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1.

Die gesamte tanzlustige Badegesellschaft von Liebenthal schien bereits versammelt, als der junge Rechtsanwalt Hans Volckmar den Saal des Kurhauses betrat. Er fühlte sich fast ein bißchen beklommen, so vornehm und elegant erschienen ihm alle diese fremden Damen und Herren in ihren tadellosen Toiletten und in ihrem würdevollen, mehr feierlich gemessenen als bademäßig fröhlichen Benehmen. Als er dann aber bei etwas genauerer Musterung die angenehme Entdeckung machte, daß unter den jungen Mädchen, die da in sommerlich hellen Gewändern sittsam neben ihren Vätern oder Müttern an den Wänden herumsaßen, gar manche allerliebste Erscheinung war, schwand seine Befangenheit bald dahin, und die lustige Ferienstimmung, die ihn hierhergeführt hatte, nahm wieder ganz und gar von ihm Besitz.

Seiner Überzeugung nach gab es ja auch kaum einen Menschen, der begründetere Veranlassung gehabt hätte, äußerst vergnügt zu sein. Hatte ihn der Himmel mit irdischen Glücksgütern auch nicht allzu reich gesegnet, so besaß er doch im reichsten Maße alles, was das Dasein erfreulich und heiter zu gestalten vermag: Jugend, Gesundheit, tüchtige Kenntnisse und eine unverwüstliche Arbeitslust. Seine erst vor einem Jahre aufgenommene Praxis in einer größeren Provinzialstadt hatte sich fast über Erhoffen günstig entwickelt, und erst kürzlich hatte ihm ein glücklich durchgeführter schwieriger Prozeß ein ganz unerwartetes Extrahonorar von sechshundert Mark eingetragen. In einer Anwandlung jugendlichen Leichtsinns, die bei seinen siebenundzwanzig Jahren vielleicht eine nachsichtige Beurteilung verdiente, hatte er diese gleichsam vom Himmel gefallene Summe für eine sommerliche Vergnügungsreise während der Gerichtsferien bestimmt. Wohlverwahrt trug er die sechs blauen Kassenscheine auf seinem Herzen, und im Bewußtsein des sicheren Besitzes dieses redlich erworbenen Kapitals, mit der Aussicht auf ein paar sorglos heitere Ferienwochen fühlte er sich so leicht und frei und glücklich, daß er gewiß mit keinem vielbeneideten Nabob getauscht haben würde.

Die Töne der ersten Polka waren eben verklungen, und die eingetretene Pause gab Hans Volckmar Gelegenheit, die weiblichen Schönheiten der Gesellschaft in aller Muße zu betrachten. Er fand da manches hübsche, rosige Mädchengesicht, das ihm recht wohl gefiel, aber sie alle hatten mit einem Male jegliches Interesse für ihn verloren, sobald er der blonden jungen Dame ansichtig geworden war, die ziemlich weit von ihm entfernt am anderen Ende des Saales saß. Sie mochte neunzehn oder zwanzig Jahre alt sein, und er war überzeugt, nie in seinem Leben etwas Holdseligeres gesehen zu haben als diese zierliche, feingliedrige Gestalt in dem schlichten und doch vornehmen weißen Kleide und mit dem süßen, blauäugigen Gesichtchen. Sie plauderte mit einem hageren älteren Herrn, den Volckmar nach seiner eckigen Figur und seinen noch eckigeren Bewegungen für einen Engländer hielt, und über den er sich ärgerte, weil er, nach seiner hölzernen, unbeweglichen Miene zu urteilen, sein Glück offenbar nicht nach Verdienst zu würdigen wußte.

Bis dahin hatte sie für ihre übrige Umgebung allem Anschein nach nicht viel Aufmerksamkeit gehabt; jetzt aber wandte sie den Kopf, und der Zufall wollte, daß ihr Blick gerade auf den neben der Eingangstür stehenden Rechtsanwalt fiel. Hans Volckmar war nicht eitel, und er hatte sich niemals eingebildet, daß seine Persönlichkeit bestechend genug sei, gleich im ersten Moment gewaltigen Eindruck auf das Herz einer jungen Dame zu machen. So war es denn nicht etwa eine törichte Selbsttäuschung, sondern nur die Feststellung einer ganz unbestreitbaren Tatsache, als er wahrnahm, daß der liebliche Gegenstand seiner stummen Bewunderung plötzlich tief errötete und das Gesicht mit allen Anzeichen großer Verwirrung hinter dem Fächer verbarg.

Er sah sich um, weil er meinte, derjenige, der ihr Erschrecken und ihre Verlegenheit verschuldet habe, müsse Wohl hinter ihm stehen; aber es war niemand da, und so blieb ihm denn nichts anderes übrig, als sich selbst für den Urheber dieser kleinen Gemütsbewegung zu halten, die ihr übrigens ganz entzückend anstand. Und wenn seine Bescheidenheit ihn noch immer hätte zweifeln lassen, so würde er schließlich doch durch die verstohlenen, halb neugierigen und – wie ihm scheinen wollte – halb ängstlichen Blicke überzeugt worden sein, die in kurzen Zwischenräumen immer wieder über den Fächer fort zu ihm hinüberflogen.

Er war jetzt fest entschlossen, sich von dem holden Blondköpfchen selbst Aufklärung über die sonderbare Wirkung zu holen, die der Anblick seiner unbedeutenden Person so augenfällig auf sie übte, und es erfüllte ihn mit lebhafter Freude, als er gerade jetzt einen Herrn gewahrte, dessen Bekanntschaft er zufällig im Laufe des Tages gemacht, und der ihm wie eine Art lebendiger Chronik von Liebenthal erschienen war. Der Mann hatte ihm durchaus nicht gefallen, und er hatte sich vorgesetzt, dem Schwätzer möglichst aus dem Wege zu gehen. Jetzt aber eilte er mit großer Lebhaftigkeit auf ihn zu und schüttelte dem Erstaunten herzlich wie einem alten Freunde die Hand. Freilich begriff Herr von Sternberg die Ursache dieser auffallenden Freundlichkeit sofort, als der Rechtsanwalt sich hastig nach dem Namen der blonden jungen Dame erkundigte.

Er verzog etwas spöttisch die Lippen und sagte: »Es ist Fräulein Mary Burnes, die Tochter des Herrn Gilbert Burnes aus Newyork – eine echte Amerikanerin, kalt wie Eis und unbekümmert um all die zertretenen Männerherzen, über die sie mit ihren zierlichen Füßchen lächelnd hinwegschreitet. Ich halte es für meine Pflicht, Sie vor ihr zu warnen.«

«Ich bin Ihnen dafür außerordentlich verbunden, aber ich hege hinsichtlich meines Herzens nicht die mindesten Besorgnisse. Sind Sie mit den Herrschaften bekannt?«

»Gewiß, und es wird mir ein Vergnügen sein, Sie vorzustellen, wenn Sie denn durchaus in Ihr Verderben rennen wollen.«

Hans Volckmar drückte ihm die Hand, daß Herr von Sternberg einen kleinen Schmerzensruf ausstieß. Dann aber kam ihm doch noch ein gewichtiges Bedenken.

»Aus Newyork, sagten Sie? Die Herrschaften sprechen doch hoffentlich auch deutsch, denn mit meinem Englisch – ich muß es zu meiner Beschämung gestehen – ist es recht schwach bestellt.«

»Fräulein Burnes ist in einer Dresdener Pension erzogen worden und spricht das Deutsche wie ihre Muttersprache. Was aber ihren Vater betrifft, so hat er sich für Leute, die nicht englisch reden, eine feststehende Form der Unterhaltung zurechtgemacht, mit deren Hilfe es ihm überaus leicht fällt, das Gespräch im Fluß zu erhalten. Sie werden ja selbst sehen. Kommen Sie jetzt, daß ich Sie präsentieren kann, ehe der Walzer beginnt.«

Hans Volckmar, der durchaus keiner von den allezeit siegesgewissen Schwerenötern war, fühlte sein Herz doch etwas schneller klopfen, als er nun vor den beiden stand. Es war ihm nicht entgangen, daß Fräulein Mary ihn während seiner Unterhaltung mit Herrn von Sternberg scharf beobachtet hatte, und er bemerkte, daß sie sich große Mühe gab, Herrin über ihre Befangenheit zu werden. Daß die Farbe auf ihren Wangen abermals in raschem Wechsel kam und ging, konnte sie freilich nicht verhindern. Ein Ausdruck höchsten Erstaunens aber trat auf ihr Gesicht, und ihre schönen Augen öffneten sich weit wie in gewaltigster Überraschung, als Herr von Sternberg um die Erlaubnis bat, Mr. Burnes und dem gnädigen Fräulein Herrn Hans Volckmar aus M. vorstellen zu dürfen. Sie sah erst den Sprechenden und dann den Rechtsanwalt an, als wolle sie sich aus den Mienen der beiden vergewissern, daß man nicht etwa einen Scherz mit ihr zu treiben beabsichtige, dann aber erschien plötzlich ein Lächeln auf ihren Lippen – ein Lächeln, so bezaubernd anmutig und liebenswürdig, daß es Volckmar gar seltsam warm und wonnig ums Herz wurde.

»Aus M. also? Aber Sie sind noch nicht lange dort ansässig, nicht wahr, Herr – Verzeihung, wie war doch Ihr Name?«

»Volckmar, mein gnädiges Fräulein – Hans Volckmar. Und in M. lebe ich allerdings erst seit einem Jahre.«

»Wirklich?« fragte sie, und eine ganze Schar allerliebster kleiner Teufel schien dabei in den schelmisch zuckenden Linien des reizenden Gesichtchens ihr Wesen zu treiben. »Es soll ja eine wunderhübsche Stadt sein, und ich werde es Ihnen nicht erlassen, mir ihre Schönheiten ganz ausführlich zu schildern, Herr – Volckmar!«

Es war bei aller Freundlichkeit etwas so seltsam Anzügliches in ihren Worten, und sie sprach zumal seinen Namen mit einer so besonderen Betonung aus, daß der junge Mann nicht recht wußte, was er von ihrem Benehmen zu halten habe. Aber er kam zunächst nicht dazu, sich Aufklärung zu verschaffen, denn nun reichte ihm Mr. Gilbert Burnes, der so lange steif wie ein Götzenbild dagestanden, seine höchst umfangreiche Rechte.

