berühmt werden könne. Ich wandte dann ein, daß Heine, Lenau, Brentano nur durch ihre Gedichte berühmt geworden seien, er aber versicherte mir, daß dies nur in früheren Zeiten möglich und heute nicht mehr zu erreichen sei. Wenn ich wenigstens Couplets schreiben könnte! Da war noch etwas zu machen. Das war eine kalte Dusche auf mein warmes Lyrikerherz! Ganz traurig teilte ich Wolfgang mit, was Heinrichs Meinung über meine Kunst sei. Der aber, immer Idealist, beruhigte mich, ich möge mir von dem Windbeutel nur nichts vormachen lassen und weiter Gedichte schreiben. Der echte Künstler buhle nicht um die Gunst der Menge, und Geld sei Nebensache. Heinrich habe seine Ansichten von der Börse mitgebracht, wo die Wucherer und Geldjuden säßen.
So schrieb ich, ein wenig getröstet, weiter Vers auf Vers, weil sich meine Gedanken und inneren Erlebnisse eben in keine andere Form fügten, und schrieb beinahe nur Verse bis auf den heutigen Tag.
Freilich ist auch Heinrichs Prophezeiung eingetroffen. Reich bin ich durch meine Gedichte noch immer nicht geworden, und was den Ruhm betrifft, so muß ich mich vor manchem Possenfabrikanten verstecken. Dafür kann ich mit gutem Bewußtsein sagen, daß ich nie anderes geschrieben, als was mir meine innere Stimme gebot, und wenn es selbst Couplets waren, welch edlen Zweig der Dichtkunst ich einmal recht hoch hielt.
Als die ersten Herbststürme über Wiens hunderttausend Dächer polterten, wurde es in meiner Stube noch gemütlicher. Meine beiden Freunde hatten die Hälfte ihrer Bücherschätze zu mir geschleppt. Das Bücherbrett bog sich unter seiner Last. Damals war etwas Neues in Wolfgangs und mein Leben getreten, und es rüttelte unsere Seelen zutiefst auf: es war der Theaterbesuch. Heinrich, der alle Vorstadttheater in- und auswendig kannte, hatte uns einmal dazu aufgefordert, und seitdem verging kaum ein Sonntag, an dem wir nicht nachmittags auf der Galerie oder, wie der Wiener so schön sagt, dem Juchhe des Josephstädter Theaters standen und aus einer Wolke menschlicher Ausdünstung dem Knieriem der Hansi Niese, ihrer Rosel im »Verschwender« und andern mehr oder weniger bekannten Lieblingen zujubelten, um uns dann nach der Vorstellung durch langes Stehen vor dem Bühnenausgang nasse und eiskalte Füße zu holen.
Eine noch größere Anziehungskraft hatten für uns die Klassikervorstellungen, die jeden Montagabend zu ganz billigen Preisen im Deutschen Volkstheater gegeben wurden. Wir leisteten lieber auf alles andere Verzicht als auf diese. Ein Stehplatz am Juchhe kostete da nur fünfzig Heller, aber auch die zu ersparen war nicht immer leicht. Zum Glück herrschte zwischen uns dreien der edelste Kommunismus, alles wurde geteilt, und reichte das Geld nicht, so verzichtete Heinrich, der die meisten Stücke schon gesehen hatte, opferfreudig darauf, um wenigstens uns beiden den Besuch zu ermöglichen.
So sahen wir hier unsere geliebten Tragödien »Egmont«, »Die Räuber«, »Wilhelm Tell«, »Hamlet«, »Käthchen von Heilbronn«, »Nathan der Weise«, »Uriel Acosta«, von wirklichen und zumeist berühmten Mimen und in herrlicher Ausstattung dargestellt.
Wir saßen zumeist auf den breiten Flügeln eines Stuckengels, von welchen billigen Logensitzen aus wir den prächtigsten Blick auf die Bühne hatten. Freilich konnten wir diese Engelsitze nicht immer bis zum Schluß der Vorstellung behaupten. Oft wurden wir von einem eifrigen Theaterdiener, der unseren Absturz auf die Glatzen oder Turmfrisuren der Parkettbesucher befürchtete, zum Verlassen unserer Sitze gezwungen. Geschah dies eben bei einer besonders interessanten Szene, so machten wir taube Ohren, solange es anging, und wichen erst, wenn der diensthabende Polizeimann bedrohlich nahte.
