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1.

Hastiger als gewöhnlich und in sichtlicher Erregung stieg der pensionierte Landgerichtspräsident von Butlar die Treppen zu seiner Wohnung empor. Seit langer Zeit hatte der alte Herr seinen Abendschoppen nicht so frühzeitig verlassen wie heute, und die Veranlassung, die ihn bestimmt hatte, die liebgewordene Erholung abzukürzen, konnte nur von unangenehmer Natur gewesen sein.

»Ist der Regierungsrat Mangold schon da?« fragte er das Dienstmädchen, das ihm behilflich war, den Überrock auszuziehen. »Und wo ist meine Frau?«

»Die gnädige Frau hilft dem Fräulein bei der Toilette. Der Herr Regierungsrat ist aber noch nicht gekommen.«

Die Wohnung des Präsidenten hatte nur wenige Zimmer, und ihre Ausstattung war von geradezu auffälliger Einfachheit. Dieselben schlichten Möbel, Bilder und Teppiche, mit denen vor vielen Jahren der Kreisrichter von Butlar ein bescheidenes Heim für sich und seine junge Frau eingerichtet hatte, machten noch heute fast den gesamten Inhalt und Schmuck der beschränkten Behausung aus. Weniges nur war im Lauf der Zeit hinzugekommen, und auch diese neueren Erwerbungen, zumeist gegenseitige Geschenke der Ehegatten bei festlichen Anlässen, gaben beredtes Zeugnis von dem einfachen, anspruchslosen Sinn ihrer Geber und Empfänger.

Nach dem Hofe hinaus, neben dem Schlafgemach der Eltern, lag Fräulein Erika von Butlars schmales, einfenstriges Stübchen, und dahin lenkte der Präsident jetzt seine eiligen Schritte. Erst als er sich zu erkennen gegeben hatte, wurde ihm von drinnen die Erlaubnis zum Eintritt erteilt, und mit einem kleinen Ausruf freudiger Überraschung blieb der alte Herr an der Schwelle stehen, betroffen von dem unerwarteten Anblick, der sich ihm bot.

Und sicherlich war eine Regung väterlichen Stolzes kaum jemals begreiflicher und berechtigter gewesen als in diesem Fall. Gewiß war Herr von Butlar auch vor dieser Stunde nicht blind gewesen für die hold erblühte jungfräuliche Schönheit seines einzigen, ihm erst nach beinahe vierzehnjähriger Ehe geborenen Kindes, die ganze Fülle süßen, bestrickenden Liebreizes aber, die über ihr feines Gesichtchen und über ihren schlanken, biegsamen Körper ausgegossen war, hatte er noch nie mit so freudiger Genugtuung wahrgenommen wie heute, da er sie zum erstenmal im Ballanzuge sah.

Dabei war Fräulein Erikas Ballstaat von gar bescheidener Pracht, und die meisten ihrer Freundinnen wären ohne Zweifel entsetzt gewesen, wenn man ihnen zugemutet hätte, in einem so anspruchslosen blauen Tüllkleidchen das vornehmste Fest des Winters zu besuchen. Nur die frischen, blühenden Farben der eben Siebzehnjährigen, nur ihre leuchtenden Augen, die schimmernde Herrlichkeit ihres üppigen Goldhaares, die schneeige Weiße der zartgeformten Schultern und Arme, machten sie in dem einfachen, duftigen Gewande zu einer so bezaubernden Erscheinung, die selbst den eigenen Vater wie etwas ganz Neues, bisher nie Gesehenes anmutete.

Die Frau Präsidentin, die es keiner fremden Hand hatte überlassen wollen, ihr Töchterchen für den ersten Ball zu schmücken, war eben beschäftigt, ein paar frische Blumen in ihrem Haar zu befestigen. Auch ihr strahlte die mütterliche Freude hell von dem guten, schon etwas faltigen Gesicht, und mit einem Lächeln, dessen Bedeutung er unmöglich mißverstehen konnte, nickte sie ihrem Gatten zu.

»Ich fürchtete schon, daß es Mangold sein könnte,« meinte sie. »Er ist ja von pedantischer Pünktlichkeit, und bei dem ersten gemeinsamen Ausfluge in die große Welt darf Erika ihn doch unmöglich warten lassen.«

Der Name, den sie da genannt hatte, mochte die für einen Moment zurückgetretene Erinnerung an die Ursache seiner vorzeitigen Heimkehr in dem alten Herrn von neuem geweckt haben, und während ihn das junge Mädchen halb verschämt und halb beglückt begrüßte, seufzte er vernehmlich auf.

»Eigentlich ist es doch nicht recht passend, daß wir sie ganz allein mit ihrem Verlobten auf den Ball gehen lassen,« sagte er. »Es wäre wohl besser gewesen, eine Gelegenheit abzuwarten, wo wenigstens eines von uns sie hätte begleiten können.«

Aber die Frau Präsidentin, die sonst in allen Stücken die Ansichten ihres Gatten teilte, war diesmal nicht seiner Meinung.

»Erika hat sich seit dem Augenblick, da die Einladung kam, so sehr auf diesen Ball beim kommandierenden General gefreut, und es wäre wirklich eine Grausamkeit gewesen, ihr das erste große Vergnügen zu versagen, nur weil wir Leiden Alten nicht mitgehen können. – Und dann – Mangold ist doch auch keiner von den windigen Leichtfüßen. Ich denke, unter seinem Schutze ist sie nicht schlechter aufgehoben als unter dem unsrigen. Ein so ernsthafter, ruhiger Mann –«

Herr von Butlar seufzte wieder und rieb sein bartloses Kinn.

»Ja, ja, ja – das sagt man nun so, und ich stelle auch gar nicht in Abrede, daß ich im Grunde derselben Ansicht bin. Aber am Ende kann man doch niemals wissen, ob man sich nicht vollständig in dem Charakter eines Menschen täuscht, wie gründlich man ihn auch zu kennen glaubt.«

Die Hausfrau, die noch immer mit liebevoller Sorgfalt an Erikas reizendem Köpfchen beschäftigt war, drehte sich mit erstaunt fragendem Blick nach ihrem Manne um.

»Geht das auf den Regierungsrat? – Dein leidiges Juristenmißtrauen will sich doch nicht etwa auch ihm gegenüber geltend machen?«

Der Vorwurf, der in dieser Frage lag, schien den ehemaligen Präsidenten ein wenig gekränkt zu haben, denn er gab mit etwas gereizter Betonung zurück:

»Von irgend einem grundlosen Mißtrauen ist dabei durchaus nicht die Rede. Auch hatte ich nicht eigentlich die Absicht, meinem künftigen Schwiegersohn etwas Übles nachzusagen. Aber wenn man solche Geschichten hört, wie sie mir vorhin in der Weinstube erzählt wurden – und von einem Manne, dessen unbedingte Wahrheitsliebe ebenso über jeden Zweifel erhaben ist wie seine wohlwollende Gesinnung –«

»So, mein Kind – nun kann ich dich beim besten Willen nicht mehr schöner machen,« unterbrach Frau von Butlar einigermaßen rücksichtslos seine sorgenvoll klingende Rede. »Und nun laß uns ins Wohnzimmer hinübergehen, damit du dich dort in dem großen Spiegel wenigstens einmal ordentlich betrachten kannst.«

Erika leistete der Aufforderung Folge; aber ihr eben noch so strahlendes Gesichtchen war merklich ernster geworden, und als sie dann vor dem goldgerahmten Pfeilerspiegel, einem besonders wertgehaltenen Prunkstücke der Wohnung, stand, zeigte sie beim Anblick ihres holdseligen Ebenbildes viel geringere Befriedigung, als ihre Mutter es zum Dank für die aufgewendete Mühe erwartet haben mochte.

»Was kann man dir von Gustav Schlimmes erzählt haben, lieber Vater?« fragte sie, nachdem ihre Augen kaum einmal flüchtig über das Glas hinweggeglitten waren. »Es ist doch wohl nur ein Mißverständnis gewesen, denn er ist gewiß nicht fähig, etwas Unrechtes zu tun.«

»Natürlich ist es durchaus nichts, das seine Ehrenhaftigkeit in Frage stellt,« versicherte der Präsident wie zu ihrer Beruhigung sehr lebhaft. »Vielleicht war er sogar gewissermaßen in seinem Recht. Aber für einen Beamten wie für einen Soldaten heißt das oberste Gesetz: Subordination, und ich halte es geradezu für einen bedenklichen Charakterfehler, wenn ein Mann in seinen Jahren noch nicht gelernt hat, sich den Geboten der Pflicht bedingungslos zu unterwerfen. Auch fürchte ich, daß das Ereignis von der übelsten Einwirkung auf seine ganze künftige Laufbahn sein werde.«

»Warum ängstigst du das Kind mit solchen unverständlichen Andeutungen?« fragte Frau von Butlar, die bei den letzten Worten ihres Gatten die Farbe aus Erikas Wangen weichen sah. »Hinter der Geschichte, die man dir erzählt hat, steckt wahrscheinlich nichts anderes als eine hämische Klatscherei. Leute von Mangolds Tüchtigkeit, die sich überdies als rechte Männer ihres eigenen Wertes voll bewußt sind, pflegen bei Kollegen und Untergebenen selten besonders beliebt zu sein. Er gehört eben nicht zu denen, die nach jedermanns Gunst haschen, und da ist es ganz natürlich, wenn Feinde und Neider hinter seinem Rücken allerlei erlogene oder übertriebene Geschichten verbreiten.«

Das sanfte Gesicht der Präsidentin gewann niemals einen energischeren Ausdruck, als wenn sie Gelegenheit fand, für ihren künftigen Schwiegersohn einzutreten, und sie würde ihre Absicht, durch die in so bestimmtem Tone gehaltene Erklärung alle weiteren Erörterungen des Gegenstandes abzuschneiden, vermutlich auch erreicht haben, wenn nicht Erika selbst jetzt darauf bestanden hätte, Näheres zu erfahren. Sie ging auf den Vater zu, streichelte ihm liebkosend die Wange und bat ihn, ihr alles zu sagen. Etwas kleinlaut und mit einem unsicheren Seitenblick auf seine Gattin kam Herr von Butlar ihrem Verlangen nach.

»Ich würde nicht abgeneigt sein, deiner Mutter beizustimmen, wenn es ein anderer als gerade der Oberregierungsrat von Dörnberg gewesen wäre, der mir den Vorfall erzählt hat,« meinte er zögernd. »Ich kann dir nicht ausführlich darlegen, um was es sich dabei im Grunde gehandelt hat, denn das sind Verwaltungsangelegenheiten, von denen du nichts verstehst, und Herr von Dörnberg hat mir überdies die eigentliche Ursache des Konflikts nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit offenbart. Aber das Lange und Breite von der Sache ist, daß Mangold einer bestimmten Weisung des Oberpräsidenten von Carlowitz geradezu entgegengehandelt und dies Vergehen durch sein persönliches Auftreten, als ihn Seine Exzellenz behufs einer Rechtfertigung zu sich kommen ließ, noch bedeutend verschlimmert hat. Da die Unterredung unter vier Augen stattgefunden, wußte mir Dörnberg nicht genau zu sagen, welche Äußerungen dabei auf beiden Seiten gefallen sind. Aber es scheint, daß Mangold die ihm durch die Beamtendisziplin gezogenen Schranken sehr wenig respektiert hat, denn es steht fest, daß sich Herr von Carlowitz, nachdem er ihn sehr ungnädig entlassen, in großer Aufregung befunden und von der Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen ihn gesprochen hat. Da ich im Begriff bin, dem Regierungsrat deine ganze Zukunft anzuvertrauen, hielt ich es für meine Pflicht, auf der Stelle nach Hause zurückzukehren und eine Erklärung von ihm zu verlangen, noch ehe er sich zum ersten Male öffentlich mit dir zeigt.«

»Eine Erklärung? – Worüber, Herr Präsident?«

Es war eine tiefe Männerstimme von auffallend kaltem und ruhigem Klange, welche mit dieser Frage die Herzensergießung des besorgten Vaters unterbrochen hatte. Im offenen Überrock, unter dem der tadellose schwarze Ballanzug sichtbar wurde, stand der Regierungsrat auf der Schwelle des Wohnzimmers. Er war von sehr hoher und etwas schmalschultriger und hagerer Gestalt. Sein Gesicht, das einen Mann von vielleicht fünfunddreißig Jahren in ihm vermuten ließ, war weder schön noch häßlich. Der günstige Eindruck, den seine regelmäßigen Formen wohl hätten hervorbringen können, wurde durch strenge, fast herrische Züge beeinträchtigt, und der dichte, schwarze Vollbart gab ihm – namentlich bei längerer Betrachtung – vollends etwas beinahe abstoßend Finsteres.

Die Wirkung seines unerwarteten Eintritts zeigte sich besonders bei Herr von Butlar auf eine wunderliche Art. Der kleine, alte Herr, der noch eben mit so großer Entschiedenheit seine väterlichen Rechte und Pflichten betont hatte, war bei dem Klang der gelassenen Frage förmlich zusammengeknickt. Verwirrt und stammelnd suchte er nach Worten für die Erwiderung, die schließlich ganz das Aussehen einer schüchternen Bitte gewann.

»Halten Sie es nicht für eine Einmischung in Ihre persönlichen Angelegenheiten, lieber Sohn – aber man hat mir von einem ärgerlichen Konflikt erzählt, der zwischen Ihnen und dem Oberpräsidenten von Carlowitz entstanden sei – man hat sogar der Befürchtung Ausdruck gegeben, daß durch den unliebsamen Zwischenfall Ihre ganze Beamtenkarriere gefährdet sein könnte, und da wollte ich – da glaubte ich, mir ohne Unbescheidenheit die Frage erlauben zu dürfen –«

Er stockte und sah hilflos auf seine Gattin, die jedoch in diesem Fall durchaus nicht geneigt schien, ihm Beistand zu leisten. Mangold, der seine Stellung bisher nicht verändert hatte, wartete noch ein paar Sekunden lang, um dann in seinem vorigen, überlegen ruhigen Tone – jetzt sogar mit einem fühlbaren Anfluge von Sarkasmus – zu sagen:

»Zwar weiß ich trotz dieser Auskunft noch immer nicht recht, von welcher Art die gewünschte Erklärung sein sollte; aber Sie gestatten mir vielleicht zu bemerken, daß es sich bei dem fraglichen Vorfall um eine rein interne Dienstangelegenheit handelt, die für niemand als für meine vorgesetzte Behörde irgend ein Interesse haben kann. Auf eine etwaige Aufforderung, Ihnen deshalb Rede zu stehen, könnte ich darum nur dieselbe Antwort geben, die Sie, Herr Präsident, ohne Zweifel in Bereitschaft gehabt haben würden, wenn es etwa einem General oder einem Konsistorialrat in den Sinn gekommen wäre, für eine Ihrer richterlichen Entscheidungen Rechenschaft von Ihnen zu verlangen.«

Herr von Butlar machte ein sehr verdutztes Gesicht, und all der Wortreichtum, der ihm sonst zu Gebote stand, reichte nicht hin, ihn sogleich eine passende Entgegnung finden zu lassen. Der Regierungsrat aber betrachtete den Gegenstand vollständig als abgetan, denn er trat mit etwas steifem und altmodischem Anstand auf die beiden Damen zu, um zuerst der Präsidentin und dann seiner anmutigen Braut ritterlich die Hand zu küssen. Erwartungsvoll hing Frau von Butlars Blick an seinem Gesicht. Zweifellos war sie auf eine Äußerung bewundernden Entzückens oder doch wenigstens auf ein glückliches Aufleuchten in seinen Zügen gefaßt. Aber Mangolds Antlitz blieb ganz unbeweglich. Er schien kein Auge für Erikas bestrickende Schönheit zu haben und schien heute nichts anderes in ihr zu sehen als bei irgend einem seiner früheren Besuche.

»Ich habe dich um Verzeihung zu bitten, liebe Erika, daß ich zehn Minuten über die festgesetzte Zeit auf mich warten ließ. Aber auf dem Glatteis kam eines der beiden Pferde zu Fall, und der ungeschickte Kutscher des Mietwagens brauchte so lange Zeit, um es wieder auf die Beine zu bringen. Wenn es dir genehm ist, machen wir uns nun auf den Weg.«

Vielleicht hatte auch das junge Mädchen auf ein freundliches Wort über ihr Aussehen oder auf einen warmen Blick gehofft, denn ihr Köpfchen war während seiner Anrede tief herab gesunken, und um ihre Mundwinkel zuckte es. Sie antwortete ihm nur durch eine stumme bejahende Bewegung und dankte ihrer Mutter mit einigen beklommenen, mehr gehauchten als gesprochenen Worten für die zärtliche Sorgfalt, mit der sie den weichen, warmen Mantel um ihre entblößten Schultern legte. Dann reichte Mangold seiner Braut den Arm und verabschiedete sich in jener gemessen förmlichen Weise, die seinem Benehmen eigentümlich war, von den künftigen Schwiegereltern. Frau von Butlar gab ihrem Töchterchen noch einige Verhaltungsregeln mit, die sich besonders auf die drohende Gefahr einer Erkältung bezogen; der Präsident aber hatte inzwischen Zeit gefunden, eine etwas gekränkte Miene aufzusetzen, und der Regierungsrat mußte diesmal auf die gewohnten warmen Händedrücke verzichten, mit denen der alte Herr sonst überaus freigebig war.