»Ich uerde sein serr erfreut, zu machen Ihr näheres Bekanntschaft,« sagte er in einem Tone, der für eine Leichenrede mindestens ebenso passend gewesen wäre wie für eine höfliche konventionelle Phrase. »Ich liebe serr viel dies uondervolle Land.«

Hans Volckmar beeilte sich natürlich, zu versichern, daß diese Anerkennung seinem Herzen ungemein wohltue, und er dachte eben darüber nach, wie er sie durch eine recht artige Wendung vergelten könne, als die ersten Klänge des Walzers an sein Ohr schlugen und er zugleich wahrnahm, wie sich von rechts wie von links je ein befrackter Jüngling näherte – beide ganz unverkennbar in der Absicht, Fräulein Mary zum Tanze aufzufordern. Da überkam ihn eine nie gekannte Unternehmungslust, und mit einem Mute, der ihn selbst am meisten in Erstaunen setzte, kam er den beiden Jünglingen zuvor. Er zitterte, daß die junge Amerikanerin ihm einen Korb geben würde, aber sie neigte zu seiner namenlosen Freude zustimmend das Köpfchen, und er hatte nur eben noch Zeit genug, mit einem triumphierenden Blick die enttäuschten und ingrimmigen Mienen der beiden geschlagenen Nebenbuhler zu streifen, ehe ihn und seine holde Partnerin der Wirbel des Tanzes fortriß.

Natürlich mußte er nun auch eine Unterhaltung mit ihr beginnen, und er hatte niemals so schmerzlich empfunden als in diesem Augenblick, daß einem immer gerade dann nichts Gescheites einfallen will, wenn man es besonders notwendig braucht.

»Eine reizende Musik, dieser Fledermaus-Walzer,« sagte er endlich, indem er sich gleichzeitig um dieses geistvollen Anfanges willen in der Fülle seines Herzens einen nichts weniger als schmeichelhaften Ehrentitel gab.

Fräulein Mary Burnes aber blickte wieder mit jenem sinnbetörenden Lächeln zu ihm auf und erwiderte leise: »Sie treiben die Sorge um Ihr Inkognito zu weit, mein Herr – man muß durchaus kein genialer Musiker sein, um zu wissen, daß dies nicht der Fledermaus-Walzer, sondern die »schöne blaue Donau« ist.«

»In der Tat? Sollte ich mich so geirrt haben? Ich bin eben leider ganz unmusikalisch.«

Jetzt lachte sie hell auf und zwinkerte dabei so pfiffig mit den Augen, daß es wahrhaftig eine nicht geringe Selbstüberwindung bedeutete, wenn er ihr nicht auf der Stelle eine glühende Liebeserklärung machte. Diese anmutige Schalkhaftigkeit verdrehte ihm ganz und gar den Kopf, so wenig er sich auch erklären konnte, was denn eigentlich so Belustigendes in seinen Reden sei.

»Sie beabsichtigen also in allem Ernst, Ihre Rolle durchzuführen?« fragte sie nach einigen Sekunden, da er nichts weiter zu sagen wußte. »Nun, mir gegenüber ist es, wie Sie sehen, verlorene Mühe. Ich erkannte Sie auf den ersten Blick, obwohl Sie sogar Ihre schö – – ich meine, Ihre langen Haare zum Opfer gebracht haben.«

Nun war es ihm endlich klar, daß sie ihn für einen anderen hielt, und schmerzlich durchzuckte ihn zugleich die Erkenntnis, daß er wahrscheinlich ihre bezaubernde Liebenswürdigkeit einzig diesem Irrtum zu danken habe. Es war natürlich seine Pflicht, ihn zu zerstören, vorher aber wollte er doch wenigstens wissen, wer der Glückliche war, dem ihr verräterisches Erröten und ihr holdes Lächeln gegolten.

»Sie haben mich also erkannt. – Nun, mein gnädiges Fräulein, darf ich dann auch vielleicht erfahren, wer ich Ihrer Meinung nach bin?«

»Warum nicht? Sie sind Stanislaw Kamarinski, der berühmte Virtuose. Und ich fürchte, daß ich nicht lange die einzige bleiben werde, die Ihr Inkognito durchschaut.«

Hans Volckmar hatte den Namen des Klavierkünstlers wohl schon hier und da in den Zeitungen gelesen, aber er hatte weder den Mann noch sein Bildnis je gesehen, und darum auch nicht geahnt, daß er ihm so zum Verwechseln ähnlich sein solle. Wenn nur das glühende Gesicht seiner Tänzerin nicht so über alle Maßen hübsch gewesen wäre! Er hätte sich dann gewiß viel leichter zu dem selbstverleugnenden Entschlusse aufgerafft, sie mit einem unzweideutigen Wort über ihre sonderbare Täuschung aufzuklären. Aber ein Vergnügen, wie er es beim Anblick dieses süßen Gesichtchens empfand, wurde ihm sicherlich in seinem ganzen Leben nicht wieder zu teil. Darum brachte er die mahnende Stimme seines Gewissens zum Schweigen und zögerte den unausbleiblichen Augenblick der Enttäuschung noch ein wenig hinaus.

»Wahrscheinlich geschieht es auf Grund irgend eines Porträts, daß Sie Stanislaw Kamarinski in mir zu erkennen glauben. Denn gesprochen haben Sie ihn doch wohl nie.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Und das sollte ich Ihnen eigentlich nicht erst bestätigen müssen, obwohl es gewiß verzeihlich ist, wenn Sie über den vielen Menschen, von denen Sie beständig umdrängt werden, ein einzelnes Gesicht vergessen.«

»Das deinige vergesse ich gewiß nicht wieder,« dachte Hans Volckmar, während seine Tänzerin weiterplauderte.

»Ich habe Sie in Dresden zweimal spielen hören. Nachher durften wir nicht mehr hingehen. Die Institutsvorsteherin hatte es verboten, weil wir zu viel von Ihnen sprachen. Seitdem sind ja nun schon beinahe anderthalb Jahre vergangen, und Sie haben sich inzwischen auch ein wenig verändert. Aber ich wußte es bereits aus der Mitteilung einer ehemaligen Pensionsfreundin, daß Sie stattlicher und männlicher geworden seien.«

»Das ist ein Interesse, für das Ihnen Stanislaw Kamarinski niemals dankbar genug sein kann, mein gnädiges Fräulein.«

»Ach, Freundinnen schreiben einander ja alles mögliche,« wehrte sie etwas verlegen ab. »Und es geschah auch wohl nur, weil sie wußte, daß wir hierher nach Liebenthal gehen würden. Sie hätten übrigens keinem Menschen etwas von Ihrer Absicht verraten dürfen, wenn Ihnen so viel daran lag, unerkannt zu bleiben.«

»Heimlichkeiten soll man heimlich betreiben, das ist eine goldene Wahrheit,« stimmte Hans Volckmar, der sich durch die drollige Verwechselung von Minute zu Minute mehr belustigt fühlte, diplomatisch zu.

Fräulein Mary aber fuhr eifrig fort: »Meine Freundin, deren Namen ich Ihnen natürlich nicht preisgeben werde, schrieb mir, Sie gedächten sich auf einige Wochen nach Liebenthal zurückzuziehen, um dort in ländlicher Stille und Einsamkeit Erholung zu suchen von den Anstrengungen Ihrer letzten Konzertreise und den gesellschaftlichen Strapazen des Winters. Daß Sie sogar so weit gehen würden, Ihren berühmten Namen zu verleugnen, schrieb sie mir freilich nicht. Aber ich kann mir wohl denken, daß es für einen so gefeierten Künstler gar kein anderes Mittel gibt, sich vor der Zudringlichkeit seiner Bewunderer zu schützen. Und Sie brauchen nicht etwa zu fürchten, daß nun alles umsonst gewesen sei, weil ich Sie erkannt habe. Ich werde gewiß keinem Menschen verraten, wer hinter dem angeblichen Hans Volckmar steckt. Es macht mir das größte Vergnügen, die einzige Mitwisserin eines so interessanten Geheimnisses zu sein, und je länger die anderen irregeführt werden, desto köstlicher werde ich mich darüber amüsieren.«

So rasch hatte sie das alles hervorgesprudelt, daß es ihm beim besten Willen unmöglich gewesen wäre, sie zu unterbrechen, und nun wurde er mit Schrecken inne, daß er den rechten Augenblick für ihre Aufklärung schon versäumt habe. Er konnte sie jetzt nicht mehr über ihren Irrtum belehren, ohne sie zugleich einer peinlichen Verlegenheit auszusetzen, die sie ihm gewiß niemals verzeihen würde. Und es war zudem so wunderhübsch, ein Gegenstand naiver Bewunderung und Verehrung für dieses schöne Geschöpfchen zu sein, von dessen angeblicher Kälte er bisher wahrlich nichts zu fühlen bekommen hatte. War es denn wirklich ein so großes Verbrechen, sie noch für eine kurze Zeit bei einem Glauben zu lassen, der ihr selbst offenbar eine Quelle lebhaftesten Vergnügens war? Übermorgen schon gedachte Hans Volckmar seinen Wanderstab weiterzusetzen, denn er hatte für diesen Tag mit einem lieben Studiengenossen ein Zusammentreffen in dem nahegelegenen Schwarzhof und eine gemeinsame Fußwanderung durch das Gebirge verabredet. Das kleine Lustspiel, das sich da ganz ohne sein Zutun zu entwickeln schien, mußte also nach Verlauf von vierundzwanzig Stunden ohnehin zu Ende sein, und vielleicht würde Fräulein Mary Burnes Humor genug haben, später selbst darüber zu lachen.

So trug denn das böse Prinzip in Hans Volckmars Herzen den Sieg davon, und er tat den verhängnisvollen Schritt auf die abschüssige Bahn der Lüge, indem er sagte: »Abgemacht also, mein Fräulein, ich werde für Sie wie für alle anderen fortan nur Hans Volckmar aus M., nicht der berühmte Klaviervirtuose Stanislaw Kamarinski sein. Nur durch ein solches Versprechen können Sie mich daran hindern, sogleich wieder die Flucht zu ergreifen.«

»Abgemacht,« erwiderte sie, und ihr leuchtender Blick beseitigte auch seine letzten Skrupel.

Inzwischen waren sie wieder bei dem hölzernen Mr. Burnes angelangt, und da die beiden Rivalen schon bereit standen, um sich in wildem Wettlauf auf Fräulein Mary zu stürzen, hielt es der junge Rechtsanwalt für das beste, sich zunächst ein wenig mit dem Papa zu befreunden.

