Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.
Die Gesellschaft der Ungeschlossenen.

Unser Freund hatte mit Hülfe des Assessors Kloppmeier, des Wasserbauinspectors und eines nach Heustedt versetzten Auditors, aus einer altadelichen Familie von großem Einflusse, der in Heidelberg und Berlin sich über die Lebensanschauungen des Adels und der hannoverischen Bureaukratenkreise emporgeschwungen, mancherlei Aenderungen in dem gesellschaftlichen Leben der kleinen Stadt durchzusetzen gewußt, die, so gering sie an sich schienen, doch nicht ohne Einfluß auf das Ganze blieben. So war im Herrenclub eine radicale Oppositionszeitung angeschafft, und eine große Anzahl Leute, die nie eine andere als die Regierungszeitung gelesen, bekamen nun einmal die Dinge auch von der Kehrseite zu sehen. Es war ein vom Herrenclub gänzlich unabhängiger Journallesecirkel ins Leben gerufen, wodurch ermöglicht war, daß drei oder vier Familien, welche der ersten Gesellschaft nicht angehörten, darunter Hirschsohn's, von diesem Institute Gebrauch machen konnten. Man hatte einen Buchbinder veranlaßt, eine Leihbibliothek einzurichten, und Bruno traf durch seine Verbindungen in Leipzig nicht nur eine passende Auswahl, sondern hatte auch erwirkt, daß vorerst nur ein Drittel des Preises baar bezahlt zu werden brauchte.

Endlich hatte man erreicht, auch ein Glas Bier trinken zu können. Als Bruno im Jahre zuvor nach Heustedt gekommen und auf dem Keller ein Glas »Bairisch« gefordert, erwiderte Hochmeier beinahe grob: »Herr Doctor, im Rathskeller ist außer in der Kutscherstube noch nie ein Glas Bier getrunken, und so Gott will, wird das, solange ich das Leben behalte, so bleiben; drei Häuser in der Schloßstraße hinab können Sie bei dem Kneipwirth Waldmeier vielleicht Ihren Durst in Bier befriedigen.« – Waldmeier hatte eine große Ausspannwirthschaft für Bauern, aber auch zwei große Säle, wo Bürgerbälle stattfanden und im Jahrmarkt die Bauern tanzten; unter diesen Tanzsälen waren ausgedehnte Räume, die in gewöhnlichen Zeiten nicht gebraucht wurden.

Als nun der neue Auditor gekommen war, er hatte in Heidelberg das Biertrinken gelernt, und kein Bier fand, raisonnirte er eines Tages nach aufgehobenem Mittagsmahle in burschikoser Weise über diesen Mangel. Hochmeier antwortete höhnisch: »Herr Baron, ich habe schon früher dem Dr. Baumann gesagt, daß bei meinem Nachbar Bier zu finden ist.«

Diese freche Antwort des Wirths misfiel sämmtlichen Tischgenossen, denen die cordiale Vertraulichkeit, womit sich derselbe zu der Gesellschaft gestellt hatte, längst unangenehm gewesen war. Man pflegte nach Tisch im Clubzimmer Billard zu spielen und Kaffee zu trinken, und hier verabredete man, bei dem Wirth Zum Elefanten, Waldmeier, einige Zimmer zu miethen und denselben zu veranlassen, kasseler und bairisch Bier kommen zu lassen. Man wollte dann dreimal wöchentlich am Abend zusammenkommen, um unter dem Namen der »Ungeschlossenen« sich zu unterhalten, zu politisiren, zu philosophiren, zu singen und commersiren, wenn man guten Stoff habe. Die Statuten der Gesellschaft sollten in dem einen Paragraphen zusammengefaßt werden: »Karten werden hier nicht gespielt.«

Da Waldmeier gutes Bier nicht vorräthig hatte, so beschloß man, die Ungeschlossenen mit einem solennen Abendessen, bei dem Wein getrunken werden sollte, zu eröffnen, und dazu Sonnabend zu wählen, wo der Rathskellerwirth, wie man wußte, ein Fischessen vorbereitete. Jeder lud dazu ein oder zwei Gäste ein, oder beredete nähere Gesinnungsgenossen als künftige Ungeschlossene teilzunehmen. Baumann, Kloppmeier und der neue Auditor, den wir Baron Franz nennen wollen, übernahmen es, die nöthigen Einrichtungen zu treffen.