Mangold empfand diese Strafe indessen allem Anschein nach nicht allzu schwer. Mit seinem unveränderlich ruhigen Gesicht führte er Erika die Stiegen hinab, war ihr behilflich, in den Wagen zu steigen und nahm dann – kerzengerade aufgerichtet – neben ihr auf dem Polster Platz. Schweigend fuhren sie durch ein paar Straßen, dann fragte die junge Dame zaghaft und leise:

»Es ist also wahr, was der Vater von deinem Streit mit dem Oberpräsidenten erzählte, Gustav? Du hast ihn zum Zorn gegen dich gereizt?«

»Ich habe meine Überzeugung vertreten und habe ihm offen meine Meinung gesagt – das ist alles. Wenn er meine freimütige Sprache nicht vertragen konnte, so ist das schlimm für ihn, nicht für mich.«

»Aber es kann dir schaden – nicht wahr?« – Er kann dich um alle deine Zukunftsaussichten bringen?«

»Vielleicht. Man sagt ja, daß er binnen kurzem Minister sein werde, und ein Minister vermag sehr viel. Ich aber werde mich niemals durch Bedenken solcher Art zu einem Opfer an meiner Mannesehre bestimmen lassen.«

»Gibt es denn gar keine Möglichkeit, ihn ohne ein solches Opfer zu versöhnen?«

»Ich glaube nicht. Seine Exzellenz hat mir durch eine Mittelsperson nahegelegt, ihn um Entschuldigung zu bitten; da ich aber meiner Überzeugung nach im Rechte bin, denke ich natürlich nicht daran, einem derartigen Ansinnen zu entsprechen.«

Der Wagen hielt vor dem Hause des Generals, und zu einer Fortsetzung des Gespräches war für den Augenblick keine Möglichkeit mehr gegeben. Beklommen schmiegte sich Erika an den Arm ihres Verlobten, während sie über den weichen Teppich durch die prächtige Vorhalle schritten, und mit klopfendem Herzen sah sie den Erlebnissen dieses ihres ersten Balles entgegen.

 

2.

In dem großen, reich dekorierten Festsaal, der fast das ganze erste Stockwerk des Dienstgebäudes einnahm, bewegte sich bereits der bunte Schwarm der Geladenen. Die farbenreichen Toiletten der Damen vereinigten sich mit den blitzenden Uniformen der zahlreich erschienenen Offiziere in der blendenden Beleuchtung zu einem stetig wechselnden Bilde von herzerfreuender Heiterkeit und berückender Pracht. Nahezu alle durch ihre amtliche oder gesellschaftliche Stellung hervorragenden Persönlichkeiten der Stadt waren hier vereinigt, und wie in dem Gewühl nur ganz vereinzelt hier und da ein schwarzer Frack auftauchte, der nicht einmal durch ein bescheidenes Ordenskreuzchen geschmückt war, so befanden sich auch unter den weiblichen Festteilnehmern nur wenige, die gleich Erika von Butlar vollständig auf die Zierde glitzernder Edelsteine verzichtet hatten. Daß die Tochter des Präsidenten trotzdem in dieser Gesellschaft stolzer Schönheiten nicht zu einem unscheinbaren Aschenbrödelchen geworden war, offenbarte sich unzweideutig in der Unterhaltung zweier junger Offiziere, die dem Eingang des Saales gegenüberstanden, als Erika denselben am Arm ihres Verlobten betrat.

Der eine von ihnen, ein schlanker, bildhübscher Jüngling von höchstens dreiundzwanzig Jahren, konnte sich nur auf Urlaub hier in der Provinzhauptstadt befinden, denn er trug die kleidsame Uniform eines Gardedragonerregiments. Mit lebhaftestem Interesse musterten seine in jugendlicher Lebensfreude leuchtenden dunklen Augen die anwesenden Damen, in dem Moment aber, da er Erikas ansichtig wurde, legte er seine Hand hastig auf den Arm des Kameraden.

»Alle Wetter, Falkenhayn – das entzückende Gesichtchen da drüben sollt' ich doch kennen! – Aber daß sie sich in den kurzen drei Jahren so wunderbar herausgemacht haben sollte – ich kann doch wieder nicht recht daran glauben.«

»Ist es die junge Dame in dem schlichten blauen Kleide, die du meinst?«

»Ja – die mit dem langen, schmalbrüstigen Herrn. Weißt du, wer es ist?«

»Ja. Fräulein Erika von Butlar, die Tochter des ehemaligen Landgerichtspräsidenten.«

»Also wirklich! Ich erinnere mich ihrer noch in kurzen Kleidern und mit langen Zöpfen. Daß sie so schön geworden sein könnte, vermochte ich mir wahrhaftig nicht vorzustellen. Kennst du auch den Beneidenswerten, der sie am Arme führt?«

»Freilich! Es ist der Regierungsrat Mangold, ihr Verlobter.«

Der junge Dragoner machte ein ganz bestürztes Gesicht.

»Unmöglich! Das liebreizende Kind und der nüchterne, finster blickende Geselle sollten ein Paar sein? – Er ist ja wenigstens doppelt so alt wie sie!«

»Mag sein. Aber an der Tatsache ist trotzdem nicht zu zweifeln, mein lieber Carlowitz! – Da gibt es für unsereins nichts mehr zu erobern. Die Verlobungsanzeige hat vor vier Wochen in allen Zeitungen gestanden.«

Der andere schüttelte den Kopf, als könne er sich noch immer nicht recht entschließen, an die Wahrheit der Mitteilung zu glauben.

»Schade um das arme Kind. Das Aussehen dieses Regierungsrats verheißt ihr keine heitere Zukunft. Ein fatales Gesicht! Wie in aller Welt mag der Mensch nur zu einem so unverschämten Glück gekommen sein?«

Der Leutnant von Falkenhayn zuckte die Achseln.

»Darüber habe ich natürlich keine Meinung. Aber in der hiesigen Gesellschaft war das Erstaunen bei dem Bekanntwerden des Ereignisses gar nicht so groß. Mangold soll der Erbe eines großen Vermögens sein, und Herr von Butlar hat, wie es heißt, nichts als seine Pension.«

Der Dragoner machte eine fast ungestüm abwehrende Bewegung.

»Ach pfui! Ein Wesen mit solchem Engelsantlitz ist sicherlich nicht fähig, sich zu verkaufen. Wahrscheinlich hat ihr Bräutigam innere Vorzüge, die ihm ihre Liebe gewonnen haben. Aber ich bin wirklich neugierig, ob sie sich meiner noch erinnert. Bei der ersten schicklichen Gelegenheit mache ich ihr meine Reverenz.« – –

Die auf einer Estrade plazierte Militärkapelle ließ eben die lockenden Klänge des ersten Walzers erschallen; die Augen der jungen Damen leuchteten auf, und schon in der nächsten Minute wirbelten die ersten Paare durch den Saal. Überall hatten sich wie auf ein Zauberwort die plaudernden Gruppen aufgelöst, denn neben den rauschenden Weisen des Altmeisters Strauß konnte selbst die witzigste Unterhaltungsgabe nicht bestehen.

Mit einer steifen Verbeugung forderte auch Mangold seine Dame zum Tanze auf; aber er war kein Meister in der leichtbeschwingten Kunst. Seine langsamen, eckigen Bewegungen behielten ihre eigentümliche, würdevolle Gemessenheit, und die feurigen Rhythmen vermochten sein Blut offenbar nicht in raschere Wallung zu bringen. Schon nach der ersten Runde hielt er inne und führte seine Tänzerin zu einem der Sammetsessel, die rings an den Wänden aufgestellt waren. Er wollte eben ein Gespräch mit ihr beginnen, als der schlanke Dragonerleutnant vor ihnen auftauchte.

»Mein Name ist Carlowitz. Darf ich hoffen, mein gnädiges Fräulein, daß Sie sich unserer alten Bekanntschaft noch entsinnen?«

Erika sah zu ihm auf, um gleich nachher in einer allerliebsten mädchenhaften Verlegenheit die Lider wieder zu senken.

»Gewiß, Herr Leutnant,« sagte sie. »Wir sind uns im Hause meiner Freundin Cilly Hoßbach ja sehr häufig begegnet. Aber ich war zu jener Zeit ein kleines Schulmädchen, und ich glaubte wirklich nicht, daß Sie sich meiner von da her noch erinnern würden.«

Der Offizier gab eine artige Antwort und wandte sich dann gegen den Regierungsrat, um sich auch ihm vorzustellen und nach dem Gebot der guten Sitte seine Erlaubnis zu erbitten, bevor er Erika zum Tanze aufforderte.

Mangold neigte ein wenig das Haupt und blieb unbeweglich hinter dem leergewordenen Sessel stehen, während die Leiden jungen Menschenkinder, wie getragen von den Wellen der Musik, im raschen Wirbel dahinflogen. Auf seinem immer gleichmäßig ernsten Gesicht verriet sich nicht, ob ihm die Annäherung des Leutnants, von dem er wußte, daß er der jüngste Sohn des Oberpräsidenten war, angenehm sei oder nicht; aber seine scharfen Augen hingen unverwandt an diesem einen Paare; nicht für einen einzigen Moment ging es seinem Blick in dem bunten, rasch bewegten Gewühl verloren, und er sah sicherlich jedes Lächeln des Offiziers, jedes leichte Erröten und jede geringfügige Veränderung in Erikas Gesicht.

Erst als die Musik verstummte, brachte ihm Carlowitz mit einem verbindlich heiteren Wort seine Braut zurück. Erika atmete rasch und wehte sich mit ihrem Fächer Kühlung zu. Aber es war ganz unverkennbar nicht die Anstrengung, sondern das Vergnügen, das ihre Wangen glühen machte – ein Vergnügen, von dem sie vorhin während des Tanzes mit ihrem Verlobten nur sehr wenig empfunden zu haben schien. Der Leutnant blieb auch in der Pause neben ihrem Sessel, und nachdem ein höflicher Versuch, Mangold in das Gespräch zu ziehen, an der kühlen Zurückhaltung des Regierungsrats gescheitert war, vertieften sich die beiden mit wachsender Lebhaftigkeit in ihre gemeinsamen Erinnerungen, die zwar durchweg von geradezu kindlicher Harmlosigkeit waren, sie aber vielleicht gerade deshalb sehr fröhlich und ausgelassen stimmten.

Als das Orchester dann eine Polka intonierte, fügte sich Herr von Carlowitz nur zögernd und anscheinend ungern der Notwendigkeit, eine schon früher eingegangene Verpflichtung zu erfüllen. Aber bevor er sich empfahl, versäumte er nicht, seinen Namen an verschiedenen Stellen in Erikas Tanzkarte zu schreiben. So geschah es auf die natürlichste Weise von der Welt, daß er schon nach Verlauf einer Viertelstunde abermals an ihrer Seite war, und daß der Regierungsrat wieder den Zuschauer machen mußte, während sie tanzten. Diesmal blieb Mangold nicht auf seinem Platz hinter dem Sessel, sondern er zog sich in einen Winkel des Saales neben dem Orchesterpodium zurück, wo ein kleiner Wald von exotischen Blattpflanzen seine hohe Gestalt fast verbarg, während er doch alles, was vor ihm geschah, bequem beobachten konnte.

Sein Aussehen würde auch dem geübtesten Physiognomiker keinen Schluß auf die Art der Gedanken gestattet haben, die sich hinter seiner Stirn jagten; zuweilen aber zuckte es eigentümlich um seine bärtigen Lippen, und wenn er wahrnahm, wie Erika – für wenige Minuten im Tanzen innehaltend – am Arme des Leutnants dahinschritt, ohne durch einen suchenden Blick zu verraten, daß sie ihren Verlobten vermißte, so konnten seine kalten Augen wohl für einen Moment ganz überraschendes Feuer gewinnen. Gewiß hatte ihm Erika bisher nicht die geringste Veranlassung gegeben, an der Aufrichtigkeit ihrer Zuneigung zu zweifeln, aber er hatte ja auch noch niemals Gelegenheit gehabt, ihre Liebe auf die Probe zu stellen. Kaum zwei Monate waren vergangen, seitdem er sie in einem befreundeten Hause zum erstenmal gesehen und einen Vorwand gefunden hatte, den Butlars seine Aufwartung zu machen. Sie war ihm von Anfang an unbefangen und freundlich entgegengekommen. Die kleinen Huldigungen, welche er ihr in seiner steifen, altfränkischen Weise dargebracht, hatten ihr offenbar Vergnügen bereitet, und mit einer Aufmerksamkeit, die zuweilen fast etwas andächtig Bewunderndes hatte, war sie an den stillen Abenden, wo er stets der einzige Gast des Hauses gewesen war, seiner klugen und gewichtigen Rede gefolgt. Als er dann nach reiflichem Überlegen seine Werbung vorgebracht, zuerst bei den Eltern, die ihm freudig ihr Jawort gegeben, und dann bei Erika selbst, hatte es allerdings für einen Augenblick den Anschein gehabt, als ob sie mehr überrascht und erschrocken denn beglückt und selig sei. Demütig hatte sie während seiner sorgsam vorbereiteten, wohlgesetzten Worte das blonde Köpfchen gesenkt, und er hatte lange vergebens auf eine Erwiderung von ihren bebenden Lippen gewartet. Doch ihr hartnäckiges Schweigen hatte einen Mann von seinen Charaktereigenschaften natürlich nicht zu verwirren vermocht. Als er mit seiner mäßig warmen Liebeserklärung und der gewissenhaften Darlegung seiner persönlichen Verhältnisse zu Ende gewesen, hatte er nicht unterlassen, sie auch von der bereits erfolgten Zustimmung ihrer Eltern in Kenntnis zu setzen, und seine Zuversicht, daß damit auch ihrer Entscheidung die bestimmte Richtschnur gegeben sei, hatte ihn nicht betrogen. Ein zaghaft geflüstertes Ja war ihm auf seine nochmalige Frage zu teil geworden, und sie hatte sich nicht gesträubt, als er sie in seine Arme genommen, um den Verlobungskuß auf ihre keuschen Kinderlippen zu drücken. Seit jenem Tage war ihr Verkehr ganz in der bisherigen Weise fortgesetzt worden, mit dem einzigen kleinen Unterschied, daß bei der Anrede das vertraute Du an die Stelle des förmlichen Sie getreten war, und daß Mangold sich beim Kommen und Gehen eine diskrete Liebkosung erlaubte. Seine ernsthafte Gemessenheit hatte eine wirkliche seelische Annäherung in dieser kurzen Zeit kaum ermöglicht, aber Erikas Benehmen war jederzeit ein so musterhaftes gewesen, wie es ein Mann von den strengen Grundsätzen des Regierungsrats nur immer begehren konnte. Darum durfte ihn ihr Verhalten auf diesem ersten Feste, das sie gemeinschaftlich besuchten, Wohl einigermaßen befremden. Daß sie auch mit anderen tanzte als mit ihm, war am Ende verzeihlich, aber daß sie diesen aufdringlichen Leutnant, der sie noch dazu mit der Vertraulichkeit eines alten Bekannten begrüßt hatte, in so offenkundiger Weise auszeichnete – daß die läppischen Jugenderinnerungen, welche sie mit ihm teilte, ihrem Lachen einen so hellen, glücklichen Klang, ihren Augen ein so sonniges Leuchten geben konnten, das mußte für ihren Verlobten vielleicht doch eine Ursache berechtigten Verdrusses sein.

Und als ihn ein Blick auf seine Taschenuhr belehrt hatte, daß Mitternacht vorüber sei, verließ der Regierungsrat seinen versteckten Platz mit den sicheren Schritten eines Mannes, der im Begriff ist, einen festen und unerschütterlichen Vorsatz auszuführen. Geradeswegs ging er auf Erika zu, und obwohl sein Gesicht nicht finsterer war als sonst, wechselte das junge Mädchen doch bei seiner Annäherung die Farbe, als sei es auf einem Unrecht ertappt worden. Die kleine, schmale Hand glitt unwillkürlich von dem Arm des Dragoneroffiziers herab, und ein scheuer Blick aus den großen blauen Augen streifte Mangolds Antlitz.

»Du wirst das Bedürfnis haben, dich auszuruhen, liebe Erika,« sagte der Regierungsrat mit kühler Höflichkeit. »Gestatte mir also, dich jetzt in das Erfrischungszimmer zu geleiten.«

Er reichte ihr den Arm und führte sie, ohne eine Antwort abzuwarten, hinweg, als ob er den Leutnant überhaupt nicht bemerkt hätte. Mit höchst erstaunter Miene blickte ihnen Carlowitz nach, denn er ahnte in seiner Unbefangenheit nicht, wodurch er dem Manne, dem er heute zum erstenmal begegnet, Anlaß zu einem so unhöflichen Benehmen gegeben haben könnte. Als das Brautpaar sich fast schon am Ausgang des Saales befand, wandte Erika noch einmal den Kopf. Es war vielleicht nur eine rein zufällige Bewegung, aber trotz der großen Entfernung begegneten ihre Augen sogleich denen des Offiziers, und es flammte dunkel in ihren Wangen auf.

»Welch eine Sünde ist an diesem armen Wesen begangen worden!« dachte der Sohn des Oberpräsidenten, und zwischen seinen Brauen erschien eine Falte. »Der grämliche Bursche ist wahrhaftig der letzte, der sie glücklich machen könnte.«

Das bunte Festestreiben zog ihn bald wieder in seine Wirbel, aber die jungen Damen, mit denen er tanzte, machten zu ihrem Mißvergnügen die Wahrnehmung, daß er bei weitem nicht mehr der übermütig lustige Gesellschafter war wie zuvor.

In dem kühleren Nebenraum, wo die reichbesetzten Buffets ausgestellt waren, versorgte unterdessen der Regierungsrat Mangold Erika in der artigsten Weise mit allerlei Erfrischungen. Daß sie die dargebotenen Delikatessen kaum berührte und ihre Lippen nur ein einziges Mal flüchtig mit dem perlenden Champagner benetzte, schien er nicht zu bemerken. In einem Gespräch über allerlei gleichgültige Dinge hielt er sie auch dann noch da drinnen fest, als Fanfarenklänge aus dem Tanzsaal den Beginn des Kotillons verkündeten und sich auf dies langersehnte Signal hin die Buffeträume rasch leerten. Hatte sich Erika bis dahin gezwungen, der Unterhaltung mit dem Verlobten ihre volle Aufmerksamkeit zuzuwenden, so blieb sie ihm jetzt zum erstenmal auf eine seiner Bemerkungen die Antwort schuldig, und ihre Blicke flogen in sichtlicher Unruhe zu dem Saaleingange hinüber. Eine Minute später stand sie hastig auf.

»Ich habe dem Leutnant von Carlowitz diesen Tanz zugesagt, und es wäre unartig, wenn ich mich von ihm vergeblich suchen ließe.«

Gelassen legte der Regierungsrat, um sie zurückzuhalten, die Hand auf ihren Arm.