Daß Mr. Gilbert Burnes auf seine Frage, wie ihm Liebenthal gefalle, mit der Versicherung antwortete, es sei »uondervoll«, konnte ihn ja nicht gerade in Erstaunen setzen, daß er aber auch auf eine Bemerkung über die furchtbaren Überschwemmungen, die während der letzten Tage einige hochgelegene Ortschaften des Gebirges verwüstet hatten, keine andere Erwiderung hatte als sein mit unveränderlicher Leichenbittermiene vorgebrachtes »uondervoll«, mußte in Hans Volckmar doch einige sehr berechtigte Zweifel an der Möglichkeit einer ersprießlichen Verständigung mit dem Amerikaner wecken. Und er begrüßte Marys Rückkehr unter solchen Umständen mit doppelter Freude. Nie in seinem Leben hatte er sich köstlicher unterhalten als auf dieser Reunion in Liebenthal. Daß er die Freuden des Abends lediglich einer schnöden Versündigung gegen die Gebote der Wahrhaftigkeit zu danken habe, vergaß er in dem Rausch seines Entzückens zuletzt ganz und gar. Anfänglich hatte er sich wohl geflissentlich bemüht, in seinem Geplauder mit Fräulein Mary alles zu vermeiden, was sie abermals auf die Erwähnung seines Doppelgängers Stanislaw Kamarinski, den er höchst undankbarerweise übrigens bereits von ganzem Herzen haßte, hätte führen können. Später aber bedurfte es solchen Bemühens gar nicht mehr. Sie sprachen lebhaft und angeregt von allen möglichen Dingen, die mit der Musik nicht das geringste zu schaffen hatten, und die munteren Antworten wie das häufige fröhliche Lachen der jungen Amerikanerin waren Beweis genug dafür, daß auch sie sich in der Gesellschaft des vermeintlichen Virtuosen keineswegs langweilte.

Wie aber alle Freuden dieser Welt einmal ihr Ende nehmen, so war um die elfte Abendstunde auch die letzte Galoppade dieser unvergeßlichen Reunion verrauscht, und Hans Volckmar würde den dadurch bedingten Sturz aus all seinen Himmeln sehr schmerzlich empfunden haben, wenn ihm nicht Fräulein Mary kurz vor der Verabschiedung zugeflüstert hätte, daß sie mit ihrem Vater morgen nachmittag an einem Picknick in der Schweizermühle teilnehmen würde, und daß es recht hübsch wäre, wenn er auch hinkäme.

»Seien Sie ganz unbesorgt,« fügte sie schelmisch hinzu, »soweit es an mir liegt, soll keiner von allen Teilnehmern ahnen, einen wie berühmten Gast die Gesellschaft in ihrer Mitte hat.«

Das wirkte wohl für einen Moment auf den Rechtsanwalt wie ein kalter Wasserstrahl, aber er hatte sich nun schon so rettungslos in das Netz der Lüge verstrickt und zugleich so tief in Fräulein Marys blaue Augen geschaut, daß es kein Umkehren und kein Halten mehr auf der schiefen Ebene gab.

»Auf Wiedersehen also in der Schweizermühle,« sagte er halblaut, als er sich beim letzten Gutenachtgruß vor ihr verbeugte, und dann stürmte er in die laue Sommernacht hinaus mit einem Herzen voll überschwenglicher Glückseligkeit.

 

2.

War der Abend im Kursaal köstlich gewesen, so war das Picknick in der Schweizermühle einfach himmlisch. Fräulein Mary hatte zum augenfälligen Mißvergnügen verschiedener Kavaliere von hochklingenden Titeln und Namen den gänzlich unbekannten Herrn Hans Volckmar zu ihrem erklärten Ritter erhoben, und er wich kaum für die Dauer einer Minute von ihrer und ihres Vaters Seite. Mr. Gilbert Burnes zwar begnügte sich, alles, was ihm gegenüber zur Sprache gebracht wurde, einfach »uondervoll« zu finden, sogar mit Einschluß des Platzregens, der für eine halbe Stunde das Vergnügen höchst programmwidrig störte. Hans Volckmar aber war sehr geneigt, ihn trotzdem für den geistreichsten und liebenswürdigsten aller Menschen zu erklären, einen so sonnigen Abglanz warf in seinen Augen Marys holdselige Anmut und ihr bestrickender Liebreiz auf alles, was in irgend einem Zusammenhange mit ihrem zierlichen Persönchen stand.

Wovon sie im Laufe dieses Nachmittags miteinander geplaudert hatten, sie selbst wären wohl kaum im stande gewesen, es zu sagen. Auch auf das gefährliche Musikthema war die junge Amerikanerin gekommen trotz aller diplomatischen Bemühungen des Rechtsanwalts, sie von diesem für ihn so schlüpfrigen Boden fernzuhalten. Aber die Gefahr war vorübergegangen, denn Hans Volckmar hatte sich zu seiner innigen Freude ganz auf die Rolle des Zuhörers beschränken dürfen. Und er war überzeugt, niemals in kurzer Zeit so viel gelernt zu haben als in dieser Viertelstunde.

Und während der in großer Gesellschaft unter inzwischen wieder aufgehelltem, freiem Himmel abgehaltenen Abendtafel hatte er Gelegenheit, noch eine andere liebenswerte Seite ihres Gemüts kennen zu lernen. Jemand, der tags zuvor die vom Hochwasser geschädigten Ortschaften besucht hatte, entwarf eine sehr lebendige Schilderung von dem dort angerichteten Elend und von der bejammernswürdigen Lage, in der sich die ihrer Häuser und ihrer Habe beraubten Dörfler befanden. Da fehlte es denn natürlich nicht an allerlei mitleidigen Äußerungen, und einige besonders zartfühlende Seelen waren von dem Bilde der da oben herrschenden Not so sehr erschüttert, daß sie große Mühe hatten, ihre Festesstimmung durch eine gesteigerte Zufuhr von Pfirsichbowle und kaltem Geflügel wiederherzustellen. Fräulein Mary Burnes aber, obwohl kein Ausruf des Entsetzens und kein Wort des Mitgefühls von ihren Lippen gekommen war, legte Messer und Gabel still auf den Teller, und als sie auf eine Frage Hans Volckmars diesem ihr Gesicht zukehrte, sah er, daß die hellen Tränen in ihren Augen funkelten. Das also war die eiskalte Amerikanerin, der es nach der Versicherung des Herrn von Sternberg ein so besonderes Vergnügen bereitete, auf geknickten Männerherzen spazieren zu gehen! Noch in keinem Moment während der Dauer ihrer kurzen Bekanntschaft hatte er sie so hinreißend schön gefunden als mit diesem Ausdruck tiefen Ernstes in den feinen Zügen und mit diesen in feuchtem Glanze schwimmenden Augen.

Während des ganzen Abendessens blieb sie im Gegensatz zu ihrer vorigen Munterkeit nachdenklich und schweigsam, obwohl ringsumher die Wogen der Fröhlichkeit längst wieder sehr hoch gingen. Mannigfache Äußerungen der Betrübnis wurden erst wieder laut, als der Vergnügungsmarschall verkündete, daß es Zeit sei, sich für die Heimfahrt zu rüsten, die auf großen, laubgeschmückten Leiterwagen angetreten werden sollte. Für Hans Volckmar und Mary blieb kaum noch eine Gelegenheit, unter vier Augen miteinander zu reden. Junge Herzen aber, zwischen denen Gott Amor seine unsichtbaren Fäden zu spinnen begonnen hat, sind merkwürdig erfinderisch in der Kunst, solche Gelegenheiten auch da zu schaffen, wo kein anderer Sterblicher sie ausfindig gemacht haben würde. Und so geschah es, daß sie ohne alle vorhergegangene Verabredung plötzlich weit abseits von dem lauten Schwarme beieinander standen, beide erfüllt von der Gewißheit, daß dies einer der bedeutsamsten Augenblicke ihres Lebens sei, und doch beide so stumm und verlegen, als wüßten sie sich auch nicht das kleinste interessante Wörtchen zu sagen.

Mary war es, die das Schweigen brach, und Hans Volckmar fühlte sich seltsam ergriffen von dem weichen, kindlich zaghaften Klang ihrer Stimme, als sie zaudernd und stockend sagte:

»Ich bin traurig über das, was wir da vorhin gehört haben. Wie kläglich ist es doch um die vielgerühmte Nächstenliebe bestellt, daß die große Gesamtheit der Reichen und Glücklichen nicht einmal das Mittel findet, solchem herzzerreißenden Elend auf der Stelle wirksam zu begegnen! Ich glaube, in dieser ganzen Tafelrunde, die sich durch die Schilderung des schrecklichsten Jammers nicht einen Augenblick den Appetit verderben ließ, befand sich kein einziger, dem man ein wirklich großes und erhabenes Opfer im Dienste der Nächstenliebe zumuten dürfte.«

»Ich weiß nicht, Fräulein Burnes, ob dieses harte Urteil gerecht ist, aber ich hoffe, daß es nicht für alle ohne Ausnahme Geltung haben soll.«

»O, ich möchte von ganzem Herzen wünschen, daß ich eine Ausnahme machen dürfte« – und noch leiser, noch beklommener fügte sie hinzu: »eine Ausnahme zu Ihren Gunsten.«

»Tun Sie es immerhin,« rief Hans Volckmar mit Wärme. »Ich gehöre leider nicht zu den Glücklichen, die mit vollen Händen geben können, um die Not ihres Nächsten zu lindern. Vor einem Opfer aber, das zu bringen meine Verhältnisse und meine Kräfte mir gestatten, würde ich gewiß nicht zurückschrecken. Ich wollte, daß ich etwas recht Schönes und Großes vollbringen könnte, mir Ihre gute Meinung zu verdienen.«

Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie, ohne ihn anzusehen: »Vielleicht können Sie es. Aber Sie sollten sich's doch noch überlegen, ehe Sie mir etwas versprechen. Würden Sie doch möglicherweise auf die Erfüllung eines Wunsches verzichten müssen, der Ihnen augenblicklich sehr am Herzen liegt.«

Daß sie immer mit Stanislaw Kamarinski zu sprechen meinte, hatte Hans Volckmar längst vergessen. So vollständig hatte sie sich daran gewöhnt, ihn immer nur mit seinem wirklichen Namen zu nennen, daß er zuletzt des Irrtums, der seines Glückes Urheber war, gar nicht mehr gedachte. Und in der Erregung dieses Augenblicks vollends, wo alles in ihm glühte und stürmte und jubelte, wie hätte er sich da an diesen verwünschten Klaviervirtuosen erinnern sollen?

