Oskar Panizza
Der operierte Jud'
Oskar Panizza

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Oskar Panizza

Der operierte Jud'

Ha sieh! Ha sieh! im Augenblick,
Huhu! ein gräßlich Wunder!
Des Reiters Koller, Stück für Stück,
Fiel ab, wie mürber Zunder.
Zum Schädel, ohne Zopf und Schopf,
Zum nackten Schädel ward sein Kopf.
Bürger, Leonore

Kein Mensch wird mich tadeln, wenn ich meinem Freunde Itzig Faitel Stern ein Denkmal zu setzen wünsche; wenigstens, soweit dies in meinen Kräften steht. Fast fürchte ich, daß diese nicht ausreichen werden, denn Itzig Faitel Stern, mein bester Freund auf der Hochschule, war ein Phänomen. Ein Linguist, ein Choreograph, ein Ästhetiker, ein Anatom, ein Schneider und ein Irrenarzt wären nötig, um die ganze Erscheinung von Faiteles, was er sprach, wie er ging und was er tat, vollständig zu begreifen und zu erklären. Daß nach dem Gesagten mein Vorwurf nur Stückarbeit liefern wird, ist nicht zu verwundern. Doch ich verlasse mich auf meine fünf Sinne, die nach der gegenwärtig herrschenden literarischen Schule vollständig genügen, ein Kunstwerk zu liefern; ohne viel nach warum und wie zu fragen und ohne künstliche Motivierung oder gar transzendentale Konstruktion zu versuchen. Wenn statt des Kunstwerks eine Komödie entsteht, so mag sie, die Schule, die Verantwortung tragen.

Itzig Faitel war ein kleiner untersetzter Mann mit rechts etwas höherstehender Schulter und einer spitz zulaufenden Hühnerbrust, auf welcher er immer eine breite, schwerseidene Plastronkrawatte trug, die ein matter Achat zierte. Die Rockpatten zu beiden Seiten dieser Krawatte liefen von rechts oben nach links unten, so daß, wenn Faitel längs der Randsteine ging, es den Eindruck machte, er steuere über das Trottoir hinunter oder gehe in der Diagonale. Faitel wollte nicht einsehen, daß diese Stellung seiner Kleider von der rhombischen Verschiebung seines Brustkastens herrührte, er schimpfte daher fürchterlich auf die christlichen Schneider. Die Anzüge, welche Faiteles trug, waren stets aus feinstem Kammgarn. Das Antlitz Itzig Faitels war von höchstem Interesse. Leider hat es Lavater nicht gesehen. Ein Gazellenauge von kirschenähnlich gedämpfter Leuchtkraft schwamm in den breiten Flächen einer sammetglatten, leicht gelbgefärbten Stirn- und Wangenhaut. Itzigs Nase hatte jene hohepriesterliche Form, wie sie Kaulbach in seiner »Zerstörung Jerusalems« der vordersten und markantesten Figur seines Bildes verliehen hat. Zwar waren die Augenbrauen zusammengewachsen, aber Faitel Stern versicherte mir, das sei sehr beliebt. Auch wußte er, daß Leute mit solchen Augenbrauen einmal ersaufen sollten; aber er paralysierte das, indem er versicherte, er gehe niemals aufs Wasser. Die Lippen waren fleischig und überfältig, die Zähne vom reinsten Kristall; zwischen ihnen kam eine bläulichrote, fette Zunge oft zur Unzeit heraus. Kinn und Oberlippe waren völlig bartlos, denn Faitel Stern war noch sehr jung. Erwähne ich noch von meines Freundes Untergestell so viel, daß er Säbelbeine hatte, deren Schwung jedoch nicht exzessiv war, so glaube ich Itzigs Silhouette einigermaßen gezeichnet zu haben. Auf die geringelten, zahllosen schwarzen Sechserlöckchen seines Haupthaars komme ich später noch zu reden. – So also war der Studiosus Stern in Ruhe. Aber wer hilft mir, welcher Clown, welcher Dialektimitator, welcher Grimasseur, Itzig darzustellen, wenn er ging, wenn er sprach und agierte! Itzig sagte mir wohl, er stamme von einer französischen Familie ab und sei französisch erzogen; er sprach auch etwas, freilich ganz verschobenes Französisch, aber das Unglück wollte, daß Itzig zu früh in die nahe Pfalz kam und die prononzierten Laute dieses Landes mit einer Gier einschlürfte, als wäre es Milch und Honig. Wohl konnte Faitel auch Hochdeutsch reden; aber dann war er eben nicht Faiteles, sondern eine Zierpuppe. Wenn Faitel für sich war und sich nicht zu genieren brauchte, dann sprach er Pfälzisch und – noch etwas.

