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Herzog Karl von Rosenmold

A Am Anfange dieses Jahrhunderts etwa – in einer stürmischen Jahreszeit – stürzte inmitten alten, moosbedeckten Mauerwerks, das die Fläche der Rosenmold – Heide unterbricht, ein Baum nieder und legte zugleich mit seinen Wurzeln die Überbleibsel zweier menschlicher Körper bloss. Ob die Körper – ein männlicher und ein weiblicher, sagten die deutschen Anatomen – absichtlich dort begraben worden waren, war fraglich. Sie schienen vielmehr durch das totbringende Ereignis, welcher Art es auch immer war, verborgen worden zu sein, erdrückt vielleicht unter der niederen Mauer eines Gartens, und die Gebeine lagen, durch die Aushebung des Erdreichs völlig blossgelegt, in wildem Durcheinander. Die Aufmerksamkeit des Volkes wurde um so mehr auf den Vorfall hingelenkt, als seine Phantasie lange schon von vergrabenen, goldenen Schätzen gefabelt hatte, die in der Nähe der alten, von dem Garten eingeschlossenen Ruine liegen sollten. Diese Ruine war nur das dachlose Gerippe eines kleinen, aber fest gebauten Steinhauses, das vielleicht während des Krieges im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts niedergebrannt oder über den Haufen geworfen worden war. Viele Leute gingen, die Gebeine zu sehen, die auf dem finsteren, wilden Plateau lagen. Dieses breitete sich weit aus über den höchsten Dächern der alten grossherzoglichen Stadt, die an jenem Tage sich in tiefem, flüssigen Grau, scharfumrissen, von einem regenschwangeren Himmel abhob. Doch kein Schatz kam zwischen den Massen zerfallener Steine zum Vorschein, wenn auch die Überlieferung insofern bestätigt wurde, als sich reiche goldene Schmuckstücke bei den Knochen befanden. Nur Leuten, die sich ferner Zeiten entsinnen konnten, brachte diese Entdeckung die Lösung eines alten Rätsels. Es war nie genau bekannt geworden, was mit dem jungen Herzog Karl geschehen, der gerade vor einem Jahrhundert aus der Welt verschwand; dies war ungefähr um die Zeit, als eine grosse Armee jene Gegenden passierte, während einer politischen Krise, deren eine Folge die endgiltige Einverleibung seines kleinen Gebietes in einen Nachbarstaat war. Hatte der junge Herzog, unruhig, romantisch, exzentrisch wie er war, das ungewisse Los des Soldaten gewählt und war mit dem siegreichen Feinde weiter gezogen? Gewisse alte Briefe deuteten auf ein anderes Ende hin – Liebesbriefe, in denen ein geheimes Zusammentreffen verabredet wurde, die Einleitung vielleicht zu der endgiltigen Abreise des Herzogs (der, wenn er die Herrschaft antrat, über seine Hand und seine Person nicht mehr frei verfügen konnte) nach den fremden Landen, welche auch immer er ausersehen. Diejenigen, welche sich noch immer mit dem Gegenstande beschäftigten, wussten nun endlich, woran sie waren. Die Überbleibsel, so wie sie dalagen, weckten ihnen das deutliche Bild der Ereignisse in jener dunklen Nacht, als eine grosse Armee unerwartet das Land passierte, und die beiden Liebenden, die bei dem plötzlichen Lärm in wilder Aufregung aus dem freundlichen Verstecke herausstürzten, so überrascht, in der Dunkelheit ergriffen und von niemand bemerkt zwischen den Pferden und schweren Kanonen niedergetrampelt wurden.

Es konnte scheinen, als sei am grossherzoglichen Hofe von Rosenmold im Anfang des achtzehnten Jahrhunderts die Zeit fast seit dem Mittelalter stehen geblieben – seit den Tagen Kaiser Karls des Fünften, als durch die Verheiratung des Erbgrossherzogs mit einer Prinzessin des kaiserlichen Hauses ein plötzlicher Strom von Reichtum durch die grossherzogliche Schatzkammer floss. Davon war eine Art goldener Pracht der Architektur in der Residenzstadt zurückgeblieben, einer Stadt, deren Ausdehnung nie in richtigem Verhältnis zu der Zahl ihrer Einwohner stand.

Die – um den Schnee herabgleiten zu lassen – steil abfallend gebauten gotischen Dächer zerschnitten noch immer den Himmel; einer Welt von Ziegeln glichen sie mit unbeschränktem Raum für die unbeholfenen Luftsprünge jenes echt deutschen Kobolds Hans Klapper in den langen, einschläfernden, nordischen Nächten. Ganze Brüche behauener Steine waren die Strassen entlang und um die Plätze herum aufgetürmt und lagen nun als graue, verwitterte Massen fast wieder wie im Urzustände da. Halme und wilde Blumen sprossten dort empor, wo der Verfall am stärksten war und blühten seit Menschengedenken jeden Sommer wieder, so wie die Störche Jahr nach Jahr zu den entlegenen Schornsteinen zurückkehrten. Äusserlich war alles, wie es bei Ausbruch des dreissigjährigen Krieges gewesen war: der ehrwürdige, dunkelgrüne Moder, diese unschätzbare Perle architektonischen Effektes, wurde durch keinen einzigen neuen Giebel störend unterbrochen. Und im Innern war das menschliche Leben – seine Gedanken, seine Gebräuche, vor allem die höfische Etikette – man könnte sagen zu keiner Zeit durch irgend welche Aufregung politischer oder geistiger Natur im geringsten gestört worden. Der geräumige grossherzogliche Palast war mit alten Möbeln überfüllt, die, ob sie nun nützlich oder nutzlos, doch alle ornamental waren. Und keine von ihnen waren neu. Angenommen, die verschiedenartigen Gegenstände, besonders der Inhalt der spukhaften Rumpelkammern wären richtig geordnet und etikettiert worden, so hätten ihre Hoheiten ein historisches Museum gehabt, nach welchem jenes berühmte grüne Gewölbe in Dresden kaum zu den Herrlichkeiten Augusts des Starken gezählt worden wäre.

Eine ungeheuere Heraldik, jene echt deutsche Eitelkeit hatte weitläufig, überladen, beredt alles überwuchert – aussen und innen – Fenster, Häuserfronten, Kirchenmauern und Kirchenfussböden. Und die Hälfte der männlichen Einwohner waren kleine Staatsbeamte, meistens von einer quasi dekorativen Sorte – der Stadträtliche Diskantsänger, der Hoforganist, der Hofdichter und dergleichen – jeder mit seinen Unterstellten und Assistenten; so wurde ein ununterbrochenes, schläfriges Zeremoniell aufrecht erhalten, um die Stunden, wie sie vorbeischlüpften, gerade bemerkbar zu machen. Am Hofe schien man unter einer fortgesetzten Folge von Zeremonien, die sich, obgleich am hellen lichten Tage, unter dem eifersüchtigen Ausschlüsse der Sonne abspielten, in ewigem Kerzenlichte zu leben.