»Fordern Sie von mir, was Sie wollen, Fräulein Burnes. Es gibt keinen Wunsch, auf den ich nicht unbedenklich Verzicht leistete – ausgenommen den einzigen Wunsch, mich Ihrer Freundschaft und Ihres Vertrauens würdig zu erweisen.«

»Sie würden mir also nicht böse sein, wenn ich mir erlaubte, auf diese Erklärung hin über Sie zu verfügen – ganz eigenmächtig und nach meinem Belieben, wie wenn ich zu allem von vornherein Ihre ausdrückliche Zustimmung hätte?«

»Unbedingt! Aber möchten Sie mir nicht sagen, worin die Probe bestehen soll, der Sie mich zu unterwerfen gedenken?«

»Nein, das kann ich noch nicht. Es ist nur erst eine Idee, von der ich nicht einmal weiß, ob sie sich überhaupt ausführen lassen wird. Und vor morgen kann ich Ihnen keinesfalls Näheres darüber sagen.«

»Aber ich werde morgen nicht in Liebenthal sein, Fräulein Burnes. Eine Verabredung, die sich nicht mehr rückgängig machen läßt, ruft mich nach Schwarzhof.«

Sie blickte auf, und er las in ihrem Gesicht, wie sehr sie erschrocken war.

»Sie wollen fort? Ich habe Sie also doch vertrieben?«

Er hätte ihr ja nun eigentlich sagen müssen, daß es sich da um eine längst getroffene Übereinkunft handle, und daß sein Aufenthalt in Liebenthal von vornherein nur auf einige Tage berechnet gewesen sei. Aber die Vorstellung, daß er sich dann für immer von ihr verabschieden und ihr zugleich das Geständnis jener Schuld ablegen müsse, die sie ihm nimmermehr verzeihen konnte, warf alle seine Zukunftspläne über den Haufen. Nach Schwarzhof mußte er freilich, daran ließ sich nichts mehr ändern. Aber die beabsichtigte Fußwanderung durch das Gebirge konnte recht wohl von dem Programm gestrichen werden. Der Amtsrichter Hertling war ja ein so lieber und verständiger Mensch. Er würde ihn gewiß gern von seinem Versprechen entbinden, wenn er erfuhr, was seinen Freund so unwiderstehlich nach Liebenthal zurückzog. So glaubte sich Hans Volckmar zu der Erklärung berechtigt, daß er schon am Abend des nächsten Tages wieder zurück sein würde, und daß Fräulein Mary sich nicht mit Vorwürfen zu beunruhigen brauche, weil da von einer Flucht eben ganz und gar keine Rede sei.

»Und Sie werden ganz gewiß wiederkommen? Sie versprechen es mir fest und feierlich?«

»Gewiß, ich verspreche es Ihnen. Und ich soll wirklich nicht erfahren, was Sie mit mir vorhaben?«

»Nein, jetzt erst recht nicht,« sagte sie kopfschüttelnd und mit einem schelmischen Lächeln. »Sie haben sich mir auf Gnade oder Ungnade überliefert, und Sie müssen Ihr Schicksal jetzt über sich ergehen lassen, wie hart es auch sein mag.«

Er hatte eine bedeutsame Antwort auf den Lippen, aber da tauchte plötzlich neben ihnen die unwillkommene Gestalt des Herrn von Sternberg auf, der mit etwas boshafter Betonung erklärte, man würde genötigt sein, ohne die Herrschaften abzufahren, wenn sie noch länger auf sich warten ließen. In der Gesellschaft dieses Menschen war natürlich an eine Fortsetzung des vorigen Gespräches nicht mehr zu denken, und auch während der Heimfahrt inmitten eines Schwarmes ausgelassener, lärmender Menschen bot sich ihnen keine Gelegenheit dazu.

Erst als Mary dem Rechtsanwalt zur Verabschiedung die Hand reichte, fand sie eine Möglichkeit, ihm zuzuflüstern: »Sie bereuen Ihre Zusage also nicht, und Sie versprechen noch einmal, mir nicht böse zu sein, was auch immer ich auf diese Zusage hin unternehme?«

»Ja, ich verspreche es, Fräulein Mary,« vermochte er nur eben noch hastig zu erwidern. Dann fühlte er einen so warmen und kräftigen Druck der kleinen, weichen Hand, die in der seinigen ruhte, daß er meinte, plötzlich alle sieben Himmel Mohammeds vor sich aufgehen zu sehen, und daß er auf dem Wege nach seinem Quartier allerlei schimmernde Luftschlösser von schwindelnder Höhe baute.

 

3.

Ob der Rauenthaler im »Weißen Rosse« zu Schwarzhof vielleicht doch nicht ganz unverfälscht gewesen war, oder ob Hans Volckmar besser getan hätte, der Versuchung der vierten Flasche mannhaft zu widerstehen – genug, als er um die zehnte Morgenstunde aus schwerem, unruhigem Schlummer emporfuhr, hatte er nur noch eine sehr unbestimmte Vorstellung von der Art, wie er nach Liebenthal zurückgekommen war, und er würde den fidelen Abend mit all den zahlreichen, insgeheim stets auf Fräulein Marys Wohl geleerten Gläsern vielleicht für einen Traum gehalten haben, wenn nicht ein dumpfer Druck in den Schläfen und ein abscheuliches Schädelweh nur zu beredt für die Wirklichkeit des Erlebten gezeugt hätten. Draußen plätscherte der Regen eintönig gegen die Fenster, die bewaldeten Bergkuppen waren im Nebel verschwunden, und die ganze Welt schien in ein trübseliges, graues Bußgewand eingehüllt.

Erst als zum zweitenmal an die Tür seines Zimmers geklopft wurde, entschloß sich Hans Volckmar, »Herein!« zu rufen.

Der Kellner steckte den Kopf durch die Spalte und sagte: »Der Herr Kapellmeister kommt nun schon zum drittenmal. Er bittet dringend, wenigstens auf einige Minuten empfangen zu werden.«

Hans Volckmar setzte sich im Bette auf und starrte den Jüngling verständnislos an.

»Der Kapellmeister? Was für ein Kapellmeister? Und was kann der Mann von mir wollen?«

»Es ist Herr Steingräber, der Dirigent der Badekapelle, und ich glaube, er kommt in derselben Angelegenheit, in der vorhin schon der Herr Bürgermeister und der Kurdirektor hier waren. Die Herren bedauerten sehr, daß Sie noch nicht zu sprechen seien, und haben mich beauftragt, mit ihren schönsten Empfehlungen diese Karten zu übergeben.«

Der Rechtsanwalt griff sich an die schmerzende Stirn. »Der Bürgermeister? Der Kurdirektor? Ja, soviel ich weiß, habe ich doch gar nicht das Vergnügen, diese hochgestellten Persönlichkeiten zu kennen. Wahrscheinlich befinden Sie sich in einem Irrtum, lieber Freund, und der Besuch war irgend einem anderen Hotelgaste zugedacht.«

»Nein, durchaus nicht, die Herren fragten ausdrücklich nach Herrn Volckmar aus M., und sie hinterließen, daß sie sich erlauben würden, um zwölf Uhr wiederzukommen.«

»Na, meinetwegen also. Dann werde ich ja erfahren, was sie von mir wünschen,« seufzte der Rechtsanwalt, indem er Miene machte, sein gepeinigtes Haupt wieder in die Kissen zu vergraben. Der Quälgeist an der Tür aber ließ es nicht zu, indem er zu wissen begehrte, mit welcher Begründung er den Kapellmeister, der nun schon zum drittenmal da sei, fortschicken solle.

»Potzwetter, so lassen Sie ihn hereinkommen, wenn es denn schon ganz unmöglich ist, einem harmlosen Vergnügungsreisenden seine Ruhe zu gönnen,« rief Hans Volckmar wütend. Und sicherlich war der Herr Kapellmeister niemals mit einer minder ermutigenden Miene empfangen worden, als es ihm hier geschah. Er blieb denn auch, nachdem er sich zweimal sehr ehrerbietig verbeugt hatte, verlegen in der Tür stehen und beeilte sich, seine Unbescheidenheit zu entschuldigen.

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung, verehrter Meister. Wenn die Zeit, die uns für die Proben noch zur Verfügung steht, nicht gar so kurz wäre, würde ich mir gewiß nicht erlaubt haben, Sie in Ihrer Morgenruhe zu stören.«

»Das wäre in der Tat um so weniger nötig gewesen, als Sie sich offenbar in Bezug auf meine Person in irgend einem Irrtum befinden. Ich habe so wenig einen Anspruch auf den ehrenvollen Titel, den Sie mir da zu verleihen die Güte haben, als ich auch nur dunkel ahne, was für Proben Sie meinen.«

Der Kapellmeister lächelte. »Ich nahm an, daß Sie das eine oder das andere Stück mit Orchesterbegleitung zu spielen wünschen und deshalb –«

Hans Volckmar hatte sich in den Arm gekniffen, um ganz sicher zu sein, daß er wach sei. Und da er an dieser Tatsache füglich nicht mehr zweifeln konnte, rief er dem Erstaunten halb ärgerlich und halb belustigt zu: »Mit Orchesterbegleitung? Ja, um des Himmels willen, Herr, für was sehen Sie mich denn eigentlich an?«

»Entschuldigen Sie, Maestro, wenn ich etwas Ungeschicktes gesagt habe. Aber da die Programme doch gedruckt werden müssen – – es wäre ja gewiß besser gewesen, das Konzert noch um einen oder mehrere Tage zu verschieben; aber Fräulein Burnes bestand darauf, daß es schon auf heute angesetzt werde, damit das Erträgnis den Überschwemmten möglichst rasch zu gute käme. Und da doch nun einmal sämtliche Billets bereits vergriffen sind – –«

Er hielt erschrocken inne, denn ein dumpfes Stöhnen war von dem Bette her an sein Ohr gedrungen, und er sah, wie der vermeintliche Stanislaw Kamarinski sein Gesicht gleich einem Verzweifelten mit beiden Händen verhüllte. Schrecklich hatte es ja mit einem Male in Hans Volckmars bis dahin noch immer etwas weinumnebeltem Geiste getagt. In entsetzlicher Klarheit hatte er den Zusammenhang der Dinge erkannt. Nun wußte er, worin Fräulein Marys geheimnisvolles Vorhaben bestanden, und in seiner ganzen Furchtbarkeit übersah er das Verhängnis, das er freventlich selbst über sich heraufbeschworen hatte.

