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Der feststehenden Gewohnheit folgend, hatte das Ehepaar Leonhardt auch an diesem Tage gemeinsam mit der Gesellschafterin um acht Uhr den Tee eingenommen, und die beiden Damen hatten sich nachher in den durch eine Ampel erleuchteten Erker zurückgezogen, während der Rechtsanwalt am Tische sitzen geblieben war, um die Abendzeitungen zu lesen. Er war erst ziemlich spät aus der Kanzlei heraufgekommen, sichtlich abgespannt und wenig zum Plaudern aufgelegt. Aber seine Frau schien daran gewöhnt, ihn in dieser Verfassung zu sehen, denn sie hatte es mit freundlicher Rücksichtnahme vermieden, ihn durch Fragen oder Mitteilungen zu einer Unterhaltung zu zwingen, die ihm offenbar Anstrengung und Ueberwindung gekostet hätte. So war die kurze Abendmahlzeit recht still verlaufen, und auch das mit gedämpften Stimmen zwischen Herta und Margot geführte Gespräch, dessen Inhalt nur belanglose Haushaltungsangelegenheiten bildeten, schleppte sich recht mühselig mit langen Unterbrechungen hin.
Da legte der Rechtsanwalt die Zeitung nieder und sah auf seine Uhr.
»Du darfst mir nicht böse sein, liebes Herz, wenn ich dich noch einmal auf ein Stündchen verlasse,« sagte er. »Ich habe eine Verabredung in geschäftlichen Angelegenheiten, aber ich werde mich bemühen, so bald als möglich loszukommen.«
Herta war wohl ein wenig überrascht, denn es gehörte nicht zu den Gewohnheiten ihres Mannes, noch zu so später Stunde auszugehen. Aber sie hegte nicht den geringsten Argwohn, daß er sie über die Ursache dieses Ausgangs täuschen könnte, und es war überdies nicht ihre Art, sich über sein Tun und Lassen den Kopf zu zerbrechen. Nur der Gedanke an seine schonungsbedürftige Gesundheit bestimmte sie, zu erwidern:
»Hoffentlich wird es dir gelingen, Paul, denn du weißt, wie dringend Dr. Neumayer dir die Sorge um eine ausgiebige Nachtruhe ans Herz gelegt hat. Und da du dir's nicht abgewöhnen kannst, um sechs Uhr morgens aufzustehen, sind die Abendstunden für dich nur um so kostbarer.«
Dr. Leonhardt trat in den Erker und neigte sich über seine schöne junge Frau herab, um mit den Lippen leicht ihre Stirn zu berühren.
»Dank für die freundliche Fürsorge, liebes Kind! Du hast natürlich vollkommen recht, wie immer, und du darfst mir glauben, daß es mir sauer genug wird, mich zu diesem unangenehmen Gang zu entschließen. Aber es läßt sich nun mal nicht vermeiden. Selbstverständlich darfst du meinetwegen nicht aufbleiben.«
»Warum sollte ich dich nicht erwarten, Paul? Mir bleibt zum Schlafen ja immer noch Zeit genug.«
Aber er schüttelte mit Entschiedenheit den Kopf.
»Mein Leben lang ist mir nichts peinlicher gewesen, als die Vorstellung, daß irgendwo jemand auf mich wartet. Das macht mich nervös und unruhig. Und es hat in diesem Fall doch auch so gar keinen Zweck.«
»Wenn es dir unangenehm ist, werde ich selbstverständlich darauf verzichten.«
Sie sagte es in demselben ruhig freundlichen Ton, den jede ihrer Aeußerungen im Gespräch mit dem Gatten hatte. Und es war sicherlich ebensowenig beabsichtigt, als es ihr überhaupt zum Bewußtsein kam, daß gerade in dieser unveränderlich freundlichen Ruhe eine gewisse Gleichgültigkeit zutage trat, die manchmal recht nahe an Kälte streifte. Sie würde es ebenso gelassen aufgenommen haben, wenn ihr Mann ihr gesagt hätte, daß er auf Wochen oder Monate verreisen müsse, und selbst ihre ohne Zweifel aufrichtig gemeinte Besorgnis um sein Befinden erschien viel eher als ein Ausfluß des Pflichtgefühls, denn als die Betätigung eines wirklichen Herzensbedürfnisses.
Sie geleitete ihn bis auf den Vorplatz hinaus und war ihm trotz seines galanten Widerspruchs behilflich, den schweren Pelz anzuziehen.
»Nimm dich nur recht in acht!« mahnte sie noch einmal. »Denn Henriette sagte mir vorhin, als sie von einem Ausgang zurückkam, daß es gegen Abend bitter kalt geworden sei. Soll ich sie nicht lieber hinunterschicken, um eine Droschke zu holen?«
»Nein – ich danke. Der Kopf schmerzt mich ein bißchen, und der kurze Weg bis zum Droschkenstandplatz wird mir darum wohltun. Gute Nacht, mein Herz, und laß dir bis zu meiner Wiederkehr etwas recht Süßes träumen!«
Er ging, und Herta kehrte in das Wohnzimmer zurück, wo Margot eben im Begriff war, die Stickerei, an der sie gearbeitet hatte, zusammenzulegen.