In unvergeßlichen Bildern stehen die großen Schauspieler von damals vor meinem inneren Auge. Ich sehe die tragisch-hagere Gestalt der Sandrock als Maria Stuart vor mir, die das Wissen ihres Todes schon in den ersten Szenen im Auge trug, Kutschera als Egmont die klingenden Freiheitsphrasen in den Zuschauerraum schleudern und das süße Puppengeschöpf Retty unsere Tränen hervorlocken; den beinahe siebzig Jahre alten Martinelli seinen Meineidbauer in einer Satansmaske spielen, daß es einem eiskalt über den Nacken lief. Und einmal ging der Vorhang auf, und da lachte – die Odilon zu uns herauf, ihr kirschrotes, brennendes, sündhaftes Lachen. War es ein Wunder, wenn bei einem solchen Anschauungsunterricht der Wunsch in uns immer glühender wurde, selbst einmal auf einer wirklichen Bühne aufzutreten, umjubelt und verehrt vom Publikum?
Eines Samstagsabends bot sich uns nun Gelegenheit, eine Stufe zur Erfüllung dieses Wunsches emporzusteigen. Wieder war es Heinrich, der uns dazu verhalf. Er lud uns ein, einer gemütlichen Zusammenkunft der Mitglieder des Humanitären Theatervereins Harmonie beizuwohnen. Er selbst war aufgefordert worden, als Mitglied beizutreten, und wir könnten uns die Geschichte ja einmal anschauen. So begleiteten Wolfgang und ich mit Überwindung unserer Schüchternheit Freund Heinrich. Er führte uns in ein Gasthaus in Hernals, in dem wir eine ansehnliche Gesellschaft junger Leute fanden, die sich aufs beste zu unterhalten schienen. Einer von ihnen – er war durch ein Büschel schwarzer Haare ausgezeichnet, das ihm beim Sprechen stets auf die Nase fiel – führte uns freundlich zu einem Tisch, auf dem eine Tafel mit der Inschrift »Vorstand« angebracht war. Wir wurden mehreren glattrasierten und meist sehr langhaarigen Burschen vorgestellt, die alle herrlich gebundene Krawatten trugen. Es waren der Kassierer, der Schriftführer, der Archivar und der Obmann-Stellvertreter des Vereins. Wir setzten uns nun recht wohlerzogen auf die angebotenen Stühle und warteten ehrfürchtig auf das Kommende. Über mir hing ein riesiges Küchenmesser an einer Goldschnur mit dicken Quasten. An dem einen Ende des Messers war eine Glocke angebracht, an dem andern ein schön gestickter Glockenzug mit folgender Inschrift: »Gäste, wer diese Glocke berührt, fünf Kreuzer an die Kasse abführt«. Über dem Schwert aber hingen an einem Stab eine Menge bunter Bänder mit Goldfransen herunter, die ergreifende Aufschriften, wie »Heil der deutschen Kunst«, »Ein tausendfaches Hoch der wackeren Harmonie« oder »Treudeutscher Gruß«, trugen und die meist in den Farben schwarz-rot-gold gehalten waren. Meine Augen fielen auch auf ein wunderschön bemaltes Wappenschild, auf dem in goldenen Lettern »Erster deutscher Hernalser Theater- und Humanitätsverein Harmonie, gegründet 1898« stand. Die Wände waren mit Tafeln behangen, auf denen zu lesen stand, wie man sich hier zu benehmen hatte. So studierte ich eifrig: Rechts trinken, links anstoßen, du sagen und: Knie hoch, Nase herunter, auf germanisch trinken, ferner: Jeder muß ein Reiter sein, bei jedem Zug vorher singen, Sie sagen. – Am Tisch stand eine eiserne Schatulle und ein großes Einschreibebuch, das öfters vom Schriftführer und Kassierer benutzt wurde. An den anderen Tischen saßen neben den Burschen, die, wie ich später hörte, meist freien Berufen angehörten, eine Anzahl junger, hübscher Mädchen, die ein gar geziertes Wesen zur Schau trugen und an den Gläsern vor ihnen nippten, indes die männlichen Mitglieder um so tapferer dem Bier zusprachen.