»Mein Gott, teuerster Meister, was ist Ihnen?« fragte der Kapellmeister erschrocken. »Sie sind doch nicht krank?«

»Ja, krank – sehr krank,« stöhnte der unglückliche Rechtsanwalt. »Alle Billets sind vergriffen – sagen Sie? Und die Leute erwarten, Stanislaw Kamarinski zu hören?«

»Wir würden nicht ein Dutzend Eintrittskarten verkauft haben, wenn wir nicht Ihren berühmten Namen mit riesengroßen Lettern hätten auf die Plakate setzen können. Es wäre hart für die armen Überschwemmten, falls Ihr Unwohlsein Sie etwa verhindern sollte, zu spielen. Alle Eintrittsgelder müßten zurückgezahlt werden.«

In Hans Volckmars Herzen war nur noch Raum für einen einzigen Wunsch – für den Wunsch nämlich, daß das Haus über ihm einstürzen, oder daß die Erde sich unter ihm auftun möge, um ihn zu verschlingen. Aber da er sich sagen mußte, daß die Erfüllung dieses Wunsches zu den unwahrscheinlicheren Dingen gehörte, raffte er sich zu der Erkenntnis auf, daß hier ungesäumt etwas geschehen müsse. Vor allem mußte er Mary sprechen. Sie zuerst hatte ein Recht darauf, seine Beichte zu empfangen, und sie allein durfte sein Urteil sprechen. Demütig wollte er auf sich nehmen, was sie über ihn verhängte, und um welchen Preis es auch immer geschah, jedenfalls mußte alles vermieden werden, was sie auch nur im mindesten bloßstellen konnte. Darum glaubte er sich nicht berechtigt, den Kapellmeister durch eine Mitteilung der Wahrheit aus seinem Irrtum zu reißen. Um sich seiner so schnell wie möglich zu entledigen, sagte er nur: »Ob das Konzert zu stande kommen wird oder nicht, vermag ich Ihnen in diesem Augenblick noch nicht anzugeben. Aber ich verspreche Ihnen, daß Sie in einer Stunde Nachricht erhalten sollen. Jedenfalls müssen bis dahin alle weiteren Vorbereitungen eingestellt werden.«

Mit dem Ausdruck seines lebhaften Bedauerns über die Unpäßlichkeit des verehrten Meisters und mit den besten Wünschen für seine baldige Wiederherstellung hatte sich der Kapellmeister empfohlen. Hans Volckmar aber war kaum jemals schneller mit seiner Toilette fertig geworden als an diesem Morgen. Seine Kopfschmerzen waren merkwürdigerweise ganz verschwunden, aber an die Stelle des physischen Katzenjammers war ein moralischer getreten, wie er ihn schauerlicher niemals kennen gelernt. Er kam sich vor wie ein Verbrecher und wagte, als er über die Straße ging, keinem Menschen in das Gesicht zu sehen. So jäh und so kläglich war das Gebäude seines Glückes zusammengebrochen, daß es ihm unmöglich schien, er könne sich von den Folgen dieser Katastrophe jemals wieder erholen, und daß ihn der graue Regentag so recht ein Bild seiner grauen Zukunft dünkte.

Wie es ihm die gute Sitte zur Pflicht machte, ließ er sich nicht bei Fräulein Mary, sondern bei ihrem Vater melden, sie aber war es, die ihn empfing, ein halb verlegenes, halb schalkhaftes Lächeln auf dem frischen, rosigen Gesichtchen. Sie kam ihm lebhaft um ein paar Schritte entgegen, aber als er den gesenkten Kopf erhob, blieb sie betroffen stehen.

»Um Gottes willen, was ist Ihnen?« rief sie erschrocken. »Ist Ihnen etwas Schlimmes widerfahren, oder sind Sie mir so böse? Ich habe die ganze Nacht kein Auge geschlossen aus Furcht, Sie würden mir meine eigenmächtige Handlungsweise vielleicht doch nicht verzeihen.«

Mit einer flehenden Gebärde erhob er abwehrend beide Hände. »Wenn Sie nur ein klein wenig Mitleid für einen Unglücklichen empfinden, Fräulein Burnes, so hören Sie mich geduldig an. Nicht ich bin es, der hier zu verzeihen hat, sondern das Recht, zu verdammen oder Gnade zu üben, liegt einzig bei Ihnen. Ich habe Sie belogen – gräßlich, schändlich, nichtswürdig belogen, indem ich Sie in dem Glauben ließ, daß ich Stanislaw Kamarinski sei.«

Sie wich ein wenig zurück und starrte ihn mit großen Augen an. »Wie? Und Sie wären es nicht?«

»Nein, ich bin weder eine Berühmtheit noch überhaupt ein Musikant. Ich bin, als was ich Ihnen vorgestellt wurde, der Rechtsanwalt Hans Volckmar aus M.«

Eine heiße Blutwelle flutete über ihr Gesicht, dann aber wurde sie sehr bleich. »Ah, das war abscheulich,« sagte sie, von der unerwarteten Enthüllung offenbar ganz überwältigt, mit gepreßter Stimme, »und ich hatte so großes Vertrauen zu Ihnen! Sie haben keine Ursache, mein Herr, auf diese Heldentat stolz zu sein.«

»Ach, wenn Sie wüßten, mein Fräulein, wie weit ich in diesem Augenblick von jeder Empfindung des Stolzes entfernt bin! Ich begreife wohl, daß Sie mir niemals vergeben können, und würde nicht wagen, Ihnen noch länger durch meine Gegenwart lästig zu fallen, wenn es sich nicht darum handelte, einen Ausweg aus dieser verzweifelten Situation zu finden – einen Ausweg, der alle Widerwärtigkeiten und Beschämungen ganz allein auf mich fallen läßt.«

»Das Konzert ist angekündigt, und die Eintrittskarten sind verkauft – es muß also stattfinden.«

»Gewiß, doch nicht unter meiner Mitwirkung, denn ich zweifle, daß ich, der ich nie in meinem Leben eine Taste angerührt habe, es bis heute abend zu der nötigen Fertigkeit bringen könnte.«

Sie errötete wieder. »Wenn Sie glauben, sich obendrein über mich lustig machen zu dürfen, mein Herr, so haben wir wohl nichts weiter miteinander zu reden. Ich stelle es in Ihr Belieben, was Sie tun oder lassen wollen. Ich für meine Person weiß ja nun zur Genüge, woran ich bin, und wie ich mich zu verhalten habe.«

Hans Volckmar konnte ihr zu seiner Verzweiflung nicht mehr klar machen, daß seine letzten Worte nichts weniger als spöttisch gemeint waren; denn jetzt öffnete sich die Tür, und die hagere Gestalt des hölzernen Mr. Burnes erschien auf der Schwelle. Während er mit gewohnter Feierlichkeit auf den Besucher zuschritt, schlüpfte Mary hinaus, unbekümmert um den flehenden Blick, mit dem Hans Volckmar sie zurückzuhalten suchte. In seiner Ratlosigkeit und Zerknirschung behielt er die gewaltige Rechte des Mr. Gilbert Burnes wie einen Rettungsanker in seinen beiden Händen und suchte aus allen Winkeln seines Gedächtnisses zusammen, was von den englischen Lektionen seiner Knabenzeit noch darin zurückgeblieben war, um auch dem alten Herrn ein reumütiges Bekenntnis seiner Schuld abzulegen und ihn himmelhoch um ein Wort freundlicher Fürsprache bei seiner Tochter zu bitten. Mr. Gilbert Burne verzog keine Miene, aber als Volckmar seine lange Rede geendet hatte, sagte er:

»Ich uerde sein serr erfreut, Sie zu hören. Ich liebe serr viel das Piano.«

Da ließ Hans Volckmar hoffnungslos die so lange festgehaltene Hand fahren und griff nach seinem Hute. Hier gab es für ihn nichts mehr zu hoffen. Nun galt es, den dornenvollen Weg bis ans Ende zu gehen. Er sah an einer Straßenecke das große Plakat mit der Ankündigung des Wohltätigkeitskonzerts unter Mitwirkung des Pianisten Stanislaw Kamarinski, und er las darunter die Namen des Bürgermeisters und des Kurdirektors, die im Verein mit einigen vornehmen Herren der Badegesellschaft das veranstaltende Komitee bildeten. Darum also hatten diese beiden Würdenträger ihm in der Frühe des heutigen Tages ihren Besuch machen wollen. Sie waren ohne Zweifel gekommen, sich bei ihm für seine menschenfreundliche Absicht zu bedanken, und jetzt war er genötigt, als ein Missetäter vor sie hinzutreten, der froh sein mußte, wenn man sich damit begnügte, ihn einfach hinauszuwerfen.

Er begab sich in die Wohnung des Bürgermeisters, aber er traf diesen ebensowenig an als den Kurdirektor, und nachdem er fast eine Stunde lang ohne jeden Erfolg in dem strömenden Regen herumgelaufen war, lenkte er endlich die Schritte wieder nach seinem Hotel in der Hoffnung, daß die Herren ihre Absicht ausführen und ihren Besuch wiederholen würden.

»Es ist ein Herr oben, der Sie in dringender Angelegenheit zu sprechen wünschte und durchaus Ihre Rückkehr abwarten wollte,« sagte ihm der Pförtner. Und Hans Volckmar, der nach dem verheißungsvollen Anfang dieses Tages nicht den allergeringsten Zweifel hegte, daß es sich hier nur um irgend ein neues Unglück handeln könne, stieg, auf das äußerste gefaßt, die Treppe empor.

Erstaunt prallte er um einen Schritt zurück, als er die Tür seines Zimmers geöffnet und einen Blick auf den Besucher geworfen hatte, der da drinnen, den Hut auf dem Kopfe, mit langen Schritten auf- und niederging. Dieser geckenhaft elegant gekleidete Herr mit dem weichen dunklen Schnurrbärtchen, den braunen Augen und der lang herabwallenden Künstlermähne, der ihm, wenn auch nicht gerade zum Verwechseln, so doch immerhin auffallend ähnlich sah, konnte ja unmöglich ein anderer sein als der Urheber all seines Mißgeschicks – als Stanislaw Kamarinski. Er hatte den Mann noch soeben in seinem Herzen zu allen Teufeln gewünscht, jetzt aber sah er in ihm die vom Himmel gesandte Erlösung aus allem Übel.