Es war beim köstlichen Herumstöbern in einer jener Rumpelkammern, als er sich vor jenem Kerzenlichte zu dem hellen Tage der obersten Fenster geflüchtet hatte, dass der junge Herzog Karl seine Hand auf einen alten Band aus dem Jahre 1486 legte, der in einer schweren Type gedruckt und mit einem Titelblatt – von Albrecht Dürer vielleicht – versehen war: Ars versificandi: von Konrad Celtes. Von Kaiser Friedrich dem Dritten zum Dichter gekrönt, hatte dieser ein Recht, den Gegenstand zu behandeln; denn während er, so gut er konnte, die alte deutsche Litteratur gegen den Vorwurf des Barbarentums verteidigte, that er auch ein übriges, in dem Vaterlande die Kenntnis der Poesie Griechenlands und Roms wieder zu beleben; und für Karl war die Perle, der Goldklumpen des Bandes die Sapphische Ode, mit der er schloss: Ad Apollinem, ut ab Italis cum lyra ad Germarios veniat. Der Gott des Lichtes, der aus einer beglückteren Welt von jenseits, über Meilen regnerischen Hügel- und Berglandes, nach Deutschland kommt, um den freundlichen Tag zu bringen: war dies doch immer der Traum der von Gespenstern erfüllten, aber tieffühlenden und sicherlich sanften deutschen Seele gewesen; des grossen Dürer z. B., welcher der Freund dieses Konrad Celtes war und seiner selbst. Ganz deutsch, wie er war, glich er einem Schimmer wirklichen Tages inmitten jener hyperboräischen deutschen Dunkelheit, einer Dunkelheit, die auch ihn einschloss in jener düsteren Zeit, wo es gewalttätige Räuber, nein, leibhaftige Teufel in jedem deutschen Walde gab. Und sein Bestreben war gerade auch das Karls. Diese Verse, die gerade im richtigen Augenblicke in des Jünglings Hände fielen, brachten einen Strahl wirksamen Tageslichtes in ein ganzes Magazin von Beobachtung, Phantasie, Verlangen, von den ersten Eindrücken der Kindheit an aufgespeichert. Apollo mit seiner Leyer nach Deutschland zu bringen! Es war genau das, was er, Karl, zu thun wünschte, was er, wie er sich schmeicheln konnte, wirklich that.

Das Tageslicht, die Apollinische Aurora, die der junge Herzog Karl seinem kerzenerleuchteten Volke zu bringen behauptete, kam in der etwas fragwürdigen Gestalt des gleichzeitigen französischen Ideals in Sachen der Kunst und Litteratur – französische Stücke, französische Architektur, französische Spiegel – Apollo in dem stutzerhaften Kostüm Ludwigs des Vierzehnten. Doch indem er die in ihrem Wesen gealterten und abgelebten Reize seines Vorbildes seinem eigenen, durchaus jugendlichen Temperamente gegenüberstellte, gab Karl dem, was er entlehnte, Lebenskraft; und bei ihm verlor die Sehnsucht nach dem klassischen Ideal, die so oft hohl und unaufrichtig war, all ihre Affektiertheit. Sein zärtlicher Grossvater, der regierende Grossherzog, gewährte bereitwillig genug aus den aufgespeicherten, ererbten Schätzen, die dem Jüngling eines Tages gehören würden, die nötigen Mittel zum Ausbau der ausgedehnten unvollendeten Residenz mit »Pavillons«, (nach der Weise des berühmten Mansard) welche die verstreuten Teile vereinigten, während eine wunderbare Blüte architektonischer Phantasie, mit gebrochenen attischen Dächern, über den früheren Bau hinwegging. Die späteren und leichteren Formen wurden teilweise geschickt aus den schweren Massen des alten ehrlichen »Stumpf«-Gotischen Masswerkes herausgemeisselt. Einen Fehler nur fand Karl in seinen französischen Vorbildern und war entschlossen, ihn zu verbessern. Er wollte, innen wenigstens, wirklichen Marmor anstatt Stuck haben und wenn er konnte, vielleicht gediegenes Gold zum Vergolden. Es war etwas in dem leichtblütigen, blühend schönen Jünglinge, in seiner mitten unter den ärgerlichen Vorurteilen eines kriegerischen Zeitalters völlig auf die Verschönerung und die sanfteren Seiten des Lebens gerichteten Lebhaftigkeit des Geistes, das die reizbaren Launen des Herzogs gleich der ruhigen physischen Wärme eines Feuers oder der Sonne besänftigte.

Er war bereit, mit all der geziemenden Feierlichkeit bei einer Vorstellung von Marivaux', Tod des Hannibal zu präsidieren; das Stück wurde im Original, mit der unvollkommenen Aussprache, über welche die Liebhaber des »neuen Lichtes« in Rosenmold verfügten, aufgeführt, und zwar in einem, dem in Versaille nachgeahmten, mit blassgelber Seide ausgeschlagenen Theater, das zwischen dem prunkhaften Stuck der Decke ein Bild des nördlichen Apollo selbst enthielt, in etwas wässerigem Rot und Blau ausgeführt. Unzählige Wachslichter in Kristallglas-Leuchtern waren etwas Selbstverständliches. Herzog Karl selbst, nach der neuesten französischen Mode gekleidet, spielte die Rolle des Hannibal.

In Ratsversammlungen, die sich bis dahin mit Staatsgeschäften zu befassen gehabt hatten, pflegte der alte Herzog allerdings während gewisser langer Diskussionen über Sachen der Kunst recht bald einzunicken – bei Verhandlungen über grossartige, von diesem oder jenem berühmten Unternehmer eingereichte Pläne, sein – des Herzogs – Geld geschmackvoll anzulegen oder bei Unterredungen über die Unterschiede zwischen Rokokko und Barock. Auf der anderen Seite war er, der Zeit seines Lebens in enger Gemeinschaft mit der selbstbewussten und zur Audienz geschmückten Auslese der Menschheit gewesen war, ein hilfreicher Beurteiler von Porträts und der verschiedenen Grade der darin enthaltenen Lebenswahrheit – eine Phase der Kunst, die der Enkel nicht genug würdigen konnte. Der Oberhofmaler und der Hofmaler waren in der That zur Genüge konventionell in ihrer Darstellungsweise und ebenso mechanisch in ihrer Wiedergabe von Perrücken, Fingerringen, Halskrausen oder eines gezierten Lächelns wie der gewappnete Ritter, der die Glocke im Residenzturme anschlug. Aber verstreut in den halb verlassenen Zimmern, pomphaften Schlafgemächern und dergleichen hingen die Werke wirklicher Meister, noch so unverfälscht, wie der zwei Generationen alte Rheinwein in dem herzoglichen Keller. Der Jüngling hatte sogar den Plan gefasst, den erlauchten Anton Coppel zu Hofe zu laden, damit er, wenn er wollte, in den Ehren und mit der Apanage eines Prinzen von Geblüt dort lebe. Der berühmte Mansard hatte thatsächlich versprochen zu kommen, doch entzog ihn ein rascher Tod der irdischen Glorie. Und wenn man schon der Meister entbehren musste, so konnten doch wenigstens für den entsprechenden Preis Meisterwerke beschafft werden. Für zehntausend Mark – o unvergessener Tag! – war ein echtes Werk des »Urbinaten« aus der Sammlung eines gewissen krämerhaften, italienischen Grossherzogs eben jetzt auf dem Wege nach Rosenmold. Voll Sorge wurde es erwartet, wie es über regnerische Gebirgspässe und rauhe Landstrassen entlang durch zweifelhaftes Wetter daher kam. Die Tribüne, ja sogar der Thron, mit goldverbrämten Behängen in den grossherzoglichen Farben waren in dem Audienzzimmer aufgestellt, und eine Ansprache und eine Ode waren gedichtet worden, um seine Ankunft zu begrüssen. Spät in der Nacht endlich hörte man den Wagen in den Hof rumpeln. Das Bild war angekommen, wohlbehalten zwar, aber wenn man offen sein soll, vielleicht etwas abstossend beim ersten Anblick. Zwischen einem unerfreulichen, mittelalterlich grotesken Portiko, gestützt von braunen alten Bischöfen, deren Andacht kein Zwischenfall stören konnte, blickte die Madonna hervor und sah kaum besser aus als eine bescheidene Nonne, die nichts von alledem zu sagen hat, dergleichen man zu hören gewohnt ist. Sicherlich war man weder bezaubert noch hingerissen von des grossen Meisters Werk; doch obwohl innerlich sehr enttäuscht, that man sein Äusserstes, es gegen Kritiker – denen bekanntlich jedes Feingefühl fehlt – und gegen sich selbst zu verteidigen. In Wahrheit war Rubens der Maler, an dem Karl sich am aufrichtigsten ergötzte, und in dem die wirkliche Kraft seines jugendlichen und etwas animalischen Geschmackes am meisten Rückhalt fand – Rubens, wie er sich in wohlerhaltenen Familienporträts gleichsam bevorzugter junger Leute, die nie alt werden konnten, giebt; frisch, heiter, sinnreich. Hatte nicht auch er etwas von der Pracht eines »besseren Landes« in jene nördlichen Regionen gebracht? wenn auch nicht das leuchtende Gold Titians italienischer Sonne, so doch die Fleischfarbe und das Gelb der Rosen und Tulpen, solcher, wie sie bei geeigneter Pflege wirklich dort wachsen mochten, selbst unter regnerischen Himmelsstrichen. Und dann wurde um diese Zeit an dem grossherzoglichen Hofe etwas von gewissen, geheimnisvollen Experimenten, die Porzellanmacherei betreffend, gehört; wirkliche Alchemie, Thon in Gold zu verwandeln. Die Herrschaft des weissen Porzellans war nahe, mit ihrer eigenen Welt kleiner Männer und köstlicher, noch kleinerer Frauen inmitten von Nachahmungen künstlicher Blumen. Der junge Herzog raffte seinen Mut zusammen zu einem Anschlage, den talentierten Herrn Böttcher aus seiner ihm aufgezwungenen, gefängnisartigen Wohnung zu entführen. Warum nicht Töpfe und Drehscheiben nach Rosenmold bringen, um dort die Entdeckungen fortzusetzen? Der Grossherzog zog allerdings sein goldenes Service vor und hätte es gern gehabt, wenn der Jüngling ein virtuoso in nichts weniger Kostbarem als Gold – goldenen Schnupftabaksdosen nämlich – gewesen wäre. Denn: was Kunst oder Kultur anbetrifft, so können wir einen grossen Appetit danach haben, aber recht wenig, ihn zu befriedigen. Doch in geistigen Dingen gilt schon der Appetit viel, wenigstens in hoffnungsvoller, zukunftsfroher Jugend, die die Welt noch vor sich hat. »Du bist der Apollo, von dem du uns kündest, der Apollo des Nordens«, begannen die Leute zu ihm zu sagen und waren von Zeit zu Zeit überrascht durch etwas Vergeistigtes in ihm, das über ihr Verständnis hinausging – durch seine Ausdrücke, Augenaufschläge, ein sanftes Leuchten oder ein plötzliches Licht in dem schönen Gesicht des Jünglings, durch seine anregenden Worte, wie er, alle um ihn einladend, den Honig mit ihm zu teilen, von der Musik zur Malerei, von der Malerei zum Drama schweifte. Und doch waren alle diese Kunstwerke in dem gleichen geschnörkelten, überladenen Stil und vielleicht nicht ein Mal mittelmässig. Insofern aber blieb er durchaus konsequent: zu behaupten nämlich, dass das Zentrum des intellektuellen Systems in Frankreich sein müsse. Er dachte daran, sich selbst heimlich nach jenem Lande zu begeben, um sich dort den Stempel seines Genies aufdrücken zu lassen.