Auch uns setzte der Kellner, ohne zu fragen, ein großes Glas Bier vor, und Heinrich beruhigte uns auf unser ängstliches Erstaunen mit der Mitteilung, daß der Verein unsere Zeche bezahlen würde, da wir seine Gäste seien. Wir mußten nun mit allen anstoßen und jedem uns Zutrinkenden Bescheid tun, so daß ich bald einen leichten Nebel um mich herum spürte. Ich konnte gerade noch verstehen, daß uns der Obmann in einer lauten Ansprache willkommen hieß und seine Genugtuung darüber aussprach, uns hier als Mitglieder begrüßen zu dürfen. Ich konnte mich zwar nicht erinnern, den Wunsch nach meiner Mitgliedschaft geäußert zu haben, ließ aber gern alles über mich ergehen, Heilrufe und Händedruck, und stimmte schließlich in das allgemeine Gejohle ein.
Nach einem toll durcheinanderwirbelnden Rundgesang deklamierte ein und das andere Mitglied Gedichte und Bruchstücke von Dramen, was stets tosenden Beifall auslöste. Auch Heinrich und Wolfgang mußten herhalten. Ersterer brachte den Monolog des Franz Moor, und Wolfgang brüllte mit größtem Stimmaufwand Tells: »Durch diese hohle Gasse muß er kommen ...« Der Erfolg, den beide hatten, erfüllte mich mit größtem Stolz, und gern hätte auch ich mein Können gezeigt; aber in meinem Hirn tanzten alle Verse und Dramen, aus denen ich etwas auswendig kannte, durcheinander, und der Nebel um mich wurde immer dichter. Als ich aufstehen wollte, zeigte mein Körper das Bestreben, lieber eine waagerechte Stellung einzunehmen, und ich torkelte mit Müh und Not zur Tür hinaus.
Draußen erging's mir jämmerlich. Ich hörte noch ein »Alfons, schäm di, was bist denn für a Schweindl, jetzt bist gar bsoffn!« Irgend jemand drückte sich an mich und lallte: »Bruada, alles für die deutsche Kunst und d' Weana Gmüatlichkeit! Heil!«
Wie ich dann nach Hause gekommen war, wußte ich am nächsten Morgen nicht mehr. Nur die lange Predigt, die mir die erzürnte Mutter gehalten, spukte in Bruchstücken in meinem schmerzenden Kopf herum, indes ich noch immer den Geschmack des gallbitteren Tees auf der Zunge hatte, den ich des »verdorbenen Magens« wegen trinken mußte.
Wolfgang war's nicht besser gegangen als mir. Noch vierundzwanzig Stunden später sah er grasgrün aus. Heinrich lachte uns tüchtig aus. Dafür zauste aber meine Mutter gehörig seine schwarze Seele, was uns beiden anderen Sündern viel Freude bereitete. Trotz der üblen Erfahrungen konnten Wolfgang und ich kaum den nächsten Sonntag erwarten, der uns wieder in unseren harmonischen Verein brachte. Unsere Eitelkeit und die Sucht, als blutjunger Arbeiter noch irgendwo ernst genommen zu werden, wogen schwerer als die Warnungen der Mutter. Wir gaben uns aber das feste Versprechen, kein Glas mehr zu trinken, das uns schaden konnte.