»Täusche ich mich nicht?« rief er. »Habe ich die Ehre, den berühmten Herrn Kamarinski vor mir zu sehen?«

Mit einer Gebärde voll unnachahmlicher Majestät schob der andere die Hand zwischen den zweiten und dritten Knopf seines strohgelben Sommerüberziehers und sagte, sich zu seiner ganzen Größe aufrichtend, mit stark ausgeprägtem slawischen Accent: »Man nennt mich so, mein Herr. Und Sie sind also der Doppelgänger, der sich anmaßen wollte, hier unter meinem Namen aufzutreten?«

»Aber ich habe niemals auch nur im Traume daran gedacht, mein verehrter Herr Kamarinski. Ein Kind von acht Tagen kann ja nicht unmusikalischer sein als ich. Alles beruht nur auf einem abscheulichen Mißverständnis.«

»Eh!« machte der Virtuose, »solche Flausen kennen wir. Wissen Sie auch, daß ich Sie bei dem Staatsanwalt belangen kann, mein Herr? Ich werde Sie auf Entschädigung verklagen für den Mißbrauch meines Namens.«

»Tun Sie es in Gottes Namen – nur lassen Sie sich gefälligst erst den Zusammenhang erklären. Ich begreife vollkommen, daß niemand besseren Anspruch aus diese Erklärung hat als Sie.«

Stanislaw Kamarinski machte ein Gesicht, wie wenn er andeuten wollte, daß er ihm doch kein Sterbenswörtchen glauben würde. Hans Volckmar aber kümmerte sich nicht darum, sondern erzählte ihm der Wahrheit gemäß alles von dem Augenblick an, da Herr v. Sternberg ihm im Kursaale Fräulein Mary Burnes vorgestellt hatte, bis zu seinem leichtfertigen Versprechen in der Schweizermühle und zu den schrecklichen Ereignissen des heutigen Morgens.

»Ich hatte, wie Sie aus allem ersehen werden, niemals den Ehrgeiz, mich im Glanze eines erborgten Künstlerruhmes zu sonnen,« schloß er seinen Bericht. »So unüberlegt und töricht meine Handlungsweise auch gewesen sein mag, jedenfalls war es nur ein Scherz, dessen verhängnisvolle Folgen ich unmöglich voraussehen konnte. Und da der Himmel Sie gerade noch zur rechten Zeit hierhergeführt hat, Herr Kamarinski, ist es ja nun in Ihre Hand gegeben, diese unglücklichen Folgen abzuwenden.«

»Ich? O, mein Herr, wie sollte ich dazu kommen?« versetzte der Virtuose. »Ich bin im höchsten Grade indigniert. Ich lange ahnungslos hier an, um mich einige Zeit von den Anstrengungen meiner letzten Konzertreise zu erholen, und das erste, was mir ins Auge fällt, ist ein Anschlagzettel, der ein Wohltätigkeitskonzert unter meiner Mitwirkung ankündigt. In der Tat – eine hübsche Überraschung! Und Sie sind so – naiv und glauben, ich werde spielen? Im Gegenteil, ich werde Sie wegen Mißbrauchs meines Namens verklagen.«

Volckmar war in großer Versuchung, wütend zu werden, aber er besann sich noch zur rechten Zeit, daß er es mit diesem Virtuosen nicht verderben dürfe.

»Nehmen Sie Vernunft an und seien Sie nicht hart mit mir ohnehin genug Bestraften,« bat er. »Ich bin bereit, Ihnen jede Genugtuung zu geben, nach der Sie Verlangen tragen. Jetzt aber handelt es sich um das Zustandekommen des Konzerts, dessen Erträgnis dazu bestimmt ist, das Elend der armen Überschwemmten zu mildern. Ich appelliere an Ihre Großmut und Ihre Menschlichkeit im Namen jener Unglücklichen, denen Fräulein Burnes so hochherzig beizugestehen gedachte. Wenn Sie heute abend spielen, ist alles wieder im rechten Geleise. Besonders Fräulein Burnes, die Sie hoch verehrt, wird es Ihnen danken.«

»Aber ich spiele niemals ohne Honorar – es ist gegen meine Grundsätze.«

»Wäre dies das einzige Hindernis, so würde ich es selbstverständlich als meine Pflicht ansehen, Ihnen aus meinen eigenen Mitteln eine angemessene Entschädigung zu zahlen. Darf ich mir die Frage erlauben, welches Ihre Ansprüche sind?«

»Mein Impresario zahlt mir für jedes Auftreten tausend Mark.«

Hans Volckmar starrte den glücklichen Künstler an wie ein nie gesehenes Wunder.

»Tausend Mark!« wiederholte er. »Ja, mein verehrter Herr, das geht allerdings über meine Kräfte. Wenn Sie es nicht billiger tun können, bleibt mir nichts anderes übrig, als das Verhängnis seinen Lauf nehmen zu lassen.«

»O, Sie haben mich mißverstanden, Sie haben mich unterbrochen, ehe ich zu Ende war. Mein Impresario zahlt mir für jedes Auftreten tausend Mark, aber weil es doch zu einem wohltätigen Zweck ist, und weil ich der jungen Amerikanerin, von der Sie sprachen, gern gefällig sein möchte, will ich mich mit der Hälfte begnügen, obwohl es eigentlich ganz und gar gegen meine Grundsätze ist.«

»Sie sind ein edler Menschenfreund, Herr Kamarinski!« sagte Volckmar nicht ohne Ironie. »Für fünfhundert Mark also würden Sie heute abend spielen?«

»Es ist ein großes Opfer – das sehen Sie hoffentlich ein. Aber mein Gemüt ist stärker als meine Grundsätze.«

»Ich verstehe, ich verstehe! Und das Honorar ist natürlich auf der Stelle zahlbar – nicht wahr?«

»Mein Impresario entrichtet es immer im voraus, das ist nun einmal mein – –«

»Ihr Grundsatz, selbstverständlich, ich habe es gar nicht anders erwartet. Wir wären also einig. Hier, mein teuerster Meister, sind Ihre fünfhundert Mark. Der Himmel segne sie Ihnen!«

Er hatte von den sechs blauen Kassenscheinen, die dazu bestimmt gewesen waren, ihm ein paar fröhliche Ferienwochen zu verschaffen, fünf abgezählt und sie vor Stanislaw Kamarinski auf den Tisch gelegt. Der Virtuose überzeugte sich sorgsam von der Richtigkeit des Betrages und steckte die Banknoten dann nachlässig wie wertlose Papierschnitzel in die Tasche.

»Ich werde also darauf verzichten, Sie wegen des Mißbrauches, den Sie mit meinem Namen getrieben, zur Rechenschaft zu ziehen,« sagte er voll Herablassung, indem er sich zum Gehen wandte. »Aber ich setze natürlich voraus, daß Sie Ihren weiteren Aufenthalt in Liebenthal möglichst abkürzen.«

»Seien Sie unbesorgt, edler Maestro, ich reise noch heute.«

Stanislaw Kamarinski antwortete nur durch eine Gebärde voll erhabener Größe und zog nach einem leichten Neigen des dunkellockigen Hauptes die Tür hinter sich zu.

Hans Volckmar aber murmelte etwas hinter ihm drein, das keineswegs wie ein Ausdruck ehrerbietiger Bewunderung klang. Dann setzte er sich an den Schreibtisch und teilte Fräulein Burnes unter der Adresse ihres Vaters mit, daß der heute zufällig in Liebenthal eingetroffene wirkliche Stanislaw Kamarinski sich bereit erklärt habe, die ohne sein Zutun erfolgte Ankündigung zur Wahrheit zu machen und in dem Wohltätigkeitskonzert zu spielen. Er fügte kein Wort zu seiner Rechtfertigung oder Entschuldigung hinzu, denn nach der Behandlung, die Fräulein Burnes ihm hatte angedeihen lassen, erkannte er, daß seine schimmernden Luftschlösser doch keine Aussicht auf Verwirklichung hatten. Die kleine Episode, die fortan in seiner Erinnerung den Namen Mary Burnes tragen würde, lag ein- für allemal abgetan und beendet hinter ihm. Die Wunde aber, die sie in seinem Herzen zurückgelassen, würde – das fühlte er mit schmerzlicher Gewißheit – einer langen Zeit zu ihrer Heilung bedürfen. Noch viel trübseliger und trostloser als der graue Regentag da draußen war die Stimmung, in der er sich, nachdem er das Briefchen abgesandt, anschickte, seinen Koffer für die Heimreise zu packen.

 

4.

Der nächste Zug, den Volckmar benutzen konnte, passierte Liebenthal erst kurz vor Mitternacht. Anfänglich zwar war er entschlossen gewesen, die Straßen dieses unglückseligen Ortes vor seinem Aufbruch zum Bahnhof nicht mehr zu betreten, aber nachdem er die freiwillige Gefangenschaft ein paar Stunden lang ertragen, duldete es ihn doch nicht mehr in der Enge des ungastlichen Hotelzimmers und in der unerfreulichen Gesellschaft seiner üblen Gedanken. Das Wetter hatte sich am Nachmittag aufgehellt, und dem regnerischen Tage folgte ein wunderschöner Abend. Bei seinem ziellosen Umherschlendern gelangte der Rechtsanwalt auch in die Nähe des Kurhauses, und überall, wohin er blickte, leuchteten ihm hier die großen roten Plakate mit der Ankündigung des Wohltätigkeitskonzertes entgegen. Da regte es sich trotzig in seinem Herzen, und er sagte sich, daß eigentlich niemand ein besseres Recht darauf habe, diesem Konzert beizuwohnen als er, der diesen Anspruch so teuer erkauft hatte, und er ging schnurstracks an die Kasse, um eine Eintrittskarte zu fordern. Aber es war alles bis auf das letzte Winkelchen besetzt, und er mußte sich mit einem Stehplatz im tiefsten Hintergrunde des Saales begnügen. Er war es zufrieden, denn es kam ihm ja durchaus nicht darauf an, bemerkt zu werden, und er zog sich sogar noch weiter, als es unbedingt notwendig gewesen wäre, in den bergenden Schutz eines dicken Pfeilers zurück.

Die ersten, von allerlei mehr oder weniger begabten Dilettanten aus geführten Nummern des Programms interessierten ihn sehr wenig. Er war weder musikverständig genug, noch in der rechten Stimmung, sie nach Verdienst zu würdigen. Desto aufmerksamer aber ließ er seine Augen im Saale umherwandern, denn wenn er sich's selbst auch nicht eingestanden hätte, die Hoffnung, Mary wenigstens aus der Ferne noch einmal zu sehen, hatte an seinem plötzlichen Entschluß einen viel größeren Anteil gehabt als der Wunsch, Stanislaw Kamarinski zu hören. Und nach einigem Suchen entdeckte er sie wirklich. Sie saß neben ihrem Vater in der allerersten Reihe, und wenn sie ihm auch den Rücken zukehrte, so daß er nur hier und da bei einer zufälligen Wendung ihres Köpfchens ein wenig von dem lieben Gesicht erspähen konnte, so meinte er doch wahrzunehmen, daß sie viel bleicher war als sonst.