Doch vorher noch einige Bemerkungen über seine Gangart und seine Gesten. – Itzig hob beim Gehen immer beide Schenkel fast bis zur Nabelhöhe, so daß er mit dem Storch einige Ähnlichkeit hatte; dabei steckte er den Kopf tief auf die Plastronkrawatte herab und sah starr auf den Boden. Man konnte wohl glauben, er könne die Kraft zum Heben der Beine nicht bemessen, er überschlage sich – bei Rückenmarkskrankheiten kommen ja ähnliche Störungen vor. Itzig war aber nicht rückenmarkskrank, denn er war jung und geschont; als ich ihn einmal fragte, warum er so extravagant gehe, sagte er: »Aß ich vorwärts komm'!« – Faiteles hatte auch Mühe, das Gleichgewicht zu halten, und beim Gehen troffen oft Schweißtropfen aus den Sechserlöckchen der Stirne. Das Nackenband war sehr stark und kräftig bei meinem Freund entwickelt; wie ich vermutete, wegen der Schwierigkeit und Arbeit, die Itzig hatte, den Kopf zu Gottes Himmelszelt emporzuheben. Itzigs Kopf war in seiner natürlichen Stellung immer starr auf den Erdboden gerichtet, das Kinn fest in die seidene Plastronkrawatte eingebohrt. – Das war Itzig Faitel Stern, wenn er ruhig war oder seines Weges ging. Was aber waren seine Gesten? – Dies hing von der Stimmung ab, in der Faiteles sich befand, ob er aufgelegt oder unzufrieden war; ob er zustimmte oder einen Gegenbeweis führen wollte. Stark in Affekt kam er nie; zornig zu werden, hinderte ihn seine ganze Konstitution. Wenn er aber eifrig wurde und gute Opportunitätsgründe ins Feld zu führen hatte, dann bäumte er auf, hob den Kopf empor, zog die fleischige, wie ein Stück Leder sich bewegende Oberlippe zurück, so daß die obere Zahnreihe entblößt wurde, spreizte mit zurückgebeugtem Oberkörper beide Hände fächerförmig nach oben, knaukte mit dem Kopf gegen die Brust zu einigemal auf und ab und ließ rhythmisch abgestoßene Schnedderengdenggeräusche hören. Bis zu diesem Moment hatte mein Freund noch gar nichts gesagt. Aber aus der ganzen Aufeinanderfolge dieser gestikulatorischen Mimik wußte ich schon, in welcher Richtung sich Faiteles Auseinandersetzungen bewegen würden. Faitel miaute, schnarrte, meckerte und produzierte auch Schneuzlaute sehr gern und zur richtigen Zeit, so daß man daraus immer noch mehr entnehmen konnte, als wenn er bloß einige Worte hingeworfen hätte. Wenn sein Standpunkt zweifelhaft, sogar gefährdet war, oder wenn er von einer unwahrscheinlichen Sache den Gegner überzeugen wollte, so warf er mit eingezwicktem Bauch den rotierenden Oberkörper von der Seite des Gegners weg und zu sich hinüber, gleichsam als wolle er mit der ganzen Körperlast den Betreffenden zu sich hinüberziehen. Fleißige, angenehm grunzende Schnarrlaute begleiteten diesen Akt. Wer dies zum erstenmal sah und hörte, der erstaunte und unterlag; man willigte ein schon in Anerkennung des fleißigen Überredungsaktes. Aber Faiteles wurde, die Wirkung erkennend, nun zu immer weiterer Exaltation getrieben. Und zuletzt wurde er monströs. So viel über seine Agitationes.

