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Ein junger Mensch kam aus dem Louvre. Es war an einem hellen blühenden Nachmittag des Oktober in Paris. Über den farbenreinen Beeten des Tuileriengartens leuchteten die weißen Marmorleiber der Statuen, von zarten Baumgruppen umschmiegt, die die Fläche noch gewaltiger erscheinen ließen. Die kühlen Säle mit ihren unvergleichlichen Bildwerken da drinnen und jene Galerien, wo aus goldenen Rahmen das Halbdunkel des seelischsten Ausdruckes hervorbricht, waren wie eine Vision gewesen. Dieser Garten entlastete den Blick. Das Auge umfaßte mit einem Male die ganze Weite bis zum Triumphbogen, der auf seinem fernen Hügel einen Ruhepunkt bietet und sich in dem leichten Nebel des sonnigen Herbstnachmittags erhob wie der Ansatz einer mächtigen Hängebrücke.
Karl Fleming genoß diesen Augenblick mit einem innigen Behagen. Er nahm tief Atem in der kühlen sonnigen Luft, die nach Freiheit schmeckte. Er hätte anfangen mögen zu singen. Die Hände in den Taschen seines dünnen Mantels, den Hut zurückgeschoben, sah er den Tuileriengarten vor sich und freute sich auf den Spaziergang. Ein paar schäbige Herren im Gehrock, mit Zylinder und Regenschirm, die auf den Stufen des Louvre umherstanden, um sich eleganteren Galeriebesuchern als Führer anzubieten, machten ihre Glossen hinter dem jungen Deutschen her, der jetzt den Karussellplatz überschritt.
Das Stakkato der Droschken, das Brummen der Automobilomnibusse flocht ein paar Augenblicke lang ein Netz von harten Lauten um den einzelnen Menschen, der hindurchging. Dann stand er jenseits des Platzes wieder in der schattenlosen Sonne und freute sich an der frauenhaften Anmut eines Baumes, der seine Äste zu dem blassen Blau des Himmels aufhob.
Karl ging noch auf dem Trottoir vor dem langgestreckten Flügelgebäude der Tuilerien. Ein Treppenaufgang trug die Überschrift: Kolonialministerium. Eine Gruppe europäisch gekleideter Neger stand davor; ihr Lachen und Sprechen dröhnte hohl wie Trommeln. Eine Gouvernante und ein kleines Mädchen zwitscherten vorüber. Vor einem Buchsbaumrondell leuchtete das weiße Verdeck eines Kinderwagens, die weiße Schürze der Wärterin, das grünliche Papier eines rotbärtigen Zeitungslesers.
Karl bummelte durch den Garten. Das Wasser im großen Bassin eines Springbrunnens blitzte wie ein riesiger Brennspiegel. Knaben ließen Segelschiffe schwimmen, ein Polizist stand gemütlich daneben und sah zu. Auf einem Seitenwege umgab eine Gruppe Kinder einen alten Herrn, der Spatzen fütterte. Auf den Stühlen und Bänken sonnten sich Kinder, junge Mädchen, liebkosende Mütter, alte Frauen. Alle sahen so hübsch aus. Viele dieser Kinder hielten rote Gasballons an einem Fädchen. Ein besonders lebhaftes und erheiterndes Gewimmel war in dem kleinen Gehölz an der Seite des Hauptweges. Von Zuschauern belagert, drehte sich hier ein Kinderkarussell. In Wägelchen, die von weißen Ziegen gezogen wurden, fuhren geputzte Kinder spazieren. Knaben in Matrosenanzügen ritten nebenher auf zwerghaften Eseln, von zerlumpten Buben geführt. Diese ganz mit sich selbst beschäftigte Menge von spielenden Kindern erschien kostbar in ihrer Verzärtelung und Koketterie.