»Ich zweifle nicht, daß der Herr Leutnant dich auch hier zu finden weiß, aber du wirst heute nicht mehr mit ihm tanzen.«

Sie erhob mit einer raschen, etwas unmutigen Bewegung das Köpfchen.

»Du verbietest es mir? Weshalb?«

»Weil ich es für unschicklich halte. Ich mache dir wegen deines bisherigen Benehmens keinen Vorwurf, denn du bist durch deine Unerfahrenheit hinlänglich entschuldigt. Gerade um dieser Unerfahrenheit willen aber wirst du mir nun auch gestatten müssen, dich zu beraten. Eine junge Dame, zumal wenn sie verlobt ist, darf im Verkehr mit solchen Balllöwen nur bis an eine gewisse Grenze gehen, sofern sie ihrem Rufe nicht schaden will. Und mir scheint, daß du – ohne es zu ahnen – bereits um ein gutes Stück darüber hinausgegangen bist.«

Erika war bei der kalten Zurechtweisung totenblaß geworden. Ein trotziger Zug legte sich für einen Moment um ihre Lippen, und es war, als ob sie eine rasche, beleidigende Antwort geben wollte. Doch Mangolds gebieterischer, durchdringender Blick machte sie verstummen, und ein paar Sekunden später war es für einen Widerspruch bereits zu spät; denn Egon von Carlowitz kam mit schnellen, elastischen Schritten durch den leeren Saal.

Lächelnd verbeugte er sich vor Erika, um die Einlösung des gegebenen Versprechens zu begehren; aber er richtete sich sogleich in sichtlicher Betroffenheit straff empor, als sie mit leiser, unsicherer Stimme sagte:

»Ich bitte um Entschuldigung, Herr von Carlowitz, aber ich fühle mich zu angegriffen – ich kann heute nicht mehr tanzen.«

Flüchtig sah der Leutnant zu Mangold hinüber. Auch ihm mochte eine etwas kränkende Entgegnung auf den Lippen gelegen haben, doch auch er wußte sie zu unterdrücken, und mit einem leichten Neigen des Hauptes zog er sich zurück, nachdem er kurz sein Bedauern ausgesprochen hatte.

Eine geraume Weile blieb es still zwischen den beiden Verlobten. Dann hielt es der Regierungsrat doch für angezeigt, zu sagen:

»Wären deine Eltern hier gewesen, so würden sie dir ohne Zweifel denselben Rat gegeben haben. Es gibt eben gewisse Rücksichten, über die sich ein Mädchen aus unseren Gesellschaftskreisen nicht ungestraft hinwegsetzen darf. Und ich werde kaum zu versichern brauchen, daß ich dein Vergnügen nicht ohne zwingende Not beeinträchtigt hätte.«

Erika antwortete ihm nicht. Sie hatte sich in den Stuhl zurückgelehnt und sah vor sich hin, während ihre schmalen Hände müde über dem geschlossenen Fächer gefaltet waren. All die lachende Heiterkeit, die sie vorhin so bezaubernd holdselig gemacht hatte, war von ihrem Gesichtchen verschwunden. Wieder verstrichen ein paar Minuten in peinlichem Schweigen. Zuletzt fragte Mangold, ob er ihr statt des abgestandenen Champagners ein neues Glas bringen dürfe; aber sie schüttelte entschieden ablehnend den Kopf.

»So ist es dir vielleicht lieber, wenn wir jetzt aufbrechen,« fuhr er fort. »Ich bin gern bereit, den Wagen sogleich kommen zu lassen.«

Erika schien kurze Zeit unschlüssig; dann aber machte sie wieder eine verneinende Bewegung.

»Ich möchte noch bleiben. Und ich bitte dich, mich in den Saal zurückzuführen. Damit, daß ich dem Tanzen der anderen zusehe, werde ich doch hoffentlich nicht auch schon ein Verbrechen begehen.«

Wortlos bot ihr Mangold den Arm und erfüllte ihr Verlangen.

An einer der Wände, wo jetzt nur noch ein paar vereinzelte Mauerblümchen mit dem für solche unbehaglichen Situationen hergebrachten süßsauren Lächeln saßen, nahmen sie Platz. Ein paarmal noch kamen junge Herren, um Erika aufzufordern, aber sie erteilte jedem dieselbe ablehnende Antwort, und dann setzte sich keiner mehr der Gefahr aus, mit einem Korbe heimgeschickt zu werden. Auch Egon von Carlowitz hielt sich, selbst als der Kotillon vorüber war, anscheinend geflissentlich fern. Der Regierungsrat durfte mit dem Erfolg seines Eingreifens durchaus zufrieden sein; die erste Probe auf seine Autorität als künftiger Herr und Gebieter war vollkommen gelungen.

Später gesellte sich eine ältere Dame, eine nahe Bekannte ihrer Mutter, zu Erika, und Mangold wurde nach der anderen Seite hin durch einen sehr redseligen Herrn in Anspruch genommen. Länger als eine halbe Stunde mußte er dem politischen Glaubensbekenntnis desselben zuhören; dann aber, als er ihn endlich losgeworden war und sich wieder nach Erika umwandte, fand er zu seiner Überraschung ihren Sessel leer. Suchend ließ er seine scharfen Augen im Saal umherschweifen. Wenn sie noch in dem Raume anwesend gewesen wäre, hätte sie sich seinem Blick unmöglich verbergen können. Da man eben wieder eine größere Pause im Tanzen machte, war ihr plötzliches Verschwinden um so unerklärlicher, und nachdem er etwa zehn Minuten lang umsonst auf ihr Wiedererscheinen geharrt hatte, machte sich der Regierungsrat daran, seine Nachforschungen in den Nebenzimmern fortzusetzen.

Aber er fand Erika auch dort nicht. Für einen Moment kam ihm der Verdacht, daß sie in einer Anwandlung kindischen Trotzes das Fest verlassen haben und allein nach Hause zurückgekehrt sein könnte. Doch nach kurzer Überlegung wies er den Gedanken an solche Torheit wieder von sich und fuhr fort, sie zu suchen.

Schon einmal war er an der Glastür des kleinen Wintergartens vorübergegangen, weil er nicht daran glaubte, daß sich Erika in diesem matt beleuchteten, anscheinend ganz menschenleeren Raume befinden könne. Nun aber trat er dennoch ein, die Flügel der Eingangspforte behutsam öffnend, wie jemand, dem es um eine Überraschung zu tun ist. Und sein eifersüchtiger Instinkt hatte ihn richtig geleitet. Er brauchte nur ein paar Schritte zu machen, um Erikas blaues Kleid zwischen den Lücken im Blättergewirr einer großen Pflanzengruppe hindurchschimmern zu sehen, und er hörte zugleich mit voller Deutlichkeit Leutnant von Carlowitz' frische Stimme sagen:

»Ihr Vertrauen macht mich stolz, Fräulein Erika, und ich werde glücklich sein –«

Damit brach er plötzlich ab. Der unter Mangolds Schritten knirschende Kies hatte den beiden offenbar die Annäherung eines lästigen Ohrenzeugen verraten. Als der Regierungsrat die Situation zu überschauen vermochte, standen sie einander in scheinbar ganz unverfänglicher Haltung gegenüber, und für die Vermutung, daß hier ein abscheulicher Verrat verübt worden sei, gab es kein anderes Zeugnis als die purpurne Glut auf Erikas Wangen. Sie beugte sich nieder, um ein seltsam geformtes Blatt zu betrachten, aber ihre schauspielerische Geschicklichkeit reichte nicht hin, dieser Bewegung den Charakter einer Verlegenheitsgebärde zu nehmen. Offenbar fürchtete sie, daß es im nächsten Augenblick zu einer peinlichen Auseinandersetzung kommen werde, und auch Egon von Carlowitz schien auf etwas derartiges gefaßt, obwohl er dem Regierungsrat mit festem und ruhigem Blick gerade ins Gesicht sah.

Aber das Erwartete geschah nicht. Mangold stellte keine Frage und gab weder durch ein Wort noch durch eine Miene seine Verwunderung zu erkennen.

»Wenn es dir jetzt genehm ist, zu fahren, liebe Erika –« sagte er ganz in seiner gewöhnlichen ruhigen Weise. »Ich habe in Erwartung deines Einverständnisses bereits einen Diener hinausgeschickt, um den Wagen vorfahren zu lassen.«

Als hätte sie auch jetzt noch nicht den Mut zu einem lauten Wort gefunden, nickte sie stumm und nahm seinen Arm. Der Regierungsrat, der den Kopf noch steifer aufgerichtet trug als sonst, sah gerade vor sich hin, wie wenn er absichtlich nichts davon bemerken wolle, ob zum Abschied etwa noch ein bedeutsamer Blick oder ein anderes Zeichen geheimen Einverständnisses zwischen den beiden ausgetauscht würde. Er führte Erika geradeswegs in die Garderobe und war sorglich bedacht, sie in Mantel und wärmende Tücher zu hüllen. Dann aber mußten sie noch ein paar Minuten im Vorsaal warten, weil irgend ein Zwischenfall draußen auf der Straße die sofortige Anfahrt des Wagens unmöglich gemacht hatte. Und ein Ungefähr, das sicherlich keinem von ihnen erwünscht sein konnte, fügte es, daß der Leutnant von Carlowitz noch einmal hart an ihnen vorüberging. Er war jetzt wieder in der Gesellschaft seines Freundes Falkenhayn, und sie hörten den letzteren sagen:

»In Pastenacis Weinstube also werden wir den angebrochenen Nachmittag beschließen. Schade, daß du schon fort willst. Ich amüsiere mich noch vortrefflich, aber in längstens einer Stunde komme ich nach.«

Sie gingen nach verschiedenen Richtungen auseinander, ohne Mangold und Erika zu bemerken. Einige Sekunden später meldete ein Diener, daß der Wagen des Herrn Regierungsrats in der Einfahrt halte.

 

3.

Wenn sich Erika vor diesem Heimwege und vor dem Alleinsein mit dem Verlobten gefürchtet hatte, so mußte sie bald inne werden, daß ihre Besorgnisse grundlos gewesen waren. Mangold war weder gesprächiger noch wortkarger als sonst. Er unterhielt sie mit sehr viel Klugheit und nüchternem kritischen Sinn von einem kürzlich erschienenen Buche, und einzig der Umstand, daß er mit keiner Silbe auf die Vorgänge der letzten Stunde anspielte, hätte sie vielleicht an der Natürlichkeit seiner Unbefangenheit und Ruhe zweifeln lassen können.

Aber Erika machte sich darüber keine Gedanken. Sie war offenbar froh, durch sein rücksichtsvolles Benehmen jeder unangenehmen Auseinandersetzung überhoben zu sein, und es war darum etwas von wirklicher Dankbarkeit in der Art, wie sie sich vor der Tür ihrer elterlichen Wohnung von ihm verabschiedete. Mangold hatte ihr mit dem Hausschlüssel, den ihm Frau von Butlar eingehändigt, das schwere Tor geöffnet und wünschte ihr auf förmliche Weise Gutenacht. Da schlug Erika plötzlich den Mantel auseinander, umfaßte mit beiden Armen seinen Nacken und flüsterte dicht an seinem Ohr:

»Gute Nacht, Gustav! – Ich danke dir, daß du so nachsichtig gegen mich gewesen bist. Ein andermal werde ich dir gewiß keinen Grund mehr zur Unzufriedenheit geben.«

Er hatte es nicht eilig, ihr zu antworten, und er unterließ es sogar, die bei ihrer sonstigen Schüchternheit geradezu überraschende Liebkosung zu erwidern – vielleicht mit Rücksicht auf die Nähe des Kutschers, der sie bequem beobachten konnte.

»Möge dir der anstrengende Abend gut bekommen, Erika,« sagte er, indem er ein wenig zurücktrat und eine ihrer herabgleitenden Hände erfaßte, um sie ohne Druck und Wärme für einen flüchtigen Moment an seine Lippen zu führen. »Ich weiß nicht, ob es mir möglich sein wird, mich schon morgen nach deinem Befinden zu erkundigen; übermorgen aber komme ich wohl jedenfalls.«

Dann lüftete er mit einer kleinen Verbeugung seinen Hut, und Erika, die sich durch seine zurückhaltende Kälte im tiefsten Herzen beschämt, fühlte, schlüpfte hastig ins Haus.

Wissen Sie, wo sich die Weinstube von Pastenaci befindet?« fragte Mangold den Kutscher, indem er seinen Fuß auf den Wagentritt setzte, und auf die bejahende Antwort des Mannes befahl er ihm, möglichst rasch dahin zu fahren.

Es war ein stadtbekanntes und im Rufe besonderer Vornehmheit stehendes Lokal, das der Regierungsrat bald nachher betrat. Namentlich die jüngeren Offiziere der Garnison pflegten sich hier mit Vorliebe ein Rendezvous zu geben, und es war, als ob keiner von ihnen auf dem Heimwege vom Ballfest des Generals an der trauten Stammkneipe hätte vorübergehen können. An zwei langen Tafeln saßen die jungen Herren, die noch soeben die Gäste des gestrengen Kommandierenden gewesen waren, in dem behaglichen, dunkel getäfelten Gastzimmer, und die unter ihnen herrschende Stimmung war ersichtlich die denkbar heiterste. In dem Eifer lustiger Gespräche, die in buntem Durcheinander hinüber und herüber geführt wurden, sahen die meisten gar nichts davon, daß plötzlich der aufwartende Kellner an den Leutnant von Carlowitz herantrat und ihm halblaut eine Bestellung ausrichtete. Der Dragoner hob sichtlich überrascht den Kopf; aber er stand sogleich auf und wandte sich nach dem anderen Teil des Gastzimmers, der augenblicklich ganz leer von Besuchern war.

Im zugeknöpften Überrock, den Hut in der Hand und kerzengerade aufgerichtet, sah Egon den Regierungsrat Mangold vor sich. Es war etwas in der Haltung des Mannes, das den jungen Offizier veranlaßte, sich ebenfalls straffer in die Brust zu werfen, und das den gewöhnlichen, freundlich heiteren Ausdruck vollständig von seinem Gesicht verschwinden ließ.

»Sie haben den Wunsch, mich zu sprechen, Herr Regierungsrat –«

»Ja, Herr Leutnant! Es ist meine Absicht, Sie um eine Erklärung anzugehen.«

»Bitte – ich stehe zu Ihrer Verfügung.«

»Sie werden die Güte haben, mir zu sagen, in welcher Absicht Sie Fräulein von Butlar veranlaßten, mit Ihnen in den Wintergarten einzutreten.«

Es ging wie ein Ruck durch die schlanke Gestalt des Offiziers, und die unmutige Falte erschien wieder zwischen seinen Brauen.

»Mit Ihrer Erlaubnis – das werde ich Ihnen nicht sagen, mein Herr.«

»Und aus welchem Grunde wollen Sie es verweigern?«

»Weil ich in Ihrer Frage eine Beleidigung des Fräulein von Butlar erblicke, deren ich mich durch eine Antwort mitschuldig machen würde. Ich gestehe niemand das Recht zu, eine solche Untersuchung anzustellen.«

»Sie bestreiten dies Recht also auch mir, dem Verlobten der Dame?«

»Ich bestreite auch Ihnen das Recht, die Dame zu beschimpfen. Und ich erkläre zugleich, daß ich mich an diesem öffentlichen Orte nicht weiter über den Gegenstand mit Ihnen unterhalten kann. Sie werden, denke ich, meine Beweggründe dafür verstehen.«

Er machte eine leichte Kopfbewegung, die wohl als ein Zeichen der Verabschiedung zu deuten war. Der Regierungsrat aber hielt ihn zurück dadurch, daß er mit erhobener Stimme erwiderte:

»Ich will Sie der Gesellschaft Ihrer Kameraden nur noch so lange entziehen, Herr Leutnant, als ich Zeit brauche, Ihnen zu sagen, daß Ihr Benehmen dem Fräulein von Butlar gegenüber nicht das Benehmen eines Ehrenmannes und nicht einmal dasjenige eines wohlerzogenen Menschen gewesen ist.«

Bis hinüber zu den Tischen der Offiziere konnte in dem allgemeinen Stimmengeschwirr der Klang dieser Worte allerdings nicht dringen; um so deutlicher aber waren sie an das Ohr der beiden Herren geschlagen, die gerade in diesem Moment, von der Straße her eintretend, die Schwelle der Weinstube überschritten. Mit höchst erstauntem Gesicht blieb der erste von ihnen, der Leutnant von Falkenhayn, wie angewurzelt stehen, die Augen fest auf das Antlitz seines Freundes Carlowitz gerichtet. Der Dragoneroffizier aber gab einen bei seiner Jugend und seinem heißblütigen Temperament geradezu bewunderungswürdigen Beweis von Selbstbeherrschung. Daß sein gebräuntes Antlitz sich dunkel verfärbte, und daß es ganz eigentümlich um seinen Schnurrbart zuckte, konnte er freilich nicht verhindern; doch kein leidenschaftlich aufbrausendes Wort, das unvermeidlich einen großen Skandal nach sich gezogen haben würde, kam über seine Lippen.

Mit sprühendem Blick, in dem sich ein gut Teil Verachtung kundgab, maß er den andern vom Kopf bis zu den Füßen, um dann scharf und bestimmt zu entgegnen:

»Sie werden Gelegenheit haben, an anderem Orte für diese Äußerung einzustehen. Hier bin ich mit Ihnen fertig. – Guten Abend, Falkenhayn! Du hast dich also wirklich noch eine ganze Stunde erwarten lassen?«

Er schüttelte den Kameraden die Hand und wandte sich mit ihnen der übrigen Gesellschaft zu, ohne von dem Regierungsrat noch weiter Notiz zu nehmen. Mangold, der während des kurzen Gespräches seine steife Haltung nicht um eine Linie verändert hatte, verharrte darin noch so lange, bis die drei Offiziere um mehrere Schritte von ihnen entfernt waren, und bis er sicher sein konnte, daß man ihm in der Tat nichts mehr zu sagen wünsche. Dann ging er langsam zur Tür, und wie er im ganzen Verlauf der Szene keinerlei Erregung zur Schau getragen hatte, versäumte er es auch jetzt ebensowenig, dem neugierig herumlungernden Kellner ein Trinkgeld zu reichen, als beim Hinaustreten in die kühle Nachtluft den breiten Kragen seines Überrockes sorgfältig in die Höhe zu schlagen.