So erschienen wir alle drei punkt acht Uhr im Vereinslokal. Die diesmalige Zusammenkunft unterschied sich von der ersten durch den interessanten Entschluß, einen großen Theaterabend zu veranstalten, dessen Leitung meinem Freunde Heinrich anvertraut wurde. Mit großem Aufwand an Reden und erregten Auseinandersetzungen wurde ein Komitee gewählt, dem nebst anderen auch wir drei angehörten, was uns mit geheimem Stolz erfüllte. Als die Frage aufgeworfen wurde, wo das Komitee seine vielen vorbereitenden Sitzungen abhalten sollte – der Gasthaussaal stand dem Verein nur für die Samstage zur Verfügung –, schlug ich entschlossen und kühn als nächsten Zusammenkunftsort die Stube vor, die ich mit meiner Mutter bewohnte, obwohl sie sich schon für meine bisherigen Besuche als etwas klein erwiesen hatte. Mein opferfreudiger Antrag wurde aber auch mit allgemeiner Zustimmung angenommen. Der Obmann hielt eine begeisterte Rede, in der er mich als nachahmenswertes Beispiel eines deutschen Vereinsmitgliedes hinstellte, und sprach zum Schluß ein Hoch auf Bismarck, den Verein und mich aus, worin die übrigen Anwesenden begeistert einstimmten.
Bei dem hierauf begonnenen Saufgelage hüteten Wolfgang und ich uns sehr, mitzutun, nicht nur der Erinnerung unseres ersten Katzenjammers wegen, sondern weil es diesmal aus unserem eigenen Sack gegangen wäre.
Meine Mutter war am nächsten Tage von der Ankündigung der bevorstehenden Invasion nicht sehr entzückt, gab sich aber nach einigen Ausfällen auf Heinrich zufrieden, wohl ahnend, daß sie mir dadurch Freude bereitete. Sie ordnete sogar mit rührender Sorgfalt unsere Stube, damit es den Kollegen recht gut bei uns gefiele.
So rückten sie am Mittwoch abend das erstemal bei uns an: der Obmann, der Kassierer und Schriftführer, ein anderes Mitglied, der Friseur seines Berufes war, und eine – Dame.
Ich war dieser letzteren wegen anfangs ganz verwirrt, da ich meiner Mutter nur männlichen Besuch angekündigt hatte und nun bei ihr sicher den Verdacht erweckte, absichtlich das weibliche Wesen hereingeschmuggelt zu haben. Dabei konnte ich mich aber beim besten Willen nicht daran erinnern, daß sie bei der letzten Sitzung ins Komitee gewählt wurde. Der Obmann gab uns aber bald eine Erklärung. Er stellte uns das Fräulein Mizzi als erste Tragödin des Vereins vor, die er ersucht habe, mitzukommen, da sie gewiß eine weibliche Hauptrolle in dem Stück spielen würde, das zu wählen wir heute zusammengekommen waren.
Wir waren mit der Mutter nun neun Personen in dem kleinen Raum. Obwohl diese die Absicht gehabt hatte, uns während der Beratungen allein zu lassen und zu einer Nachbarin zu gehen, blieb sie nun angesichts des unerwarteten weiblichen Besuchs hier, um, ein wenig mißtrauisch, wie sie war, der Entwicklung der Dinge als Aufsichtsorgan beizuwohnen. Sie setzte sich zu ihrem geliebten Ofen, auf dem sie zu ihrem Leidwesen keinen Kaffee zu beaufsichtigen hatte – denn so viel Leute zu bewirten war für unseren Geldbeutel eine Unmöglichkeit.
Wir übrigen hatten mit Zuhilfenahme des Bettes und eines Koffers so ziemlich Platz gefunden. Das Ende unserer Debatten war der Entschluß, an dem Festabend mehrere Szenen aus »Don Carlos« aufzuführen. Wolfgangs Lieblingswunsch, »Die Räuber« auf die Bühne zu bringen, mußte abgelehnt werden, da der Bühnenraum nur vier Quadratmeter groß und für die Waldszenen deshalb nicht geeignet war.
Die Rollen wurden gleich verteilt. Wolfgang wurde Don Carlos, Heinrich der Marquis Posa, Fräulein Mizzi die Prinzessin Eboli und mir der König Philipp anvertraut, während mit den kleineren Rollen nicht anwesende Mitglieder bedacht wurden.