Aber wer hilft mir die Sprache von Itzig Faitel Stern beschreiben? Welcher Philologe oder Dialektkenner würde sich unterstehen, diese Mischung von Pfälzerisch, semitischem Geknängse, französischen Nasallauten und einigen hochdeutsch mit offener Mundstellung vorgebrachten, glücklich abgelauschten Wortlauten zu analysieren?! Ich kann es nicht, und ich will mich darauf beschränken, nach dem phonetischen System das dem Leser vorzuführen, was an Itzig Faitelesschen Phrasen mir in der Erinnerung geblieben ist. Aber vorher muß ich noch aus der Faitelesschen Redemasse zwei Punkte hervorheben, die grammatikalisch besonderes Interesse beanspruchen, dann soll die grauenhafte Komödie, die Itzig Faitel Stern in Heidelberg, wo wir beide studierten, aufführte, ohne Unterbrechung sich abwickeln! Faitel hatte unter den unzähligen flüchtigen und kaum andeutbaren Besonderheiten seiner Sprechweise zwei, wie soll ich es nennen? – Sprachpartikel, die an bestimmten Stellen immer wiederkehrten und sich mir zuletzt als syntaktische Bestandteile von bestimmtem Begriffswert einprägten. Faitel Stern sagte etwa, wenn ich ihn über den ungeheuren Luxus in seiner Garderobe, seinen Toilettegegenständen interpellierte: »... Was sol ech mer nicht kahfen ä neihes Gewand, ä scheene Hut – 'menerá, feine Lackstiefelich – 'menerá, aß ech bin hernach ä feiner Mann! Deradáng! Deradáng!...« Hin- und Herwippen des Oberkörpers! Aufspreizen der Hände in Achselhöhe bei leicht hockender Stellung; verzückter Blick mit Glasreflex; Entblößen der beiden Zahnreihen; reichliche Speichelabsonderung.

Der Leser wird hier mit Verwunderung zwei Wörter entdeckt haben, oder vielmehr ein Annexum, ein Anhängsel, und eine Interjektion, die er in jedem Wörterbuch vergeblich suchen würde. »– 'menerá«, eine Art Schnurrwort, kurzlang, mit dem Ton auf der letzten Silbe (Anapäst) wurde Substantiven angehängt und verlieh ihnen eine Art eigentümlicher, pathetischer Bedeutung. Schloß das Substantiv mit einem Konsonanten, so wurde oft »– emenera« angehängt, und zwar mit solch rasselnder Geschwindigkeit, daß der Ton auf dem Substantiv blieb, und das Annex als vierkurzsilbiger Schnurrlaut (Doppelpyrrhichius) sich anschloß. Manchmal schien es auch, als ob der »– 'menerá« nur die Verbindung zum nächsten Wort herstellen solle, wenn dieses mit einem für Faitels Zunge schweren Anlauter begann. Es wurde daher nur beim schnellen Reden und bei gehobener Stimmung benutzt. Irgendwelchen deklinatorischen Charakter vermochten die beiden Annexe dem mit ihnen verbundenen Wort, wie es bei einigen Negersprachen der Fall ist, nicht zu geben. – Ganz anders war es mit dem stark nasalen »Deradáng!« Dieses war Interjektion, Ausrufpartikel, hatte also selbständigen Wort- und Begriffswert; wurde singsangmäßig, breit, knängsend ausgesprochen, Itzig speichelndem Mund, es schloß immer den Satz und schien so viel zu bedeuten als: Gelt! hab' ich nicht recht?! – Siehste wohl! – Wer hätte das gedacht!? – Ei der Tausend! – Ja, lieber Leser, du darfst dir Mühe geben, soviel du willst, »Deradáng! Deradáng!« auszusprechen; so fettigguttural, so weichgröhlend, so speichelnd wie Itzig Faitel Stern bringst du's nicht zusammen!