Der Gedanke an die kommenden Ereignisse war also noch nicht im stande, ihn unempfindlich zu machen gegen die Gefahren einer Erkältung.

 

4.

Als sich der Leutnant von Falkenhayn am nächsten Mittag dem Regierungsrat Mangold »in einer Ehrenangelegenheit« melden ließ, gab es zwischen ihnen nach kurzer, förmlicher Begrüßung nur ein Gespräch von wenig Minuten.

Mangold erklärte, daß er die Worte, durch die sich der Leutnant von Carlowitz beleidigt fühle, mit voller Überlegung gesprochen und nichts davon zurückzunehmen habe. Zu einer Genugtuung mit der Waffe sei er dagegen bereit, und in Erwartung eines solchen Ausgangs habe er bereits einen seiner Freunde, dessen Namen er Falkenhayn nannte, mit den erforderlichen Vollmachten ausgerüstet.

So wurden alle weiteren Verhandlungen nur zwischen den beiderseitigen Zeugen geführt, und bei der Einfachheit der Sachlage wie bei der Entschlossenheit der Gegner hätte das unvermeidlich gewordene Duell schon nach Verlauf von vierundzwanzig Stunden stattfinden können, wenn nicht Carlowitz aus formellen Gründen genötigt gewesen wäre, die Entscheidung seines Ehrenrates abzuwarten, dem er pflichtgemäß von der Affäre Meldung erstattet hatte.

Sein Urlaub war ohnedies mit dem Tage nach jenem Ballfest abgelaufen, und zu der Stunde, die von vornherein für seine Abreise festgesetzt worden war, verabschiedete er sich anscheinend ganz unbefangen von seinen Angehörigen. Aber als die Tür des Eisenbahnwagens hinter ihn: zugefallen war, verschwand doch das heitere Lächeln von seinem schönen, offenen Gesicht, seine Lippen preßten sich zusammen, und er versank in ein Nachdenken, das ersichtlich allerlei düstere Bilder in seinem Geiste aufsteigen ließ.

Dem Regierungsrat Mangold aber wurde am zweiten Morgen nach dem Balle eine ganz eigenartige Überraschung zu Teil. Durch denselben Amtsgenossen, dessen sich der Herr Oberpräsident schon einmal bedient hatte, um ihm einen vertraulichen Wink zukommen zu lassen, erfuhr er in nicht offizieller, doch vollkommen unzweideutiger Form, daß Seine Exzellenz inzwischen einer milderen Auffassung des peinlichen Vorkommnisses Raum gegeben habe. Er zeigte sich geneigt, die Dienstwidrigkeiten seines Untergebenen als Äußerungen eines falschverstandenen Pflichtgefühls anzusehen und die ganze Angelegenheit damit als endgültig abgetan zu betrachten. Jede weitere Erwähnung derselben, sogar in der Form einer Entschuldigung, wurde von seiten des hochgestellten Herrn mit der Versicherung, daß der Regierungsrat eine nachteilige Folge seines Verhaltens nicht mehr zu fürchten habe, höflich verbeten, und Mangold hätte somit Ursache gehabt, mit dieser unerwartet günstigen Wendung in hohem Grade zufrieden zu sein.

Er zeigte weder Erstaunen noch Befriedigung, sondern nahm die Mitteilungen seines Kollegen wie etwas ganz Selbstverständliches und Gleichgültiges hin. Offenbar war er nicht im mindesten neugierig, zu erfahren, durch welches Wunder die plötzliche Sinnesänderung seines hohen Vorgesetzten bewirkt worden sei.

Am Abend des nämlichen Tages erschien er zum erstenmal nach dem Balle wieder bei seinen künftigen Schwiegereltern – ernst, wortkarg und gemessen höflich wie immer. Erika war auf einem Spaziergange, und Frau von Butlar klagte, daß ihr das Fest anscheinend gar nicht gut bekommen sei. Als das junge Mädchen eine halbe Stunde später nach Hause zurückkehrte, mußte ihr Aussehen auf den Regierungsrat wie eine Bestätigung dieser Klage wirken. Sie war blaß und schmalwangig, mit leichten dunklen Schatten unter den Augen. Stumm und mit schlecht verhehltem scheuen Widerstreben duldete sie die kühle Liebkosung ihrs[??? ihres ???] Verlobten; mit leisen, einsilbigen Antworten nur beteiligte sie sich an der allgemeinen Unterhaltung, und mit unverkennbarem Eifer nahm sie jede Möglichkeit wahr, sich wenigstens auf kurze Zeit aus dem Zimmer zu entfernen.

Als sie wieder einmal unter einem wenig stichhaltigen Vorwande hinausgeschlüpft war, konnte die Präsidentin bei allem furchtsamen Respekt vor dem Regierungsrat ihre mütterlichen Besorgnisse nicht länger unterdrücken.

»Erika ist so sonderbar verwandelt seit jenem Fest – auch gegen Sie. Sagen Sie mir doch, lieber Sohn: hat es etwa ein Mißverständnis oder eine Meinungsverschiedenheit zwischen Ihnen gegeben?«

Mangold machte eine gelassen verneinende Bewegung.

»Daß ich nicht wüßte. Man sagt ja, daß junge Mädchen zuweilen ohne erkennbaren Grund verstimmt und launenhaft sind. Es geht wohl am schnellsten vorüber, wenn man es nicht beachtet.«

Frau von Butlar fragte nicht weiter, aber ihr Gesicht blieb bekümmert, und bis zu dem Augenblick, wo der Regierungsrat sich empfahl, war die frostige Stimmung nicht von dem kleinen Kreise gewichen.

Am nächsten Abend erwartete man ihn vergebens. Statt seiner kam zu vorgerückter Stunde ein Billet, in welchem er sich wegen dringender Dienstgeschäfte auch für die folgenden Tage entschuldigte. Gleichzeitig übersandte er Erika mit einigen artigen Begleitworten das Buch, über das er auf der Heimfahrt vom Balle zu ihr gesprochen hatte. Die Befürchtungen der Präsidentin hinsichtlich eines Zerwürfnisses zwischen den Verlobten schienen also doch grundlos zu sein.

Davon, daß Mangold an jedem dieser folgenden Abende wohl eine Stunde lang an der gegenüberliegenden Seite der Straße vor dem Hause auf- und niederschritt, unter dessen Dache er Erika wußte, hatte sicherlich keins von den dreien eine Ahnung. Und wenn man's ihnen erzählt hätte, würden sie gewiß ungläubig die Köpfe geschüttelt haben. Wie hätten sie auch den ernsten, stolzen Mann, in dessen Wesen sich niemals etwas von sentimentalen Neigungen gezeigt hatte, einer solchen Knabentorheit fähig halten sollen! –

Es war gerade eine Woche nach Erikas erstem Ball, als im kalten Frühlicht des Wintermorgens die beiden Gegner mit ihren Zeugen auf dem Kampfplatze eintrafen. Carlowitz hatte die ganze Nacht auf der Eisenbahn zugebracht und war vom Bahnhöfe, wo ihn seine Sekundanten, der Leutnant von Falkenhayn und ein anderer Kamerad, erwartet hatten, geradeswegs hierhergefahren. Sein angegriffenes Aussehen war durch die Strapaze hinlänglich erklärt, aber er bemühte sich auch gar nicht, jenen blasierten Gleichmut zu erheucheln, der manchen in solchen Situationen als ein Kennzeichen der Tapferkeit und der Todesverachtung gilt. Tiefernsten Antlitzes unterhielt er sich mit seinen Freunden, und wiederholt drückte ihm Falkenhayn voll inniger Bewegung die Hand. Mit dem Regierungsrat, der etwas später, wenn auch auf die Minute pünktlich, eingetroffen war, tauschte er einen stummen Gruß; dann wurden rasch und ohne alle überflüssigen Reden die üblichen Vorbereitungen für den Zweikampf getroffen.

Die Bedingungen waren scharf, wie es nach soldatischen Ehrbegriffen die Schwere der Beleidigung gebot. Es sollte dreimaliger Kugelwechsel auf kurzbemessene Entfernung stattfinden, und die Überzeugung, daß unter solchen Umständen ein tragischer Ausgang mehr als wahrscheinlich war, schien mit dumpfem Druck auch auf den Gemütern der Zeugen zu lasten.

Der vorgeschriebene Versöhnungsversuch wurde nur noch der Form wegen unternommen und von beiden Gegnern kurz abgelehnt. Dann reichte ihnen ein Hauptmann, der als Unparteiischer fungierte, die von ihm selbst geladenen Pistolen; alle Beteiligten bis auf die Duellanten brachten sich in gesicherte Stellungen, und die verhängnisvollen Kommandoworte fielen.

Fast gleichzeitig ertönte der Knall der beiden Schüsse, und aufrecht wie zuvor standen die Kämpfer einander gegenüber. Keine der abgefeuerten Kugeln hatte getroffen. Egon von Carlowitz aber hatte dicht an seinem rechten Ohr ein feines, sausendes Pfeifen gehört und zugleich einen eigentümlichen, rasch verschwindenden Druck auf dieser Seite seines Gesichts verspürt. Fester noch preßten sich seine Lippen zusammen, und eine düstere Entschlossenheit trat an die Stelle des bisherigen schwermütigen Ernstes auf sein Antlitz. Die unzweifelhafte Gewißheit, daß es die feste Absicht seines Gegners sei, ihn zu töten, hatte offenbar auch in ihm eine trotzige Unerbittlichkeit erzeugt, wie sie ihn nicht von Anfang an beherrscht hatte.

Beim zweiten Gange kam Mangold nicht mehr zum Schuß. In dem Moment, wo der kleine Pulverblitz ihm gegenüber aufflammte, sank sein erhobener Arm schlaff herab. Er stand trotzdem noch eine halbe Minute lang steif und kerzengerade, wie wenn ihm nicht das geringste geschehen wäre. Dann erst versagte die schier übermenschliche Kraft seines eisernen Willens. Wie von einem Beilhiebe gefällt, brach er plötzlich lautlos zusammen. Seine Sekundanten, der Arzt und der Unparteiische verließen ihre Plätze, um zu dem Gefallenen zu eilen.

Er war in die Brust geschossen. Mit einem kraftlosen, röchelnden Husten drang ihm etwas hellrot gefärbtes, schaumiges Blut aus dem Munde. Dann ging ein unheimliches Zucken und Recken durch seine lange Gestalt, ein paar schreckliche, pfeifende Atemzüge noch, bei denen sich seine Hände tief in den weichen, moorigen Waldboden wühlten – und es war zu Ende.

»Ins Herz getroffen!« sagte der Arzt leise, indem er ihm die weitgeöffneten, gebrochenen Augen zudrückte. »Da ist für meine Kunst nichts mehr zu tun.«

Auch Egon von Carlowitz war langsam herangetreten. Sein hübsches Gesicht war aschfahl und in erschreckender Weise verändert. Mit unsicherem Blick streiften seine Augen über das Antlitz des Arztes, um dann starr auf den finsteren, fast unveränderten Zügen des am Boden Liegenden haften zu bleiben. Es war, als ob er etwas sagen wollte; denn seine Lippen bewegten sich, aber er brachte keinen Laut hervor, und seine Brust ging stürmisch auf und nieder, wie wenn ihm eine Faust an der Kehle säße, die ihm nicht nur das Sprechen, sondern auch das Atmen verwehrte.

Da erfaßte der Leutnant von Falkenhayn seinen Arm.

»Komm!« sagte er, seiner Stimme mit einiger Anstrengung einen Klang von Festigkeit gebend, »das hier ist nichts mehr für dich. Wir fahren zusammen in die Stadt zurück.«

Er zog den willenlos Gehorchenden mit sich fort. Carlowitz sah und hörte nicht mehr, was mit der irdischen Hülle seines Gegners geschah. Schwer fiel er auf die Polster des Wagens, und in dumpfem, brütendem Schweigen fuhr er an der Seite des Kameraden dahin. Er hatte den Sieg davongetragen, aber man brauchte ihn nur anzusehen, um gewiß zu sein, daß dieser traurige Sieg ihn ein Stück von seinem eigenen Leben gekostet habe.

Eine halbe Stunde später meldete er sich mit einem Bericht über das Vorgefallene als Arrestant auf der Kommandantur.


In der vornehmen Behausung des Oberpräsidenten gab es am Nachmittag dieses Tages nur ernste, bekümmerte Gesichter; oben in den bescheidenen Wohnräumen der Butlars aber herrschte jene wortarme Trauer, die ganz das Aussehen einer dumpfen Verzweiflung hat.

Der Rechtsanwalt Helmstedt, einer von Mangolds Sekundanten, hatte die Schreckenskunde überbracht, zugleich mit einem an Erika gerichteten Briefe, den ihm der Regierungsrat unmittelbar vor dem Duell für diesen äußersten Fall übergeben hatte. Es war die schwerste Viertelstunde seines Lebens gewesen, als der alte Landgerichtspräsident seine Frau und sein unglückliches Kind von der Katastrophe hatte unterrichten müssen, an deren Wirklichkeit er selber noch immer gar nicht zu glauben vermochte. Er hatte aus dem Munde des Rechtsanwalts nichts über die Ursache des Zweikampfes erfahren können, und es war deshalb nur natürlich, daß er ihn mit dem Vorkommnis zwischen Mangold und dem Oberpräsidenten in Verbindung brachte. Die Augen seiner Gattin aber sahen schärfer als die seinigen. Erikas verzweifelter Aufschrei, das namenlose Entsetzen in ihren Zügen und die unheimliche, starre Gleichgültigkeit, welche sie alsdann allen gutgemeinten Tröstungen entgegensetzte, erschienen ihr im Verein mit den sonderbaren Vorgängen der letzten Tage als ein Beweis, daß Erika in irgend einer Weise mitschuldig sein müsse an dem schrecklichen Ereignis. Sie verlangte den Abschiedsbrief zu lesen, den sie von Mangold erhalten; doch als Erika dann mit unsäglich gramvollem, flehendem Ausdruck die Augen zu dem Gesicht ihrer Mutter erhob, da siegte das schmerzliche Mitleid mit ihrem unglückseligen Kinde über jedes andere Empfinden im Herzen der schwergeprüften Frau. Sie nahm die bebende Gestalt des jungen Mädchens in ihre Arme und zog das feine Köpfchen zärtlich an ihre Brust. Nach den Vorkommnissen auf dem Balle aber fragte sie jetzt ebensowenig als nach dem Briefe des Regierungsrats.

Weil sich das Aussehen Erikas von Viertelstunde zu Viertelstunde sichtlich verschlechterte, bestand die Präsidentin darauf, daß sie sich niederlege. Sie selber war ihr beim Auskleiden behilflich und saß dann, die kleine heiße Hand in der ihrigen haltend, neben dem Bett, bis sich ein leichter, unruhiger Schlummer auf die brennenden, tränenlosen Augen ihres armen Kindes gesenkt hatte.

Dann erst kehrte sie zu dem Gatten zurück, der wie ein gebrochener Mann mit tief auf die Brust herabgesunkenem Haupte in seinem Lehnstuhl saß. Er fragte mit matter Stimme nach Erikas Befinden, und als ihm die Präsidentin die ernsten Besorgnisse nicht verhehlte, welche sie in Bezug auf die Gesundheit des jungen Mädchens hegte, wollte er auf der Stelle zu einem Arzte eilen. Aber Frau von Butlar hielt ihn zurück.

»Es wird am besten sein, sie jetzt sich selber zu überlassen,« sagte sie mit von Tränen erstickter Stimme. »Was sollte ein Arzt ihr helfen? Kann er denn ein zerstörtes Glück wiederherstellen oder ein zerrissenes Menschenherz heilen?«

Und der alte Mann mochte fühlen, daß sie recht hatte; denn er ließ schwer seufzend sein graues Haupt wieder auf die Brust herabsinken und starrte in müder Hoffnungslosigkeit vor sich hin. – –

 

5.

Es war nahezu drei Jahre später an einem schönen, sonnigen Frühlingstage. Mit nachdenklicher Miene saß der Oberleutnant Egon von Carlowitz über einem Briefblatt, das mit den etwas nervösen Schriftzügen seines Vaters bedeckt war. Die Nachrichten, die er da empfangen hatte, waren wenig geeignet, ihn heiter zu stimmen, und er las das Schreiben immer von neuem, als könne sich ihm am Ende doch noch eine erfreuliche Seite abgewinnen lassen.

Noch während sein jüngster Sohn die wegen des Zweikampfes über ihn verhängte zweijährige Festungsstrafe verbüßte, hatte der Oberpräsident aus Gesundheitsrücksichten seine Entlassung genommen. Böse Zungen behaupteten, daß das Fehlschlägen seiner Hoffnung auf ein Ministerportefeuille sehr viel zum Ausbruch jenes chronischen Leidens beigetragen habe, das ihm ein weiteres Verbleiben im Staatsdienst unmöglich machte. Jedenfalls aber war dies tückische Leiden wirklich vorhanden, und die Mitteilungen, die Egon heute über den Gesundheitszustand des Vaters erhalten hatte, lauteten betrübend genug. Von düsteren Todesahnungen beherrscht, erteilte Herr von Carlowitz seinem Sohne da allerlei ernste Ratschläge, die nach der Einleitung des Briefes fast das Aussehen letztwilliger Verfügungen gewannen.