Indessen kamen solche Blumen, die sich leichter verpflanzen lassen, im Überflusse. Dass die Rosen, sozusagen, nur ausgezeichnete künstliche Blumen waren, die nach Moschus rochen, wiederlegte weder für Karl die Giltigkeit seines Ideals noch kann es uns den Glauben an Karls inneren Beruf zu diesen Dingen rauben. In der Kunst, wie in allen anderen geistigen Dingen, hängt viel von dem Empfangenden ab; und die höhere gestaltende Fähigkeit, wenn sie inwendig vorhanden ist, wird sich einen scheinbar ungeeigneten Gegenstand entsprechend umformen, wird sich selbst realisieren durch Auswahl und die Bevorzugung des Besseren in dem, was schlecht oder mittelmässig ist, indem sie ihr Vorrecht unter den unmöglichsten Bedingungen behauptet. Die Leute hatten in Karl, wenn sie es nur verstanden hätten, trotz seiner Vorliebe für jene oberflächliche Pracht, das Schauspiel einer wirklich heroischen Anspannung eines Geistes, der unter den ungünstigsten Umständen kämpft. Jenes französische Rokokko des siebzehnten Jahrhunderts, die Nachahmung der wahren Renaissance, erweckte in Karl einen unbegrenzten Enthusiasmus, einen Enthusiasmus, wie ihn das italienische Original zwei Jahrhunderte früher erweckt hatte. Er legte in seine Auffassung der ästhetischen Bestrebungen Ludwigs des Vierzehnten, das was das junge Frankreich gefühlt hatte, als Franz der Erste den grossen Da Vinci und seine Werke heimgebracht hatte. Es war schliesslich nur sich selbst, den er, so frisch und echt, unter jenen künstlichen Rosen gefunden hatte.

Er war umsomehr auf solch ursprüngliche und sinnliche Geistesprodukte, wie Architektur, Töpferei und auch auf Musik, angewiesen, als es für ihn, der so hohe geistige Fähigkeiten besass, thatsächlich keine Litteratur in seiner Muttersprache gab. Bücher gab es zwar, aber voll solcher Langweile und so entfernt von den lebendigen Interessen des warmen, wechselnden, bunten Lebens um ihn und in ihm, dass wir es kaum verstehen können. Er fand mehr Unterhaltung in der natürlichen Folge seiner eigenen, einsamen Gedanken, die in harmonischer Übereinstimmung waren mit angenehmen sichtbaren Gegenständen, als in all den Büchern, die er so sorgfältig durchstöbert hatte, um das alles erhellende, intellektuelle Licht zu finden, von dem ein kurzes Aufleuchten hie und da trügerische Hoffnungen erweckte. Und immer noch hielt er grossmütig an dem Glauben fest, der ihn zu neuen Anstrengungen anspornte, dass eine Litteratur, die Herz und Geist befreien konnte, irgendwo existieren müsse, obgleich die Hofbibliothekare nicht sagen konnten, wo. Beim Suchen danach verbrachte er viele Tage in jenen Bücherkammern, wo ihm die lateinische Ode des Conrad Celtes in die Hände gefallen war. Sollte die deutsche Litteratur immer nur eine Art Marter-Instrument bleiben, dazu bestimmt, das Gehirn zu peinigen? Ach! Was würde er nicht für eine, von diesen Fesseln befreite Litteratur gegeben haben, die sich mit den Interessen des Lebens selbst deckte!

In der Musik, hatte Deutschland allerdings schon seine geistige Freiheit behauptet. Eine oder die andere jener norddeutschen Städte war bereits des jungen Sebastian Bach gewahr geworden. Die ersten Töne einer Musik waren gehört worden, die nicht von Frankreich entlehnt war, sondern so natürlich wie ein Brunnen aus seiner Quelle, aus der ewig musikalischen Seele Deutschlands selbst floss. Und der Herzog Karl war ein aufrichtiger Verehrer der Musik, er, der sich selbst vor einem entzückten Hofe melodisch auf der Violine produzierte.

Jenes neue Deutschland des Geistes würde vielleicht zu dem Klange der Musik errichtet werden. Zu jenen anderen künstlerischen Schwärmereien, als der Verkünder des französischen Dramas oder des architektonischen Geschmackes Ludwigs des Vierzehnten, hatte er selbst freigebig beigetragen, indem er mit seinem eigenen guten Glauben die innere Unzulänglichkeit ihrer Berufung verdeckte. Die Musik allein hatte bis jetzt ihm geholfen und ihn aus sich heraus geführt. Instinktiv wandte er sich mehr und mehr der Musik zu und war zunächst bestrebt, die Hofmusik zu veredeln und zu organisieren, von der viele Teile gleich den beliebtesten Tönen eines alten Spinetts ausgefallen waren, weil verschiedene beurlaubte Mitglieder sich ihres Gehaltes in der Ferne erfreuten. Hierbei wurde er nachdrücklich von einem Jünglinge, dem Unter-Organisten der grossherzoglichen Kapelle, unterstützt.

Als Mitglied der römisch-katholischen Kirche unter einem Volke, das hauptsächlich der reformierten Kirche angehörte, schlüpfte Herzog Karl manchmal in den verhangenen Kirchenstuhl der lutherischen Kirche, der er ein massiv goldenes Kruzifix gestiftet hatte, und lauschte den Chorälen, deren Ausführung er nach seinem Geschmacke gestaltet hatte; er ergötzte sich an diesen Passagen von einer angenehm eintönigen und scheinbar unendlichen Melodie, die wenigstens hier auf Erden nie zu dem kam, was man berechtigter Weise ein Ende hätte nennen können; auch war ihm der heitere Genius des Martin Luther sympathisch, mit seinen guten Melodien und dem tönenden Lachen, das langweilige Kobolde verscheuchte.