Heinrich wurde gebeten, die Regie zu übernehmen, was er würdevoll versprach. Er richtete auch, gleich eine kleine ernste Rede an die Künstler, in der er uns ermahnte, mit Geduld die Schwierigkeiten auf uns zu nehmen und uns opferfreudig in den Dienst des großen Volksheros Schiller zu stellen. Dann brachte er ein Hoch auf unsere Herbergsmutter aus, die ganz erschrocken über den wilden Lärm aus ihrem Schläfchen fuhr und verwirrt fragte, was denn geschehen sei.
Endlich war unsere Sitzung beendet, und die Künstlerschar stolperte mit Fräulein Mizzi über die spärlich beleuchtete Treppe hinab; nur Heinrich und Wolfgang blieben noch bis Mitternacht bei mir, denn wir hatten noch viel erregte und begeisterte Worte über die große Aufgabe zu reden, die uns bevorstand.
Am nächsten Abend brachte uns Heinrich mehrere Exemplare des »Don Carlos« in der Reclam-Ausgabe. Unsere Rollen hatte er schon rot angestrichen, und wir machten uns gleich ans Lernen, als gälte es, den Befähigungsnachweis fürs Burgtheater zu erbringen.
Zwei Tage später gab's wieder Sitzung in unserer Stube, um die Kostümfrage zu besprechen. Da aber gab's ein großes Fragezeichen vor allen großartigen Plänen. Der Kassierer hatte uns eröffnet, daß die Kasse sehr schlecht bestellt sei. Woher nun aber ohne Geld die Königs-, Infanterie, Großinquisitoren- und Prinzessinnenkleider nehmen? Da war guter Rat teuer! Wir alle ließen die Köpfe hängen; sollten unsere ganzen Entschlüsse an der Kostümfrage scheitern? Besonders Wolfgang und ich waren wie vor den Kopf geschlagen, denn wir sahen die nahe Erfüllung unserer Sehnsucht arg bedroht.
Da erklärte plötzlich meine Mutter, die sich bis dahin anscheinend gar nicht um unsere Beratungen gekümmert hatte, aus dem Hintergrunde der Kammer, wir sollten uns wegen des Krams keine Sorgen machen, aus alten Lumpen und Kleiderfetzen könne man herrliche Kostüme machen, die Schmierenschauspieler machten dies immer so. Sie erinnere sich gut, wie in ihrer Kindheit solche wandernde Komödianten bei ihren Eltern um Zwirn, Stoff und Lederabfälle gebeten hätten, aus denen dann die schönsten Fürsten- und Grafenröcke wurden, über deren Pracht die Leute nicht genug staunen konnten. Ihr Vater hätte sie und ihre Geschwister dann immer gewarnt vor diesem Schein und ihnen das Lügenhafte dieser Pracht so recht deutlich vor Augen gestellt. Unseren vereinten Kräften würde es wohl gelingen, die Kostüme für dieses Theaterstück herzustellen. Es solle halt jeder von den Beteiligten zu Hause die Mutter und Schwestern um alte Stoffreste, Bänder und dergleichen Zeug bitten und ihr bringen. Sie selbst wolle einen alten Seidenrock aus früheren Zeiten beisteuern.
Die Worte meiner Mutter hatten die wohltuendste Wirkung auf unsere erregten Gemüter, und jeder versprach, sein möglichstes zu tun.
So sah es einige Tage später in unserer Kammer wie bei einem Trödler oder noch besser wie in einem Lumpenmagazin aus. Ein jeder von den »Künstlern« hatte sein Bündel Stoffreste gebracht. Da gab es auch zerschlissene Seidenschärpen, Schürzen, Röcke, zerzauste Hutfedern und sogar durchgetretene Samtpantoffeln mit herrlicher Stickerei.
Heinrich, der bei einer alten, unverheirateten Tante wohnte, die Schneiderin war, benutzte deren Abwesenheit, um ihre Schubladen halb auszuräumen. Von diesen Resten allein hätte man die Kostüme für ein kleines Theater zusammenschneidern können.