Von der Mauer herab ließen etwa vierzehnjährige, stutzerhaft gekleidete Knaben Aeroplane in den Garten hinabschwirren. Karl stand neben ihnen und verfolgte das matte Schweben dieser papiernen Libellen. Die hohen, gelbgescheckten Platanen leuchteten in der sonnigen Nachmittagsluft; vor dem weißen Sandboden, mit seinem losen Gewimmel spielender Kinder, hoben die auf den Gartenstühlen sitzenden Frauen, rote Sonnenschirme, bunte Spielzeugballons, die Rothosen einiger flanierender Soldaten sich ab. Die Schmalseite des Tuilerienschlosses, schmal wie ein Pferdekopf, bildete den Abschluß. Eine Gouvernante, die die große Freitreppe hinabging, betrachtete verwundert den Fremden, den Schimmer von Glück und Stille auf seinem Gesicht. Er merkte schließlich, daß jemand ihn anstarrte, und ging weiter.
Zwischen den Arkaden der Rue de Rivoli öffnete sich eine breite Straße, deren mächtiges Eckhaus auf einem blauen Emailschildchen ihren Namen trug. Karl ging diese Straße hinauf, umging die Vendômesäule und begann die Läden in der Rue de la Paix zu betrachten: die aus einem Himmel grauen Samtes blitzenden Sterne der Juwelierläden, die seltenen Pelze in den Auslagen der Kürschner, kostbare Roben, die riesigen Blüten glichen, funkelnde, mit Parfümerien gefüllte Kristalle, die edle Haltung der Verkäufer. Die Türen der Läden standen offen. Der Lack der Automobile und Kutschen, die auf dem Fahrdamm hielten, glänzte wie lauter Metallscheiben. Und über den stillstehenden, nervig schnarrenden Maschinen lehnten die Chauffeure ernst und satt auf den breiten Ledersitzen unter ihren gläsernen Baldachinen.
Hier begegneten die noch von der frischen Luft der Seereise geröteten Gesichter der Amerikanerinnen der gemalten, von brillanten Augen überstrahlten Zartheit der französischen Damen. Ein süßes Wesen, Mädchen und Dame zugleich, ging mit einer älteren Begleiterin vorüber und streifte den jungen Menschen mit dem Ende des Pelzes, der ihren weißen Hals umschmiegte. Er starrte ihr bezaubert nach, in den Riesenspiegel eines Schaufensters hinein. Die beiden Frauen standen jetzt vor der nächsten Spiegelscheibe; er wandte den Kopf nach ihnen. Sie bemerkte mit einem Aufblitzen ihres Auges seine maßlose Bewunderung. Leicht wie eine Blume wandte sie den Kopf zurück. Sofort ging er weiter, vollkommen zufrieden und ein wenig beschämt.
Er geriet in den Strudel des Boulevard des Capucines. An den Straßenecken leuchteten die herabgelassenen rotweiß gestreiften Markisen eines Cafés in der Abendsonne. Auf der Asphaltinsel, die wie ein verankertes Floß mitten im heftigsten Verkehr der Straße ruhte, stand unbeweglich eine Anzahl Neugieriger und starrte mit vorgebeugten Köpfen über eine niedere hellgrün angestrichene Schutzwehr in eine Höhle, auf die Bauarbeiten der Untergrundbahn hinunter. Die fast schwarzen Säulen der Madeleinekirche überragten die Straßenkreuzungen am Ende des Boulevards. Karl ging auf einen Polizisten zu und fragte, indem er seinen Hut antippte: »Bitte, wie heißt das große Gebäude hier?«
Der Schutzmann berührte sein Käppi und antwortete: »Die Madeleine!«
Karl steuerte sofort durch den Straßenverkehr auf das Gitter zu, stieg die Freitreppe hinauf und betrat die Kirche durch das mittlere ihrer Tore.
Aus der Tageshelle kommend, steckte er seinen Kopf in die Dämmerung, die hier herrschte, wie in einen ungeheuren Sack. Aber das unterschiedlose Grau wurde allmählich dem Auge groß und steinern wie eine einzige gewaltige Torfahrt. An ihrem Ende war das Dunkel fast schwarz. Und dort loderte das stille Feuer zweier Kerzenpyramiden, die eine Gruppe schneeweißer Marmorgestalten mit einem blassen goldenen Glanz umwärmten.