Waldmeier war ein einsichtsvoller, thätiger, bescheidener Mann, der sich vom Hausknecht in einer Wirthschaft in Bremen zum Eigenthümer des Elefanten in Heustedt emporgeschwungen und dem Bärenwirthe in der Weststadt schon manchen Stammgast abtrünnig gemacht hatte, weil alles, was er den Gästen reichte, gut, sauber und wohlschmeckend war. So ging er bereitwilligst auf die ihm gemachten Vorschläge ein, reiste sofort nach Bremen, um dort die nöthigen Einkäufe zu machen, und kam schon am Abend des dritten Tages mit einem Wagen voll Vorräthe, worunter auch bairische Biere, zurück.

Die Einladungen waren erfolgt, es hatten sich zwar manche der Eingeladenen gewundert, in einem solchen Locale zu speisen, allein das Souper war vortrefflich, der Wein gut und billig, die Unterhaltung durch Scherz, Gesang, ernste Gespräche, aber ohne politische Rücksichten, wie man sie im Club nehmen mußte, gewürzt. Man bestimmte die Abende, an denen man zusammenkommen wollte. Die meisten der Anwesenden erklärten definitiv ihre Mitgliedschaft zu den Ungeschlossenen und pränumerirten die kleinen Beiträge für Localmiethe.

Am andern Tage sollte das Getränk probirt werden, und da kamen denn ziemlich alle, welchen das Kartenspiel nicht schon zum unabweislichen Bedürfniß geworden war; abermals eine freie, belebte, anmuthige Unterhaltung. Das war eine förmliche sociale Revolution! Die Damen steckten die Köpfe zusammen, drei Kaffees und zwei Thees am Sonntage waren die Folge; die Kartenspieler aus dem Club, die ihre »Hätten« nicht los wurden, raisonnirten über die vorlaute Jugend und das verderbliche Biertrinken.

Eins zog das andere nach sich; zuerst folgte eine Reformation des sogenannten Damenclubs. Diese wurde wesentlich durch den Umstand begünstigt, daß Frau Landräthin von Vogelsang an der Reihe war, wegen interessanter Umstände ihn nicht mehr besuchen zu können. Die Damen der Mitglieder des Herrenclubs hatten nämlich im Winter alle vierzehn Tage und zwischen Ostern und Pfingsten noch einmal Damenclub oder Casino.

Das waren denn langweilige Abende. Die Herren mußten den großen Saal räumen, ihr Spiel in den kleinen Saal und das Billardzimmer verlegen, im großen Saale wurde an drei Tischen Whist und Boston, an einem Tische L'Hombre von Damen und einigen ältern Herren gespielt. Junge Leute ließen sich nicht sehen. Die jungen Damen wußten nichts mit sich anzufangen, sie pflegten in der Ecke am Ofen an einem langen Tische zusammenzurücken und Vingt-et-un um Pfennige zu spielen. Dazu aß man Kuchen und trank Thee.

Frau Baronin Bardenfleth, der jetzt die provisorische Herrschaft über die ganze Damengesellschaft zugefallen war, hatte neugierig wie alle Frauen schon zwei Tage nach dem Souper der Ungeschlossenen die Gründer zum Thee geladen, um sich von ihnen Näheres über die Zwecke der Gesellschaft, die Unterhaltung und dergleichen mittheilen zu lassen. »Sie Glücklichen«, sagte sie, »wie beneide ich Sie, wie amusant muß das sein, wir vernachlässigten Damen müssen im Casino dagegen mit Herrn von Teufel oder dem Herrn Drost Boston spielen, und keiner der jungen Herren läßt sich je sehen.«

»Dem läßt sich ja auf das allerleichteste abhelfen, gnädige Frau«, entgegnete Bruno, »soviel ich weiß, ist das Casino so glücklich, keine Statuten zu besitzen; die Gesellschaft kann also beginnen, was ihre Königin befiehlt. Schicken Sie, Gnädigste, zum nächsten Casino ihren Flügel herüber, lassen Sie die Spieltische für die Spiellustigen dahin setzen, wo sie am wenigsten Raum einnehmen, fangen Sie selbst an etwas Musik zu machen, lassen Sie singen, wer Lust hat, lassen Sie nach Musik rathen, hier unser Inspector versteht es meisterhaft, vom Piano zum Forte und Fortissime überzugehen, führen Sie Charaden auf, stellen Sie Lebende Bilder dar, lassen Sie uns ein Liebhabertheater einrichten. Ich glaube im Namen der Ungeschlossenen Sie jedes Beistandes versichern zu dürfen.«

»Das ist ja herrlich«, erwiderte die Herrscherin, »da wollen wir im nächsten Kränzchen schon den Anfang machen.«

So geschah es, zur Freude der Jungen und Lebenslustigen, zum Aerger der in ihrem Spiel gestörten Alten, ja man fing schon an, Vorbereitungen zum nächsten Winter zu treffen, ein aus Damen und Herren zusammengesetztes Comité zu bilden, welches die Frage wegen des Liebhabertheaters in die Hand nehmen und vorbereiten sollte.