»Willst du schon auf dein Zimmer gehen?« fragte sie. »Es ist ja noch so früh.«
»Ich fühle mich nicht ganz wohl und dachte mich zeitig schlafen zu legen. Aber wenn du wünschest, daß ich dir noch Gesellschaft leiste, werde ich natürlich bleiben.«
»Nur ein Viertelstündchen, sofern das Opfer nicht zu groß ist, das ich dir damit zumute. Ich – ich möchte dich etwas fragen.«
Margot hatte ihren vorigen Platz im Erker wieder eingenommen und sich so weit in den Sessel zurückgelehnt, daß ihr Gesicht fast ganz beschattet war.
»Nun?« fragte sie, nachdem wohl eine Minute des Schweigens vergangen war. »Ich bin bereit, dir zu antworten.«
»Ach, es nichts besonders Wichtiges –«, die Verlegenheit, mit der sie zu kämpfen hatte, offenbarte sich recht unzweideutig in Hertas zögernder Redeweise – »ich wollte dich nur fragen, ob du schon etwas davon gehört hast, daß der Baumeister Neuhoff in Vermögensverfall geraten ist – und ob – ob dir vielleicht über die näheren Umstände etwas bekannt geworden ist.«
»Nicht eben viel. Eine Bekannte aus Eberstadt hat mir allerdings vor einiger Zeit davon geschrieben. Ich wußte nicht, daß es ein Interesse für dich hätte, sonst würde ich es wohl gelegentlich erwähnt haben.«
»Der Baumeister war ein lieber Freund meines verstorbenen Vaters,« sagte Herta in einem Ton, wie wenn sie sich wegen ihrer Teilnahme entschuldigen müßte. »Und du müßtest dich doch eigentlich noch daran erinnern, daß zwischen seiner Familie und uns lange Zeit ein recht lebhafter Verkehr bestand.«
»Daran erinnere ich mich allerdings. Ich war jedoch der Meinung, diese Beziehungen hätten mit deiner Verlobung ein plötzliches und vollständiges Ende genommen.«
»Gewiß – sie existieren nicht mehr. An meiner Sympathie für den Baumeister aber ist dadurch nichts geändert worden. Ich habe immer mit großer Verehrung zu dem vortrefflichen Manne aufgesehen, und die Nachricht von seinem traurigen Schicksal hat mich darum in tiefster Seele erschüttert. Ist denn die Katastrophe plötzlich und unerwartet über ihn hereingebrochen?«
»Wohl kaum! Schon zur Zeit deiner Verlobung sprach man in Eberstadt davon, daß es mit Neuhoffs Verhältnissen zurückginge. Es hieß, daß er zwar ein ausgezeichneter Architekt, aber ein schlechter Kaufmann sei und sich bei einigen größeren Unternehmungen recht ungeschickt habe übervorteilen lassen. Sollte dir von diesem Gerede damals wirklich gar nichts zu Ohren gekommen sein?«
»Wenn ich von solchen Gerüchten gehört haben sollte, so habe ich ihnen doch jedenfalls keine Bedeutung beigelegt. Die Leute in einer kleinen Stadt reden ja so viel über ihren Nächsten, und mir waren derartige Schwatzereien immer in tiefster Seele zuwider.«
»Es scheint aber doch, daß die Leute damals recht hatten. Der Zusammenbruch, den sie voraussagten, ist ja bald genug erfolgt.«
»Aber der Baumeister hat doch hoffentlich wenigstens einen Teil seines Vermögens retten können?«
»Es scheint nicht so. Meine Bekannte schrieb, er habe alles verloren und werde, da er überdies seit einiger Zeit sehr kränklich sei, fortan vermutlich ganz auf die Unterstützung durch seinen Sohn angewiesen bleiben.«
»O mein Gott, wie traurig das ist! Wie entsetzlich traurig!«
»Ja, das ist es wohl in der Tat. Denn wie es mit dieser Unterstützung aussehen wird, kann man sich ja denken. Der junge Neuhoff dürfte seine liebe Not haben, sich selber auf anständige Weise durchzubringen. Da er nicht die Mittel besitzt, sich selbständig zu machen, kann er doch nur eine abhängige Stellung im Bureau irgend eines Baumeisters annehmen. Und ich habe gehört, daß derartige Posten sehr schlecht bezahlt werden.«
Sie hatte die ganze Unterhaltung in einem müden, gleichgültigen Tone geführt, wie wenn alle diese Dinge sehr wenig Interesse für sie hätten. Und sie seufzte hörbar auf, als die junge Frau nach einem abermaligen längeren Schweigen nochmals auf das Thema zurückkam, indem sie unsicher sagte:
»Theodor Neuhoff war heute hier – das heißt natürlich nicht hier oben in unserer Wohnung, sondern unten in der Kanzlei meines Mannes. Hast du eine Vermutung, Margot, was ihn dazu veranlaßt haben könnte?«
»Wie sollte ich zu solcher Vermutung kommen? Ich weiß von den Angelegenheiten des Herrn Neuhoff ebensowenig als von den Geschäften des Herrn Rechtsanwalts. Wenn du es wissen möchtest, warum hast du dann nicht einfach deinen Gatten danach gefragt?«
»Er liebt es nicht, daß ich mich um Dinge kümmere, die in das Gebiet seiner Berufstätigkeit fallen. Und dann – er hätte meine Teilnahme mißdeuten, hätte glauben können, daß es mehr die Person des Herrn Theodor Neuhoff, als die seines Vaters sei, die mich interessiert.«
»Wohl möglich! Und am Ende hättest du ihm den Verdacht nicht einmal verübeln dürfen. Junge Ehemänner sind immer darauf gefaßt, diesen oder jenen Schatten einer noch nicht ganz überwundenen Jugendliebe am Himmel ihres ehelichen Glückes aufsteigen zu sehen.«
Mit einem Blick voll wehmütigen Vorwurfs wandten sich Hertas schöne Augen der Sprechenden zu, deren Gesichtsausdruck sie in der unsicheren Beleuchtung nicht zu erkennen vermochte.
