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»Und Er schuf sie, ein Männlein und Fräulein, und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch.«
Genesis 1,27-28.
Das säkularisierte Kloster Douay in der Normandie wurde 1830 insofern seinem ursprünglichen Zweck zurückgegeben, als ein Erziehungsinstitut für Mädchen in den weiten prachtvollen Räumen unter der geistlichen Oberleitung eines Abbé und mit der nötigen Anzahl von Lehrkräften in der Gestalt von Dominikanerinnen – denen auch früher das Kloster gehörte – von der Regierung gestattet worden war. Die dort erzogenen jungen Damen gehörten den ersten Familien des Landes an. Man wollte dem damals noch gekränkten französischen Adel gern einige Konzessionen machen und ihm, der damals die Hauptstädte, und besonders Paris, mied, gern auf dem Lande das einräumen, was er dort nicht erreichen konnte: Ansehen, freies, glanzvolles Auftreten, und besonders einen gewissen Einfluß auf die örtlichen Institutionen des Landes und der Bevölkerung. Daß dieser Einfluß sich mit einer Stärkung des katholischen Gedankens deckte, lag in der Natur der Sache. Und es war ganz im Einvernehmen mit den Protektricen des klösterlichen Erziehungsinstituts, wenn die jungen Damen beim Eintritt in ihre Lernzeit eine Art von Gelübde ablegten. Das war vor allem vornehm. Und es gab einen Vorgeschmack für das eigentliche klösterliche Leben, falls die eine oder andere, bei dem damaligen niedrigen Kurs aristokratischer Brautschaften, es vorziehen sollte, endgültig den Schleier zu nehmen. Also Gelübde wurden abgelegt. Von den bekannten drei war das der Armut natürlich nicht von jungen Aristokratinnen zu verlangen, deren Eltern sonntäglich zwei- und vierspännig von ihren Gütern herüberkamen und den Kindern ein reiches Extra-Taschengeld für Obst- und Zuckersachen daließen. Dagegen wurde das Gelübde des Gehorsams streng gefordert und geleistet, und ebenso – die Mädchen waren alle zwischen vierzehn und achtzehn – das der Keuschheit. Wir kommen auf diesen Punkt später zurück, er ist nicht ganz gleichgültig in der Geschichte.
Nur noch zuvor ein ganz kurzes Personenverzeichnis dieses Stückes, welches der Leser am Schluß mutmaßlich als Tragikomödie bezeichnen dürfte. Da waren also einmal Monsieur l'Abbé de Rochechouard, meist kurzweg als Monsieur l'Abbé bezeichnet oder nur Monsieur, da er neben dem Gärtner und einem Kirchengehilfen für die grobe Arbeit der einzige Mann im Kloster war. Ein feiner, hochgebildeter Geistlicher aus altem Adel, in den Fünfzigern, der ein wenig bequem war, hatte er doch mehr eine Sinekure als eine Arbeitsstellung. Monsieur hatte die geistlichen Obliegenheiten der Institutskirche, darin unterstützt noch von einem Amtsgehilfen. Ihm stand auch eine Art Aufsichtsrecht über die kleine Kirche des fast mit den Klosterbaulichkeiten zusammenhängenden Dörfchens Beauregard zu. Monsieur hatte also eigentlich nur eine Respektsstellung, er war vermögend und konnte seiner Vorliebe für Bücher ungehindert nachgehen, doch war Wissensdurst nicht eigentlich das, was ihn trieb. Er war ein Schlecker; er öffnete heute dies, morgen jenes Bändchen, um ein paar Gedanken zu fischen und mit diesen dann den Tag über zu scherzen. Sein Feld war ausschließlich Theologie; natürlich fehlten auf seinen Regalen nicht die Klassiker und nicht die paar erotischen Schriften, die zu ihnen gehören. Sinnlich war Monsieur l'Abbé nicht; dazu war sein Körper zu beleibt und das Gesicht zu gutmütig. Auch produktiv war er nicht, er behandelte keine These des Thomas d'Aquino und gab keine Vorschläge zur zeitgemäßen Abänderung der geistlichen Exerzitien in Klosterschulen heraus. Er hatte eine ruhige sublime Natur, war zufrieden mit allem, was der Tag brachte: so ein Geistlicher aus den Romanen des Cherbuliez, ein braver Spaziergänger in dem Weinberg des Herrn, der nicht auf die Trauben schimpft, aber auch nichts zur Verbesserung der Reben beiträgt, sondern wachsen läßt, was wächst. Die Stirne war niedrig, das kurze Haar kräftig und voll, die Augen klein und friedlich; volle, zufriedene Wangen; einen äußerst feinen Mund; die Statur untersetzt; die Rede kurz, klein, knapp, frei von jedem Pathos. Absolut keine Predigernatur; ein still in sich und für sich arbeitendes Wesen. Und sein Habit war immer tadellos.