Damals also war sein Geist eine Zeit lang mit dem Plane der musikalischen und dramatischen Ausgestaltung einer Phantasie beschäftigt, die ihm jenes alte lateinische Gedicht des Conrad Celtes eingegeben hatte: der hyperboräische Apollo, wie er in den Wandlungen der Zeit für einen Teil des Jahres im trägen Norden verweilt, – trotzdem immer noch Apollo – Kunst, Musik und die das menschliche Leben erklärende Philosophie hervorzaubert, und auf diese Weise inmitten der Finsternis eine Art eingeschalteten Tages schafft; nicht südlichen Tag natürlich, sondern ein sanftes, abgeleitetes Tageslicht, gut genug für uns. Es würde notwendigerweise ein mystisches Stück sein, voller Andeutungen, Anspielungen, Winke.

Karls unbestimmtem Vorschlage kam die praktische Thatkraft seines Freundes oder Dieners, des Unter-Organisten entgegen, der schon über einem musikalischen Werke auf den Herzog Karl selbst brütete: Baldur, ein Zwischenspiel. Allerdings hatte dieses Spiel einen kleinen satirischen Beigeschmack, der ja aber bei einer wirklichen Aufführung, wenn die Zeit dafür jemals kommen sollte, leicht unterdrückt werden konnte. Er war damit einverstanden, die Rolle des nordischen Lichtgottes mit einer nunmehr ganz ernsthaften Intention umzuformen und zu erweitern. Aber immer noch begrenzte das Nahe, das Wirkliche, das Familiäre, das Entfernte und das Ideale oder verdrängte es sogar. Karl entsprach sicherlich vollkommen seiner Rolle, in der er andere durch einen intellektuellen Glanz erfreute, welcher aufgehört hatte, für ihn selbst Wärme oder Belebung zu bedeuten. Für ihn war das Licht immer noch in Frankreich zu suchen, in Italien und vor allem im alten Griechenland unter den köstlichen Dingen der Kunst, der Poesie, vielleicht des Lebens selbst, die dort möglicherweise immer noch verborgen liegen konnten, bis Prinz Fortunat kommen würde.

Ja! dorthin wandten sich seine Gedanken während jener romantischen Träumereien, indess die Oper ihrer Vollendung entgegen ging. Sie wurde, als die Zeit kam, mit genügendem Erfolge aufgeführt. Mittlerweile war Karls Entschluss, jenes Heimatland der Musen zu besuchen, aus dem Italien seine Schätze erst erhalten hatte, ein endgiltiger geworden; er war fest entschlossen, den Schwierigkeiten Trotz zu bieten, zu Griechenland in dem Zustande, in dem es sich gegenwärtig befand, Zutritt zu erhalten.

Zu Zeiten kam ihm der Gedanke, dass er wirklich durch seine Abstammung einer südlichen Rasse angehören müsse, dass ein physischer Grund für diese seltsame Rastlosigkeit bestehen möchte, gleich einer deutlichen Reminiscenz an etwas, das sich in einem früheren Leben begeben hatte. Die alten Beamten des Heroldsamtes mussten sich ans Werk machen, (und sie verlängerten thatsächlich ihre Arbeitsstunden in dem unerwarteten Wiedererwachen des Interesses an ihrer zu abgenutzten Funktion) um in der Genealogie der Rosenmold nach einer unbekannten Ader griechischer Abstammung zu suchen, spätbyzantinischen Griechentums vielleicht. Doch Nein! mit hundert Wurzeln waren die Rosenmold in die Heimaterde gewachsen, gleich den alten Eibenbäumen auf der Heide, wie die unbestechliche Wappenkunde aufs Neue bestätigte.

Mittlerweile verliehen diese Träume von weiten und wahrscheinlich abenteuerlichen Reisen dem körperlich noch immer so gesunden Jünglinge Flügel für ausgedehntere Ausflüge in seinen eigenen frischen Wäldern, als er sie je vorher unternommen hatte. Auf langen Streifereien, zu Fuss oder zu Pferde, bei Tag und Nacht, warf er sich, um seine Gesundheit zu befestigen, auf die heiteren Einflüsse ihrer einfachen Bilder: die Falken, die in der Luft über ihm zu schlafen schienen; die gebleichten Klippen, gleichsam heraufbeschworen von dem späten Sonnenuntergange zwischen den dunklen Eichen; die Mühlenräder mit ihrem freundlichen Gemurmel, in den Thälern zwischen den Hügeln. Wolken zogen über seinen Himmel, kleine, plötzlich aufgetauchte Wolken gleich denen, welche in jenen nördlichen Breiten, wo der Sommer selbst im besten Falle nur ein flüchtiger Gast ist, das Herz selbst des wärmsten Nachmittags, wenn auch nur auf Minuten, frösteln machen. Manchmal überkam ihn der Trübsinn anderer Leute: wenn er ihres düsteren Weges durch die Welt und ihres Abschieds von ihr, der dürftigen Begebnisse in ihrem Leben und ihrer traurigen Begräbnisse gedachte. Und wenn er diese Anfälle nicht sofort durch angestrengte Thätigkeit vertrieb, verdichteten sie sich zu einem Trübsinn, der dann mehr sein eigener war.

Doch schienen zu solchen Zeiten auch äussere Dinge unfreundlich dazu beizutragen, den auf ihn gefallenen geistigen Schatten zu vertiefen, fast als ob die Naturwelt thatsächlich belebt sei von Elfen und Kobolden, (wie die alte deutsche Dichtung behauptete) die manchmal freundlichen Beistand gewährten, meistens aber ihren menschlichen Verwandten Schaden zufügten. Seit einiger Zeit kamen diese Anfälle öfter und dauerten an. Oft war es ein müdes, entstelltes Gesicht, das seine Lieblingsspiegel zurückwarfen. Ja! Die Leute waren prosaisch und ihr Leben fadenscheinig, alle, bis auf ihn selbst, den Organisten Max und Fritz, den Diskantsänger. Andererseits hielten ihn die Leute, die in unmittelbare Berührung mit ihm kamen, für etwas überspannt, obgleich sie immer noch bereit waren, seiner Überspanntheit zu schmeicheln. Allein mit dem ihn anbetenden alten Grossvater in ihrer steifen, zurückhaltenden, fremden Welt der Etikette, fühlte er sich von Schmeichlern umgeben und hätte gern die Aufrichtigkeit sogar von Max und Fritz geprüft, welche, die Worte der andern nachsprechend, sagten: »Ihr selbst, Sire, seid der Apollo Deutschlands.«

So war es sein Wunsch, die Aufrichtigkeit derer um ihn zu prüfen und Schmeichler zu entlarven, welcher ihm zunächst einen Streich eingab, den er dem Hofe und ganz Europa spielte. In jener verwickelten, aber ganz teutonischen Genealogie, die kürzlich durchstöbert worden war, befand sich ein sehr hoch geschätzter Hinweis auf die Abstammung von Karl dem Fünften, und Karl las, unter Anleitung, bereit, das Gelesene auf sich wirken zu lassen, alles, was über den grossen Vorfahren zu erhalten war; allerdings fand er wenig genug, seiner Mühe zu lohnen. Einen Wink jedoch liess er sich dienen; er beschloss, seinem eigenen Leichenbegängnisse beizuwohnen.