»Es ist eigentlich nicht hübsch von dir, Margot, so zu sprechen. Ich glaube nicht, daß man mir nachsagen darf, meinem Manne auch nur den kleinsten Anlaß zur Eifersucht gegeben zu haben.«
»Natürlich nicht. Wann wäre es mir auch eingefallen, derartiges zu behaupten. Wenn man in seiner Ehe so beneidenswert glücklich ist, wie du – –«
In den Wangen der jungen Frau flammte es auf, als hätte man ihr eine beschämende Anklage entgegengeschleudert, und mit einer hastigen Bewegung wandte sie den Kopf nach der anderen Seite.
»Ich habe dich wohl länger hier zurückgehalten, Margot, als die Rücksicht auf dein Befinden es mir hätte gestatten sollen. Und es ist inzwischen neun Uhr geworden. Da ist es auch für mich zum Schlafengehen nicht mehr zu früh.«
Die Gesellschafterin hatte sich erhoben.
»Gute Nacht, Herta! Ich habe doch nichts Törichtes gesagt? Du bist mir doch nicht gram?«
Die Gefragte reichte ihr die Hand.
»Nein, sicherlich nicht. Weshalb sollte ich dir denn zürnen? Ich wünsche dir gute Besserung und angenehme Ruhe.«
Margot ging in ihr Zimmer, das am Ende des langen Wohnungskorridors gelegen war und dessen Fenster sich nach dem Hintergarten hinaus öffnete. Aber sie verweilte darin nicht länger, als es nötig gewesen war, damit sie vor dem Spiegel ihre Frisur ordnen und ein wenig Puder auflegen konnte. Dann öffnete sie behutsam die Tür, lauschte ein paar Sekunden lang hinaus und schritt leichtfüßig über den Gang zurück bis zu dem durch ein Geländer geschützten Winkel, in welchem sich die Oeffnung für die nach unten führende Wendeltreppe befand.
Vorsichtig ihr Kleid zusammenraffend, stieg sie hinab. Unten war es ganz dunkel, aber ihre genaue Kenntnis der Oertlichkeit überhob sie der Notwendigkeit, den Hebel der elektrischen Beleuchtung anzudrehen. Sie wußte, daß sich zur Linken das Wartezimmer und die Kanzleiräume befanden, während die unverschlossene Tür zur Rechten, die sie geräuschlos öffnete, in den großen, zur Winterzeit völlig unbenutzten Gartensalon führte.
Hier wurde es durch eine matte Helligkeit, die vom Wintergarten her in den Raum einfiel, noch leichter gemacht, sich zu orientieren, und ohne an eines der Möbel anzustoßen, gewann sie den halbrunden Ausbau, in dem am Vormittag ihre kurze Unterredung mit Theodor Neuhoff stattgefunden hatte.
Er war noch nicht da, aber sie brauchte nicht lange auf ihn zu warten, denn kaum zwei Minuten nach ihrem Eintritt wurde diskret an die in den Garten hinausführende Glastür geklopft, und als Margot öffnete, sah sie die hohe Gestalt des jungen Architekten vor sich auf den Stufen der kleinen Treppe.
»Guten Abend, Herr Neuhoff!« begrüßte sie ihn freundlich. »Sie haben, wie ich sehe, die Tugend der Pünktlichkeit. Wollen Sie, bitte, eintreten!«
Er leistete der Einladung Folge und behielt ihre Hand, die sie ihm willig überlassen hatte, in der seinigen, während er sagte:
»Daß Sie wirklich gekommen sind – ich kann Ihnen kaum aussprechen, Fräulein Margot, wie dankbar ich Ihnen dafür bin. Der Vorwurf, den Sie an diesem Vormittag gegen Ihre alten Freunde erhoben haben, er trifft mit einer gewissen Berechtigung ja auch mich, und ich bin mir wohl bewußt, daß ich die Freundlichkeit nicht verdient habe, die Sie mir da beweisen.«
Er täuschte sich wohl nicht, wenn er zu fühlen glaubte, daß ihre feinen Finger den warmen Druck seiner Hand zurückgaben. Dann aber machte sie sich frei und erwiderte in liebenswürdig leichtem Plauderton:
»Wenn Sie der Sache eine so große Bedeutung beilegen, könnte mir ja beinahe angst werden, ob ich auch recht daran getan. Nehmen Sie gefälligst Platz und lassen Sie uns nicht zu laut sprechen. Der Portier, der ein schrecklich gewissenhafter Mensch ist, inspiziert manchmal noch in später Abendstunde den Garten, und ich möchte nicht, daß er uns hört. Sie müssen es aus diesem Grunde auch entschuldigen, wenn ich kein Licht mache. Hat man Sie anstandslos in das Haus eingelassen?«
»Die Haustür wurde mir auf mein Klingeln geöffnet, und man ließ mich passieren, ohne nach meinem Begehr zu fragen. Der Mann, dessen Kopf ich am Fenster der Pförtnerloge sah, war derselbe, mit dem ich am Vormittag gesprochen. Vermutlich erkannte er mich wieder und hielt es darum für überflüssig, mich zu fragen.«
»Wahrscheinlich! Haben Ihnen übrigens nicht vor einer kleinen Weile die Ohren geklungen? Herta und ich, wir haben eine halbe Stunde lang von nichts anderem gesprochen, als von Ihnen.«
»Wirklich? Und ist es unbescheiden, zu fragen –«
»Nein – fragen dürfen Sie allerdings nicht. Nur das eine will ich Ihnen verraten, daß Sie meiner Freundin – oder meiner Herrin, wie ich wohl besser sagen muß – durch Ihr unerwartetes Erscheinen an diesem Vormittag sehr lebhafte Unruhe bereitet haben. Sie fürchtet sich ein wenig vor Ihnen, wie es scheint.«
Das war scherzend gesagt; Neuhoffs Erwiderung aber hatte einen um so ernsteren Klang.