Ich will den Leser darüber nicht länger im unklaren lassen, wieso ich zu diesem merkwürdigen Umgang kam, will mir nicht ein Mäntelchen umhängen, welches mir schlecht stehen würde, indem ich den Leser auf die Vermutung kommen lasse, es sei Mitleid gewesen, das mich in die Nähe dieses grauenhaften Stückes Menschenfleisch, genannt Itzig Faitel Stern, brachte. Es war gewiß viel, wie soll ich sagen, medizinische oder besser anthropologische Neugierde dabei; ich empfand ihm gegenüber, wie etwa bei einem Neger, dessen Glotzaugen, dessen gelbe Augenbindehaut, dessen Quetschnase, dessen Molluskenlippen und Elfenbeinzähne, dessen Geruch man mit Verwunderung wahrnimmt, und dessen Gefühle und geheimste anthropologische Handlungen man ebenfalls kennen lernen möchte! Vielleicht war auch etwas Mitleid dabei, aber nicht viel. Mit Verwunderung beobachtete ich, wie dieses Monstrum sich die grauenhafteste Mühe gab, sich in unsere Verhältnisse, in unsere Art zu gehen, zu denken, in unsere Mimik, in die Aeußerungen unserer Gemütsbewegungen, in unsere Sprechweise einzuleben. Aber ein viel stärkerer und egoistischerer Grund war doch für mich der, etwas über den Talmud zu erfahren, der Faitels Religionsbuch war. Alle die merkwürdigen Gerüchte, die über dieses umfangreiche Gesetzbuch in Umlauf waren, interessierten mich in hohem Grade. Und Itzig war zwar kein Talmudgelehrter; aber er wußte doch manches. Er kannte eine Menge kleiner Gewohnheiten, Schwächen, Praktiken, Skurrilitäten, die nicht in Büchern und Übersetzungen des Talmud zu finden waren, und die für mich hohen anthropologischen Wert hatten. – Freilich mußte ich eine Menge der sonderbarsten Gerüchte von seiten meiner Kommilitonen in Heidelberg über mich ergehen lassen, die nicht begreifen wollten, wieso ich mir den Itzig Faitel Stern zum Umgang auserwählt hatte; Gerüchte, die sich meist an das Vermögen Faitels, an sein Geld, anknüpften; denn Faitel Stern war immens reich. Heidelberg war damals eine zu kleine Stadt, und die Studenten spielten dort eine zu hervorstechende Rolle, um eine Erscheinung wie Itzig Faitel Stern und alles, was um ihn sich bewegte, nicht zum hervorragendsten Tagesinteresse zu machen. Itzig Faitel Stern, um es nochmals zu sagen, war eine Art jüdischer Kaspar Hauser; ein Mensch, der mitten aus dem engherzigen, schematischen, dumpfen, windelstinkenden, knängsenden, grimassierenden Kleinkram seiner Familienerziehung heraus, infolge eines jähen Entschlusses, plötzlich, die Taschen voll Gold, auf das große Lebenspflaster einer europäischen Stadt geworfen war und dort blöd, mit vertrackten Bewegungen, verlacht und bewundert, sich umzusehen begann.

Aber so konnte das Ding nicht weitergehen. Gleich nach den ersten Tagen unserer Bekanntschaft machte ich Faitel Vorschläge hinsichtlich seiner Umwandlung in etwas modernem Sinne und fand damit bei ihm die entgegenkommendste Aufnahme. Ich habe wohl nicht vergessen zu sagen, daß wir beide Medizin studierten. Und daß Faitel auf dieses Studium verfiel, war nach allem, was wir über sein physikalisches Äußere wissen, gewiß ein günstiges Testimonium intellectus. – »Faitel«, sagte ich ihm eines Tages, »Sie müssen Ihren Gang ändern; Sie sind ja vollständig kontrakt! Und dabei das Gespött und Gelächter der Stadt!« – »Was kann ich vor de Misemaschin!« rief Faitel und stampfte die Plattfüße mit größter Kraftentwicklung ohnmächtig auf den Boden. »Bin ich gegangen so mai Lebetag'; duht mai Vater aach so gehe, und is geworden der alte Stern Salomon! Gäben Se mer ä neies Gebein; ich beßahl's!« – »Bezahlen!« rief ich. »Das wäre schon recht; aber wer wird imstande sein, Ihre englischen Knochen wieder gerade zu machen!?« – Wir kamen überein, einen Orthopäden zu Rate zu ziehen. Der ausgezeichnetste Vertreter dieser Disziplin erklärte aber, Itzig sei zu alt, der Knochenbau zu weit vorgebildet. Er empfahl uns aber den Professor Klotz, den berühmten Anatomen Heidelbergs, behufs wissenschaftlicher Untersuchung des Skeletts Itzigs. Wir gingen zu dem berühmten Mann. Der stellte alle möglichen Messungen am nackten Itzig an, ließ denselben dann auf und ab gehen und schlug zuletzt die Hände über dem Kopfe zusammen: so etwas sei ihm in seinem ganzen Leben nicht vorgekommen! Er holte dann ein bekanntes Buch herbei: Meyer, Statik und Mechanik des menschlichen Knochengerüstes, Leipzig 1873, dessen zweite Auflage ihm übertragen worden war. Mißmutig meinte er, er müsse das ganze Buch mit Rücksicht auf Itzig umarbeiten; stellte dann inzwischen die merkwürdige Frage, ob es sicher sei, daß Itzig von menschlichen Eltern geboren sei. Dies konnte aufs unwiderleglichste nachgewiesen werden. »Dann«, schloß der Professor Klotz seine Ausführungen, »darf ich nicht alle Hoffnung aufgeben, die Gelenke des Studiosus Stern auf eine der humanen Bewegungsform ähnliche Stufe wieder hinzubringen; nur«, zögerte der berühmte Anatom, »die Mittel und Wege...« – »Ich beßahl's,« rief Faiteles, von einer plötzlichen Ahnung erfaßt, schnell dazwischen, »ich beßahl's! Ich beßahl mei neie Statür; Herr Profäßer soll'n haben viel Geld – era, Deradáng, Deradáng! (sehr breit zu sprechen). Ich beßahlera! Deradáng, Deradáng!« Aufspreizen der Hände in Achselhöhe; einhaken in den Westenausschnitt; pendelförmiges Hin- und Herwippen mit dem Oberkörper; lächelnde Mundstellung; obere Zahnreihe entblößt; reichliche Speichelabsonderung.