Dass er dadurch den Antritt jener heiss ersehnten Reise erleichtern könnte, fiel ihm fast sofort ein und bestärkte ihn in seinem Entschlusse, und bald fielen die ihn bestimmenden Beweggründe durch das dramatische Interesse, die angenehme Dunkelheit und die Seltsamkeit der Sache selbst noch schwerer ins Gewicht. Gewiss, damals trat in Deutschland, und besonders im alten, schläfrigen Rosenmold der Tod prunkhaft genug auf. Die Jugend selbst, sentimental gestimmt, erging sich in Gedanken an Verwesung und belustigte sich mit Phantasieen über das Grab, wie es in Perioden des Verfalls oder des stockenden Fortschrittes, wenn die Welt für eine Zeit einzuschlummern scheint, zur Mode und zur geckenhaften Ziererei der Jungen wird, das Alter festzuhalten oder vorzuspiegeln. Die ganze Verwandtschaft Karls, den schläfrigen alten Grossvater ausgenommen, lag schon unter ihrem ausgebreiteten Wappenwerk begraben; zu Zeiten schien es, als sei die ganze Welt so begraben – von den Toden gemacht und wiedergemacht – ihr ganzes Gewebe von Politik, Kunst, Sitte im Wesentlichen heraldisches »Machwerk«, und wie dieses das Andenken an Tote.

Man sieht, er war ein skeptischer junger Mann, und in seiner Vorstellung von ihnen waren seine toten und dahingegangenen Verwandten in keine andere Welt übergesiedelt; höchstens vielleicht in eine steifere, langsamere, schläfrigere und pompösere Phase des Ceremoniells – den letzten Grad der Hof-Etikette – wie sie dort in der grossen, niedrigen, grossherzoglichen Gruft in ihren Särgen lagen, die alle Jahre einmal, am Allerseelentage, wenn die Hotbeamten dort hinunter stiegen, abgestäubt wurden; da wurde inmitten herabwallender Flore und Spinngewebe die Messe für die Toten gesungen. Der Jüngling mit seinen vollen, roten Lippen und offenen, blauen Augen, der gleichsam mit einem grossen Becher in den Händen zu dem Feste des Lebens kam, sträubte sich gegen dergleichen, wie man sich gegen Erstickung sträubt. Und doch waren Anklänge daran überall.

An einem blendend hellen Nachmittage drang plötzlich aus einem der Dörfer in der Ebene das schrille Totengeläute zu den heiteren Höhen des Heiligenbergs. Aus dem düsteren Grabe selbst schien es zu kommen, und die Freude war tot. Traurig tritt er auf dem Heimwege, eine Stunde später, zufällig durch die offene Thür einer Dorfkirche, die halb in der Wildnis des Kirchhofs begraben liegt. Der rohe Sarg eines Arbeiters steht da, der nur eine Höhle hatte, um darin zu leben. Der Feind war einem auf dem Fusse! Der junge Karl schien zu fliehen, nicht vor dem Tode nur, sondern vor Mord.

Und wie diese Gedanken ihn mit der zurückprallenden Kraft der Jugend, mit erneuertem Appetit zum Leben und zur Vernunft zurücksandten, lieferten sie, ihm endlich vertraut geworden, für sein phantastisches Experiment, neue Gründe. Hatte nicht ein weiser Mann gesagt, dass schliesslich das ganze Ärgernis des Todes in seinem pomphaften Schmucke sei? Nun denn! er wollte, so weit als möglich, die Sache versuchen, während er vermutlich noch immer grosse Ansprüche an das Leben hatte. Er wollte seine Freiheit von jenem düsteren »Schmucke« wenigstens, erkaufen und zuhören, während man von ihm als von einem Toten sprach. Die blossen Vorbereitungen gaben einen erfreulichen Beweis von der Ergebenheit einer gewissen Anzahl von Leuten, die ohne zu fragen auf seine Pläne eingingen. Es ist nicht schwierig, die Welt irre zu führen in Bezug auf das, was denen begegnet, die in der künstlichen Entfernung eines Hofes mit seiner hohen Mauer der Etikette leben. Wie immer die Sache eingerichtet wurde, keiner zweifelte, als mit einem Schwall pomphafter Worte die Hofnachricht herauskam, dass der Erbgrossherzog, der Art seines Geschlechtes entsprechend, nach einer kurzen Krankheit verschieden sei. In augenblicklichem Bedauern und an des Jünglings Geschmack für Pracht denkend, beschlossen diejenigen, denen die Anordnung solcher Angelegenheiten zukam, (der Grossvater versank nun immer tiefer in purer Stumpfheit) von dem Wunsche des Volkes unterstützt, ihm ein Begräbnis von sogar grösserer Pracht als der herkömmlichen, grossherzoglichen, zu geben. Sein Ruheplatz wurde so offiziös bezeichnet und abgemessen, als handle es sich um die Grenzberichtigung eines Königreiches, dort, in der herzoglichen Gruft, durch deren spinnewebüberzogene Fenster der junge Herzog von dem Garten aus, wo er als Kind spielte, oft auf die verblichene Herrlichkeit der ungeheuren, mit Kronen verzierten Särge geblickt hatte, von deren ältesten die Sammetfetzen herabfielen. Umgeben von der ganzen offiziellen Welt von Rosenmold, die bei der Gelegenheit in fast vergessene Staatskostüme, wie für eine Maskerade, gekleidet war, glitt der neue Sarg aus der duftenden Kapelle, wo das Requiem gesungen wurde, die breite, mit pfirsichfarbenem und gelbem Marmor eingefasste Treppe in die Schatten hinab. Karl selbst, als wandernder Musikant verkleidet, war dem Sarge während eines strömenden Regens über den Platz gefolgt, wobei er hörte, wie die alten Leute den »gesegneten« Toten darin glücklich priesen. Dann hatte er einen Grabgesang seiner eigenen Komposition angehört, den sein Freund, der neue Hoforganist, auf der grossen Orgel mit viel bravura herausbrachte. Dieser, der mit im Geheimnis war, schloss in jener Nacht den Garteneingang zu der Gruft auf und blickte hinein, auf die schläfrigen, geschminkten und bezopften, jungen Pagen, deren Pflicht es war, eine bestimmte Anzahl Tage neben der Ruhestätte ihres toten Herren zu wachen.

Und einige Wochen später wurde es bekannt, dass der »verrückte Herzog« zur Verzweiflung der Hofmarschälle wieder aufgetaucht sei. Das Abenteuer hätte dem Jüngling schlecht bekommen können, wenn die seltsame Nachricht, die erst als phantastisches Gerücht auftauchte, dann ein Gegenstand ernsthafter Nachforschung und endlich eine feststehende Thatsache wurde, dem Grossvater weniger willkommen gewesen wäre, als sie es war. Dieser war in der That zu alt, um sich tief zu grämen, aber so altersschwach, dass er vorschlug, die Minister sollten sich der Person des jungen Herzogs bemächtigen, ihn mündig und zum Regenten erklären. Von jenen dunklen Reisen, die dem alten Manne, der nie fünfzig Meilen weit von zu Hause weg gekommen war, in ihrer Kühnheit fast wahnsinnig erschienen, würde er zurückkommen – zurückkommen »zur Zeit«, murmelte er leise, begierig, jenes junge, erfrischende Leben wieder um sich pulsen zu fühlen.

Karl selbst, der sich, nun die Sache vorüber war, sehr an dem satirischen Elemente darin ergötzte, musste der Begräbnisstreich und die noch grössere Ungeheuerlichkeit, wieder ins Leben zurückzukommen, verziehen werden. Und dann, Herzog oder nicht, war es ausgemacht, dass er die Dinge auf keinen Fall so haben wollte, wie sie früher gewesen. Er würde dem Leben der Leute nie wieder ganz so nahe sein wie in der Vergangenheit – ein unbeständiger Gast vielmehr – fast als ob er wirklich tot gewesen wäre; der leere Sarg verblieb als eine Art symbolisches »Krönungszeichen«, das seine zukünftige Beziehung zu seinen Unterthanen andeutete.