»Frau Dr. Leonhardt hat keinen Anlaß, mich zu fürchten. Dessen dürfen Sie sie getrost in meinem Namen versichern, Fräulein Margot.«
»Ich? O, ich werde mich hüten. Vor wenig Minuten erst habe ich mir feierlich gelobt, Herta gegenüber Ihren Namen nie wieder zu erwähnen. Man hört nicht gern ohne zwingende Not Unfreundlichkeiten über jemanden, den – den man schätzt.«
»So haben Sie mir gegen Ihren Willen also doch verraten, von welcher Art Ihre und Hertas Unterhaltung über mich gewesen ist! Freilich, ich hatte kaum eine Ursache, anderes zu erwarten. Ich bin für Ihre Freundin ein Gegenstand des Abscheus geworden – nicht wahr?«
»Auf so verfängliche Fragen müssen Sie keine Antwort von mir erwarten, oder sind Sie nur in der Absicht hierhergekommen, Hertas Meinung über Sie kennen zu lernen?«
»Nein!« widersprach er hart. »Diese Meinung hat für mich kaum noch einen Wert. Und ich schätze es sogar als einen Beweis Ihrer Wahrheitsliebe, wenn die Frau Rechtsanwalt sich nicht erst bemüht, eine freundliche Gesinnung zu erheucheln, von der ihr Herz nichts weiß. Aber Sie wissen recht gut, warum ich gekommen bin, Fräulein Margot! Sie sprachen am Vormittag von eigentümlichen Verhältnissen, unter denen die Verlobung Ihrer Freundin mit diesem Leonhardt zustande gekommen sei. Und ich hoffe, daß Sie mich nicht vergebens um eine nähere Erklärung bitten lassen.«
»Was Sie da von mir verlangen, ist eigentlich eine Indiskretion. Wie nun, wenn ich zuvor von Ihnen wissen möchte, weshalb es Sie in so hohem Maße interessiert?«
»Ich habe keine Veranlassung, Ihnen die Antwort darauf zu verweigern. Noch wenige Tage, bevor das Verlöbnis Hertas mit dem Rechtsanwalt öffentlich bekanntgegeben wurde, hatte ich ein gutes Recht, mich als ihren künftigen Gatten zu betrachten – ein Recht, das nicht etwa nur in meiner Einbildung bestand, sondern das sie selbst mir gegeben. Es mag Ihnen befremdlich scheinen, daß ich so offen von diesen Dingen rede, und ich brauche Ihnen wohl kaum zu versichern, daß es bisher noch keinem Menschen gegenüber geschehen ist. Wenn ich vor Ihnen aus der Zurückhaltung heraustrete, die ich bisher beobachtet habe und auch weiter zu beobachten gedenke, so geschieht es aus keinem anderen Grunde, als in der Hoffnung, durch Sie für Hertas damaliges Benehmen eine Erklärung zu erhalten, die mich endlich von einer quälenden Unruhe und von einer peinlichen Ungewißheit befreit. Denn so unbegreiflich, so vollkommen rätselhaft ist mir bis zu dieser Stunde das Verhalten Ihrer Freundin geblieben, daß sich mir immer und immer wieder die Vermutung aufdrängt, ich selbst könnte durch irgend ein Verschulden, dessen ich mir nicht bewußt geworden bin, ihren Sinneswechsel herbeigeführt – oder ich könnte irgend etwas versäumt haben, was diese unnatürliche Heirat mit dem widerwärtigen Leonhardt noch in letzter Stunde abzuwenden vermocht hätte. Es fällt mir so unsäglich schwer, bei einem Wesen, das ich beinahe abgöttisch verehrt habe, an niedrige Beweggründe zu glauben.«
Obwohl sich sein Auge inzwischen einigermaßen an die schwache Beleuchtung im Wintergarten gewöhnt hatte, war es ihm doch unmöglich, aus Margots Zügen zu lesen, welchen Eindruck sein freimütiges Geständnis auf sie gemacht haben mochte, und noch weniger ließ es sich aus dem ruhigen Klang ihrer Stimme erraten, da sie ohne Hast, aber auch ohne Zögern erwiderte:
»Vielleicht haben Sie damals wirklich etwas verschuldet, Herr Neuhoff – wäre es auch nichts anderes gewesen, als daß Sie sehr zur Unzeit aus Eberstadt fortgingen und Herta dem Einfluß von Leuten überließen, die einer Verbindung mit Ihnen vermutlich nicht zugeneigt waren.«
»O, wenn ich nichts anderes gefehlt habe, als das! Ich handelte lediglich so, wie die Umstände es mir zur Pflicht machten. Sie wissen, daß ich in Eberstadt als Mitarbeiter meines Vaters tätig war, und da Ihnen vielleicht nicht unbekannt geblieben ist, wie traurig sich meines Vaters Schicksale in neuester Zeit gestaltet haben, so werden Sie es verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß diese Mitarbeit mir schon damals keine rechte Befriedigung mehr gewährte. Ich vermochte das blindgläubige Vertrauen nicht mehr zu teilen, das mein allzu gutherziger Vater in die Redlichkeit der Leute setzte, die ihn für ihre selbstsüchtigen Zwecke auszubeuten