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IX

Als die beiden Darnowskis auf die Schwelle der in das Presbyterium führenden Sacristei traten, war die Procession soeben beendet. Noch war keine vollkommene Ruhe eingetreten; hin und wieder vibrirten, wie ein verspätetes Echo, die letzten Töne eines Liedes in der Luft, ein leises Murmeln, Seufzen, endlich breitete sich Stille und Regungslosigkeit aus. Am Altar stimmte der Geistliche einen Gesang an; auf dem Chor erklangen Orgeltöne.

Roman athmete, wie jemand, der plötzlich in eine ungewohnte Atmosphäre versetzt wird, mehrmals auf und sein Blick schweifte umher in der Kirche, die heute einen ganz außergewöhnlichen Anblick darbot.

Von den Stufen des Altares bis zu der das Presbyterium von dem Mittelschiffe trennenden Balustrade breitete sich weiße, von Getreidekörnern bedeckte Leinwand aus. Alle Getreidearten, vom dunkelsten Weizen bis zum hellsten Hafer waren daselbst vertreten und auf diesem an Bronze, Gold und Stroh gemahnenden Hintergrunde bildeten Mohn, Bohnen und Hanfsamen allerlei schwarze, weiße und bräunliche Flecke.

Hie und da blitzte mit dem Silberglanze frischgefallenen Thaues ein Tropfen Weihwassers; hie und da leuchtete durch die hohen Fenster ein Sonnenstrahl und der eigenartige Getreideteppich erglühte, als wie von flüssigem Golde überströmt.

Jenseits der Balustrade erhob sich ein förmlicher Garten in die Luft. Dankend brachten dunkle, hartgearbeitete Hände dem Himmel die Erstlingsfrüchte ihrer Felder dar.

Was war dort nicht zu sehen? Rüben und Krautköpfe von Astern umkränzt, Mohnköpfe, Sonnenblumen, Mohrrübchen, die neugierig zwischen Kornblumen hervorlugten, Aepfel, Rettiche und Kartoffeln, Gerste, Zittergras und Dillkraut, Malven, Sinngrün, Bisam, Rauten, Hauswurz, Camillen und Pfefferminz. Von den Schultern hingen glänzende Flachsstreifen hinab, auf der Balustrade standen mit Honigscheiben gefüllte Thonschüsseln.

Diesem beweglichen Garten entströmten allerlei Düfte, unter welchen das bittere Aroma von Wermut, Pfefferminz und Kümmel schärfer hervortrat; der Flachs strömte einen leichten Staubgeruch aus und der Duft des Wachses gemahnte an Särge und geweihte Kerzen.

Und über dem Ganzen erhoben sich die altersgrauen, hie und da mit ehrwürdigen Malereien und heiligen Emblemen bedeckten Mauern der Kirche. Hinter den schmalen und langen Fenstern sah man flockige Wölkchen das azurblaue Himmelsgewölbe entlang ziehen; durch die von Düften gesättigte Luft flutheten die Klänge der Orgel dahin.

Roman senkte, nachdem er lange umhergeblickt, das Haupt tief auf die Brust. Dies alles hatte er einst gesehen, gekannt, vergessen und nun stand es wieder vor ihm und pochte, Einlaß begehrend, an die Pforte seines Herzens. Und sein Herz ward traurig. Aber außer der Trauer empfand er noch ein anderes, complicirteres Gefühl. Es war das Gefühl der Schuld. Und nun kam es ihm zum Bewußtsein, daß er dieses Gefühl schon lange in sich getragen. Schon damals, als in seinem scheinbar glücklichen Leben ein Wurm stets an seinem Herzen genagt, als er im Ticken der Uhr, im Zirpen der Feldgrillen das beunruhigende, geheimnißvolle: »ja – nein! ja – nein!« zu hören vermeint hatte.

Heute in dem verödeten Górowo hatte sich dieses Gefühl gesteigert, und nun war es so mächtig geworden, daß es ihn schier zu Boden drückte.

In der Kirche, in der einst seine Kinderaugen Gott gesucht, inmitten des Meeres von Pflanzen, denen heimatliche Düfte entströmten, umgeben von den Arbeitern des Bodens, der ihn geboren und ernährt, litt er mehr als je zuvor.

Eine unbegriffene Kraft zwang ihn, sich klar zu werden über das, was er bisher nur dunkel empfunden. Aus dem Bilde, das seinen Augen sich darbot, stiegen Gedanken und Worte empor, die sein Hirn nicht festhalten konnte, die jedoch Flammen gleich erscheinend und verschwindend, brennende Spuren zurückließen.

Auf Stirnen, die sonngebräunt und von tiefen Runzeln durchquert waren, sah er glitzernde Schweißtropfen; um blasse, geduldige Lippen lagerte der Ausdruck von lange in Demuth ertragenen Schmerzen; eingefallene Wangen zeugten von Hunger. Unter dem dünnen Pfeiler, wo die farblosen Silbersterne einer Fahne leuchteten, stand eine Gruppe jugendlicher Gestalten, deren blühende Gesichter einem Strauße von Lilien und Päonien gleichend, in hellem Frühlingsglanze strahlten; weiterhin, unter dem Sims des Chores, glänzten gleich einem Schneefelde, auf das ein Mondstrahl fällt, die weißen Haare der Alten.