»Dein Regimentskommandeur, mein alter Freund Gravenhorst« – hieß es da an einer Stelle – »hat mir geschrieben, daß er gar nicht mit Dir zufrieden sei. Über eine Vernachlässigung Deiner dienstlichen Pflichten zwar kann er sich nicht beklagen, aber er tadelt Deine einsiedlerischen Neigungen und Dein schwermütiges Wesen. Das taugt nicht für einen Mann in Deinen Jahren und am wenigsten für einen Soldaten. Wenn es wirklich noch immer diese unglückselige Duellgeschichte ist, die auf Dir lastet, so wäre es nun doch endlich an der Zeit, daß Du Dich mit energischem, mannhaftem Entschluß ein- für allemal davon befreist. Es kann nicht Deine Aufgabe sein, Dir den Kopf darüber zu zerbrechen, ob die Ehrengesetze unseres Standes gerecht und weise sind. Für die Beruhigung Deines Gewissens muß es genügen, daß sie einmal bestehen, und daß wir alle genötigt sind, uns ihnen zu unterwerfen. Als Offizier hast Du gehandelt, wie Deine Pflicht es Dir gebot; das Zeugnis Deiner Kameraden beweist, daß kein Makel auf deinem Verhalten haftet, und damit, daß Du eine lange Freiheitsstrafe verbüßtest, hast Du auch jener anderen Rechtsauffassung, die für das bürgerliche Leben maßgebend ist, Deinen Tribut gezahlt. Damit aber ist die Sache ein- für allemal abgetan. Nichts kann müßiger und unmännlicher sein als ein selbstquälerisches Grübeln über das Geschehene. Wer seine Pflicht tut, handelt immer recht, auch wenn sein Tun manchen Leuten als ein Verbrechen erscheinen könnte. Daß Du einen Menschen töten mußtest, den Du vielleicht kaum gekannt hast, ist ein Unglück für Dich wie für ihn. Aber Du darfst nicht vergessen, daß er unzweifelhaft entschlossen war, Dir dasselbe Schicksal zu bereiten. Eine höhere Gewalt, deren Überlegenheit wir anerkennen müssen, welchen Namen immer wir ihr beilegen mögen, hat zwischen Dir und ihm entschieden. Nur ein jämmerlicher Schwächling kann sich mit Zweifeln an der Gerechtigkeit solcher Entscheidung das eigene Dasein vergiften. Wenn es ein Verhängnis war, so muß Dir Dein Mannesstolz gebieten, Dich mit ihm abzufinden, statt ihm zu erliegen. Vor Dir liegt nach menschlicher Voraussicht noch ein langes Leben, und Du darfst keinen anderen Gedanken haben als den, es mit ernster, nutzbringender Arbeit und rühmlichen Taten auszufüllen. Dazu aber gehört ein klares Auge und ein frischer, freudiger Sinn. Soll ich wirklich fürchten, daß Dir über Deiner weichmütigen Kopfhängerei diese ersten Erfordernisse eines rechten Mannes bereits verloren gegangen seien?« – –

Und dann kam auf der letzten Seite des Briefes eine eindringliche Mahnung, die den jungen Offizier vielleicht noch peinlicher berührte als diese Vorwürfe. Offenbar war der Oberpräsident der Meinung, daß es für die melancholischen Neigungen seines Sohnes kein besseres Heilmittel gebe als eine baldige Heirat, und er scheute sich nicht, diesem Gedanken Ausdruck zu geben. Zum zweitenmal schon, und heute sogar mit dem ganzen Gewicht seiner väterlichen Autorität, forderte er Egon auf, einer ihm befreundeten Familie, die erst seit kurzem nach der Hauptstadt übergesiedelt war, seine Aufwartung zu machen, und in einer kaum noch mißzuverstehenden Deutlichkeit fügte er hinzu:

»Du wirst im Hause des Barons von Hellwald zwei junge Damen finden, die mit vollem Recht für äußerst liebenswürdige Erscheinungen gelten. Über ihre äußeren Vorzüge brauche ich Dir nichts zu sagen, da Du sie ja mit eigenen Augen sehen wirst; dafür aber, daß auch ihre Geistes- und Herzensbildung nichts zu wünschen übrig läßt, mag Dir meine Bürgschaft genügen. Mit Freuden würde ich jede von ihnen als meine Tochter willkommen heißen, und ich bin sehr ungeduldig, von Dir zu hören, welchen Eindruck sie auf Dich gemacht. Deinen Besuch darfst Du jedenfalls nicht länger hinausschieben; denn ich habe Dich bereits angemeldet, und es wäre geradezu eine Beleidigung für die Hellwalds, wenn. Du Dich auch jetzt noch vergebens erwarten ließest. – –«

Mit einem tiefen Aufatmen, das wie schweres Seufzen klang, schob Egon den Brief zurück und stand auf, um ein paarmal sein Zimmer zu durchwandern. Daß die Klagen des Obersten und die Vorwürfe seines Vaters nicht ohne eine gewisse Berechtigung gewesen waren, offenbarte sich schon m der Veränderung, die während dieser drei Jahre in seinem Äußeren vorgegangen war. Wohl hatte die leichte Haft seiner Erscheinung nichts von ihrer gesunden, jugendlichen Kraft zu nehmen vermocht, seine Gestalt schien sogar breiter und stattlicher als an jenem Ballabend, aber sein Gesicht war in der kurzen Zeit um mehr als ein Jahrzehnt gealtert. Etwas Müdes und Trauriges war in dem Blick seiner einst so unternehmungslustig blitzenden Augen; ein paar tiefe Linien, die charakteristischen Züge geheimen Kummers, hatten sich an seinen Mundwinkeln eingegraben.

»Wenn sich das so ohne weiteres abschütteln ließe!« murmelte er halblaut vor sich hin. »Darin aber haben sie unzweifelhaft recht: zu einem Soldaten tauge ich nicht mehr.«

Er verschloß den Brief in seinem Schreibtisch und ging aus, um den Pflichten des Dienstes zu genügen. Aber er war im Verkehr mit den Untergebenen wie mit den Kameraden auch heute ernst und wortkarg wie immer seit dem Tage, an dem er in die Front zurückgetreten war. Nach dieser Richtung hin hatten die dringenden, väterlichen Ermahnungen also nicht einmal auf wenige Stunden zu wirken vermocht.

In einem anderen Punkte aber zeigte sich Egon diesmal als ein gehorsamer Sohn. Am ersten dienstfreien Vormittag machte er im Hause des Barons von Hellwald den vorgeschriebenen Besuch. Er wußte aus früheren Briefen seines Vaters, daß der Baron ein reicher Grundbesitzer sei, der indessen fast niemals auf seinen Gütern weilte, sondern sich mit seiner Familie zumeist in irgend einer Großstadt behaglich einrichtete. Reichtum, Geschmack und Freude am Wohlleben offenbarten sich dem jungen Offizier denn auch schon bei seinem Eintritt in das Haus auf sehr einnehmende Weise in allem, was er erblickte. Der vornehm-heitere Zuschnitt der ganzen Häuslichkeit berührte ihn wohltuend, ohne daß er selber sich dieser Wirkung so recht bewußt wurde, und der halbe Widerwille, mit welchem er dem Befehl seines Vaters Folge geleistet hatte, war schon einer freundlicheren Stimmung gewichen, als er seinen Fuß über die Schwelle des Empfangssalons setzte.

Der Baron war nicht anwesend, aber die Dame des Hauses hieß den Besucher mit gewinnender Liebenswürdigkeit willkommen. Sie befand sich in Gesellschaft ihrer beiden Töchter und einer ganz schwarzgekleideten jungen Dame, deren Gesicht Egon nicht sogleich hatte sehen können, da sie der Eingangstür den Rücken zugekehrt hatte. Erst als Frau von Hellwald sich anschickte, ihr den Oberleutnant vorzustellen, wandte sie das Köpfchen, und Egon hatte eine Empfindung, als ob die Wände des Zimmers plötzlich um ihn zu kreisen begännen. Denn die er da vor sich sah, war keine andere als Erika von Butlar – er würde sie auf den ersten Blick unter Hunderten erkannt haben, obwohl er sie seit dem unglücklichen Ballabend nicht mehr gesehen hatte. Er fühlte, wie ihm das Blut heiß zu den Schläfen emporstieg, und er suchte seine grenzenlose Verlegenheit hinter einer tiefen Verbeugung zu verbergen. Die Baronin war offenbar ganz ahnungslos, ein wie tückisches Spiel der boshafte Zufall hier getrieben; denn sie lächelte erfreut, als Erika, die in Hut und Straßenjacket war, die Zeremonie der Vorstellung mit der ruhig klingenden Erklärung unterbrach:

»Ich kenne Herrn von Carlowitz schon aus früheren Tagen. Meine Eltern und die seinigen wohnten ja an demselben Orte.«

Es hatte nicht den Anschein, als ob sie durch das unerwartete Zusammentreffen in eine besondere Erregung versetzt worden sei. Zu ihrem Gesicht zwar wagte Egon nicht aufzublicken, der Klang ihrer Stimme aber war ganz leidenschaftslos gewesen, so kühl und fremd, wie wenn sie in ihm irgend einen gelegentlichen Tänzer oder Tischnachbar wiedererkannt hätte.

Und nun mußte doch auch er notwendig etwas sagen, obwohl er das Gefühl hatte, auf glühenden Eisenplatten zu stehen, und obwohl er würgen mußte, um nur einen Ton aus der trockenen Kehle zu bringen. Oft genug hatte er sich die Möglichkeit einer solchen Wiederbegegnung ausgemalt, und manches gute und warmherzige Wort war ihm eingefallen, das er dann an sie richten würde. Jetzt aber war das alles wie weggefegt aus seinem Gedächtnis. Nie in seinem Leben war er so verwirrt und unbeholfen gewesen als in diesen schrecklichen Minuten, und was er endlich mühsam hervorbrachte, dünkte ihn selber so töricht und albern, daß er stotterte wie ein schüchterner Knabe.

»Darf ich mich nach dem Befinden Ihrer verehrten Eltern erkundigen, mein gnädiges Fräulein?«

Erika richtete die großen Augen mit einem ernsten Blick auf sein Gesicht.

»Meine Eltern sind tot, Herr von Carlowitz – und ich hoffe allerdings, daß sie sich jetzt besser befinden als während der letzten kummervollen Monate ihres Lebens.«

Ihre Erwiderung traf ihn wie ein betäubender Schlag vor die Stirn. Ohne zu wissen, was er sprach, stammelte er ein paar hervorgebrachte Phrasen des Bedauerns, während sich in seinem Kopfe allerlei abenteuerliche Fluchtgedanken wälzten. Aber es blieb ihm erspart, einen von ihnen zur Ausführung zu bringen. Denn noch mitten in seiner beklommenen Rede stand Erika auf, um sich von den Damen zu verabschieden. Man war sehr liebenswürdig gegen sie und bedrängte sie um ein Versprechen baldiger Wiederkehr. Sie machte indessen nur eine halbe Zusage und entfernte sich rasch, den ehrerbietigen Gruß des Leutnants mit einem leichten Neigen des Hauptes erwidernd.

Auch nach ihrem Weggange gelang es Egon nicht, die gewohnte Sicherheit seiner Haltung wiederzufinden. Dies ungeahnte Wiedersehen hatte ihn zu mächtig erschüttert, als daß er des gewaltigen Eindruckes sogleich wieder hätte Herr werden können. Die Damen des Hauses Hellwald mochten finden, daß er merkwürdig linkisch und befangen sei für einen Kavallerieoffizier. Da es hauptsächlich ihnen zufiel, die Unterhaltung zu führen, war es nur natürlich, wenn sie an das Nächstliegende anknüpften und von der jungen Besucherin sprachen, die sie soeben verlassen hatte.

»Das arme Fräulein hat in der Tat ein recht trauriges Schicksal gehabt,« sagte die Baronin. »Innerhalb eines Zeitraums von kaum einem halben Jahre hat sie Vater und Mutter verloren, und ich glaube nicht, daß sie bei der Verwandten, in deren Hause sie sich jetzt befindet, sonnige Tage verlebt. Es ist eine kränkliche, alte Dame, die zu pflegen und zu unterhalten gewiß eine nicht geringe Geduld von seiten des jungen Mädchens voraussetzt. Wir würden uns herzlich freuen, wenn Fräulein Erika öfter zu uns käme, um sich hier ein wenig aufzuheitern. Aber sie erscheint leider nur selten, wohl aus Furcht, daß sie einmal in eine größere Gesellschaft hineingeraten könnte. Auch über das Trauerjahr hinaus bringt sie dem Andenken ihrer verstorbenen Eltern alle kleinen Freuden der Geselligkeit zum Opfer.«

Egon hörte das alles mit niedergeschlagenen Augen an, und es war ihm, als wühlte man mit spitzen Messern in seinem Herzen. Unaufhörlich peinigte ihn die Vorstellung, was Erika wohl bei seinem Anblick empfunden haben mochte. Denn es war ja nicht anders möglich, als daß sie ihn von ganzem Herzen haßte – ihn, den Zerstörer ihres Glückes, den sie sicherlich auch anklagte, der Mörder ihrer in Kummer und Herzeleid vorzeitig dahingeschiedenen Eltern zu sein. Und er hatte sich seinem eigenen Gefühl nach so über alle Maßen ungeschickt benommen! Mit leeren Phrasen war er ihr gegenübergetreten, als fühle er nichts mehr von der Last des ungeheuren Verbrechens, das er an ihr begangen. Schon durch seine erste Frage hatte er ihr den Beweis geliefert, daß er nichts von der Gestaltung ihres Schicksals wußte – dieses Schicksals, das er doch selber freventlich heraufbeschworen. Davon, daß er den Boden seiner Vaterstadt seit dem Tage des Zweikampfes nicht mehr betreten hatte, konnte sie ja ebensowenig etwas ahnen als von der unüberwindlichen, angstvollen Scheu, die ihn bis heute abgehalten hatte, sich brieflich nach ihrem Ergehen zu erkundigen. Für sie mußte er nach diesem Zusammentreffen noch mehr als zuvor der gewissenlose, leichtfertige Mörder ihres Glückes sein, der brutale Raufbold, der nicht einmal Herz genug hatte, sich nach den Opfern umzusehen, über die er auf seinem ruchlosen Wege hinweggeschritten.

Daß er in solcher Gemütsstimmung einen sehr schlechten Gesellschafter abgab, war gewiß nur natürlich. In Wahrheit ging alles, was er jetzt noch in diesem Hause sah und hörte, an ihm vorüber wie ein Traum. Er vernahm einen Schwall verbindlicher Worte, auf die er halb mechanisch mit eingelernten Phrasen Antwort gab. Er sah in liebreizende, lachende Mädchengesichter, in blitzende braune und blaue Augen, deren herausforderndes Funkeln sicherlich jedem andern als eine gar holde Versuchung erschienen wäre. Ihm aber machten sie keinen anderen und tieferen Eindruck als die gemalten Porträts an den Wänden; denn vor seiner Seele stand unverwischbar ein anderes blasses, todestrauriges Antlitz; er fühlte noch immer den ernsten, vorwurfsvollen Blick eines Augenpaares auf sich ruhen, dessen leuchtender Glanz in heißen Tränenströmen erloschen war – und er vergaß darüber alle die kleinen Artigkeiten und Schmeicheleien, die ihm einst im Geplauder mit hübschen jungen Damen so zahlreich zur Verfügung gestanden hatten.

Sobald es auf gute Art geschehen konnte, stand er auf, um sich zu empfehlen. Die Baronin gab mit großer Wärme der Hoffnung Ausdruck, daß er sich fortan als ein guter Freund des Hauses betrachten werde, und wenn Egon nicht in dieser Stunde so ganz unfähig gewesen wäre, irgend welche Beobachtungen anzustellen, würde ihm vielleicht der Verdacht gekommen sein, daß die liebenswürdige Dame in Bezug auf die Heiratspläne seines Vaters keineswegs ganz ahnungslos sei. Aber er selber dachte an diese Heiratspläne so wenig als an die herausfordernden Augen der allerliebsten jungen Mädchen, während er das gastliche Haus verließ. Er hatte nicht nach dem Namen der Verwandten gefragt, bei der sich Erika von Butlar jetzt aufhielt, aus Furcht, daß man dadurch veranlaßt werden könnte, der Art jener Beziehungen nachzuforschen, welche einst zwischen ihm und der Verwaisten bestanden. Nun aber bereute er seine Ängstlichkeit doch, denn er fühlte ein heißes Verlangen, wenigstens sein heutiges Benehmen in irgend einer Form vor Erika zu rechtfertigen. Noch zermarterte er vergebens sein Gehirn, um eine Form zu ersinnen, die das Übel nicht etwa vergrößerte, indem sie ihn dem Verdacht einer verletzenden Aufdringlichkeit aussetzte, als er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb und in unwillkürlicher Bewegung seine Hand grüßend zum Helm erhob.

Er hatte seinen Weg durch eine der städtischen Parkanlagen genommen, an deren Bäumen und Sträuchern sich eben schüchtern die ersten Knospen zeigten, und nun sah er sich da, wo ein schmaler Seitenpfad die Hauptallee kreuzte, mit einer aus Schrecken und Freude seltsam gemischten Empfindung zum zweitenmal derjenigen gegenüber, mit der sich seit einer Stunde alle seine Gedanken beschäftigt hatten.

Erika war mit gesenktem Köpfchen dahergekommen, und sie hätte diese neue Begegnung sicherlich zu verhindern gewußt, wenn sie seiner nur um eine Minute früher ansichtig geworden wäre. Nun aber war es zu spät. Ihre Augen begegneten sich, und über das Gesicht des jungen Mädchens flammte eine heiße Röte. Jetzt erst kam es Egon voll zum Bewußtsein, wie wenig sich dies liebliche Gesicht in den ereignisreichen drei Jahren verändert hatte. Ernster und frauenhafter war es wohl geworden, aber es waren noch immer dieselben weichen, holdseligen Züge, die ihn einst mit bewunderndem Entzücken erfüllt hatten, es war noch immer dasselbe feine Oval, derselbe bezaubernde Mund mit den leicht gewölbten rosigen Lippen.

Wenn er es jetzt wie in Schmerz oder Zorn um diese Lippen zucken sah, so gab es dafür seiner innersten Überzeugung nach nur eine einzige Deutung. Und die vermeintliche Wahrnehmung verursachte ihm aufs neue ein Gefühl so schneidenden Wehs, daß er dem mächtigen Antrieb nicht widerstehen konnte, sich wenigstens von dem falschen Verdacht zu reinigen, der ihn in dieser unglückseligen Stunde vollends ihrem Haß und ihrer Verachtung zu überliefern drohte.