Von all denen, die ihn totgeglaubt, hatte nur ein menschliches Wesen, den Grossvater ausgenommen, wirklich um ihn getrauert; eine Frau, in Thränen, als der Trauerzug vorbei kam, mit der er sich über seine eigenen Verdienste teilnahmsvoll unterhielt. Bis dahin hatte er den Vorfall vergessen, der ihn ihr als wahren Genius der Güte und Stärke gezeigt hatte. Wie sie eines Tages mit ihren ländlichen Erzeugnissen zur Stadt fuhr und von der Menge verwirrt, sich gegen eine der hundert kleinen Polizeiverordnungen verging, waren die Beamten, unter höhnischen Zurufen der Zuschauer, die immer bereit waren, die »Zigeuner« unsanft zu behandeln, gerade dabei, sie zur Bestrafung abzuführen, als in eben dem Augenblicke der hochgewachsene Herzog Karl, einem gezückten Schwerte gleich, von der Palasttreppe herabsprang und sie befreite. Sie hatte ihn trotz seiner Verkleidung halb erkannt. Bald nachdem der Herzog Karl wieder erschienen war, war die Nachricht zu ihr in ihre kleine Hütte gebracht worden; und ihn umgab die Erinnerung an sie freundlich, wie er entzückt seines Weges wandelte.

Als nach übereilter Flucht, bei Tag und Nacht, der erste Teil seiner Reise vorüber war, fand sich Herzog Karl an einem Sommermorgen, unter der Glut einer anscheinend südlichen Sonne, endlich wirklich frei auf der Bergstrasse, mit der reichen Ebene des Rheines zu seiner Linken; rechts waren Weinberge, die er nun zum ersten Male sah, und die sanft zu den krausen Buchen des Odenwaldes anstiegen. Bei Weinheim stand nur noch ein leerer Turm des Schlosses Windeck. Er blieb die Nacht über in dem grossen, getünchten Gastzimmer des Kapuziner-Convents.

Die vaterländischen Flüsse haben gleich den vaterländischen Wäldern eine Familienähnlichkeit: der Main, die Lahn, die Mosel, der Neckar, der Rhein. Die Beförderungsmöglichkeiten, die der Zufall ihm bot, benutzend, folgte er dem sanft gewundenen Laufe eines der hübschesten dieser Flüsse, teils auf dem Strome selbst, teils die Ufer entlang, verzog eine Zeit lang in den grauen, weissen oder roten Städten, die an seinem Wege lagen, kostete ihre köstlichen »kleinen« Weine, blickte in ihre alten, überladenen Kirchen, prüfte das Kirchenmobiliar oder versuchte die Orgeln.

Drei Nächte lang schlief er, warm und trocken, auf dem in einem verlassenen Kloster aufgespeicherten Heu und liess sich verleiten, der Kirchenmusik wegen, das benachbarte Münster zu betreten, wo man ihn beinahe entdeckt hätte. Durch einen wunderbaren Zufall war der grimmigste Herr von Rosenmold darin, erkannte den Jüngling und seine Begleiter – Besucher, die natürlich unter den sie umdrängenden Bauern auffallen mussten – und war einige Stunden lang auf ihrer Spur. Nach den unreinlichen Stadtstrassen war die Landluft ein wahrer Wohlgeruch, thatsächlich gesättigt von dem Dufte der Nadelwälder. Man schien mit ihr Phantasien der Wälder, der Hügel und Wässer einzuatmen, Phantasien einer Art von Seelen in der Landschaft, aber heiter und fröhlich jetzt, glücklicher Seelen! Eine ferne Fichtengruppe auf dem Abhange eines grossen Hochlandes erweckte das heftige Verlangen, dort zu sein, schien einen herauszufordern, dorthin seine Schritte zu lenken. Ging von dort der Blick in unermessene Weiten? Sie war gewissermassen der Vorposten eines fernen Wunderlandes, der Beweis von der wirklichen Existenz eines solchen. Über Kassel bogen sich die luftigen Hügel in schwarzer Kontur gegen einen glühenden Himmel; von seltsamen Gestalten wimmelnd, so konnte man sich einbilden, die auf diesen abgelegenen Plätzen wieder bei ihren alten Teufeleien sein mochten, ehe die Nacht völlig hereinbrach. Endlich in den Strassen, den hundert Kirchen Kölns fühlt er etwas eines »gotischen« Enthusiasmus' und die ganze Begeisterung des Deutschen für den Rhein.

Weit und breit im Rheinlande hatte die Weinernte ihren Anfang genommen. Die roten Ruinen auf den Höhen, die weissen Dörfer, die weissen St. Nepomuk-Standbilder auf den Brücken waren nur vereinzelte hohe Kontrasttöne in einer schläfrigen und in der Flut des Sonnenscheins undeutlichen Landschaft, die etwas Berauschendes hatte gleich jungem Most. Der Lärm aus den Weinbergen klang durch den lieblichen Schleier, manchmal mit dem durchdringenden Ton einer Glocke – der Totenglocke vielleicht – oder nur als ein gebrochener Ruf an die Weingärtner. Und inmitten jener breiten, mit Weiden bestandenen Ebene des Rheins, von Bingen bis Mannheim, wo die braunen Hügel in luftiger blauer Ferne verschwinden, einem kleinen Abbilde des Paradieses gleich, fühlte er, dass Frankreich nahe war. Vor ihm lag der Weg dahin, bequem und gerade. – Jene Quelle des Lichtes so nahe! Aber die launische Incidenz seines eigenen Temperaments gab ihm unerwarteterweise nun, da die Gelegenheit da war, nicht in den Sinn, worauf er gewettet hätte: »Gehe, trinke sofort!« Kam es daher, dass Frankreich überhaupt nicht mehr zählte im Vergleich mit Italien und Hellas? oder dass ihm, wie er durch die deutschen Lande zog, die Überzeugung wurde: »Für dich ist Frankreich, Italien, Hellas hier!« – dass eine gewisse Erkenntnis der unversuchten geistigen Möglichkeiten des sanftmütigen Deutschland das ideale Land für Karl aus dem Raume jenseits der Alpen oder des Rheins in die zukünftige Zeit übertragen hätte, zu welcher er der Führer sein müsse! Etwas kalt von Temperament, trotz seiner männlichen Stärke, reiste er teilweise auf der Suche nach physischer Wärme. Heute, in diesem grossen Weinberge, war physische Wärme zur Genüge um ihn, wenigstens für eine deutsche Konstitution. War es vielleicht nicht anders mit der geistigen Wärme, dem intellektuellen Licht; bedurfte es nicht vielleicht nur eines Auslegers – Apollo, leuchtend als Offenbarer vielmehr denn als Bringer des Lichtes? – Mit dem festen Glauben, dass die Eclaircissement, die Aufklärung – er hatte schon den Namen für die Sache gefunden – in der That kommen würde, war er doch sehr im Unklaren gewesen über das Woher und Wie. Hier begann er einzusehen, dass sie nur durch die Einwirkung belehrenden Denkens auf das ungeheure, aufgespeicherte Material, in dessen Besitz Deutschland sich befand, erfolgen könnte: Kunst, Poesie, Dichtung, eine ganze phantastische Welt; dass sie die naturgemässe Folge eines tieferen Verständnisses der Vergangenheit, der Natur, seines Selbst sein würde – eines Verständnisses alles ausserdem durch die Kenntnis des eigenen Selbst. Zu verstehen, das würde der erste, unerlässliche Schritt sein gegen die Erweiterung der grossen Vergangenheit, der eigenen kleinlichen Gegenwart, durch Kritik, durch Phantasie. Dann würden die gefangenen Seelen der Natur sprechen wie von Alters her. Das Mittelalter in Deutschland, wo die Vergangenheit so reich wieder aufgelebt, würde, niemals ferne von uns, seinen mystischen Zauber zum besseren Verständnis unserer Raphaele wieder geltend machen. Die Geister des fernen Hellas würden wiedererwachen in den Männern und Frauen kleiner deutscher Städte. Ferne Zeiten, die einander fremdesten Gedanken würden als Elemente einer grossen historischen Symphonie wohl zusammen kommen. Eine Art glühenden neuen Patriotismus' erwachte in ihm, zum ersten Male empfand er die Worte » vaterländische« Dichtung, » vaterländische« Kunst und Litteratur, deutsche Philosophie. Mehr und mehr offenbarten sich seinem Geiste die Hilfsquellen der Vergangenheit, seines Selbst und dess, was dem deutschen Geiste möglich war, während er seines Weges schritt. Ein freier offener Platz war bestimmt worden, der von etwas jetzt zu Schaffendem, von ihm zu Schaffenden, eingenommen werden musste. »Wenn ich nur Beistand fände,« dachte er, »wenn diese Gedanken nur in einem anderen Geiste erwachten!«