Es war einer jener halblauten Gottesdienste, die sich in der Dämmerung der Kathedralen vom frühen Tage an fast zu allen Stunden wiederholen. Die Seele der Kathedrale lebte zu dieser Stunde in ihrer alltäglichen, tiefernsten Schweigsamkeit, in Andachtshandlungen, deren genaue Bedeutung der Fremde nicht kennt, deren Versunkenheit er durch seine Schritte zu stören fürchtet. Das Klappen der Tür, die leisen Schritte des Eintretenden hallten trocken auf dem kühlen steinernen Boden. Da und dort auf den Bänken kauerten Gestalten. Karl nahm auf einem der Rohrstühle Platz und versank selbst in diese serene Stille. Der Schatten, der Weihrauch, der ernste Geruch der Kirche umfing und sättigte die gelösten Sinne. Durch die Mauern drangen die Geräusche der Straße nur noch wie leise Haartöne. Die Minuten schienen in dieser Stille hinzusickern, klar und durchsichtig wie Tropfen, die jene schwach und abgerissen von außen eindringenden Laute wie Infusorien umschlossen.
Es waren fast nur Frauen, die die Nachmittagsstunde hier verbrachten. Vor dem Hochaltar bewegten sich die schmalen Silhouetten der Priester. Die Glöckchen schauerten zuweilen wie in einem silbernen Frösteln zusammen. Die Orgel, ohne zu spielen, meldete sich zuweilen mit einer traumhaften Intonation, die von selbst zu schweben schien wie ein Zauberstab. Ein Priester mit schmalem, verschwiegenem Gesicht lehnte mit dem Saum seines weißen Überwurfs über den Rand der Kanzel, die von versteckten elektrischen Lichtern beleuchtet war. Mit zusammengelegten Handflächen betete er ohne zu stocken in einem fließenden Tonfall das Ave: » Dei genetrix ora pro nobis peccatoribus nunc et in hora mortis nostrae.« Die Pausen, die er machte, gaben den Andächtigen Zeit, die Formel zu wiederholen. Das dunkle Murmeln, die unablässige Flut der Worte mit dem häufigen » s« dazwischen, das wie aus weitester Ferne zu zischeln, zu flüstern, anzutreiben schien, wenn auch die Vokale fast lautlos geworden waren, glich im vereinten Andringen und Zurückfluten, in der inständigen Unermüdlichkeit der Worte einer Meereswelle, die schwach, doch unwiderstehlich die granitne Küste des Unsichtbaren umspült.
Es war Karl, als durchmesse er in diesem Augenblick das ewige Wunder, das Wunder der Frauen, des Lebens und der Anbetung. Die edle Gliederpracht der milonischen Venus strahlte unweit von hier, im Louvre, der Bewunderung preisgegeben. Nun, am Ende des kurzen Ganges mitten durch den fröhlichen und lockenden Glanz der Weltstadt erhob sich Magdalena vor seinen Augen, die sehnsüchtigste aller Heiligen, weißleuchtend im goldenen Halbdunkel der Kirche, von Engeln emporgetragen.
Er dachte an die strenge und doch wie von einer unbegreiflichen Gunst des Schicksals geführte Linie seines eigenen Lebens: es war die geheimnisvolle Kraft der Seele, die ihn aus Dunkelheit und Verwaisung bis zu diesen Augenblicken des inneren Schauens hingetragen. Mit rührender Gebärde trat plötzlich eine dritte Frauengestalt vor seine Seele, fast ebenbürtig jenen schönen Endgestalten, aus dem Trüben emporlangend. Deutlich sah er Berta vor dem geistigen Auge. Bertas Gestalt, ganz und abgeschlossen, mit ihrem Zug ins Große und Unbedingte; ein Menschenschicksal, schon verklärt, das sich einst dem seinen zur Verschwisterung angetragen hatte und, von Fremdheit abgestoßen, jäh in die Nacht hineingegangen war. Er fühlte das Unbegreifliche seines Selbst, das an ihr zum erstenmal für einen andern Menschen zum Schicksal geworden war. Und ganz eingehüllt in die dunkle Ruhe der Kirche, die wie ein tiefer Schatten hellsten Lichtes ihn umschloß, umfaßte er seine eigene linke Hand mit der rechten und streichelte sie in zärtlicher Trauer. Berta! Niemals hatte er ihre Hand, solange sie lebte, so still ergriffen und festgehalten.