Da war dann Madame la Superieure, meist nur Madame genannt, das weibliche Oberhaupt des Instituts; sie war eine de Vremy, aus alter normannischer Adelsfamilie und trug das Dominikanerinnenhabit. Eine unsäglich stolze Dame, gut in den Vierzigern, voll Klugheit und Würde. Sogar die adeligen Komtessenmütter der Mädchen, wenn sie auf Besuch oder zur Ordnung von Angelegenheiten kamen, machten ihr die Reverenz, die sie ausdrücklich forderte; denn außer ihrem alten Adel war sie doch fast in der Stellung einer Äbtissin. Auf dem chamoisgelblichen Ordenskleid trug sie stets ein großes goldenes Kreuz, das sie vom Papst geschenkt erhalten hatte. Ordnungsgemäß stand sie unter dem Abbé, faktisch aber war ihre Stellung hoch über ihm; sie leitete die sämtlichen komplizierten Institutsangelegenheiten und nahm damit ihrem geistlichen Oberherrn, der sehr bequem war, einen großen Teil Arbeit vom Hals. Das Verhältnis zum Abbé war daher ein vorzügliches, ja ein intimes, stundenlang verweilte Madame auf seinem Zimmer, sie plauderten vertraulich, einsam und flüsternd. Doch war kein Hauch von Sinnlichkeit oder nur sinnlicher Neigung in diesem Visavis. Die negativen Gründe dafür lagen auf beiden Seiten. Monsieur war eine ruhige, meditierende Natur, Madame scharfsichtig, in ihrem Gemüt erkaltet und in ihren Jahren gänzlich vom Verstande beherrscht. Was Madame leidenschaftlich liebte, war Lektüre weltlicher Art; außer der Bibliothek des Abbé, die sie allein zu durchstöbern das Recht hatte, bekam sie monatlich ein großes Paket aus Paris. Wenn die Mägde ihre Zimmer am Abend herrichteten, fanden sie diese mit einem feinen, bläulichen Rauch erfüllt. Auffallend war es, daß Madame, obwohl sie gar keine Stunden gab und sich nur an der Morgenandacht und den Gottesdiensten in der Kirche beteiligte, viele der jüngsten Pensionärinnen stundenlang auf ihrem Zimmer zurückhielt. Im übrigen war die Superiorin selten zu sehen, war sehr schweigsam, mischte sich nie persönlich in Affären, ließ sich von den acht Ordensschwestern mündlich Bericht erstatten und schickte alle ihre Befehle durch Angestellte. Sogar im Dorfe war jeder ihrer Winke ein sicherer Befehl; ihr unsichtbarer Geist beherrschte alle Verhältnisse rings um Douay und weit über Beauregard hinaus. –
Mademoiselle Henriette de Bujac war die Nichte von Madame de Vremy, der Superiorin, ein etwa siebzehnjähriges, hübsches und temperamentvolles Mädchen, meist nur Henriette genannt, mit dunklem, kurzgelocktem, sogenanntem Tituskopf, schwarzen, feurigen Augen, schlankem, etwas magerem Wuchs, erregter Phantasie und eigentlich den Klostervorschriften entwachsen, welche ihre Aufnahme nur mit Rücksicht auf häusliche Verhältnisse – eine mit schweren Krampfanfällen behaftete Tante verbot ihre Anwesenheit – und auf die nahe Verwandtschaft mit Madame de Vremy geschehen ließen. Der »weiße Teufel« wurde sie genannt wegen der großen Zahl reicher weißer oder cremefarbiger Toiletten, die sie, als eines der reichsten Mädchen, von Hause mitbekommen, dazu wegen der Gesamtheit ihrer Bewegungen, Reden und mimischen Fertigkeiten. Natürlich war sie der »ungezogene Liebling« von Madame und der »unausstehliche Kobold« im Zimmer des Monsieur l'Abbé. Damit waren aber ihre Allianzen in dem ewigen Kampf von Eifersüchteleien und Parteiergreifungen in einem weiblichen Klosterleben erschöpft. Denn gehaßt wurde sie von allen acht Klosterschwestern, die ihr an weiblicher Findigkeit nichts mehr lehren konnten und von denen Henriette an gewöhnlichen Kloster- und Lehrdisziplinen nichts lernen wollte. Dieser Haß konzentrierte sich wesentlich auf la Soeur Première, meist nur la Première – die vierte Person unseres Schauspiels – genannt, eine gescheite und kluge Dame, ebenfalls dem Adel angehörig, die erste Lehrkraft der Anstalt, die erste Dame des Klosters nach Madame la Superieure und deren präsumtive Nachfolgerin. – Gehaßt war Henriette aber auch von fast allen ihren Kolleginnen, die meist viel jünger waren als sie, einmal wegen ihren weißen Toiletten, wegen ihres reiferen Alters und dann wegen ihrer zahllosen Freiheiten und Unbekümmertheiten. – In welchem Verhältnis Henriette