Nun, nach einer ungebührlich langen Pause, während deren erwartungsvolles Geflüster den Saal durchschwirrt hatte, war endlich der große Augenblick gekommen, da Stanislaw Kamarinski auf der Bühne erschien. Von stürmischem Beifall begrüßt, neigte er in gnädiger Herablassung ein wenig den Kopf, um dann mit einer unnachahmlich genialen Bewegung die lange Mähne zurückzuwerfen und vor dem Flügel Platz zu nehmen. Hans Volckmar, der allerdings ein nicht ganz unparteiischer Beurteiler war, fand, daß der berühmte Virtuose ganz unausstehlich läppische und affektierte Manieren hatte. Aber als Kamarinski nun zu spielen begann, vergaß der Rechtsanwalt gleich dem übrigen Publikum alle diese Lächerlichkeiten über dem großen und erlesenen Genuß, den seine Kunst bereitete. Der Pianist verdiente in der Tat den großen Ruf, dessen sein Name sich erfreute, und er verdiente wohl auch die Verehrung, die Fräulein Mary ihm achtzehn Monate lang hindurch so treu und beharrlich bewahrt hatte.

Als der letzte Ton verklungen war, befand sich auch Hans Volckmar unter den Applaudierenden. Er hatte für den Moment all seinen Groll gegen den Mann mit den praktischen Grundsätzen vergessen und fühlte sich aus seiner Kunstbegeisterung erst wieder in die nüchterne Wirklichkeit hinab gestürzt, als er wahrnahm, wie eine Dame aus dem Publikum auf den Virtuosen zutrat, um ihm einen großen Lorbeerkranz mit mächtigen blaßroten Schleifen zu überreichen. Gewiß würde er Stanislaw Kamarinski auch diese Huldigung neidlos gegönnt haben, wenn nur die junge Dame nicht gerade Fräulein Mary Burnes gewesen wäre, und wenn nicht seine scharfen Augen auf den Bändern des Kranzes trotz der beträchtlichen Entfernung deutlich die in großen Goldbuchstaben aufgedruckte Inschrift »Dem edlen Menschenfreunde« gelesen hätten.

Das war zu viel selbst für sein geduldiges Gemüt. Er lachte so laut und höhnisch auf, daß sich ein wahres Kreuzfeuer zorniger Blicke über ihn ergoß, und bahnte sich rücksichtslos einen Weg zur Ausgangstür. Die Flammen der Eifersucht loderten so wild in seiner Brust, daß er fühlte, er müsse sie auf irgend eine Weise ersticken, wenn sie ihn nicht verzehren sollten. Er trat also in den nebenan belegenen Restaurationssaal ein und bestellte, nachdem er sich ein Tischchen in der verstecktesten Nische ausgesucht, außer einem bescheidenen Imbiß eine Flasche Moselwein. Nachdem er seine Hotelrechnung beglichen, war seine Barschaft bis auf einen winzigen Rest zusammengeschmolzen; mochte denn auch dieser noch draufgehen. Wenn er morgen wieder in seinem bescheidenen Arbeitszimmer am Schreibtische saß, würde er sich einzureden suchen, daß die sechshundert Mark nur ein schöner Traum gewesen seien wie die glücklichen Stunden, die er vor der großen Katastrophe in Liebenthal verlebt hatte.

Aus dem Konzertsaal drang erneutes Beifallklatschen gedämpft zu ihm herüber, und dann hörte er, wie das Publikum sich langsam entfernte. Zu kleineren und größeren Gruppen vereinigt, trat ein Teil der Zuhörer in den Restaurationssaal ein. Hans Volckmar rückte seinen Stuhl so, daß er allen Ankömmlingen den Rücken zukehrte, und vertiefte sich zum Schein in die Lektüre eines umfangreichen Zeitungsblattes. Daß sich auch an dem ihm zunächst befindlichen Tische eine größere Gesellschaft niedergelassen haben müsse, folgerte er nur aus dem Geschwirr lauter Stimmen, das von dort her an sein Ohr schlug.

Plötzlich aber fuhr er zusammen, denn er hatte ganz deutlich den affektierten Tonfall und die slawisch gefärbte Aussprache Stanislaw Kamarinskis vernommen, und nun mußte er obendrein hören, wie ihm jemand antwortete:

»Es war uondervoll, höchst uondervoll, mein Herr! Ich liebe serr viel das Piano.«

Es war kein Zweifel, das konnte nur Mr. Gilbert Burnes gewesen sein, und wo er weilte, da war sicherlich auch sein Töchterchen nicht fern. Hans Volckmar dachte an eine schleunige Flucht, aber er hätte sie nicht bewerkstelligen können, ohne hart an jenem Tische vorüberzugehen, und eine Scheu, die er nicht zu überwinden vermochte, wie hart er sich deswegen auch tadelte, hielt ihn davon ab. Er wollte nichts hören von dem, was da gesprochen wurde, aber Stanislaw Kamarinski vereitelte durch seine aufdringlich laute Redeweise alle Bemühungen, ihn zu ignorieren. Er erging sich in den farbenreichsten Schilderungen der Triumphe, die er während seiner Virtuosenlaufbahn in aller Herren Länder davongetragen, und es fehlte dabei nicht an ziemlich unverblümten Hinweisen auf seine fabelhaften Erfolge beim schönen Geschlecht.

Hans Volckmar ballte insgeheim die Fäuste bei der Vorstellung, daß Mary gezwungen war, diese widerwärtigen Renommistereien anzuhören, und manchmal war er wirklich nahe daran, aufzuspringen und den Schwätzer in die Schranken der guten Sitte zurückzuweisen. Aber er besann sich glücklicherweise immer noch zur rechten Zeit, wie lächerlich er sich durch eine solche Einmischung machen würde, und zwang seinen Ingrimm nieder.

Nun wurde das Gesprächsthema am Nebentische gewechselt, und Stanislaw Kamarinskis Stimme blieb eine Weile unhörbar, bis er plötzlich mit einem lauten, spöttischen Auflachen sagte: »Ich habe die Sache allerdings bis jetzt von der spaßhaften Seite genommen. Aber glauben Sie nicht, meine Herrschaften, daß ich diesen Burschen ohne die verdiente Züchtigung davonkommen lassen werde. Ich werde mich mit ihm schlagen, und es wäre wahrhaftig das erste Mal, daß Stanislaw Kamarinski den Kampfplatz anders denn als Sieger verließe.«

Hans Volckmar horchte hoch auf. Wenn da, wie er nicht zweifelte, von ihm die Rede war, so brauchte er nun ja nicht länger Bedenken zu tragen, den unverschämten Burschen zur Rede zu stellen. Aber er mußte freilich vorher darüber Gewißheit haben, daß jene Äußerung sich wirklich auf ihn beziehen sollte, und er lauschte gespannt, um aus den weiteren Reden solche Gewißheit zu erlangen. Zu seinem Bedauern blieb dies Bemühen jedoch vergeblich. Kamarinski benutzte den Anlaß, um einige höchst abenteuerliche Geschichten von fürchterlichen Zweikämpfen zum besten zu geben, die er ausgefochten. Und er wiederholte auch hier und da, daß er mit dem Menschen, der ihn so unerhört beleidigt habe, ohne Erbarmen umspringen würde. Ein Name aber wurde nicht genannt, und der junge Rechtsanwalt schreckte mit gutem Grunde davor zurück, sich nochmals dem Fluche der Lächerlichkeit preiszugeben.

Eben ging er ernstlich mit sich zu Rate, ob es nicht doch das beste sein würde, sich zu entfernen, als ein zufälliger Blick durch das offene Fenster, neben dem er saß, ihn eine Entdeckung machen ließ, die seinen Gedanken plötzlich eine ganz andere Richtung gab. Das Fenster ging auf die vor dem Kurhause belegene Terrasse hinaus, die jetzt der Abendkühle wegen ganz menschenleer war. Nur eine einzige Gestalt lehnte an der steinernen Brüstung, eine schlanke, zierliche Mädchengestalt in schlichtem weißen Gewande. Sie stand, augenscheinlich ganz in Gedanken verloren, mit gesenktem Haupte da, und nun sah er deutlich, wie sie die Hand mit dem Taschentuch an die Augen führte. Da – er hatte ja längst erkannt, daß es keine andere als Fräulein Mary war – duldete es ihn nicht eine Minute länger auf seinem Platz. Er sprang auf und eilte, ohne die Gesellschaft am Nebentische auch nur eines Blickes zu würdigen, hinaus.

Mary hatte seine Schritte nicht gehört, und erst, als er sie mit bebender Stimme bei ihrem Namen anredete, fuhr sie in heftigem Erschrecken zusammen.

»Mein Gott, Sie! Sie sind noch immer hier? Und Sie wagen es – –«

»Ja, Fräulein Burnes, ich wage es, mich Ihnen noch einmal zu nähern, und ich beschwöre Sie, weisen Sie mich nicht fort, ohne mich gehört zu haben! – Ich sehe ja, daß Sie betrübt sind, und täusche mich sicherlich nicht, wenn ich mir die eigentliche Schuld an Ihrem Kummer beimesse. Mit einem solchen Eindruck aber kann ich unmöglich von hier fortgehen. Ich will mein Vergehen gewiß nicht verkleinern, aber ich möchte doch alles daransetzen, um zu verhindern, daß Sie meiner in Zukunft nur als eines Unwürdigen gedenken.«

Sie wandte das Gesicht ab, und ihrer Haltung nach konnte es wohl den Anschein gewinnen, als gewähre sie ihm nur widerwillig die erbetene Gunst. Aber sie unterbrach ihn nicht, und Hans Volckmar war just in der rechten Stimmung, sich alles, was ihn während dieses entsetzlichen Tages bedrückt und gepeinigt hatte, vom Herzen weg zu reden. Niemals hatte er vor den Schranken des Gerichts eindringlicher und wirksamer plaidiert als hier in seiner eigenen Sache. Und was seinen Worten trotz ihrer von allem Theatralischen weit entfernten Schlichtheit überzeugende Kraft gab, war die Wahrhaftigkeit, die aus ihnen sprach. Gerade heraus sagte er ihr, was ihn bei jener ersten Begegnung im Kursaal veranlaßt hatte, sie in ihrem Irrtum zu erhalten, und wie dann die verhängnisvolle erste Lüge fast ohne sein Zutun alles weitere nach sich gezogen. Daß er ihr mit alledem eigentlich ein Geständnis seiner Liebe ablegte, merkte er gar nicht, aber er fühlte sich unsäglich beglückt, als sie auf seine bange Frage, ob er denn wirklich nie und nimmer werde auf Vergebung hoffen dürfen, sich ihm mit einer raschen Bewegung zuwandte und ihm ihre Hand entgegenstreckte.