trachteten. Und es kam zwischen ihm und mir infolgedessen häufig zu Meinungsverschiedenheiten, die unser bisheriges inniges Verhältnis ernstlich zu gefährden drohten. Darum hielt ich es für besser, meine Kräfte in einem anderen Wirkungskreis zu nützen, und Herta selbst war es, die mich trotz der dadurch bedingten Trennung in meinem Vorhaben bestärkte. Sie hatte kurz vor dem Tode ihres Vaters das Geständnis meiner Liebe empfangen und hatte mich ihrer Gegenliebe versichert. Wenn wir unsern Herzensbund vor den Augen der Welt als ein Geheimnis hüteten, so gab es dafür verschiedene sehr triftige Gründe. Einmal waren die Tage, da der Oberlehrer in schwerer, hoffnungsloser Krankheit auf dem Siechenbett lag, nicht der rechte Zeitpunkt für die Bekanntgabe eines Verlöbnisses. Und dann war meine Existenz noch so wenig gesichert, meine Aussichten für die nächste Zukunft noch so ungewiß, daß ich einfach einem Gebot der Ehre zu gehorchen glaubte, wenn ich zögerte, Herta durch ein schwer zerreißbares Band an mich zu fesseln. Ihr Vater starb, und die elternlose Waise fand eine neue Heimat in dem Hause von Verwandten, die mir wenig sympathisch waren. Unserm persönlichen Verkehr, der bis dahin ein ganz zwangloser gewesen war, wären damit ohnedies Hindernisse bereitet worden, die wir wahrscheinlich beide schmerzlich empfunden hätten. So erschien es in jeder Hinsicht als das beste, wenn ich mir anderswo eine anständige Stellung zu schaffen suchte, ehe ich nach Ablauf des Trauerjahres unsere heimliche Verlobung zu einer öffentlichen machte. Es geschah, wie gesagt, im vollsten Einverständnis mit Herta, und ich würde geglaubt haben, ihr die schwerste Beleidigung anzutun, wenn ich bei meiner Abreise auch nur die allergeringste Besorgnis gehegt hätte, daß sie sich durch den Einfluß ihrer Verwandten ihrer Liebe abwendig machen lassen könnte.«
»Sie haben sich eben doch wohl in ihrer Widerstandsfähigkeit getäuscht – oder vielleicht auch in der Tiefe ihrer Zuneigung. Womit hat sie es denn begründet, als sie mit Ihnen brach?«
»Da sind wir bei dem Punkte, Fräulein Margot, über den ich mir seit so langer Zeit vergeblich den Kopf zerbreche. Wir hatten uns nicht allzu oft geschrieben, denn Herta wollte nicht, daß die Häufigkeit meiner Briefe die neugierige Aufmerksamkeit ihrer Verwandten errege. Aber ich hatte sie doch stets über alles unterrichtet, was sie, wie ich meinte, an meinem Tun und Lassen interessieren könnte. Und ihre spärlichen Antworten waren ganz so liebevoll und herzlich, wie es der Natur unserer Beziehungen entsprach. Eines Tages aber erhielt ich ein Paket, das neben den wenigen kleinen Geschenken, die ich ihr während unserer Bekanntschaft gemacht, auch alle die Briefe enthielt, die ich ihr geschrieben. Und dazu von ihrer Hand nichts als die kurze Aufforderung, ihr dagegen die ihrigen zurückzusenden, da sie den Verkehr nicht fortzusetzen und das Vergangene als ungeschehen zu betrachten wünsche. Meine Ueberraschung war grenzenlos, denn mir fehlte ja jede Erklärung für einen solchen Schritt. Meine erste Eingebung war natürlich das Verlangen, nach Eberstadt zu fahren und diese Erklärung von ihr zu verlangen. Aber ich konnte meinen Posten nicht verlassen, und dann regte sich in mir auch der Mannesstolz, der sich nicht vor einem launenhaften Weibe demütigen mochte.«
»Das verstehe ich. Aber Sie haben ihr doch wohl geschrieben?«
»Werden Sie es für möglich halten, Fräulein Margot, wenn ich Ihnen darauf mit »Nein« antworten muß? Natürlich hatte ich nicht nur die Absicht, ihr zu schreiben, sondern ich habe es während der sechs oder sieben ersten Tage, die dem Empfang ihrer Sendung folgten, auch wohl mindestens ein Dutzend Mal versucht. Aber dieselben Gründe, die mich bestimmt hatten, von der Reise nach Eberstadt abzustehen, verhinderten mich auch, einen dieser Briefe abzuschicken. Wenn ihre Liebesbeteuerungen in Wahrheit nur Lug und Trug gewesen waren, durfte ich mich dann vor ihr erniedrigen, indem ich ihr offenbarte, wie tief sie mich getroffen, wie tödlich sie mich verwundet hatte? Und wiederum – wenn alles vielleicht nur ein Mißverständnis, ein unseliger Irrtum war, hatte ich dann ein Recht, sie durch so heftige Anklagen zu kränken, wie sie mir immer wieder halb gegen meinen Willen aus der Feder flossen? So konnte ich mit mir selber nicht ins reine kommen, und darüber verging Tag um Tag, bis das Eintreffen der gedruckten Anzeige von ihrer Verlobung mit dem Rechtsanwalt Dr. Leonhardt all meiner Ungewißheit auf die überraschendste und niederschmetterndste Weise ein Ende machte.«