Nun kamen schwere Zeiten für Faitel. Tage- und nächtelang hing er in der Streckschwebe, um durch das eigene Körpergewicht die skoliotischen Knochen zum Dehnen zu bringen. Oder er stak im Gipskorsett, das Nackenband wurde durch blutige Operation verkürzt und straffer gehalten, um Faitel den Anblick des Himmels zu ermöglichen. Wochenlang mußten die in neue Scharniere gebrachten Knochen beim Turnlehrer geübt und weitergebildet werden. Alles geschah in eigens für Faiteles anberaumten Privatstunden, da niemand mit ihm zu üben Lust hatte, noch seine Übungen für sich brauchen konnte, noch auch Faitel bei seinen halsbrechenden Exerzitien gesehen sein wollte. Enorme Summen wanderten in die Hände der Gymnastiker, Bandagisten, Orthopäden und – des Professors Klotz, der das Ganze leitete und überwachte. Nach einem Vierteljahr waren leidliche Resultate zu sehen. Die Säbelbeine natürlich konnten von all diesen Korrektionsversuchen nicht betroffen sein, da es für sie kein tiefer gelegenes Gegengewicht gab, um sie zum Strecken zu bringen. Man beruhigte Faiteles, indem man ihm zu verstehen gab, solche Beine kämen auch bei anderen Menschenklassen, bei Bäckern und dergleichen, vor. Aber Faitel war unermüdlich; seit sein spitzes Kinn nicht mehr in die Plastronkrawatte sich einbohrte, war er fest entschlossen, »ßu werden aach a fains Menschenkind wie a Goj-menera, und aufßugeben alle Fisenemie von Jüdischkeit«. – Es kam damals gerade jene kühne Operation auf, die man brisement forcé nannte; man zerbrach absichtlich einen stark gekrümmten Knochen und behandelte ihn dann wie einen zufälligen Beinbruch, nur daß man die beiden Stücke in gerader Richtung aneinander heilen ließ. Dieses Verfahren wurde bei Faitel Sterns Säbelbeinen angewendet. Mehrwöchiges Bettliegen für jedes Bein, mit Schmerzen und Verbänden aller Art, und ungeheure Kosten für ein Verfahren, zu dessen exakter Ausführung damals ein eigener Arzt von Paris kam, waren die Folgen und Nebenumstände dieser Kur. – Der alte Salomon Stern sandte Wechsel auf Wechsel, die jeder Geschäftsmann mit Freuden honorierte. Dann kamen wochenlange Gehversuche mit den neugeheilten Gliedern. Und wirklich, als nun Faitel Stern zum erstenmal ausging, hatte er wesentliche Fortschritte gemacht. Er war etwas größer geworden und sah schon einem respektablen Menschen gleich. Alles war und blieb noch lange recht steif, aber er konnte jetzt doch einen normalen Menschen vortäuschen. Das Gesicht sah kerzengerade hinaus; das Kinn zeigte sich erst jetzt fürchterlich lang und spitz; die Hühnerbrust war abgeplattet, und die Rockpatten liefen gerade hinunter. Um Faiteles an dem gemeinen, behaglichen Hin- und Herwippen des Oberkörpers, wobei er sein näselndgurgelndes »Deradáng, Deradáng« hören ließ, zu hindern, wurde ihm, ähnlich wie bei Hunden, ein Stachelhalsband, ein solches um die Hüfte, auf den bloßen Körper, gelegt, so daß er bei seitlichen Neigungen sofort heftig gestochen wurde. Dies alles ertrug Faitel Stern mit Heroismus und stand schlang gebunden wie eine Tanne da. Aber die Hauptsache kam erst. Es war klar, daß man ihn mit der Sprache, von der wir einige Proben gegeben haben, nirgends einführen konnte. Sie schien der Ausdruck einer schmierigen, niedrigen, feigen Gesinnungsweise. Und wenn es sich auch zunächst nur um äußere Täuschung handelte, so wollte man doch diese so bald als möglich erreichen. Da es hoffnungslos war, ihn mit seinem Pfälzisch-jüdischen auf ein nächstverwandtes Hochdeutsch zu bringen, so versuchte man, durch einen absoluten Gegensatz zu seinem bisherigen Singsang ihn auf die rechte Bahn zu bringen. Man besorgte einen hannoveranischen Hofmeister, dessen hellnäselnde, klirrende Sprechweise Itzig wie ein Schulknabe, Satz für Satz, nachzusprechen hatte, so daß er Hochdeutsch wie eine völlig fremde Sprache lernte. Sogar einige hannoveranische Studenten wurden gegen Kollegienfreiheit und diverse Mittagstische veranlaßt, Itzig für ein ganzes Semester Gesellschaft zu leisten. Diese ganze Reihe von Maßnahmen war das Resultat einer sachgemäßen Besprechung mit dem berühmten Tübinger Linguisten damaliger Zeit, zu welcher noch der Heidelberger Physiologe zugezogen war. Diese Herren gingen von folgenden Erwägungen aus: In unserem Gehirn ist immer nur ein Teil der für die Sprache befähigten Partien, und immer nur auf der einen Seite, rechts oder links, ausgenützt; ein Heranziehen jener bisher brachgelegenen Partien zu neuen Sprachbildungen ist nicht ausgeschlossen und findet durch die Natur selbst, etwa nach Krankheiten statt. Nur ist bei solchen Versuchen aufs sorgfältigste darauf zu achten, daß nichts in Wort- und Lautbildungen in der neuen Sprache an das alte Idiom erinnere; weil sonst Verwirrung entsteht. Wie der Tübinger Spezialist sich ausdrückte: es mußte eine neue Sprachinsel bei Itzig gebildet werden. Und nun wurde genau untersucht, welcher deutsche Dialekt mit dem Pfälzisch-jüdischen Faitels die geringste Lautverwandtschaft besitze. Man kam erst auf das Pommersche. Aber Faitel war dies zu hart. Endlich einigte man sich auf das Hannoveranische. Der Leser kann sich denken, daß diese feinen prognostischen Berechnungen ein horrendes Geld kosteten. Diese Sprachübungen wurden ein ganzes Semester fortgesetzt.