zu Mademoiselle Alexina Besnard stand, der eigentlichen Heldin unserer Geschichte, sollen die folgenden Zeilen vermelden, sobald wir kurz das Porträt von Mademoiselle Alexina entworfen haben. Diese junge Dame, fast gleichaltrig mit Henriette und somit eine der prominentesten Schülerinnen der Anstalt, war das fleißigste und tüchtigste Mädchen der ganzen Schule, die Zierde und für viele Familien das Aushängeschild für all die Fortschritte, die man in Douay machen könne. Alexina selbst war das Kind ganz armer Eltern, von Jugend auf höchst keck und frühreif, schon in der Schule Preisträgerin und ein hervorragendes Talent für Mathematik und fremde Sprachen. Sie eignete sich alles mit spielender Leichtigkeit an und gab es ebenso leicht an jüngere Mädchen in instruierender Form ab. In dieser Hinsicht galt sie als Phänomen. Dem Pfarrer des Dorfes konnte ein solches Übermaß von geistigen Fähigkeiten nicht verborgen bleiben. Mit einem warmen Empfehlungsschreiben von ihm pochten die armen Eltern in Begleitung ihres vierzehnjährigen Kindes eines Tages an die Pforten von Douay. Dort erkannte man nach kurzer Prüfung, was man vor sich hatte. Alexina Besnard wurde kostenlos aufgenommen; und schon nach einem Jahr war alles darüber einig, das seltene Talent für das Kloster als Erzieherin heranzubilden. – Was Alexina nicht verstand und sogar mit Abscheu von sich wies, waren weibliche Handarbeiten: aber das kam natürlich nicht in Betracht, da man auf eine Rechnerin tausend Häklerinnen findet. Das Äußere von Alexina? Seltsam und sonderbar! Groß und schlank gewachsen, mit einem hastigen, weitausholenden Gang, so daß ihre Kleider stets in unzierlicher Bewegung waren; das Gesicht mager und fast häßlich, wenn nicht der imponierende, hastige, durchdringende und alles aufsaugende Blick sofort gefesselt und die schöne Adlernase sofort den ungewöhnlichen Gedankenkreis dieses Mädchens verraten hätte. Ihre unvorteilhaften Klostertoiletten ließen über ihre Körperformen nichts erfahren. Aber eine aphrodisische Figur wird sie kaum gewesen sein; zumal sie nichts zur Verbesserung ihrer äußeren Erscheinung tat, Spitzen, Krausen, Häubchen vermied und sich, wie sie sagte, sehr nach dem Klosterhabit sehnte. Die Stimme von Alexina war scharf, ein hoher Diskant, wie zum Kommandieren von jüngeren Zöglingen geschaffen; im Chor fiel sie auf, da ihre Stimme oft plötzlich umschlug und in den Alt kam; überhaupt war sie ein rechter Rattenkönig von sonderbaren und gewöhnlichen Anlagen und Fähigkeiten. Sie hatte eine glasharte facettierte Manier, alles um sich herum nach ihrem Willen umzuwenden, an sich zurechtzureiben und ihren Neigungen anzupassen. An dieses arme, sonderbare, spröde und wenig duldsame Mädchen, welches nur ihre glänzenden Geistesfähigkeiten in die Waagschale eines Vergleichs mit jedem anderen Institutskind zu legen hatte, schloß sich Henriette, diese verwöhnte, reiche, luxuriöse, feingeartete junge Aristokratin schon in den ersten Tagen ihres Eintritts ins Kloster an. Beide waren nach einjähriger Bekanntschaft die unzertrennlichsten Kameraden, wobei die Initiative dieses seltenen, innigen Verkehrs entschieden auf seiten von Mademoiselle de Bujac zu suchen war. Es ist richtig, Henriette de Bujac war ein gutes, mitleidfähiges Mädchen; und vielleicht war die Armut und die eigentümliche Stellung Alexinas im Kloster der erste Beweggrund für sie, sich der Familie zu nähern. Aber gerade vom Reichtum, vom Taschengeld, von der feinen Toiletteausrüstung Henriettes wollte und konnte Alexina nichts profitieren. Hier war also kein kräftig genug gewobenes Band, um zwei blutjunge Mädchen so innig zu fesseln; Alexinas Kenntnisse und geistige Fähigkeiten aber taten hier noch weniger, da das alles der leichtsinnigen, munteren, lebenslustigen und – faulen Henriette gar nicht imponierte. Auch waren deren Fortschritte am Schluß so schlecht wie am Anfang. Aber Sympathie, dieses schon im gewöhnlichen Leben so geheimnisvolle Band, dessen Runenschrift nicht zu lesen ist, das verstand sie. Und wie leicht und durchsichtig gewoben ist solch ein Band bei dem Herzen launenhafter Mädchen, und wie leicht zerreißlich!