Wolfgang, Heinrich, der Friseur und ich übernahmen die Verarbeitung der Sachen, während die Mutter die Oberaufsicht beim Zuschneiden und Zusammennähen führte. Das waren nun wundervolle Abende, an denen wir wie Schneidergesellen rund um den Tisch saßen, die Nadel und Schere führten, während draußen der Sturm an den Fenstern rüttelte, die feuchten Wolken über der Stadt lagen und oft auch ein kalter Regen die Leute in ihre Stuben jagte. Jeder von uns freiwilligen Arbeitern gab der Mutter zehn Heller, für dieses Geld kochte sie uns dann Kaffee oder Tee. War sie mit der Zubereitung des Getränkes fertig und sah sie vor uns die dampfenden Schalen stehen, so setzte sie sich in den alten Schaukelstuhl in unseren Kreis und erzählte mit ihrer traulichen Stimme tragische Geschichten von seltsamen Häusern und Menschen, auch lustige Erlebnisse aus ihrer eigenen Vergangenheit und der meines Vaters. Am liebsten waren uns aber ihre gespenstischen Legenden, in denen es von Geistern und fürchterlichen Ereignissen nur so wimmelte; sie wußte deren unzählige, und wir fühlten uns äußerst wohl, wenn es uns immer und immer wieder zu gruseln anfing.
Oft horchten wir uns bei der Arbeit auch gegenseitig unsere Rollen ab, und Heinrich als Regisseur drillte uns an der Hand eines Lehrbuches die richtigen Betonungen ein. Dabei schnitt er die wütendsten Grimassen über unsere Begriffsstutzigkeit und schrie nicht übel mit uns herum. Am stillsten hielt sich immer der Friseur, der übrigens eine possierliche Figur abgab. Kleiner als wir, war er kugelrund und hatte ein ausdrucksloses Blasengelgesicht. Auf seinen glattgewichsten Haaren klebte die Pomade in dicker Schicht und verpestete unsere Stube. Er war sehr eitel und hielt sich für einen Adonis, tat aber auch alles, um sein Äußeres noch durch wunderschöne Krawatten und andere Modedinge zu verschönern. Er verwandte sein ganzes Gehalt auf Ankauf solcher Dinge, was er sich gestatten konnte, da er bei seinen Eltern wohnte und im Geschäft seines Vaters angestellt war. Dieser Vorteil, den er vor uns anderen hatte, gewährte ihm eine große Befriedigung, und er erhob sich nicht ungern über uns. Da er nicht fähig war, einen Satz ordentlich zu Ende zu sprechen, hatte ihm Heinrich die Stelle des »Ausstattungschefs« gegeben, worüber er sehr stolz war. Hier konnte er wenigstens kein Unheil stiften und war versorgt und aufgehoben. In den Arbeitsstunden war er nun so fleißig, als gälte es, sich ein Paar neue Lackschuhe zu verdienen, und er redete nur selten wenige Worte.
Am lustigsten waren die Samstage für uns. Während an den übrigen Tagen die Freunde vor der Torsperre nach Hause eilten, um sich für die Arbeit am nächsten Tage auszuruhen, blieben an den Samstagen Wolfgang und Heinrich über Nacht bei uns. Von Schlafen war natürlich keine Rede. Wohl legten wir uns um Mitternacht teils auf den Diwan, teils auf einen Kotzen auf dem Boden, aber Ruhe gab keiner von uns. Ich würde nicht fertig, wollte ich von all den Dummheiten sprechen, die uns da einfielen; ich will nur einen unserer Streiche erzählen, der mich in der Erinnerung noch heute zum Lachen bringt.
Einem von uns war es eingefallen, wir könnten eine lebensgroße Puppe aus Kleiderfetzen machen und sie in den Treppenschacht hinunterwerfen, wenn zufällig jemand des Nachts heimkäme, um ihn zu erschrecken. Im Nu waren wir wieder auf den Beinen und verfertigten kunstvoll einen Menschen mit Armen und Beinen, schlichen uns auf den Gang und stürzten unseren Herrn eben hinunter, als der Hausmeister mit einem verspäteten Mieter durchs Haustor trat. Glücklicherweise liefen beide im Schreck auf die Straße, um einen Wachmann zu holen, und einer von uns konnte eiligst unseren Selbstmörder wieder heraufholen, ehe sie mit dem Sicherheitsbewahrer zurückkehrten. Wir hörten dann durch die leichtgeöffnete Tür, wie der Wachmann fluchend und schimpfend über den scheinbar betrunkenen Hausmeister das Haus verließ und sich die zwei Zurückgebliebenen über das unerhörte Geschehnis besprachen.