»Ich habe Ihnen bereits vergeben, Herr Volckmar. – Am Ende trug ich mit meiner kindischen Schwärmerei für diesen Virtuosen sogar den größeren Teil der Schuld, und wir sind für unsere Verfehlung ja nun beide hart genug bestraft worden – härter vielleicht, als wir es verdient haben.«

Er drückte in seiner Herzensfreude die kleine weiche Hand immer wieder an die Lippen, und Fräulein Mary war offenbar zu aufgeregt, es zu bemerken, da sie sie ihm doch sonst sicherlich entzogen haben würde.

»O, wie ich Ihnen danke!« sagte er innig. »Sie ahnen ja nicht, welche Wohltat Sie mir erweisen!«

»Ich bin heute vormittag zu unfreundlich gewesen, und es – es hat mir auch gleich nachher leid getan. Nun aber, nachdem wir uns ausgesprochen haben, nun müssen Sie fort, so schnell wie möglich, wenn es irgend sein kann, noch an diesem Abend!«

Es war ein so unverkennbarer Ausdruck von Angst in ihren Worten, daß er sich nicht enthalten konnte, zu fragen: »Und warum muß es durchaus so bald sein, Fräulein Mary?«

»Weil – nun weil dieser gräßliche Mensch Ihnen nach dem Leben trachtet, und weil er – –«

So feierlich es Hans Volckmar auch ums Herz sein mochte, jetzt konnte er nicht anders, er mußte hell auflachen. »Wer? Stanislaw Kamarinski etwa? Und Sie – Sie nennen ihn einen gräßlichen Menschen?«

Da brach es beinahe ungestüm aus ihr hervor: »Er ist ein Scheusal – ein Dummkopf, ein widerwärtiger Prahlhans! Es ist ewig schade, daß dies herrliche Talent einem so Unwürdigen zu teil werden mußte!«

»Sie schwärmen also nicht mehr für ihn? Und der Lorbeerkranz mit den roten Schleifen und der Widmung an den edlen Menschenfreund?«

Eine dunkle Glut flammte in ihrem Gesichtchen auf. »Ach, erinnern Sie mich nicht daran, Herr Volckmar! – Damals kannte ich ihn ja noch nicht, und ich glaubte ihm einen Beweis der Dankbarkeit dafür schuldig zu sein, daß er sich in der Konzertangelegenheit so großmütig und selbstlos gezeigt hatte.«

»Ja, allerdings, höchst großmütig und selbstlos! Und die blutdürstigen Reden, die er vorhin da drinnen geführt, galten also wirklich keinem anderen als mir?«

»Sie haben es gehört? – Nun, dann brauche ich Ihnen wohl nicht länger ein Geheimnis daraus zu machen. Ja, er will sich mit Ihnen schlagen. Und er hat schon so viele Duelle bestanden.«

»Sie aber konnten es für möglich halten, daß ich unter solchen Umständen abreisen, daß ich vor diesem Hansnarren die Flucht ergreifen würde? Nein, Fräulein Mary, so schlecht haben Sie trotz alledem gewiß nicht von mir gedacht.«

Sie zögerte mit der Antwort, aber als sie nun die Augen zu ihm aufschlug, da war es ihm, als schaue er mitten hinein in den Himmel mit all seiner Herrlichkeit.

»Ich weiß nicht, ob es etwas Schlechtes ist, das ich damit von Ihnen verlange, ich weiß nur, daß Sie Ihr Leben nicht um einer solchen Lächerlichkeit willen aufs Spiel setzen dürfen, und daß ich in meinem ganzen Leben keinen ruhigen Augenblick mehr haben würde, wenn Ihnen ein Unglück zustieße.«

Er hätte aufjubeln, hätte sie stürmisch in seine Arme reißen mögen, aber er hatte nicht den Mut dazu. Nur ihre Hand drückte er leise, indem er sagte: »Fürchten Sie nichts, Fräulein Mary. Solange mein Dasein von keiner anderen Gefahr bedroht ist als von der, durch die Hand dieses Helden zu enden, darf ich mir immer noch Hoffnung auf ein langes Leben machen. Es bedarf für mich in diesem Fall wirklich keiner besonderen Tapferkeit, um den Geboten der Ehre Genüge zu tun, und daran, dessen bin ich gewiß, wollen Sie mich sicherlich nicht hindern.«

Er bot ihr den Arm, und sie nahm ihn an, obwohl sie offenbar noch nicht recht verstand, was er eigentlich vorhatte. So männlich bestimmt und voll so ruhiger, selbstbewußter Sicherheit waren seine letzten Worte gewesen, daß sie es nicht einmal wagte, eine Frage an ihn zu richten, als er sie in den Saal zurückführte und mit ihr zu dem Tische hintrat, an welchem neben Mr. Gilbert Burnes der große Stanislaw Kamarinski inmitten seiner ehrfurchtsvoll lauschenden Bewunderer saß.

Der Virtuose war Volckmars kaum ansichtig geworden, als er mitten in der Rede verstummte und von seinem Stuhle aufsprang, offenbar in der Absicht, sich zu entfernen.

Der Rechtsanwalt aber hinderte ihn daran, indem er vollkommen höflich, doch mit eisiger Kälte sagte: »Nur einen Augenblick noch, mein Herr! Sie sprachen vorhin im Beisein dieser Herrschaften davon, daß es Ihre Absicht sei, mich zur Rechenschaft zu ziehen und bei der Gelegenheit ohne Erbarmen mit mir zu verfahren. Nun wohl, ich bin zu Ihrer Verfügung, und da ich höchstens noch bis morgen mittag hier in Liebenthal bleiben kann, erwarte ich, die Angelegenheit bis dahin zum Austrag gebracht zu sehen.«

Das Leinentuch auf dem Tische war nicht weißer als Stanislaw Kamarinskis Gesicht. »Hier muß ein Mißverständnis vorliegen,« stotterte er, »ich habe keineswegs den Wunsch, mich mit Ihnen zu schlagen.«

»So nehmen Sie denn an, daß nunmehr ich diesen Wunsch hege. Ich fühle mich durch Ihre vorigen Äußerungen schwer beleidigt und bin entschlossen, mir unter den strengsten Bedingungen Genugtuung zu verschaffen.«

»Aber ich bin kein Raufbold!« schrie der Virtuose. »Ich habe Besseres zu tun, als mich totschießen zu lassen. Es ist gegen meine Grundsätze – ich werde mich niemals duellieren!«

»Das ändert die Sachlage allerdings vollständig,« sagte Hans Volckmar lächelnd. »Ich darf es nach dieser Erklärung wohl den Herrschaften überlassen, sich ein Urteil über Sie zu bilden. Aber vielleicht darf ich Ihnen bei dieser Gelegenheit empfehlen, in Ihren Äußerungen künftig etwas behutsamer zu sein.«

Schritt für Schritt hatte sich der große Künstler zurückgezogen. Nun aber – er hatte fast schon den halben Saal zwischen sich und Hans Volckmar gebracht – rief er mit erhobener Stimme: »Ich brauche Ihre Ratschläge nicht, mein Herr – hören Sie, ich brauche sie nicht. Und ich nehme mein großmütiges Zugeständnis von heute morgen zurück. Für Sie spiele ich um kein geringeres Honorar als um tausend Mark. Ich habe also noch fünfhundert Mark von Ihnen zu fordern, und wenn Sie die nicht innerhalb vierundzwanzig Stunden gezahlt haben, so verklage ich Sie, merken Sie sich das, ich verklage Sie!«

Damit verschwand er aus dem Saale. Die fassungslose Tafelrunde saß mit bestürzten Mienen da.

Fräulein Mary aber wandte sich strahlenden Antlitzes an Volckmar: »Sie haben ihn für sein Auftreten bezahlt? O, sprechen Sie – Sie haben ihn dafür bezahlt?«

»Freilich. Es gab eben keine andere Möglichkeit, das Zustandekommen des einmal angekündigten Konzerts zu sichern.«

»Sie haben ihn bezahlt!« jubelte sie. »O, das ist prächtig, das ist himmlisch! – Und nun werde ich es natürlich unter keinen Umständen mehr zugeben, daß Sie abreisen. Nun wollen wir erst recht anfangen, uns in Liebenthal zu amüsieren.«

»Das ist für mich leider unmöglich,« lächelte Volckmar, »und zwar aus einem ebenso einfachen als triftigen Grunde, weil die fünfhundert Mark, die Herr Stanislaw Kamarinski als Lohn für seine edle Menschenfreundlichkeit davongetragen hat, meine gesamte Reisebarschaft bildeten, und bis zum Zechpreller bin ich trotz all meiner sonstigen Unmoralität doch noch nicht herabgesunken.«

Sie lachte, und dabei funkelten ihre süßen Schelmenaugen ihm mit einem Blick entgegen, vor dem ihm ganz eigen zu Mute wurde. Im nächsten Moment hatte sie sich über ihres Vaters Schulter geneigt und ihm sehr eifrig etwas ins Ohr geflüstert, das selbst den sonst so unerschütterlichen Mr. Gilbert Burnes für einen Augenblick ein wenig aus der Fassung zu bringen schien.

Aber er war nicht der Mann, lange außer Fassung zu bleiben, und nachdem sein Töchterchen noch ein paar weitere Sekunden lang auf ihn eingeredet hatte, stand er langsam und gravitätisch auf, um sich mit der ausgesuchtesten amerikanischen Höflichkeit an den Rechtsanwalt zu wenden: »Uir uerden sein serr erfreut, Sie zu besuchen in das schöne M. – Ich liebe serr viel die interessante deutsche Städte.«

»Und Sie werden gern unseren Führer machen, nicht wahr?« fügte Fräulein Mary hinzu. »Auch wenn wir Ihre kostbare Zeit sehr stark in Anspruch nehmen sollten?«

»O,« rief er, von Freude überwältigt, ihre Hand ergreifend, »Wie gern, Fräulein Mary, werde ich Ihren Führer machen; wenn es sein dürfte, für das ganze Leben! Ach, daß jede Minute meines Daseins nur noch Ihnen gehören dürfte!«

Er hatte es natürlich so leise gesagt, daß niemand es hören konnte außer ihr.

Und mit ebenso behutsam gedämpfter Stimme gab sie zurück: »Ist das nun diesmal aber auch wirklich Ihr wahres Gesicht? – Wohl, ich will es glauben, und wenn Sie auch nach drei Tagen in M. noch der nämlichen Meinung sind – nun, dann könnte es vielleicht geschehen, daß ich Sie wirklich beim Wort nehme. Welche Fehler ich auch vermutlich noch an Ihnen entdecken werde, das Verdienst, daß Sie nicht Stanislaw Kamarinski sind, wiegt sie doch sicherlich alle auf.«


Setzmaschinensatz und Druck von
A. Seydel & Cie., G. m. b. H., Berlin SW.

 


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