Ich kann den Leser unmöglich mit all den Ausstaffierungen, Veränderungen, Einpumpungen und Quacksalbereien aufhalten, denen Itzig Faitel Stern sich unterzog, mit der furchtbarsten Qual und mit größtem Heroismus unterzog, um ein gleichwertiger abendländischer Mensch zu werden. Immer vigilierte er auf Neues, studierte geheime christliche Züge, kopierte Mundverzerrungen, Backenaufblähungen und Gesten, gefiel sich im heroischteutonischen Genre, wie in der blondnaiven, süßlächelnden Jünglingsgangart. Der Teint, die weizengelbe Gesichtsfarbe Faiteles', mußte natürlich einem feinen, pastösen Bleiteint weichen, den Itzig vortrefflich aufzutragen verstand. Daß Faitel einmal vier Wochen hindurch sich von einer mir unbekannten Droge in Form von Gemüse nährte, um auf natürliche Weise zur kaukasischen Lichtfarbe zu gelangen, daraufhin habe ich ihn nur in Verdacht. Eine relativ einfache und ungefährliche Prozedur, die aber die ungeheuerlichste Wirkung ausübte, betraf die Haare. Es kamen damals gerade die englischen Waschungen auf, die zwar als Geheimnis unerschwingliche Kosten verursachten, die aber jedes beliebige dunkle Haar in ein prachtvolles Goldblond verwandelten. Die ersten englischen Friseure bereisten damals Deutschland, und ein solcher hatte sich in dem reichen, stets von hohen Herrschaften besuchten Heidelberg niedergelassen. Faiteles war einer der ersten, der sich der Prozedur unterzog. So wandelten sich die pechschwarzen Sechserlöckchen Itzigs, unter denen sich immer ein verdächtig riechender Schweiß aufhielt, in goldene Kinderlocken; diese Locken wurden weiterhin mittels eines nicht schmerzlosen Verfahrens in lange, germanische Strähnen ausgezogen. Dazu wurde simpler, norddeutscher Haarschnitt angebracht, und – der dumbe, tappige Germanenjüngling, wie ihn Schwind gelegentlich auf seinen Bildern angebracht hat, war fertig. Faiteles nannte sich Siegfried Freudenstern und ließ seine Matrikel und übrigen Papiere umändern.