Roman wandte den Blick seitwärts und bemerkte Bohdan Rosnowski, der, an eine Bank gelehnt, mit dem gleichgiltigen Gesichtsausdrucke eines Mannes dastand, welcher an einen Ort gerathen, wo er nicht hingehört.

Seine abgespannten, apathischen Züge drückten große Ermüdung aus und die Gedanken, die hinter seiner gewölbten Stirn arbeiteten, waren weit entfernt von der Stätte, wo er sich befand.

Tief neigte Roman sein Haupt. Zum erstenmale in seinem Leben verfiel er in ein Sinnen, in welchem der Mensch, der Außenwelt entrückt, nur seiner eigenen Seele Aug' in Auge gegenübersteht. Und plötzlich stand es vor ihm mit erschreckender Kraft und Klarheit.

Er hatte schlecht gelebt.

Und um chinesischer Wandschirme willen hatte er schlecht gelebt.

Er erhob sein Haupt und sein Blick blieb an einem Frauenantlitze haften. Jetzt erst entdeckte er Irene. In einem dunklen, fast ärmlichen Kleide kniete sie mit auf der Balustrade gefalteten Händen. Die Pflanzenbüschel, die rund umher in die Höhe ragten, bildeten einen blühenden Rahmen um ihre Gestalt. Die warme Atmosphäre der Kirche färbte ihre bleichen Wangen mit einer zarten Röthe, aber die Züge ihres Antlitzes hatten die ihnen sonst eigene Ruhe verloren. Ihre Lippen zitterten, den emporgerichteten Augen entquoll Thräne auf Thräne, und langsam perlten die großen, hellen Tropfen die Wangen des jungen Mädchens hinab.

Einem instinctiven Gefühle, vielleicht dem Selbsterhaltungstriebe seiner Seele folgend, wandte Roman das Auge dem Punkte zu, wo Irenens Blick geweilt.

Hoch oben, nicht so hoch jedoch, daß er die Züge des Antlitzes nicht hätte unterscheiden können, sah er unter einem großen, dunklen Kreuze die Gestalt des Erlösers. Sein blutendes, schmerzerfülltes Antlitz drückte vor allem Mitleid aus.

Die Arme des Kreuzes streckten sich in schräger Linie über den Samenteppich aus. Aber den unten Stehenden schien es, als ob sie über das ganze, die Kirche füllende Pflanzen- und Menschenmeer sich ausbreiten würden. Stumm und regungslos hatten sie doch Sprache und Bewegung. Und immer weiter erstreckten sie sich, und es war, als ob von oben die Worte niederströmten:

»Gesegnet seien die Weinenden, denn sie werden getröstet sein –«

»Gesegnet seien die, welche leiden um der Gerechtigkeit willen –«

»Gesegnet seien die Barmherzigen –«

Und eine Stille, wie sie dem Aufgange des Tagesgestirnes vorauszugehen pflegt, zog ein in die Seele Roman's. Er verstand plötzlich die Bedeutung des Kreuzes, welches über Stephan's Zimmer herrschte; er begriff Irenens Ruhe angesichts einer traurigen, vielleicht unglücklichen Zukunft. Er begriff das Gebot, dem sich Menschen unterordnen, die leiden und ertragen. Von dem gemarterten Antlitze, von den ausgebreiteten Armen wehte es ihm entgegen und stieg empor auf dem Horizont seines Geistes: ein Opfer!

Und plötzlich rauschte es in der Kirche wie stürmischen Windes Wehen. Roman blickte um sich. Wie auf ihr Bett niedergleitende Meereswellen, so neigten sich die Menschen alle zu Boden. Die Bewegung ging rasch, aber stufenweise vor sich. Sie begann bei der Balustrade und endete bei der geschlossenen Thür. Bald war der wandelnde Garten verschwunden, der ganze Raum von einer knienden Volksmenge bedeckt und aus dieser Volksmenge erklang es dröhnendem Donner gleich:

»Heiliger Gott! Heiliger, Allmächtiger, Heiliger, Unsterblicher! Erbarm' Dich unser!«

Die Anthropomorphen hatten gesprochen. All ihr Elend und ihre Wünsche, ihre Ahnung alles Großen, die unter der Asche glimmenden Funken, den Hunger, von dem ihre eingefallenen Wangen zeugten, die Schweißtropfen, welche ihre Stirn bedeckten, alles dies hatten sie hergebracht und nun riefen sie zu Gott empor:

»Erbarm' Dich unser!«

Roman blickte in die Höhe. Das riesengroße Kreuz schien noch zu wachsen; mit unendlichem Mitleid breitete es seine Arme über das unendliche Meer menschlichen Elends aus. Und das von der Dornenkrone umwundene, von Blut überströmte Haupt schien sich tiefer und tiefer zu neigen und den inbrünstig Flehenden leise Trostesworte zuzuflüstern:

»Gesegnet sind die, welche leiden und weinen –«

»Gesegnet seien, welche leiden um der Gerechtigkeit willen –«

Ein Schaudern – wie es der Geburt großer Gedanken vorauszugehen pflegt – überflog Roman's Körper. Und Roman schien, als ob sein eigenes, kleines Herz aufgehe in dem einen riesengroßen Herzen, welches die Kirche füllte. Es wurde Eins mit ihm, es schlug, flammte, weinte zugleich mit ihm, und zugleich mit ihm rief es zu Gott empor:

»Erbarm' Dich unser!«


 


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