Nehmen wir eine Anzahl Mägde, Zöglinge, weißgekleideter Schwestern mit Skapulieren hinzu, so sind wir nun mit unserem Personenverzeichnis fertig. Also mag der 20. Juni 1831 beginnen, welchen Tag sich die Klostermauern von Douay gemerkt haben, dieser Tag, an dessen Abend die hundert oder hundertzwanzig Insassen, die das Institut zählte, ausnahmslos sich klopfenden Herzens und mit brütender Stirne zu Bett begaben. Noch eine Nacht: und am folgenden frühen Morgen war eine der glänzendsten Naturäußerungen, aber auch eine der scheußlichsten Katastrophen zum Abschluß gebracht!
Monsieur l'Abbé saß in seinem Zimmer; der Frühstückskaffee war getrunken und zur Seite gestellt. Monsieur l'Abbé rauchte nicht, aber er las; als Frühstückszigarre las er Liguori, Theologiae moralis, libri sex. Monsieur war auf keinem Gebiet so zu Haus, wie auf dem der Moraltheologie; Busenbaum, Ribadeneira, Sanchez, die alle darüber geschrieben, lagen in hübschen, gepreßten Pergamentausgaben neben ihm. Ob Monsieur im Leben sehr moralisch war? Das läßt sich nicht beantworten; gehört aber auch nicht daher. Monsieur las gern moralische Werke, wie ein anderer gern auf die Jagd geht; ohne daß diesen jemand fragen würde, ob er mit Vorliebe Tiere umbringe! Monsieur wog gern die moralischen Begriffe hin und her, spielte mit den Kardinaltugenden, zog einzelne Laster wie schwarze Versuchsphiolen aus seinen Traktaten heraus und versenkte sie sorgfältig in seiner Einbildung in die Herzen ihm unbekannter Menschen. Dort ließ er sie agieren, um zu sehen, was daraus wurde. – Wir können nicht erkennen, welches Kapitel Monsieur aus Liguori las, wie sehr wir auch über seine Schulter gebeugt uns den Text zu entziffern bemühen, denn die Drucke im siebzehnten Jahrhundert und besonders die Lyoner Ausgaben sind so schlecht gerippt und zerbröselt. Aber die Stelle muß dem Abbé gepaßt haben, denn er blinzelte mit den Augen und lief mit dem Zeigefinger der rechten Hand rund um die Nase, die von dem Buchtext gar nicht weit entfernt war. Wir haben schon oben erklärt, daß Monsieur nicht sinnlicher Natur war; niemand darf deshalb hier einen falschen Schluß ziehen. Monsieur war sublim, und überall, wo etwas unter dieses Betrachtungsglas fiel, da verweilte er. Vielleicht las er gerade »de Verecundia«, aber dann war es nicht die Schamhaftigkeit selbst, die ihn interessierte, sondern die feinen Unterschiede mit Castitas, der Keuschheit. Nicht etwa die Schamhaftigkeit, wie sie sich bei Dienstmädchen manifestierte, war der Gegenstand seines Interesses, sondern der viel weiteren Darlegung, wie sich diese Tugend, etwa bei den Engeln im Himmel zeigte, spürte er nach.