In Strassburg, mit seinen burgartigen, neun Etagen hohen Häusern, gemütlich in der Mitte jener unfreundlichen Ebene, wie ein grosses Storchnest um den romantischen roten Turm seines Münsters gruppiert, war Karl im Banne des Mittelalters. Woche nach Woche dort verziehend, arbeitete er hart, aber – ohne einen Lichtstrahl von anderen – lange auf einem Irrwege, an der Chronologie und Geschichte des gemalten Glases. Der Geist der Vergangenheit selbst schien in diesen visionären Bildern von Königen oder Patriarchen ausgedrückt, in den tief eingegrabenen Kennzeichen des Charakters, in dem eisgrauen Haar, den massiven Proportionen, die von den – gegen jetzt – viel längeren Lebensjahren sprachen. Sicherlich, die vergangenen Zeitalter waren, wenn man nur zu ihrer historischen Seele gelangen konnte, nicht tot, sondern lebendig, eine fruchtbare Gesellschaft für die Unterhaltung, die Erweiterung der Gegenwart: und Herzog Karl witterte noch immer nicht den cynischen Nachgedanken, dass eine solche historische Seele nur eine willkürliche Substitution, ein grossmütiges Dahrlehn des eigenen Selbst war.

Die mystische Seele der Natur nahm ihn demnächst in Beschlag, indem sie sagte: »komm, verstehe, lege mich aus!« Eines Morgens wurde er von dem Geläute der Schlittenglocken auf der Strasse unter seinen Fenstern aufgeweckt. Der Winter war frühzeitig von den Bergen herabgekommen: der blasse Rhein unter der Schiffsbrücke auf dem langen Wege nach Kehl war vom Eise angeschwollen, und zum ersten Male trat es Karl ins Bewusstsein, dass die Schweiz nahe sei. Ganz plötzlich ergriff ihn die Begeisterung für die Berge und er eilte, tausend Schwierigkeiten überwindend, das Rheinthal entlang, über Alt-Breisach und Basel zu schweizerischen Farmhäusern und einsamen Dörfern, die immer noch etwas Feierliches hatten und von Fremden unberührt waren. In Grindelwald, wo er endlich in nächster Nachbarschaft der höheren Alpen schlief, hatte er die Empfindung der überwältigenden Gegenwart einiger seltsamer, neuer Gefährten um ihn. Hier konnte man sich dem unveränderlichen, phantastischen Einfluss der Elemente in ihrer höchsten Kraft und Einfachheit hingeben – Licht, Luft, Wasser, Erde. An sehr frühen Lenztagen wurde plötzlich ein Schleier gelüftet; die Alpen waren ein Gipfelpunkt natürlichen Glanzes, gegen den sich ganz Europa in immer breiter werdenden Lichtstreifen emporhob. Dazwischen waren, zu seiner Rechten, als er weiterreiste, die Thore nach Italien, nach Como oder Venedig, von jener Spitze dort war Italien selbst sichtbar! – wie in den süddeutschen Städten zu seiner Linken in einer hohen, künstlerischen Feinheit in dem zarten, blumenartigen Eisenwerk, z. B. das Überströmen italienischen Genies bemerkbar war. Diese Dinge boten sich ihm endlich nur dar, ihn daran zu erinnern, dass er, in einer neuen geistigen Hoffnung, schon auf dem Heimwege war. Mitten durch das Leben, mitten durch Natur und Menschheit mit der eigenen Erkenntnis als Leuchte, aber nicht auf dem Wege nach dem geographischen Italien oder Griechenland lag die Strasse nach dem neuen Hellas, das sich nun als Ausfluss heimischen, deutschen Genies verwirklichen sollte. Indem er jetzt nicht nach Süden, sondern gen Deutschland schaute, schien er in jenem frühzeitigen, schönen Wetter das Aufgehen einer schwachen, nicht ganz natürlichen Morgenröte über dem dunklen, nordischen Land zu bemerken. Und während eines wirklichen Sonnenaufgangs war es, dass die Nachricht ihn erreichte, die ihm endgültig den geradesten Weg nach Hause wies. Man getraute sich kaum zu atmen in der raschen Entfaltung des alles umflutenden Lichtes, das gleich dem geistigen Aufschwunge des Vaterlandes war, als den gewundenen Pfad hinauf, zu den hohen, buchenbestandenen Gipfeln, (war man nirgends sicher?) über die Rauhheit des Weges Klage führend, die allzubekannten Stimmen (das verkörperte ennuie) gewisser hoher Beamten von Rosenmold sich näherten. Diese waren gekommen, ihren neuen Herrscher, der dem Davonlaufen nahe war, zurückzuholen.

Sie brachten die Nachricht vom Hinscheiden des alten Herzogs! Mit wirklichem Schmerz im Herzen durcheilte Karl nun die Strecke, die zwischen ihm und dem Totenbette lag, versuchte aber immer noch, während ruhigerer Pausen, am Wege einigen Nutzen zu erhaschen. Zu den ungewöhnlichsten Stunden betrachtete er die Gegenstände, die seine Neugierde erregten, wartete auf einen Schein der Morgendämmerung durch erglühende Kirchenfenster, drang bei Kerzenlicht in alte Kirchenschatzkammern ein und liess die keuchenden, alten Höflinge zu manch einer »Aussicht« auf diesen oder jenen Gipfel des waldigen Hügellandes emporklimmen. Von einem solchen war endlich, trotz allem zu Karls Vergnügen, Rosenmold sichtbar – die Dachfenster der Residenz, die Störche auf den Essen, die grünen Kupferdächer, die in dem langen, trockenen deutschen Sommer rösteten. Die Gemütlichkeit des wirklichen alten Deutschland! Auch er fühlte sie und sehnte sich nach Hause.

Und die »Bettlermaid« war da. Das Andenken an sie hatte während der ganzen Reise in ihm gespukt, und er war sich dessen wohl bewusst, aber durchaus nicht ungehalten darüber, denn weit öffnete er sein Herz jeder Kreatur, die von ihm abhing. Die blosse Thatsache, dass sie auf ihn wartete, demütig zu seiner Verfügung stand, als ob sie den Fleck, auf dem er ihr Adieu gesagt, nie verlassen hätte, appellierte an seine Phantasie und festigte seine noch unbestimmte Neigung zu einer praktischen Entscheidung. »König Cophetua« würde ihr gehören. Und in der Sonne seiner Zuneigung entfaltete sich ihre wildgewachsene Schönheit zur Majestät, zu einer Art königlicher Pracht. Es war natürliche Majestät in den schweren Wogen ihres goldenen Haares, das dicht über dem vielleicht etwas zu massiven Halse geflochten war, und sie sah gütig aus, flehend und tiefer Empfindung fähig. Sie war gleich heiterem Wetter, mit Glockenblumen und frischgrünen Blättern, zwischen regnerischen Tagen und schien die »Ruhe auf dem Gipfel« zu verkörpern, alle die ruhigen Stunden, die er kürzlich auf den waldbedeckten Hügeln zugebracht hatte. Ein Junitag, an dem sie alle die Merkmale des Sommers in sich gesogen zu haben schien, brachte unseren Liebhaber künstlicher Rosen, der sich bis dahin so wenig um ihresgleichen gekümmert hatte, zur Entscheidung. Nur notgedrungen Grossherzog, wollte er sie zu seinem Weibe machen und hatte ihr dies schon unter lustigen Spässen über seine darüber entsetzten Minister mitgeteilt. »Geh gerade auf das Leben zu!« sagte sein neuer poetischer Kodex; und hier war die Gelegenheit, hier auch das wirkliche »Abenteuer«, im Vergleich zu dem seine früheren Bemühungen in dieser Richtung kindische Theatermätzchen schienen, gerade gut genug, über das tiefe ennui des wirklichen Lebens hinwegzutäuschen. Während hundert verstohlener Rendezvous lehrte sie dem bis dahin gleichgültigen Jüngling die Kunst der Liebe.