Er besaß nicht mehr die Fähigkeit, zu überlegen, ob sein Benehmen unter den obwaltenden Umständen statthaft oder schicklich sei; er fühlte nur, daß er jetzt auf jede Gefahr hin mit ihr sprechen müsse, und daß der Frieden seines ganzen künftigen Lebens abhängig sei von der Aufnahme, die seine Worte fänden.

Noch ehe sie sein Vorhaben begreifen und es durch ein Wort oder eine Bewegung verhindern konnte, war er an Erikas Seite, und ungestüm drängte sich ihm alles auf die Lippen, was er ihr vorhin in Gegenwart der fremden Menschen nicht hätte sagen können, selbst wenn seine Bestürzung über das Wiedersehen eine geringere gewesen wäre. Er klagte sich in überströmender Bitterkeit an, der Urheber ihres Unglücks zu sein und versicherte sie in einem Tone, der wahrlich keinen Zweifel an seiner Aufrichtigkeit zuließ, daß er sich vor dem eigenen Gewissen nicht entlastet fühle durch das Bewußtsein, streng nach den starren Ehrbegriffen und den unbeugsamen Sittengesetzen seines Standes gehandelt zu haben.

»Ich weiß, daß ich Ihnen notwendig als der Inbegriff alles Feindseligen und Hassenswerten erscheinen muß,« sagte er mit schmerzlichem Ausdruck, »ich weiß, daß ich Übermenschliches von Ihnen verlangte, wenn ich Sie bäte, mir zu verzeihen, und doch –«

Zum erstenmal, seitdem er zu sprechen begonnen hatte, erhob sie in diesem Moment den Blick zu seinem Gesicht, und was er dabei in ihren Augen aufflammen sah, machte ihn jäh verstummen.

»Und doch peinigen Sie sich und mich nutzlos durch ein solches Gespräch,« ergänzte sie herbe. »Ich habe unsere vorige Begegnung für einen jener häßlichen Zufälle genommen, denen wir leider nicht entrinnen können, so lange wir nicht in einer menschenleeren Wüste leben. Ich hielt es für selbstverständlich, daß Sie keinen Anteil daran hätten, und ich hoffte, daß es uns nun wenigstens für die Zukunft gelingen werde, einander auszuweichen. Die strengen Sittengesetze Ihres Standes müßten Sie doch auch gelehrt haben, welche Rücksicht man einem unglücklichen und schutzlosen Mädchen schuldig ist.«

»Wie unbarmherzig Sie sind!« erwiderte er leise. »Aber was Sie da gegen mich üben, ist Ihr gutes Recht, und ich lehne mich so wenig dagegen auf, wie ich daran denke, Ihnen jemals wieder geflissentlich durch meinen verhaßten Anblick lästig zu fallen. Nur weil ich verhindern wollte, daß Sie mich obendrein für leichtfertig und gewissenlos halten, raffte ich all meinen Mut zusammen, um Sie hier anzureden – und nur dies eine ist es, das ich von Ihnen erbitte.«

Es zuckte wieder wie vorhin um Erikas Lippen, und sie schüttelte ein wenig den Kopf.

»Was kann Ihnen daran gelegen sein, wie ich von Ihnen denke! Unsere Wege gehen so weit auseinander, und wir beide können gewiß keinen innigeren Wunsch haben als den, uns nie mehr zu begegnen. Wozu also dieser Versuch einer Rechtfertigung, bei der Sie nichts gewinnen können, während alle Erinnerungen an die schrecklichsten Stunden meines Lebens dadurch in mir wachgerufen werden? Daß Sie mir dies alles nicht angetan haben in der wohlberechneten Absicht, mein Dasein zu zerstören, glaube ich Ihnen ohnedies. Wie hätten Sie auch dazu kommen sollen, da ich Ihnen doch niemals ein Leid zugefügt. Mehr als dies Zugeständnis aber sollten Sie schon aus Ritterlichkeit nicht von mir verlangen. Sagten Sie doch soeben selbst, daß Sie mir damit Übermenschliches zumuten würden.«

Egon hatte sie nicht unterbrochen, und er antwortete ihr nicht sogleich. Aber er verabschiedete sich auch nicht auf der Stelle, wie sie es nach solcher Erklärung vielleicht erwartet hatte. Stumm ging er wohl eine Minute lang an ihrer Seite weiter, bis es endlich unsicher und zögernd über seine Lippen kam:

»Meine aufrichtige Reue und die Qualen, unter denen Sie mich leiden sehen, vermögen Ihren Haß also nicht einmal ein ganz klein wenig zu mildern?«

»Weshalb sprechen Sie immer von meinem Haß? Ich habe Ihnen, wie ich denke, bisher keinen Anlaß dazu gegeben. Und wenn Sie wirklich eine solche Empfindung bei mir voraussetzen, wäre es wohl besser, nicht daran zu rühren. Nach allem, was mir widerfahren ist, müssen Sie ja begreifen, daß Ihre angebliche Reue meine Gesinnung so wenig ändern kann, als sie das Geschehene ungeschehen zu machen vermag. Ob Sie sich heute mit Selbstvorwürfen quälen, oder ob Sie das Ganze nur als eine kleine, bedeutungslose Episode in Ihrem Leben ansehen – mir, Herr von Carlowitz, gilt es vollkommen gleich.«

Sie hatten das Ende des Parkes erreicht, und nun blieb der Oberleutnant stehen.

»Sie sind härter, als ich erwartet hatte,« sagte er, seine Bewegung mühsam niederzwingend. »Aber ich sehe, daß meine Gesellschaft Sie peinigt, und es war sicherlich meine Absicht nicht, Ihnen zu allem Früheren auch noch neue Widerwärtigkeiten zu bereiten. Mein Wort darauf, daß Sie nie mehr eine Wiederholung dieser für Sie so lästigen Szene zu fürchten haben.«

Er grüßte ehrerbietig und ging mit raschen Schritten die Straße hinab. Erika aber zog hastig den schwarzen Schleier über das Gesicht, damit keiner von den Vorübergehenden die heißen Tranen gewahr würde, die sie plötzlich unaufhaltsam über ihre Wangen rollen fühlte.

 

6.

Zweimal schon hatte Egon einen Vorwand gefunden, die Einladungen der Familie Hellwald abzulehnen, und er glaubte sich nun ziemlich sicher, daß ihnen keine weitere folgen würde. Aber zu seiner Überraschung kam eines Tages doch wieder ein duftiges Briefchen von der Hand der Baronin, und fast zu derselben Stunde erhielt er auch ein kurzes, in recht ungnädigen Ausdrücken abgefaßtes Billet seines Vaters, der ihn wegen seiner Rücksichtslosigkeit gegen die liebenswürdige Familie heftig tadelte. So entschloß er sich denn zögernd und mit innerem Widerstreben, diesmal eine zusagende Antwort zu schreiben. Zwar fürchtete er nicht, daß er im Hause der Hellwalds noch einmal mit Erika zusammentreffen könnte, denn man hatte ihm ja ausdrücklich gesagt, daß sie allen größeren Gesellschaften ausweiche; aber die Erinnerung an jene peinliche Stunde seines ersten Besuches lastete noch so schwer auf ihm, daß er die Menschen, welche Zeugen derselben gewesen waren, am liebsten niemals wiedergesehen hätte.

Als der Tag der kleinen Festlichkeit herangekommen war, fühlte er schon Stunden vorher etwas wie einen dumpfen Druck auf der Brust, und er konnte dieses häßlichen Druckes auch dann noch nicht ledig werden, als er sich zwischen einer Anzahl heiterer und geputzter Menschen durch die prächtigen Räume bewegte. Die Damen des Hauses ließen es ihn wahrlich nicht entgelten, daß er sie so über alle Gebühr vernachlässigt hatte. Namentlich die jüngere Tochter, eine gertenschlanke, bewegliche Brünette, aus deren braunen Augen ein paar allerliebste Teufelchen lugten, behandelte ihn bald ganz wie einen guten alten Bekannten und ließ in übermütigster Laune alle jene kleinen Künste auf ihn wirken, zu deren Erlernung es ja für kein weibliches Wesen eines besonderen Studiums bedarf.

Egon fühlte sich fast beschämt von so viel Liebenswürdigkeit und Nachsicht, und obgleich er wenig fröhlich gestimmt war, bemühte er sich doch nach Kräften, auf den lustigen, sorglosen Ton einzugehen, der rings um ihn her angeschlagen wurde. Er war beim Souper der Tischnachbar des jungen Fräulein von Hellwald und empfing von ihr allerlei kleine Gunstbeweise, die einen andern an seiner Stelle vielleicht sehr glücklich gemacht haben würden. Unter der Wirkung der alten, feurigen Weine, und ein wenig wohl auch durch den verwirrenden Zauber der lachenden braunen Augen, die so häufig die seinen suchten, begannen wirklich allgemach die düsteren Schatten aus seiner Seele zu schwinden. Er fühlte sich freier als seit langer Zeit, und aus dem erzwungenen Lächeln, mit welchem er anfänglich die ausgelassenen Scherze seiner Nachbarin hingenommen hatte, wurde zuletzt ein ganz natürliches. Als sich die Herren nach Aufhebung der Tafel in einem Nebenzimmer die Zigarren anzündeten, klopfte ihn der joviale Hausherr, dessen persönliche Bekanntschaft Egon erst an diesem Abend gemacht, vertraulich auf die Schulter und meinte mit einem bedeutsamen Augenzwinkern:

»Mein Sprudelköpfchen hat Ihnen bei Tische das Leben sauer gemacht, ich habe es wohl bemerkt. Aber zahlen Sie's dem Kobold nur tüchtig heim. Es sollte mich freuen, zu sehen, daß sie mit ihren übermütigen Neckereien einmal an den Rechten gekommen ist.«

Dann drückte er ihm zum Überfluß auch noch die Hand wie zur Bekräftigung eines geheimen Einverständnisses, und Egon, der nicht recht wußte, wofür er die freundliche Aufforderung zu nehmen habe, begnügte sich damit, diesen Druck lächelnd zu erwidern. Nach einigen Zügen schon legte er seine Zigarre fort, um zu den Damen, die sich in den Nebengemächern niedergelassen hatten, zurückzukehren. Er stand schon in der offenen Tür des Rauchzimmers, als ihn einer der Herren mit einer Frage aufhielt und ihn dann in eine Unterhaltung verwickelte, aus der sich der Oberleutnant nicht sogleich losmachen konnte, ohne unhöflich zu erscheinen.

Anfänglich schenkte ihm Egon seine volle Aufmerksamkeit, mit einemmal aber zuckte er merklich zusammen, blickte unruhig zur Seite und gab auffällig zerstreute, einsilbige Antworten. Er hatte aus dem Nebenzimmer den Klang eines Namens gehört, der ihn halb wider seinen Willen noch immer mehr interessierte als irgend etwas auf der Welt, und gleich darauf hatte er in unmittelbarer Verbindung mit diesem Namen Dinge vernommen, die sein Blut wohl in Wallung bringen mußten.

Eine jugendliche Frauenstimme war es, die im heitersten und unbefangensten Tone sagte:

»Also Sie kennen diese Geschichte wirklich nicht? – Nun, dann werden mir Ihre übergroßen Sympathien für das arme Fräulein von Butlar allerdings etwas verständlicher. Aber es ist merkwürdig, daß von der skandalösen Affäre gar nichts bis zu Ihnen gedrungen ist.«

Der Türvorhang zwischen den beiden Zimmern war halb zurückgeschlagen, so daß sich Egon durch einen Seitenblick leicht überzeugen konnte, wer die Sprechende sei. Er sah inmitten eines kleinen Damenkreises, zu welchem auch seine reizende braunäugige Tischnachbarin gehörte, die graziöse Gestalt einer schönen jungen Frau, der er heute zum erstenmal begegnet war, und von der man ihm zugeflüstert hatte, daß sie eine der pikantesten und geistreichsten Damen der hauptstädtischen Gesellschaft sei. Er hatte vorhin in ihrem lebhaften Geplauder nichts besonders Anziehendes finden können, obwohl sie nicht übel geneigt schien, die Zahl ihrer Verehrer um seine Person zu vermehren; jetzt aber gewann das, was sie sagte, für ihn naturgemäß plötzlich eine sehr große Bedeutung.

Und er brauchte nicht einmal den Horcher zu spielen, um alles mit voller Deutlichkeit zu vernehmen; denn mit jener Ungezwungenheit, die nur eine gefeierte Schönheit als ihr besonderes Recht in Anspruch nehmen darf, sprach die junge Frau von den zartesten Geheimnissen anderer ebenso laut und offenherzig wie von einem neuen Theaterstück oder einem eben modern gewordenen Sensationsmaler.

Von verschiedenen Seiten hatte man sie gefragt, welche Bewandtnis es mit der Geschichte des Fräulein von Butlar habe, und es war offenbar nicht ihre Gewohnheit, sich zur Preisgabe solcher Geheimnisse erst lange nötigen zu lassen.

»Wenn ich eine Dichterin wäre,« sagte sie lächelnd, »könnte ich vielleicht einen ganzen Roman daraus machen, so aber müssen Sie zufrieden sein, wenn ich mich auf die einfache Wiedergabe dessen beschränke, was man mir erzählt hat. Es ist eine kleine Jugendsünde, für welche das hübsche Fräulein so hart zu büßen hat. Sie war mit einem Regierungsrat Mangold verlobt, einem sehr reichen Manne, dessen Vermögen allem Anschein nach mehr Eindruck auf sie gemacht hatte als seine Persönlichkeit. Denn als ihr Bräutigam kurz vor der Hochzeit im Duell erschossen wurde, wußte man in gewissen eingeweihten weisen ganz genau, daß die junge Dame durch einen nicht ganz unverfänglichen Seitensprung vom Pfade ihrer bräutlichen Pflicht den verhängnisvollen Zweikampf heraufbeschworen hatte.«

Egon machte eine rasche Bewegung, um in das Nebenzimmer einzutreten, aber gerade jetzt legte der andere, der offenbar nichts von seiner wachsenden Aufregung bemerkte, die Hand auf seinen Arm, um ihm noch etwas besonders Wichtiges zu sagen. Und in der nächsten Sekunde schon fuhr die liebenswürdige Erzählerin fort:

»Was sie getan hat? Mein Gott, am Ende war es gar nicht so schlimm, und man darf wohl auch nicht vergessen, daß sie noch sehr jung war, ein halbes Kind. Auf einem Ball, den sie in Gesellschaft ihres Verlobten besuchte, kokettierte sie etwas auffällig mit einem jungen Offizier, demselben, der später den armen Regierungsrat über den Haufen schoß. Es muß freilich ein bißchen arg gewesen sein, denn man erzählt, daß der vernachlässigte Bräutigam an Langmut das Menschenmögliche geleistet habe. Erst als er die beiden an irgend einem entlegenen Orte in ganz unzweideutiger Situation überraschte, hielt er es für unmöglich, noch länger gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Er forderte den unwiderstehlichen Leutnant, dessen Namen ich Ihnen lieber verschweigen will, zum Duell und bezahlte, wie es ja bei solchen Gottesgerichten zu gehen pflegt, das kleine Herzensabenteuer seiner Braut mit dem eigenen Leben.«

Mit einem Ruck machte sich Egon von seinem hartnäckigen Gesellschafter los und trat hochaufgerichtet mitten in den Kreis der erstaunten Damen.

»Verzeihen Sie die Unterbrechung, gnädige Frau,« wandte er sich, mit gewaltiger Selbstüberwindung seine äußere Ruhe bewahrend, an die schöne Erzählerin, »aber da ich leider selbst jener unwiderstehliche junge Offizier gewesen bin, ist es wohl begreiflich, daß mich Ihre Geschichte ein wenig interessiert. Und Sie gestehen mir wohl auch das Recht zu, die von Ihnen gegebene Darstellung in einigen wesentlichen Punkten zu berichtigen. Ich weiß nicht, wer Ihr Gewährsmann gewesen ist, aber ich bitte Sie, seine Erzählungen künftig etwas mißtrauisch aufzunehmen, denn er hat sich bei diesem Anlaß als ein boshafter Lügner und schändlicher Verleumder erwiesen. Sein Bericht über die Veranlassung zu meinem Zweikampf ist die abscheulichste Schurkerei, die jemals gegen ein unschuldiges und wehrloses Mädchen begangen worden ist.«

Er hatte sich zuletzt doch nicht mehr bezwingen können, und wenn auch der Ton seiner Rede ein vollkommen höflicher geblieben war, so hatte sich bei seinen Worten doch etwas wie lähmendes Entsetzen über die ganze Zuhörerschaft gelegt. Nur die schöne junge Frau, deren schlanke Finger nachlässig mit dem Fächer spielten, hatte noch immer ein kleines, boshaftes Lächeln auf den Lippen.

»Das ist eine Berichtigung, Herr Leutnant,« sagte sie spöttisch, »deren überzeugende Kraft man vielleicht in Zweifel ziehen könnte, die aber an Deutlichkeit des Ausdrucks gewiß nichts zu wünschen übrig läßt. Ich werde nicht verfehlen, sie meinem Gewährsmann wörtlich mitzuteilen – um so weniger, als es sich hierbei um meinen Bruder, den Oberleutnant von Hochstetten, handelt. Da er selbst an jenem Ballfest teilgenommen hat, würden die beiden Herren aus diesem Anlaß vielleicht sehr interessante Erinnerungen austauschen können.«

»Ich gestatte Ihnen, von meinen Worten jeden beliebigen Gebrauch zu machen, gnädige Frau,« erwiderte Egon kalt. »Was aber meinen Verkehr mit der jungen Dame betrifft, die hier eine so unverdiente Kränkung ihrer Ehre erfahren hat, so erkläre ich auf mein Ehrenwort, als Edelmann und Offizier, daß es sich bei unseren Gesprächen lediglich um einen Dienst handelte, den ich ohne sein Vorwissen ihrem Verlobten leisten sollte. Der Regierungsrat hatte meinen Vater, seinen Vorgesetzten, erzürnt, und Fräulein von Butlar erhoffte von meiner Verwendung eine Beilegung des Zwistes. Sie war genötigt, mich unter vier Augen darum zu ersuchen, weil der Stolz ihres Bräutigams die Fürsprache eines Fremden wahrscheinlich nicht geduldet haben würde. Ich besitze zwar keine Vollmacht, diesen Sachverhalt der Öffentlichkeit preiszugeben, aber ich bin der Meinung, daß vor der Rücksicht auf den schnöde angegriffenen Ruf einer schutzlosen Waise jede andere verstummen muß.«

Lautlose Stille folgte seinen Worten. Die pikante junge Frau schlug ihren großen Federfächer auf, so daß dem Leutnant der Anblick ihres Gesichts entzogen wurde; die anderen Damen aber zeigten höchst verlegene Mienen, und das jüngste Haustöchterchen saß mit dunkel glühenden Wangen und niedergeschlagenen Augen da, wie wenn ihr soeben ein recht bitteres Herzeleid widerfahren wäre.