Als wir unsere Kostüme beinahe vollendet hatten, veranstalteten wir eine feierliche Probe, zu der alle Mitwirkenden geladen waren und bei welcher es sich ergab, daß wir unsere Aufgaben glänzend gelöst hatten. Sogar die Waffen, Ehrenketten und Panzerhemden waren mit Hilfe von Pappdeckeln und Goldpapier hergestellt worden und erregten allgemeine Bewunderung. Am meisten wurde das Kleid der Prinzessin Eboli bestaunt, dessen Erzeugerin meine Mutter war und in dem das Fräulein Mizzi einer wirklichen Prinzessin glich.
So kam der große Tag der Aufführung und mit ihm mein und Wolfgangs erstes Auftreten. Die Generalprobe, in unserer Kammer abgehalten, war gut ausgefallen. Der Souffleur hatte wenig zu tun und wurde zuletzt überhaupt als unnötig und störend seiner Stelle enthoben, was ihn so sehr beleidigte, daß er aus dem Verein austrat.
Da unser Theater keine Garderobe besaß, wurde beschlossen, daß sich die Schauspieler bei mir fix und fertig anziehen sollten, und so kostümiert und nur mit Tüchern und Mänteln bedeckt ins Theater zu wandern.
Das Fest sollte um acht Uhr beginnen, aber schon um fünf Uhr waren die meisten Mitwirkenden bei mir versammelt, um mit dem Umkleiden und Schminken zu beginnen. Da es Samstag war, hatte auch ich schon Feierabend machen dürfen, und ich versuchte vereint mit dem Friseur, mit Hilfe von Schminke, Mastix, Perücken und Bärten die Gesichter der Geschäftsdiener und Kontorpraktikanten in solche von Großinquisitoren und gekrönten Häuptern umzugestalten.
Meine Mutter atmete erlöst auf, als die kostümierte Horde um sieben Uhr die Kammer verließ, in der es wie nach einem Raub- und Massenmord aussah. Zu unserem Glück stand der Winternebel wie eine Wand in den Gassen und schützte uns vor den argwöhnischen Blicken der Wachtleute, die in uns am Ende eine Schar entsprungener Irren gesehen hätten.
Als wir über einen großen, ziemlich verfallenen Marktplatz kamen, auf dem die Markthütten und bedeckten Verkaufsstände eine gespenstische Miniaturwelt bildeten, fiel es Heinrich ein, hier im Freien noch schnell eine Generalprobe zu veranstalten. Eins zwei drei standen wir in der Antrittspose auf dem Bretterboden einer großen Fleischhauerhütte und donnerten, sangen und plärrten die Schillerschen Verse über den Marktplatz.
Dieser war aber nicht lange menschenleer geblieben, und kaum, daß wir's uns versahen, stand eine Menge unheimlicher Gestalten um uns herum. Sie hatten im Nu ein paar Riemen und Stöcke hervorgezogen und fingen an, in unser Spiel hineinzuschlagen, während sie uns anschrien: »Werds nöt glei aziagn, ös Pülcha! Oes Maskaradiaffen, wollts vülleicht gar a paar Äpfel abiagn? Auf a Krenfleisch tippln ma euch zsamm!«
Es waren handfeste Markthelfer, denen wir die ausgiebigen Hiebe zu verdanken hatten, und wir taten unser möglichstes, um den Störenfrieden zu entweichen. Unseren prächtigen Gewändern hatten die Schläge ohnehin nicht wohlgetan, und so sprengten wir fluchtartig in alle Gegenden. Erst im Korridor unseres Gasthauses sammelten sich langsam die verfolgten Mimen; beinahe ein jeder von ihnen hatte etwas von seinem feinen Kostüm verloren. Marquis Posa vermißte sein Holzschwert, das ich so kunstvoll mit Messingzieraten beschlagen hatte, eine traurige Locke war von der prachtvollen Perücke des Herzogs Alba übriggeblieben, und meine Königskrone war so zerdrückt worden, daß ich sie schmerzvoll wegwarf. Wir waren nur froh, daß unserer Eboli nichts fehlte und ihr der Schrecken nicht allzu arg in die Glieder gefahren war. Sie unterschied sich dadurch vorteilhaft von ihren berühmten Kolleginnen auf den großen Bühnen, denen schon ein leichter Kopfschmerz Grund genug ist, nicht aufzutreten.