Faitel war jetzt ein ganz neuer Mensch geworden. Die letzten Prozeduren, die er so vorsichtig war, in den Ferien, in der Nähe der Stadt, vornehmen zu lassen, hatten ihn zum Nichtwiedererkennen verändert. Man schlug ihm vor, eine andere Universität zu beziehen. Er wies dies aber ab; vor allem, weil er in der Nähe des Professors Klotz zu bleiben wünschte, der die gesamte psycho-physikalische Leitung Itzigs noch immer in seiner Hand hatte. Und in der Tat, Faitel wurde in Heidelberg, seit der Haarvergoldung, nicht mehr erkannt. Er trat auf als hannoveranischer Gutsbesitzerssohn und bewegte sich in der feinsten Gesellschaft. Die norddeutschen Schnarrlaute übte er mit spielender Leichtigkeit und erzielte damit, wo er hinkam, ganz außerordentlichen Erfolg. – Aber Faitels Ehrgeiz ging höher. – Faiteles! Scheener Jüd, fainer Jüd, eleganter Jüd, – so sprach oft Faitel zu sich selbst, wenn er vor dem Spiegel stand, aber nur in der Gedankensprache – biste jetzt geworden ä Christenmensch, frei von aller Jüdischkeit? Kannste jetzt hingehn, wo de willst, und dich hinsetzen zu de faine Leit, ohne daß einer kann sagen: des is aach aner vun unsere Leit! – Faitel wußte, daß dem noch nicht so war. Ja, was Pomade, Schminke, weiße Steifleinwand, einige Meter Kammgarn, Wattons und etwas Lackleder an einem Menschen herzustellen vermögen, das war an Faitel geschehen. Aber, wie sah es innerlich aus?

Hatte Faitel eine Seele? Darüber stritten sich schon seit Monaten alle jene Leute, Erzieher und Ärzte, die mit ihm zu tun hatten, herum. Die Seele freilich, die nötig war, um vor der Hochzeit ein paar heuchlerische Phrasen herauszubringen oder im richtigen Moment einem armen Teufel ein paar Silberlinge hinzuwerfen, die besaß Faitel, wie jeder andere. Aber Faitel hatte von jener keuschen, undefinierbaren, germanischen Seele gehört, die den Besitzer wie einen Duft umkleide, aus der das Gemüt seine reichen Schätze beziehe, und die das Schiboleth der germanischen Nationen bilde, jedem Besitzer beim anderen sofort erkennbar. Faitel wollte diese Seele haben. Und wenn er kein echtes Kölnisches Wasser haben konnte, wollte er nachgemachtes. Er wollte wenigstens diese Seele in ihren Äußerungen, in ihrem Zutagetreten sich aneignen. Man riet ihm, nach England zu gehen, wo der reinste Aufguß dieser germanischen Seele zu finden sei. Sprachschwierigkeiten ließen diesen Plan bald wieder fallen. Ein bekannter Pädagoge meinte, man könne durch Weiterbildung auf Grund der gewöhnlichen, auch bei Faitel vorhandenen Seelenanlage das höhere Ziel erreichen. Der berühmte Cambridger Professor Stokes hatte kurz vorher seine »Psychological researches« herausgegeben, auf Grund deren er die primäre Seelenanlage bei Leuten wie Faiteles nicht als geistigen Besitz, sondern als mechanische Funktion, »rotation work«, wie er sich ausdrückte, erklärte. Diese neue Theorie ließ von weiteren erziehlichen Versuchen bei Itzig Faitel abstehen.


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