Egon mußte fühlen, daß sein längeres Verweilen das Peinliche der Situation nur verschärfen würde, und er zog sich in das Herrenzimmer zurück, um wenige Minuten später das Haus zu verlassen. Nur bei dem Baron hatte er sich verabschiedet, und er konnte nicht daran Zweifeln, daß Herr von Hellwald von dem ärgerlichen Vorfall bereits unterrichtet worden war. Denn an die Stelle seiner vorigen überströmenden Liebenswürdigkeit war eine sehr fühlbare Zurückhaltung getreten, er machte keinen Versuch, den jungen Offizier zu längerem Bleiben zu bewegen, und er erklärte sich auf Egons Ersuchen ohne weiteres bereit, ihn bei seiner Gattin wegen der unterlassenen Verabschiedung zu entschuldigen.

Als er auf die Straße hinaustrat, hatte der Oberleutnant die Gewißheit, daß er soeben einen schweren gesellschaftlichen Verstoß begangen habe, der seinen Beziehungen zum Hause Hellwald für immer ein Ende machte, und den man ihm in diesen Kreisen wahrscheinlich niemals verzeihen würde. Aber er atmete trotzdem erleichtert auf, und es war auch nicht der leiseste Zweifel in seiner Seele, daß er in einer ähnlichen Lage zum zweitenmal genau so handeln würde wie in dieser letzten Stunde. Der Gedanke an die Enttäuschung, die er seinem leidenden Vater bereiten mußte, verursachte ihm zwar eine Empfindung des Bedauerns, aber diese Regung trat weit zurück vor dem Gefühl der Genugtuung darüber, daß er wenigstens zu einem geringen Teil hatte sühnen können, was er an Erika von Butlar gesündigt. – –

Drei Tage später übergab ihm sein Bursche die Visitenkarte eines ihm fremden Offiziers, unter dessen Namen mit Bleistift die ominösen Worte »in einer Ehrenangelegenheit« geschrieben waren. Egon empfing den Besucher natürlich sofort, denn er wußte von vornherein, daß er nur im Auftrage des Oberleutnants von Hochstetten kommen konnte. Mit gemessener Höflichkeit entledigte sich der Kartellträger seiner Mission. Herr von Hochstetten, ein Regimentskamerad des Leutnants von Falkenhayn, war durch seine Schwester brieflich von Egons Äußerungen in Kenntnis gesetzt worden, und er hatte seinen Freund entsendet, um eine Aufklärung zu verlangen.

»Es wird mir durch die Umstände sehr leicht gemacht, Ihnen diese Aufklärung zu geben,« sagte Egon ruhig. »Daß jene Worte gefallen sind, gebe ich zu. Ich sprach sie indessen nicht in der Absicht, Herrn von Hochstetten zu beleidigen, sondern unter dem Druck der Notwendigkeit, die angegriffene Ehre einer jungen Dame zu schützen. Aus diesem Grunde war ich leider auch nicht in der Lage, sie zurückzunehmen, als ich erfuhr, gegen wen sie sich richteten.«

»Und Sie würden sich dazu auch jetzt nicht bereit finden?«

»Nein.«

»Dann muß ich für den beleidigten Kameraden Genugtuung mit der Waffe von Ihnen fordern, Herr von Carlowitz.«

Der Oberleutnant sah ihm mit festem Blick ins Gesicht.

»Ich bedaure, Herr Kamerad – aber ich schlage mich nicht.«

Der andere war außer stande, seine Überraschung zu verbergen.

»Ist das ein Zweifel an der Satisfaktionsfähigkeit meines Freundes?«

»Keineswegs. Es ist lediglich die Konsequenz meiner Anschauungen über das Duell. Ich werde mich grundsätzlich nie wieder in einen Zweikampf einlassen.«

»Das – das ist allerdings eine unerwartete Wendung. Und Sie ermächtigen mich wirklich, meinem Freunde dies als Ihre Antwort zu überbringen?«

»Gewiß! Denn es ist alles, was ich auf die Herausforderung des Herrn von Hochstetten zu erwidern vermag.«

Der Offizier befand sich in sichtlicher Verlegenheit.

»Sie begreifen, daß mir sehr viel daran gelegen sein muß, jede Möglichkeit eines Mißverständnisses auszuschließen,« sagte er nach einigem Zögern. »Und ich bin noch immer im Zweifel, ob ich den Sinn Ihrer Erklärung ganz richtig aufgefaßt habe. Sie verweigern die Genugtuung mit der Waffe also nicht nur in diesem besonderen Fall, sondern überhaupt und aus Prinzip?«

»So ist es. Sie haben mich vollkommen verstanden.«

»Es kann natürlich nicht meine Aufgabe sein, Sie auf die unausbleiblichen Folgen einer solchen Weigerung aufmerksam zu machen, denn als Offizier sind Sie sich darüber sicherlich klar. Aber ich möchte Ihnen doch noch einmal nahelegen, daß es unter solchen Umständen vielleicht besser wäre, die Affäre durch eine Entschuldigung aus der Welt zu schaffen. Ich würde die Äußerung über Ihre grundsätzliche Stellung zur Duellfrage dann gern als eine rein private und streng vertrauliche behandeln.«

»Ich bin Ihnen für die gute Absicht verbunden, die sich in Ihrem Vorschlage kundgibt, Herr Kamerad, aber meine Auffassung von Mannesehre verbietet mir, ihn anzunehmen. Ich habe von dem, was ich gesagt, nichts zu widerrufen und nichts zu entschuldigen. Meine Ansichten über den Zweikampf aber werde ich bereitwillig auch vor jedem Ehrengericht vertreten.«

Der andere machte nur noch eine kleine stumme Verbeugung und wandte sich zur Tür. Auf der Schwelle zauderte er ein paar Sekunden lang, als ob er es dennoch für unmöglich hielte, daß ihn der Oberleutnant mit diesem Bescheide entlassen könnte. Da aber Egon wortlos an seinem Schreibtisch lehnte, grüßte er kurz in soldatischer Weise und ging.

»So wäre es denn entschieden!« sagte der Zurückbleibende vor sich hin. Er dachte an seinen Vater, und wie hart ihn die Kunde treffen würde, daß man seinen Sohn genötigt habe, unter dem Verdacht der Feigheit seinen Abschied aus dem Heere zu nehmen, aber er wurde dadurch nicht für einen Augenblick irre gemacht in seinem Entschlusse. Die Überzeugung von der Verwerflichkeit dieses frivolen Spieles um Menschenleben war unter den Gewissensqualen der traurigen letzten Jahre in ihm zu einer völlig unerschütterlichen geworden. Und wenn er vielleicht noch vor wenig Monaten dennoch geschwankt hätte, ob er in einem gegebenen Falle dieser Überzeugung folgen oder sich dem starren Vorurteil seines Standes abermals beugen solle, so war jede Möglichkeit des Zauderns ausgeschlossen, seitdem ihm das Wiedersehen mit Erika mit so erschütternder Deutlichkeit die Folgen seines ersten Zweikampfes vor die Seele geführt hatte.

Mochte es immerhin Leute geben, die in seinem Verhalten einen Mangel an persönlichem Mut erblickten; mochte sich immerhin mancher von denen, die ihm heute noch freundschaftlich die Hand drückten, künftig mit Geringschätzung von ihm abwenden – er durfte darum nicht mehr wankend werden in dem, was er als das höhere und heiligere Gesetz erkannt hatte. In einem ganz anderen Sinne zwar, als der Briefschreiber sie verstanden hatte, aber darum mit nicht geringerem Recht wollte er sich fortan auf die mahnenden Worte seines Vaters stützen: Wer seine Pflicht tut, der handelt immer recht! –

Wenige Wochen später – er hatte schon seit vierzehn Tagen keinen Dienst mehr getan – las er mit einem wehmütigen Lächeln seinen Namen unter denen der verabschiedeten Offiziere im Militärwochenblatt.

 

7.

Es war in der zweiten Hälfte des August, eine drückende, dumpf brütende Hitze lag über dem Lande wie über dem beinahe regungslosen Spiegel des Meeres. Die uralte norwegische Königsstadt Drontheim erschien, vom Fjord aus gesehen, wie in eine ungeheure, leise zitternde Dunstwolke eingehüllt, in der sich, hoch über den niedrigen Holzhäusern am Hafen, die imposanten Formen der ehrwürdigen St. Olafskirche in verschwimmenden Umrissen abzeichneten.

Ein großer Dampfer, der vor mehreren Stunden von Christiania heraufgekommen war, lag weit draußen auf der Reede. Er sollte sogleich nach den Lofoten und dem Nordkap weitergehen. Die Passagiere, die in Drontheim landen wollten, waren bereits ausgeschifft, und die für den Norden bestimmten Güter an Bord genommen. Eine dicke, schwarze Rauchsäule stand in der stillen, schwülen Lust fast unbeweglich über dem mächtigen Schornstein, und zum zweitenmal schon schrillte ein kurzer Pfiff als Zeichen der nahe bevorstehenden Abfahrt zum Lande hinüber.

Da wand sich noch eines von den plumpen, schweren Ruderboten, die den Verkehr im Hafen vermitteln, zwischen den an den Vorsetzen liegenden Fahrzeugen hindurch, um im freien Wasser rasch dem Dampfer zuzustreben. Außer dem wettergebräunten alten Seebären, der mit ebensoviel Geschicklichkeit als Kraft die Ruder führte, befand sich nur ein einzelner Mann in dem Boote. Er war in einen hellen Touristenanzug gekleidet, und der Koffer, der neben ihm auf der Bank stand, zeigte deutlich, daß er ein verspäteter Passagier war, der noch im letzten Augenblick die »Dronning Lowisa« zu gewinnen wünschte. Von Bord des Schiffes aus hatte man ihn bemerkt und verzögerte ihm zuliebe die Abfahrt um einige Minuten. Als er endlich mit leichten, elastischen Bewegungen die Schiffstreppe emporstieg, gellte auf das kurze Kommando des Kapitäns das letzte schrille Signal aus der Dampfpfeife über den bleiernen Spiegel des Fjords dahin, und mit einem dumpfen Ächzen, Schnaufen und Stöhnen, als hätte auch sie schwer unter der unerträglichen Hitze zu leiden, nahm die Maschine ihre Tätigkeit auf.

An der Reling auf der dem Lande zugewendeten Seite des Verdecks standen in langer Reihe die Passagiere der »Dronning Lowisa« – Damen und Herren, um mit wehenden Tüchern den letzten Abschiedsgruß nach der altersgrauen Residenz König Olaf Trygvasons hinüberzuwinken. Egon von Carlowitz, der zuletzt angekommene Passagier, ging mit höflichem Gruße an ihnen vorüber, der in die inneren Räume des Dampfers hinabführenden Treppe zu. Er dachte augenscheinlich nur daran, sein Gepäck in der für ihn bestimmten Kabine unterzubringen, und hatte deshalb sehr wenig Aufmerksamkeit für die Menschen, welche eine Reihe von Tagen hindurch seine Gesellschaft ausmachen sollten. War es ihm doch auf dieser Fahrt ganz und gar nicht um die Freuden der Geselligkeit zu tun, und würde er doch mit allen diesen auch ohne sein eifriges Dazutun bald genug bekannt werden!

So hatte er das liebliche Mädchenantlitz nicht wahrgenommen, das sich in dem Augenblick, wo sein Boot hart an die Schiffswandung stieß, mit einem seltsam erstaunten, ja fast entsetzten Ausdruck weit über die Brüstung geneigt hatte. In einer Entfernung von wenig Schritten war er achtlos an der schlanken, dunklen Gestalt vorübergegangen, die sich erzitternd an die schmächtige, alte Dame zu ihrer Linken schmiegte; er hatte nicht gesehen, wie stürmisch ihr junger Busen wogte, wie dunkle Rosen jäh auf den eben noch so bleichen Wangen erblüht waren. –

Ohne Eilfertigkeit und Hast richtete sich Egon in dem engen Raume ein. Er hatte acht Tage in Drontheim gewohnt, und er kannte die romantische Uferszenerie des Fjords so gut, daß es ihn nicht danach verlangte, sich unter die fremden Menschen auf dem Verdeck zu drängen, nur um sie im Vorüberfahren noch einmal zu genießen. Diese seltsame, in ihrer großartigen Starrheit so melancholische Natur des Nordens, die auf einsamen Wanderungen von geradezu überwältigender Wirkung auf sein Gemüt sein konnte, verlor für ihn überhaupt fast all ihren Zauber, wenn er sie inmitten eines Schwarmes von schwatzenden Vergnügungsreisenden bewundern sollte. Weil er diese Leute, die unerschöpflich waren in Äußerungen ihres echten oder erkünstelten Entzückens, nicht länger hatte ertragen können, war er vor einer Woche vom Bord des Touristendampfers geflüchtet, um in einem kleinen Drontheimer Hotel Wohnung zu nehmen. Denn die Absicht, in der er diese Nordlandsreise unternommen hatte, wurde völlig vereitelt durch das geräuschvolle, geschwätzige Treiben auf dem überfüllten Schiffe, wo es keine Möglichkeit des Entrinnens gab und keinen stillen Zufluchtswinkel für ein nach Einsamkeit dürstendes, schmerzdurchwühltes Menschenherz.

Schwere Tage und Wochen waren es, die hinter dem ehemaligen Dragoneroffizier lagen – eine Zeit des Kampfes und der bittersten Enttäuschungen. Wenn er auch von Anfang an nicht im Zweifel darüber gewesen war, daß er sich durch sein Verhalten gegenüber der Herausforderung des Premierleutnants von Hochstetten in einen scharfen Gegensatz zu der Mehrzahl seiner Standesgenossen setzen würde, so hatte er doch gehofft, wenigstens bei denen, die ihm persönlich nahegestanden, ein Verständnis für die Beweggründe seines Handelns zu finden. Aber er hatte gerade mit seinen vermeintlichen Freunden die allerschmerzlichsten Erfahrungen machen müssen. Mit allen Künsten der Überredung hatte man erst versucht, ihn zu einer anderen Entschließung zu drängen, und als man angesichts seiner ruhigen Beharrlichkeit zu der Überzeugung gelangen mußte, daß dies Bemühen vergeblich sei, hatte man sich jäh von ihm abgewendet wie von einem Geächteten. Ein beleidigendes Achselzucken, eine vielsagende Miene spöttischen Zweifels war selbst die einzige Antwort seines alten Freundes Falkenhayn gewesen, als er diesem rückhaltlos sein ganzes Herz ausgeschüttet und ihm mit bewegten Worten jene aufreibenden Seelenkämpfe geschildert hatte, deren letztes Ergebnis seine Unterwerfung unter das höhere Gesetz gewesen war. Auch er hatte ihn nicht begriffen, und auch er hatte sich in unzweideutiger Weise losgesagt von dem Ausgestoßenen, der nach dem Urteil seiner Kameraden mit dem Makel der Feigheit behaftet war. Ohne Wort und Händedruck, mit stummem, kaltem Gruße hatten die ehemaligen Freunde sich getrennt, und erst nach jener Unterredung hatte Egon in ihrer ganzen zermalmenden Schwere die Gewißheit empfunden, daß er seiner Überzeugung das Höchste geopfert habe, das ein Mann zu opfern im stande ist – die Achtung seiner Nebenmenschen.

Aber wie grausam er auch darunter gelitten haben mochte, es war doch das Härteste nicht gewesen, das ihn in dieser furchtbaren Zeit betroffen. Unendlich viel tiefer waren die Wunden, die ihm der Kummer und der unversöhnliche Zorn des Oberpräsidenten geschlagen. Denn der eigene Vater hatte sich auf die Seite derer gestellt, die ihn verdammten, und erbarmungslos hatte er dem Sohne, durch den er alle seine Wünsche und Hoffnungen zerstört sah, seine Verachtung kundgegeben. Umsonst hatte Egon alles versucht, die Verzeihung des alten Mannes zu erlangen oder wenigstens einen vollständigen Bruch zu verhindern; innerhalb seiner eigenen Familie war ihm von keiner Seite eine Unterstützung zu teil geworden bei diesem Bemühen, und zuletzt hatte er nach einer sehr heftigen Szene auch die letzte Hoffnung aufgeben müssen, den starren Sinn des Kranken zu seinen Gunsten zu wenden. Auch aus dem Vaterhause war er als ein Geächteter gegangen, beladen mit dem unversöhnlichen Groll derjenigen, bei denen er Trost und Ermutigung zu finden erwartet.