Herzog Karl hatte heimliche, aber eingehende Vorbereitungen zu seiner Heirat getroffen, die bald bekannt gemacht werden sollte. Er hatte längst schon sein Auge wohlgefällig auf einem seltsamen architektonischen Überbleibsel ruhen lassen, einem alten Meierhofe oder Jagdhause auf der Heide, über dem ein unbestimmter Reiz der Abgeschiedenheit und alter Romantik lag. Der Volksglaube ergötzte sich an Berichten über den Zauberer, der das Haus bewohnte oder darin spukte, über seine phantastischen Schätze, sein ungeheures Alter. In stürmischen Nächten konnte man seine Fenster weithin glitzern sehen, und abenteuernde Herumstreifer wollten das Aufflammen goldener Zierraten beobachtet haben. Nicht weil er noch immer misstrauisch war, sondern in einer Art verliebten Mutwillens und als ob er das köstliche gegenseitige Vertrauen dadurch noch vertiefen könnte, fügte Herzog Karl seiner Ankündigung des für die Feier der Hochzeit in Aussicht genommenen Platzes und der Zeit eine scheinbare Prüfung der Ihm-Ergebenheit des Mädchens zu. Er erzählt ihr die Geschichte von dem alten, dürren, abgezehrten Zauberer, zu dem sie sich ganz allein begeben müsse, um an ihn eine ihm über alles wichtige Frage zu richten. Der wilde alte Mann wird unter fürchterlichen Drohungen versuchen zu entwischen, wird sich ganz oder halb in widerliche Tiere verwandeln. Sie muss umso fester beharren, und endlich wird der Zauber gebrochen sein. Der Alte wird nachgeben, er wird wieder zum Jüngling werden und die gewünschte Antwort erteilen. Das Mädchen, das sonst so selbstverleugnend war, und immer noch bescheiden eine geheime Verbindung wünschte, um des Geliebten hohe Stellung in der Welt nicht zu verdunkeln, hatte wenigstens den einen Wunsch, – inmitten der Pracht geliebt zu werden, die ihn gewöhnlich umgab. Herzog Karl sendet sein kostbarstes persönliches Besitztum nach dem alten Hause. Viele Tage lang weiss das Publikum, dass etwas im Gange ist, einige wenige erhaschen einen flüchtigen Anblick der köstlichen Schätze auf dem Wege nach dem »Haus auf der Heide«. Bereitete er sich gegen alle Möglichkeiten vor, im Falle die grosse Armee, die bald durch diese Gegend kommen sollte, das Land nicht so harmlos verliess, wie es wünschenswert war?

Der kurze, graue Tag schien denen lang, die aus verschiedenen Gründen ängstlich den Eintritt der Dunkelheit erwarteten; die Höflinge, missmutig und angespornt, ihr möglichstes zu leisten, die Städter misstrauisch, Herzog Karl voll verliebter Sehnsucht. In ihrer weit entfernten Hütte hinter den Hügeln hielt sich Gretchen für die Probe bereit. Es wurde erwartet, dass gewisse hohe Offiziere an jenem Abend eintreffen würden, die Befehlshaber eines siegreichen Feindes, der sich, mit wenig Respekt vor den Rechten neutralen Gebietes, seinen Weg durch Norddeutschland bahnte und oft rauh mit Leben und Eigentum verfuhr, um verborgene Schätze zu finden. Es war nur eine Episode in einem grausamen Kriege. Herzog Karl wartete nicht auf das bei grossartiger Beleuchtung vor sich gehende Abendessen, das für ihren Empfang bereitet war. Die Ereignisse überstürzten sich. Jene Offiziere kamen thatsächlich als siegreiche Eroberer und quartierten sich für die Nacht in den luxuriösen Räumen des grossen Palastes ein. Dicht auf dem Fusse folgte die Armee ihren Führern, die (während Gretchen warm und glücklich in den Armen, nicht des alten Zauberers, sondern des jugendlichen Liebhabers ruhte) mit den verräterischen alten Ministern die Bedingungen für die endgültige Einverleibung des Herzogtums festsetzten. Während ihres delikaten Abendessens amüsiert Herzog Karl unter munterem Gelächter seine Gefährtin mit Karrikaturen der schläfrigen Höflinge, wie sie ihre kriegerischen Gäste, gleich Leuten in einem possenhaften Traum, in all ihrer pedantischen Höflichkeit unterhalten. Ein Priester und gewisse ausgewählte Freunde sollten vor Einbruch der Nacht als Trauzeugen nach dem Meierhofe kommen. Die Liebenden hörten, wie sie glaubten, den Klang fernen Donners. Die Stunden verflossen, während sie warteten, und was endlich kam, war nicht der Priester mit seinen Begleitern. Konnten sie von dem Unwetter zurückgehalten worden sein? Herzog Karl beruhigt sanft das Mädchen, bittet sie, an ihn zu glauben und zu warten. Aber durch den zum Sturme angeschwollenen Wind, über das Dröhnen der heftigen Donnerschläge, lauter als irgend ein Donner es sein könnte, kommt näher und näher, einem Erdbeben gleich, der Sturm der siegreichen Armee, und wie die beiden aus der unerträglichen Haft hinausfliehen, ereilt sie der Tod.

Die Aufklärung, wie sie Herzog Karl erstrebte, wurde von anderen Händen vollbracht; Lessing und Herder, die glänzenden Vorläufer des genialen Zeitalters, welches in Goethe gipfelte, kamen noch innerhalb der natürlichen Grenzen von Karls Lebenszeit. Als Vorläufer erkannte Goethe sie dankbar an und verstand, dass es tausend andere gegeben hatte, die mit der Sehnsucht, die eine Art »vorahnender Fähigkeit« ist, auf eine neue Aera in der deutschen Litteratur hofften, sich gegenseitig zu der dauernden Realität eines poetischen Ideals im menschlichen Leben erweckten und so jenes öffentliche Bewusstsein formten, an das Goethe sich wandte. Ihre Bestrebungen sind es, die ich versucht habe, in dem Portrait Karls zu verkörpern.

»Ein sehr harter Winter hatte den Main völlig mit Eis bedeckt und in einen festen Boden verwandelt, der lebhafteste, notwendige und lustiggesellige Verkehr regte sich auf dem Eise. Gränzenlose Schlittschuhbahnen, glattgefrorene, weite Flächen wimmelten von bewegter Versammlung. Ich fehlte nicht vom frühen Morgen an und war also, wie späterhin meine Mutter, dem Schauspiel zuzusehen, angefahren kam, als leicht gekleidet wirklich durchgefroren. Sie sass im Wagen in ihrem roten Sammetpelze, der, auf der Brust mit starken goldenen Schnüren und Quasten zusammen gehalten, ganz stattlich aussah. Geben Sie mir, liebe Mutter, Ihren Pelz! rief ich aus dem Stegreife, ohne mich weiter besonnen zu haben, mich friert so grimmig. Auch sie bedachte nichts weiter; im Augenblicke hatte ich den Pelz an, der purpurfarb, bis an die Waden reichend, mit Zobel verbrämt, mit Gold geschmückt, zu der braunen Pelzmütze, die ich trug, garnicht übel kleidete. So fuhr ich sorglos auf und ab;«

Das war Goethe, vielleicht fünfzig Jahre später. Auch seine Mutter berichtete das Begebnis an Bettina Brentano: – »Da schleift mein Sohn herum wie ein Pfeil zwischen den anderen durch. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –– – – – – – – – – –

Wie ein Göttersohn saust er auf dem Eis dahin. So was Schönes giebt's nicht mehr, ich klatschte in die Hände vor Lust! Mein Lebtag seh' ich noch, wie er den einen Brückenbogen hinaus und den andern wieder herein lief, und wie da der Wind ihm den Mantel lang hinten nach trug.«

In jener liebenswürdigen Gestalt sehe ich gleichsam die Erfüllung des Resurgeam auf Karls leerem Sarge – die aufstrebende Seele des Jünglings selbst, endlich in Freiheit und wirksam.

 


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