»Und Sie haben sich dann mit der Tatsache dieser Verlobung einfach abgefunden, ohne irgend etwas zu unternehmen?«
»Ich fühlte mich so schwer beleidigt, daß es mir in der Tat als unter meiner Würde erschien, eine Aufklärung zu verlangen oder meiner Entrüstung Ausdruck zu geben. Ich schickte alles, was ich von Hertas Hand besaß, an sie zurück, ohne ein Wort hinzuzufügen. Und ich nahm mir vor, meiner Liebe fortan nur noch als einer Verirrung zu gedenken, deren ich mich vor mir selber zu schämen hätte.«
»Inzwischen aber ist Ihnen, wie es scheint, die Reue darüber gekommen, daß Sie die Dinge damals ihren Lauf nehmen ließen.«
»Manchmal – ja! Warum soll ich versuchen, es zu leugnen? Und namentlich, seitdem ich Herta heute zum erstenmal wiedergesehen – seitdem eine Andeutung aus Ihrem Munde mich vermuten läßt, daß sie in ihrer Ehe nicht glücklich geworden ist – –«
»O!« protestierte Margot mit einer gewissen Lebhaftigkeit. »Das habe ich nicht gesagt. Und ich hätte auch gar kein Recht dazu gehabt, denn Herta hat sich mir gegenüber niemals in diesem Sinne geäußert, und so lange ich in diesem Hause lebe, habe ich noch nichts von Streit oder Unfrieden zwischen den beiden Gatten bemerkt. Ich sprach von überschwenglichen Glückseligkeiten, auf die sich meine Freundin von vornherein schwerlich Hoffnung gemacht haben würde. Denn darüber, daß diese Ehe in erster Linie eine Geldheirat gewesen ist, darüber konnte ich auch Sie nicht im Ungewissen glauben.«
»Also doch!« Es war im Ton einer schmerzlichen Enttäuschung von seinen Lippen gekommen. »Sie hat sich ihm also doch um schnödes Geld verkauft – diesem Erbärmlichen!«
»Warum so harte Ausdrücke, mein lieber Herr Neuhoff? Herta hat damit nichts anderes getan, als was täglich Hunderte und Tausende von jungen Mädchen tun, die praktisch genug sind, eine sichere Versorgung dem in ihren Augen recht zweifelhaften Glück eines leidenschaftlichen, aber vielleicht nur kurzen Liebesrausches vorzuziehen. Und überdies mögen fremde Einflüsse nicht wenig dazu beigetragen haben, ihren Entschluß zu bestimmen. Der Rechtsanwalt Leonhardt, den seine geschäftlichen Angelegenheiten so oft nach Eberstadt führten, war seit Jahren ein vertrauter Freund ihrer Verwandten, und man wußte, daß er ein wohlhabender Mann sei, dem seine ständig wachsende Praxis die glänzendsten Aussichten für die Zukunft eröffnete. Was konnte sich die Waise des beinahe vermögenslos gestorbenen Oberlehrers Besseres wünschen, als eine solche Heirat! Sie liebte den Dr. Leonhardt vielleicht nicht, aber am Ende ist er doch auch kein Mann, vor dem ein junges Mädchen geradezu Abscheu empfinden müßte. Und sie hatte nicht zu fürchten, daß er sie jemals schlecht behandeln würde. Denn er ist von galanten, ritterlichen Manieren – und damals wenigstens war er sicherlich bis über beide Ohren in Herta verliebt.«
»Freilich – es war die einfachste und natürlichste Sache von der Welt!« stimmte der junge Architekt in bitterem Ton zu. »Der geringfügige Umstand, daß sie sich bereits einem anderen angelobt hatte, fiel so vernünftigen Erwägungen gegenüber selbstverständlich nicht ins Gewicht.«
»Ich bin nicht berufen, Hertas Verhalten gegen Sie zu verteidigen, und ich vermute, daß sie selbst mir für solche Verteidigung wenig Dank wissen würde. Aber Sie sollten auch nicht härter mit ihr ins Gericht gehen, als sie es verdient. Ich würde mir natürlich nicht erlaubt haben, diese Dinge zu berühren, wenn es nicht zuerst durch Sie geschehen wäre. Nun aber dürfen Sie mir's nicht verübeln, wenn ich davon spreche. Sie sagten, daß Sie mit den geschäftlichen Dispositionen Ihres Vaters nicht mehr einverstanden gewesen seien, weil Sie sahen, daß seine Gutherzigkeit von unredlichen Leuten ausgebeutet wurde. Diese Ausbeutungen aber waren wohl nicht bloß von Ihnen, sondern auch von anderen bemerkt worden. Und Sie wissen ja, wie leicht in einer kleinen Stadt nachteilige Gerüchte entstehen. Mit lawinenartig anschwellenden Uebertreibungen natürlich! Solche Gerüchte sind dann eben auch Herta zugetragen worden, und weil sie doch wohl ein wenig damit gerechnet hatte, ihre Zukunft durch ein von dem Herrn Baumeister zu hinterlassendes beträchtliches Vermögen gesichert zu sehen, trug sie eben mit dem Schwinden dieser Hoffnung auch ihren Liebestraum zu Grabe.«