Darüber, daß es jetzt seine einzige Aufgabe sein müsse, auf den Trümmern des zerstörten Daseins ein neues Leben aufzubauen, völlig losgelöst auch von den letzten engherzigen Vorurteilen seines Standes und frei von jeder schwächlichen Rücksicht auf das Vergangene, konnte er freilich nicht im Ungewissen sein. Selbstachtung und Mannesstolz mußten ihm gebieten, den Feinden, die ihm so plötzlich aller Enden erstanden warm, durch mutige Tat die kurzsichtige Torheit ihres Verdammungsurteils zu beweisen. Aber er fühlte nach all diesen inneren und äußeren Kämpfen dazu nicht mehr die rechte Kraft. Eine Ermattung war über ihn gekommen, die in manchen Stunden das Aussehen wirklicher Lebensmüdigkeit gewann. Und um dieser unmännlichen Schwäche, die er auf übergroße nervöse Abspannung zurückführte, Herr zu werden, hatte er die Reise nach dem Norden unternommen. Unter anderen Menschen und inmitten einer großartigen, erhabenen Natur hoffte er seine verlorengegangene Energie zurückzugewinnen. Aber er hatte bis jetzt wenig Veranlassung, mit dem Erfolg des Versuches zufrieden zu sein. Auf vereinzelte Stunden keimender Hoffnung und neu erwachender Lebensfreude folgten immer wieder Augenblicke der tiefsten Entmutigung, denn noch war ein einziges, absichtsloses Wort aus dem Geschwätz seiner Umgebung im stande, alle düsteren Schatten der Vergangenheit in seiner Seele heraufzubeschwören. Er hatte ein Bedürfnis, der Gesellschaft der Menschen zu entfliehen, und er war diesem Verlangen gefolgt, indem er vor acht Tagen den Touristendampfer in Drontheim verließ. Aber auch die selbstgewählte Einsamkeit hatte nicht den erhofften wohltätigen Einfluß auf ihn geübt. Schwermütiger als zuvor war er allabendlich von seinen langen Ausflügen zu Wasser und zu Lande heimgekehrt, und statt des fröhlichen Tatenmutes, dessen er so sehr bedurfte, erfüllte nur die unbestimmte Sehnsucht nach irgend etwas Fernem und Unerreichbarem seine Brust.

Schon längst hatte die Schiffsglocke das Zeichen zum Beginn der Mahlzeit gegeben, als Egon endlich seine Kabine verließ, um in den gemeinschaftlichen Speisesalon hinüberzugehen. Der aufwartende Steward zeigte ihm den für ihn bestimmten leeren Platz, und mit einer leichten, stummen Verbeugung gegen seine beiden Nachbarn ließ sich Egon an der Tafel nieder. Da es ihm ganz gleichgültig war, mit wem ihn der Zufall hier zusammengeführt hatte, würdigte er seine Umgebung während der ersten Viertelstunde nicht einmal eines flüchtigen Blickes, und sein teilnahmloses Ohr fing aus dem Geschwirr der Stimmen kaum hier und da ein Bruchstück der lebhaft geführten Unterhaltungen auf.

Plötzlich aber hob er mit weitgeöffneten Augen den Kopf, als hätte er inmitten des Lärms irgend einen geisterhaften, übernatürlichen Ton vernommen. Und minutenlang starrte er nach einer einzigen Stelle am anderen Ende der Tafel hinüber, regungslos und selbstvergessen wie ein Träumender.

Sein Ohr hatte ihn nicht getäuscht. Es war wirklich Erikas weiche Stimme gewesen, die er vernommen hatte, denn da saß sie in all ihrer stillen Lieblichkeit leibhaftig neben einer kleinen, verschrumpften, alten Dame mit spitzigen, grämlichen Zügen. Nur im Profil konnte Egon ihr holdes Antlitz sehen, denn ihre Augen blieben beharrlich von ihm abgewendet. Er hegte also keinen Zweifel, daß sie ihn bereits wahrgenommen hatte, und daß sie geflissentlich vermeiden wollte, seinem Blick zu begegnen. Aber er sah, daß auf der zarten Wange in raschem Wechsel die Farbe kam und ging, und nur zu gut glaubte er die Ursache der mühsam unterdrückten Erregung zu erraten, die sich darin offenbarte. Vielleicht hatte sie ihn im Verdacht, dies neue Zusammentreffen, das fast zu wunderbar war für einen bloßen Zufall, mit kluger Berechnung herbeigeführt zu haben, um ihr seine verhaßte Person abermals aufzudrängen, und dann war ihr Unwille wahrhaftig begreiflich genug. Aber er wollte alles daran setzen, um ihr zu beweisen, daß er wenigstens diesen Vorwurf nicht verdiene. Sobald sich die erste Möglichkeit dazu bot, wollte er den Dampfer verlassen, gleichviel an welchem Punkte dieser Felsenküsten man ihn aussetzen würde, und bis zu dem Augenblick, der sie von seiner widrigen Gegenwart befreite, wollte er all seinen Scharfsinn darauf verwenden, wie er sich an Bord des Schiffes vor ihr verbergen könne.

Er war der Erste, der die Tafel verließ, denn er ging, noch ehe man das Dessert aufgetragen hatte. Da es ihm nicht gelang, sich mit den norwegisch sprechenden Schiffsleuten auf dem Verdeck wegen seiner Landung hinreichend zu verständigen, mußte er sich gedulden, bis es möglich sein würde, des Kapitäns habhaft zu werden, und da nun allgemach auch die anderen Passagiere mit hochgeröteten Gesichtern droben erschienen, um sich aus der unten herrschenden, unerträglichen Schwüle zu retten, zog er sich hastig wieder in seine enge, dunstige Kabine zurück.

Wohl eine Stunde noch blieb der Gang des Schiffes so ruhig, als fahre man auf dem Spiegel eines kleinen Flüßchens dahin. Dann aber fühlte Egon an den stärker werdenden Bewegungen des Fahrzeuges, daß sich der Zustand des Meeres plötzlich verändert haben müsse. Gleichzeitig trat trotz der frühen Nachmittagsstunde mit einem Male eine nahezu vollständige Dunkelheit in seinem winzigen Schlafkämmerchen ein, nur für den Bruchteil einer Sekunde grell durchzuckt von einem bläulichen Lichtschein, dem lang nachhaltend dumpfes Donnergrollen folgte. Das Gewitter, das nach der tropischen Hitze der letzten Tage wie eine Erlösung ersehnt worden war, brach also endlich los, und es war sicherlich niemand an Bord, der es nicht mit erleichtertem Aufatmen begrüßte.

Aber es wurde ein Gewitter, wie es gewiß nur wenige von den Vergnügungsreisenden auf der »Dronning Lowisa« jemals erlebt hatten. Ein orkanartiger Sturm kam über die weite Wasserfläche dahergebraust, das eben noch so spiegelglatte Meer wild aufwühlend, und die Wogen, die eine tiefschwarze Farbe angenommen hatten, zu gigantischen Massen türmend. Prasselnd und klatschend strömte der Regen nieder, während es von allen Seiten blitzte und krachte, wie wenn der ganze Himmel in Flammen stände. Der gut gebaute Dampfer stieß und schlingerte jetzt so gewaltig, daß alles, was nicht niet- und nagelfest war in der Kabine, in Bewegung geriet, und daß Egon bald nicht mehr im stande war, den Aufenthalt in dem selbstgewählten Gefängnis länger zu ertragen. Er öffnete die Schiebetür und trat auf den engen Kajütengang hinaus, an dessen Wänden er sich mit beiden Händen festhalten mußte, um nicht bei den starken und unregelmäßigen Schwankungen, die der Boden unter seinen Füßen machte, das Gleichgewicht zu verlieren. In einem solchen Unwetter befand sich ganz gewiß keiner von den Passagieren auf dem Verdeck, und Egon, der ein unbezwingliches Verlangen fühlte, endlich wieder reine, freie Gottesluft zu atmen, tastete sich darum nach der schmalen Treppe hin, die nach oben führte. Aber er prallte doch unwillkürlich zuerst wieder um einen Schritt zurück, als er nun plötzlich den ganzen Aufruhr der entfesselten Elemente vor sich sah. Er mußte die von den grellen Blitzstrahlen geblendeten Augen schließen, und unwillkürlich hielt er den Atem an während des knatternden Donnerschlages, dessen bisher ungekannte, prasselnde Wucht etwas wie eine Vorahnung nahen Weltunterganges in ihm wachrief. Dann aber hob sich seine Brust nur um so freier, und während der Sturm sein Haar zerzauste, während Regen und Hagel sein Gesicht peitschten, legte er den Kopf in den Nacken zurück und sog begierig die feuchte, salzgeschwängerte Seeluft ein.

Aber er konnte hier auf der letzten Treppenstufe nicht stehen bleiben, denn er mußte die Tür hinter sich schließen, weil die über Bord spritzenden Wellen über seine Füße hinweg ihren Weg in das Innere des Dampfers fanden. Er wollte nach der Brüstung auf der Steuerbordseite hinüber, um den großartigen Anblick des aufgeregten Meeres von dort aus in seiner ganzen Erhabenheit zu genießen. Doch die Ausführung seines Vorhabens war schwieriger, als er es geglaubt. Hätten sich ihm nicht überall feste Gegenstände dargeboten, an die er sich mit raschem und energischem Schritt anklammern konnte, so würde er schon beim ersten Schritt zu Boden geworfen worden sein. Mit jenem eigentümlichen, wohligen Erschauern, das nur tapfere Naturen in Augenblicken der Gefahr empfinden können, fühlte er, wie schwach und unzureichend der überwältigenden Wirklichkeit gegenüber alle Vorstellungen gewesen waren, die er sich bisher von dem Wesen eines Seesturms gemacht.

Als er nach Verlauf von Minuten bis an das Geländer der kleinen, leiterartigen Treppe gekommen war, die zur Kommandobrücke hinaufführte, stieg eben der erste Steuermann von da oben herab, den Südwester auf dem Kopfe und mit triefendem Bart.

»Haben Sie auch Furcht?« rief er dem Passagier mit lachendem Munde in deutscher Sprache zu. »Unten ist große Verzweiflung.«

»Was sollte ich fürchten?« gab Egon zurück. »Ihr Schiff hält doch wohl ein Gewitter aus.«

»Will's meinen! – Solange wir noch manövrieren können, um im offenen Wasser zu bleiben –«

Gerade in diesem Moment gab es unter ihnen einen Krach, der ganz anders klang als das Knattern und Brüllen der Donnerschläge, und einen Stoß, der nicht den bisherigen Erschütterungen des Dampfers glich. Egon hörte, wie der auf der Kommandobrücke stehende Kapitän rasche, seltsam klingende Befehle oder Fragen in das Sprachrohr hineinrief; der Steuermann aber war plötzlich von seiner Seite verschwunden. Gleich darauf nahm er deutlich wahr, wie die Maschine ihre Arbeit einstellte, deren gleichmäßiges Ächzen und Stampfen man in all dem wilden Lärm der Elemente bis dahin noch immer hatte unterscheiden können. Er begriff, daß sich etwas Besonderes, etwas Gefahrvolles ereignet haben müsse, und es erschien ihm selber seltsam, daß dabei nicht die leiseste Regung des Bangens seine Brust beschlich.

Die unverständlichen, rauhen Kommandoworte über ihm erschallten noch immer in rascher Folge; die Bewegungen des Schiffes aber waren jetzt von einer Heftigkeit und Ungleichmäßigkeit, die eine Fortbewegung von einer Stelle des Verdecks zur anderen überhaupt zur Unmöglichkeit zu machen schien. Dabei nahm der Orkan an Gewalt offenbar noch immer zu, und der Regen war zu einer völlig undurchsichtigen grauen Wand geworden, so daß Himmel und Meer gleichsam in eins zusammenflossen.

Erst als er ganz dicht an seiner Seite war, erblickte Egon den Steuermann, der wohl aus dem inneren Schiffsraum gekommen sein mochte, und der sich anschickte, wieder auf die Brücke hinaufzusteigen.

»Was ist geschehen?« rief er ihm zu, seine Lungen auf äußerste anstrengend, um sich ihm in dem Brausen und Rauschen verständlich zu machen. »Sind wir etwa gegen einen Felsen gerannt?«

»Nein,« klang es zurück. »Aber der Teufel hol's – die Schraubenwelle ist gebrochen –«

Einige Worte, die er noch hinzufügte, verschlang der Sturm und der rollende Donner. Vor ihnen und neben ihnen spaltete sich eben wieder gleichzeitig das dunkle Gewölk, und blendende Helligkeit überflutete das tobende Meer wie das verzweifelt kämpfende, in allen Fugen krachende Schiff.

Egon aber dachte nicht darüber nach, was ihm der Steuermann noch weiter gesagt haben könnte; denn während der kurzen Dauer dieses Doppelblitzes hatte er etwas gesehen, das jeden Gedanken an Tod und Gefahr weit zurücktreten ließ vor einem anderen, mächtigeren Empfinden. Nur wenige Schritte von der Stelle, an der er selbst sich befand, mit beiden Händen an die Reling der Steuerbordseite geklammert, stand – in der grellen Augenblicksbeleuchtung bis in die kleinsten Einzelheiten ihres Anzuges deutlich erkennbar – eine feingebaute weibliche Gestalt, eine Gestalt, die unter allen Frauen der Welt nur einem einzigen heißgeliebten Wesen angehören konnte. Und jetzt dachte er nicht mehr daran, daß er sich noch vor einer Stunde heilig gelobt hatte, aus ihrer Nähe zu entfliehen; nur an die Gefahr dachte er, von der ihr teures Leben bedroht war, und daran, daß es seine Pflicht sei, sie zu schützen, soweit seine schwachen Menschenkräfte reichten. Unbekümmert darum, daß ihn der Sturm hinwegreißen, oder daß ihn eine Sturzwelle fortspülen könnte, strebte er, jedes festen Haltes beraubt, der Stelle zu, wo er Erika erblickt hatte. Und obwohl er wirklich einmal auf den schlüpfrigen Planken zu Fall kam, gelang es ihm dennoch, sein Ziel zu erreichen. Als sich wieder das ganze Firmament in ein einziges Glutmeer zu wandeln schien, stand er hart an ihrer Seite, und während er mit der linken Hand das eiserne Geländer erfaßte, schlang er seinen rechten Arm um ihren Leib, wie wenn alles Vergangene getilgt und ausgelöscht wäre in dieser erhaben-furchtbaren Stunde.

Erika rührte sich nicht. Sie hätte ihn freilich nicht von sich abwehren können, auch wenn es ihre Absicht gewesen wäre. Nur ein Erzittern glaubte er zu fühlen, das über ihren Körper ging. Da plötzlich wälzte es sich im Schein eines neuen Blitzes riesengroß und schrecklich wie eine himmelanstrebende schwarze Wand gerade auf sie zu. Egon hatte die Empfindung, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen, und als müßten sie im nächsten Moment kopfüber in die grauenhafte, gähnende Tiefe hinabschießen, die sich da hart vor ihren Augen aufgetan hatte. Fester umfaßte er die geliebte Gestalt, daß das Verderben nicht Macht gewänne, sie aus seinem Arm zu reißen. Und dann vergaß er in heiß aufwallender, namenloser Glückseligkeit alle Schrecknisse, die sie umdrohten; denn Erikas Hände hatten sich von der Brüstung gelöst, die ihnen bis dahin Halt gewährte und – beide Arme um seinen Nacken schlingend – hatte sie sich mit einem Aufschrei an seine Brust geworfen.

»Mein Lieb!« jauchzte er in den tosenden Sturm hinaus. »Mein teures Lieb!«

Und durch seine Adern strömte es wie Titanenkraft. Er fühlte sich stark genug, selbst mit den empörten Elementen um ihr Leben zu kämpfen. Er sah in die flammenden Blitze, ohne mit den Wimpern zu zucken; er starrte furchtlos in die hochgetürmten schwarzen Wogen, die mit ihren weißen Häuptern von Schaum und Gischt heranstürmten, als wollten sie das armselige Gebilde schwacher Menschenhände in ihrer gräßlichen Umarmung zu nichts zerdrücken. Hoch schlug sein Herz in der beseligenden Gewißheit des Sieges, und in seiner Seele war nicht der leiseste Zweifel, daß dies kein Ende sei, sondern der Anfang eines neuen, besseren Lebens.


Eine Stunde später war jede Gefahr für die »Dronning Lowisa« vorüber. Lachend blaute wieder der Himmel über der nordischen See, und mitten im Fjord, dessen Wellen nur noch mäßig hoch gingen, lag der Dampfer vor Anker, das kleinere Fahrzeug erwartend, das herbeisignalisiert worden war, um die Passagiere zunächst nach Drontheim Zurückzubringen. Die armen Vergnügungsreisenden, zum großen Teil noch halbtot von dem ausgestandenen Schrecken, tauschten, auf dem Mitteldeck zu einem verängstigten Häuflein zusammengedrängt, ihre Gedanken und Empfindungen über die unvergeßlichen Eindrücke der furchtbaren letzten Stunden miteinander aus. Ganz vorn an der äußersten, dem offenen Meere zugewandten Spitze des Schiffes aber stand, von keinem beachtet, Hand in Hand ein glückliches junges Menschenpaar. Die Schauer des Todes erst hatten sie anwehen müssen, um alles von ihnen abzutun, was sie zu trennen schien für Zeit und Ewigkeit. Nun aber, da sie sich gefunden hatten in Sturm und Gefahr, nun konnte auch kein wesenloser Schatten einer düsteren Vergangenheit, kein armseliges Vorurteil und kein hämischer Tadel der Welt das heilige Band mehr zerreißen, das sich um ihre jungen, glückdurstigen Herzen geschlungen hatte. In jenem feierlich-schrecklichen Augenblick, da das Verhängnis über ihren Häuptern zu schweben schien, war ihnen wie eine Erleuchtung von oben die Gewißheit gekommen, daß sie zueinander gehörten in Leben und Sterben – und solche Gewißheit läßt sich hinfort durch nichts mehr erschüttern.

Sie wußten, daß das neue Dasein, welches für sie mit dieser Stunde begann, reich sein würde an harter Arbeit und vielleicht auch an ernstem Kampf, aber sie sahen ihm trotzdem mit stolzer Freudigkeit und hohem Mute entgegen, denn über alle Widerwärtigkeiten, die ihrer warten konnten, und über alle engherzige Mißbilligung der Leute, erhob sie ja das befreiende Bewußtsein, daß sie einem höheren Gesetze gefolgt waren als dem, unter das man sie hatte zwingen wollen.

Und in diesem Bewußtsein lag für sie die Gewähr eines unzerstörbaren Glückes.

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