Nachdem wir uns so gut wie es ging von dem Überfall erholt hatten, hielten wir unseren Einzug durch die Gasthausküche, wo es schon wundervoll nach Gulasch duftete und die Köchinnen und Abwaschmädeln sich nicht sattsehen konnten an unseren farbenprächtigen Kleidern. In einem engen Gang, in dem wir wie Heringe im Faß aneinanderklebten, warteten wir durstig und hungrig auf den heiligen Augenblick unseres Auftretens. Es würde zu weit führen, diesen Abend ausführlich zu schildern; ich will nur erwähnen, daß wir mit unserem »Don Carlos« trotz Entgleisungen aller Art einen ungeheuerlichen Erfolg errangen, der sich äußerlich durch vier Blumentöpfe mit Astern für die Prinzessin Eboli und einen viertel Eimer Bier für uns männliche Mitwirkende und einen nicht endenwollenden Applaus kennzeichnete. Jeder von uns hatte durch all dies außerdem das beglückende Gefühl empfangen, ein angehender Lewinsky, Sonnenthal oder Mitterwurzer zu sein.
Es war das erstemal, daß ich die Nacht außer Haus verbrachte und erst am nächsten Tag, dem Sonntag, vormittags mit brennenden Augen, bleischweren Gliedern in die Stube trat, in der meine Mutter mit Aufräumen beschäftigt war.
Sie sagte mir, sie wolle diesmal noch davon absehen, mir tüchtig die Leviten zu lesen; einmal sei keinmal, und ein junger Mensch gehöre nicht in den Vogelbauer. Aber ebenso sei es von großem Schaden, vielleicht zu glauben, daß dieses Saufen, Rauchen und die Nacht durchschwänzen für mich gesund wäre! Ich dürfte das nicht so bald wiederholen und darum auch nicht so oft das Gasthaus besuchen, wo die Versuchung auf den Tischen spazierenginge. Meine Freunde könnten getrost zu mir kommen und, wenn es uns nicht leid um die Zeit sei, wieder Theater spielen. Gegen eine solide Freundschaft und Unterhaltung sei nichts einzuwenden. Nur das Lumpen und Saufen ginge ihr wider den Strich.
Nun geschah aber etwas, das ohnehin das Gasthausgehen und die Vergnügungen auf lange Zeit hinaus vereitelte. Ich wurde vier Tage nach dem Festabend Knall und Fall aus der Fabrik entlassen, und meine Mutter erhielt acht Tage später die Kündigung unserer Kammer, die wir nun am nächsten Monatsersten zu verlassen hatten.
Eine Ohrfeige, die ich dem Richardl im ersten Zorn, als Strafe für eine Bosheit, gab, veranlaßte seine Eltern zu diesem Entschluß. Mitten im Winter, knapp vor Weihnachten, hieß es für mich, nun wieder eine neue Stellung suchen, während meine Mutter herumrannte, um irgendein billiges Loch zum Unterschlupfen zu finden.
Aus war es mit der ganzen Dicht- und Schauspielherrlichkeit, vorbei mit den lustigen Samstagen, den vielen Freunden und dem hübschen Fräulein Mizzi, das mir im Kopf herumzuspuken begonnen hatte. Nur die Träume blieben mir treu und meine Freunde Wolfgang und Heinrich.