»Und damit glauben Sie sie zu entschuldigen? Sie wollen sie in meinen Augen weniger verdammenswert machen, indem Sie sie einer so erbärmlichen Gesinnung bezichtigen? Haben Sie denn einen tatsächlichen Anhalt dafür, daß sie wirklich durch die Gerüchte über den Vermögensverfall meines Vaters bestimmt worden ist, mit mir zu brechen?«
»Ich genoß Hertas Vertrauen nicht in so hohem Maße, daß sie mir etwas derartiges hätte zugestehen sollen, zumal ich in ihre Beziehungen zu Ihnen ja überhaupt gar nicht eingeweiht war. Aber ich erinnere mich allerdings recht gut, daß sie ein sehr lebhaftes Interesse hatte für alles, was über die finanziellen Schwierigkeiten des Herrn Baumeisters erzählt wurde, und daß sie mich einmal geradezu bat, bei unseren Bekannten Erkundigungen nach seinen Vermögensverhältnissen einzuziehen.«
Theodor Neuhoff stand auf.
»Dann brauche ich allerdings nichts weiteres mehr zu wissen,« sagte er in seinem härtesten Ton. »Und ich kann dem Schicksal nur Dank dafür wissen, daß es mich zur rechten Zeit aus meinen törichten Hoffnungen gerissen und mich vor späteren, vielleicht noch schmerzlicheren Enttäuschungen bewahrt hat. Ich bin Ihnen für Ihre Offenheit zu aufrichtigem Dank verpflichtet, Fräulein Margot! Aber wenn Sie mir erlauben wollen, auch meinerseits ganz offen zu sein – –«
»Gewiß! Würden Sie mich näher kennen, so würden Sie auch wissen, daß mir nichts so in tiefster Seele verhaßt ist, als Heuchelei und Verstellung.«
Sie hatte sich ebenfalls erhoben und stand in dem engen Raum kaum um eines Armes Länge von ihm entfernt. Er unterschied mit voller Deutlichkeit die Linien ihrer wundervoll ebenmäßigen Gestalt und den feinen Umriß ihres Gesichts, aus dem die großen Augen hier in dem ungewissen Dämmern mit einem ganz eigenen Glanze hervorleuchteten. Daß sie so schön sei, hatte er wohl nie zuvor ähnlich empfunden. Und unter diesem Eindruck gewannen seine Worte vielleicht einen wärmeren und bedeutsameren Klang, als er ihn ihnen hatte geben wollen.
»So glaube ich Sie allerdings zu kennen, Fräulein Margot! Aber ich hatte auch geglaubt, daß Sie in Ihrem Denken und Empfinden hoch über dem Durchschnitt jener Mädchen ständen, denen nichtige Aeußerlichkeiten den ganzen Inhalt ihres Lebens ausmachen.«
»Und nun – nun hegen Sie diese freundliche Meinung nicht mehr? Darf ich fragen, wodurch ich sie eingebüßt habe?«
»Sie haben für das Verhalten Ihrer Freundin Worte der Erklärung und der Rechtfertigung gefunden, die mir im innersten Herzen weh getan haben. Von jeder anderen vielleicht hätte ich solche Worte zu hören erwartet, nur nicht von Ihnen.«
Lange ließ die Gesellschafterin ihn auf eine Antwort warten, und als diese Antwort dann endlich kam, war er betroffen von dem Beben einer tiefen Betrübnis in ihrer bis zu kaum noch verständlichem Flüstern gedämpften Stimme.
»Wenn ich Ihnen wirklich weh getan habe, so dürfen Sie jetzt die Genugtuung hegen, daß Sie mir's reichlich vergolten haben. Denn schmerzlicher ist doch wohl nichts, als eine Anklage, auf die man sich nicht verantworten darf.«
In seiner aufrichtigen Bestürzung über die unerwartete Wirkung seiner Rede trat er unwillkürlich ganz nahe an sie heran.
»So war es ja nicht gemeint, Fräulein Margot! Ich habe Sie nicht kränken wollen – bei Gott, das war meine Absicht nicht! Und wenn ich Ihnen mit meinem Vorwurf unrecht getan habe – –«
»Wenn Sie mir unrecht getan haben! Sie konnten also im Ernst das alles, was ich zu Hertas Entschuldigung vorgebracht, für einen Ausdruck meiner eigenen Denkungsart halten? Glauben Sie mir's, Herr Neuhoff: von allen Demütigungen, die ich schon habe erfahren müssen, ist mir noch keine so bitter gewesen, als diese.«
Er war ihr so nahe, daß er das Zittern der zarten Schulter fühlen konnte, die sein Arm berührte. Und dieser unzweideutige Beweis des Kummers, den er ihr bereitet hatte, brachte ihn für einen Augenblick um alle Ueberlegung. Nur von dem dringenden Verlangen erfüllt, sie zu beruhigen und zu trösten, umfaßte er ihren Nacken und zog sie sanft zu sich heran.
»Verzeihen Sie mir doch – ich bitte Sie darum von ganzem Herzen! Wenn Sie nur ein einziges Wort der Verurteilung für Herta gehabt hätten – –«
Sie hatte sich nicht gegen die vertrauliche Annäherung gesträubt, und sie stand ganz regungslos, mit schlaff herabhängenden Armen und tief gesenktem Kopfe.
»Muß man denn durchaus immer verurteilen, was man nicht nachzuempfinden vermag?« fragte sie leise. »Weil ich selbst mit dem Manne, dem mein Herz gehört, ohne Besinnen alles Leid und alle Not teilen würde, soll ich es darum nicht verstehen können, daß andere anders geartet sind? Und soll mich das Mitleid, das ich mit ihrer inneren Armut empfinde, nicht dazu treiben, sie zu entschuldigen?«
»Wie hochherzig Sie sind, Margot – und wieviel tausendmal besser als ich! Aber Sie können mir nicht vergeben, was ich Ihnen mit meiner unsinnigen Rede angetan habe – nicht wahr, Sie können es nicht?«
Sie wandte den Kopf ein wenig zur Seite, aber sie entzog sich ihm auch jetzt noch nicht, und wie ein verzitternder Hauch nur klang es an sein Ohr:
»Doch! Ich habe es Ihnen vergeben.«
Wie es geschehen konnte, da ihn doch weder die Glut einer plötzlich auflodernden Liebesflamme, noch auch nur ein heißer Rausch der Sinne dazu getrieben – wie es geschehen konnte, daß er sie plötzlich fester umschlang, und daß er sich über sie herabneigte, um ihr Gesicht zu küssen – Theodor Neuhoff hätte sich selber wohl kaum Rechenschaft darüber ablegen können. Er hatte nur den einzigen Wunsch, ihr nach der unverdienten Kränkung, die sie eben von ihm erfahren, etwas recht Liebes zu erweisen, und die eigenartige Situation, in die der Zufall sie da gebracht, ließ ihn im Augenblick kein anderes Mittel finden als dies.
In dem Augenblick aber, da seine Lippen sie berührten, kam wie durch eine zauberische Einwirkung Leben in die bis dahin so regungslose Gestalt des Mädchens – ein leidenschaftlich ungestümes, wildheißes Leben, das ihn in tiefster Seele erschreckte. Sie machte sich von seiner sanften Umschlingung frei, doch nur, um in der nächsten Sekunde mit einem halb erstickten Ausruf des Jubels beide Arme um seinen Hals zu werfen und in verzehrender Glut ihren Mund auf den seinen zu pressen.
»O, du – du!« stammelte sie. »Ich habe dich ja so lieb – so lieb!«
Der entfesselte Sturm leidenschaftlicher Empfindungen, dem sie sich widerstandslos überließ, mußte sie aller Besinnung beraubt haben. Und so fühlte sie wohl auch nichts von der plötzlichen Kälte des Mannes, der wie unter der Wirkung eines lähmenden Entsetzens ihre flammende Zärtlichkeit duldete, ohne sie zu erwidern. Ein von außen hereindringendes Geräusch erst, das sie für das Knirschen des gefrorenen Gartenbodens unter einem schweren Menschentritt hielt, brachte sie zum Bewußtsein der Wirklichkeit zurück. Erschrocken lauschend erhob sie den Kopf, um dann ihre Arme von seinen Schultern herabgleiten zu lassen.
»Still!« flüsterte sie. »Sprich jetzt kein Wort! Es muß der Pförtner gewesen sein. Vielleicht hat er sich herangeschlichen, um zu horchen. Ich gehe jetzt hinauf, denn die Mädchen können mich hören, und sie würden sich allerlei Gedanken machen, wenn ich noch später käme. Und auch du mußt dich nach Verlauf einiger Minuten entfernen, denn um zehn Uhr wird die Haustür von innen verschlossen, und dann müßtest du den Pförtner bitten, dich hinauszulassen. Das darf unter keinen Umständen geschehen. Aber du wirst mir schreiben – nicht wahr? Gleich morgen wirst du mir schreiben?«
»Ja!« sagte er, denn es entsprach ja nur seinem eigenen Vornehmen, sie mit aller nur möglichen Beschleunigung über ihr unglückseliges Mißverständnis aufzuklären. »Ich werde sicherlich morgen schreiben.«
Er konnte es nicht hindern, daß sie sich noch einmal an seine Brust warf, und daß ihre durstigen Lippen abermals die seinigen fanden. Ein paar geflüsterte Laute noch, die er nicht mehr verstand, die ihm aber ohne Zweifel einen zärtlichen Abschiedsgruß hatten zuraunen sollen – dann ein leises Klingen der vorsichtig geöffneten und wieder geschlossenen Tür, und Theodor Neuhoff war mit seinen Gedanken allein.