Schon jetzt wurden in vielen Häusern Klagen laut über die unerhörten Neuerungen, welche von den Ungeschlossenen ausgingen. »Wenn das so fortgeht«, sagte der Bürgermeister, der erste aller Pfahlbürger und Neuerungsfeinde, »dann reißen die jungen Leute die Herrschaft des Herrenclubs und Casinos an sich und belästigen mich wol gar noch in meiner Rathsstube mit allerlei Neuerungen, wie Laternen, Trottoirs, Spazierwegen und dergleichen.«

»Aber lieber Papa«, schmeichelte sein schönes Töchterchen Luise, »wie freue ich mich auf das Liebhabertheater, wenn ich nur erst wüßte, was für eine Rolle ich bekommen werde.«

Der Superintendent hielt in seinem Hause nach Tisch eine lange Rede, in der er auszuführen suchte, daß das Biertrinken zur Unsittlichkeit, das Zusammensein ohne Kartenspiel zur Gottlosigkeit führe, und daß die Zusammenkünfte der Ungeschlossenen ein Teufelswerk seien. »Glaubt nicht«, so schloß er, an die Töchter gewendet, »daß ihr von mir jemals die Erlaubniß bekommt, bei dem Liebhabertheater mitzuspielen oder nur zuzusehen. Unsere Jugend ist zu verderbt, und ›fliehet die bösen Buben‹, heißt es in der Schrift.«

Die Töchter machten ein betrübtes Gesicht. Als der Vater aber den Rücken gewendet, um auf dem Herrenclub eine Partie zu spielen, und die jüngste Tochter laut zu schluchzen anfing, sagte die Mutter: »Seid nur nicht bange, den wollen wir schon herumkriegen, ihr wißt, Vater ist seit Ostern brummig, daß Frau Claasing dem Pastor drüben und nicht uns ihre Tochter in Pension gegeben hat.«

Frau von Vogelsang erfuhr in ihrem Wochenbette alle diese Neuigkeiten brühwarm durch ihre Vertrauten und sagte: »Ich habe auch noch ein Wort mitzusprechen.«

Es nahte inzwischen die Pfingstwoche, und die Wiesen und Wälder thaten sich schon pfingstlich an, selbst die Wintereichen strengten sich an, zu dem Feste mit saftigem grünen Kleide angethan zu sein. Nun war es seit unvordenklichen Zeiten Sitte, daß, wenn es zu Himmelfahrt gutes Wetter war, die ganze Herren- und Damengesellschaft, die zum Herrenclub gehörte, einen Ausflug nach dem höchsten Berge der Umgegend machte. Man konnte das kaum einen Berg nennen und würde es schon im Hildesheimischen oder Göttingischen kaum einen Hügel genannt haben. Aber auf der Höhe stand ein altes fürstliches Jagdschloß mit hohem Wachtthurme, von dem man auf der einen Seite nach Süden bis zur Porta Westphalica und nach Hannover, mehr östlich den Harz mit dem Brocken sah, nach Norden die Thürme Bremens erblickte. Der Förster, welcher das Haus bewohnte, war an solchen Tagen auf Hunderte von Gästen eingerichtet, denn sie kamen meilenweit aus der Umgegend, weil die Kirnburg, so nannte man das Schloß, in der That weitumher der schönste Punkt in der ebenen, heidereichen Gegend war. Ein prächtiges Holz, eine kühle Waldschlucht mit sprudelnder Quelle, eine schöne Waldwiese, auf der ein großes Tanzzelt aufgeschlagen war, lockte selbst bremer Kaufleute und Senatoren dahin. Der Himmelfahrtstag war mehr für die Honoratioren, der erste und zweite Pfingsttag für das Volk bei diesen weltlichen Vergnügungen bestimmt. Auch der Senator Johann Karl Junker junior, der aus einem lustigen Doctor juris ein ältlicher, runder, behaglicher Vertreter der freien Hansestadt geworden war, hatte seinen Nichten geschrieben, er werde zu Himmelfahrt mit seiner Familie nach Kirnburg kommen und hoffe sie dort zu treffen.

Es war herkömmlich, daß der Präsident des Herrenclubs die Woche vor Himmelfahrt ein Circular herumsendete, in welchem die Familien Heustedts bemerkten, mit wie viel Personen sie theilnehmen wollten, welche Speisen und Getränke sie zu dem gemeinsamen Pickenick mitbrächten, ob sie mit eigener Equipage führen oder darauf rechneten, auf einem der von der Gesellschaft beschafften großen Ackerwagen mit Stroh- oder Bretersitzen Platz zu finden.

Nun war in diesem Jahre durch den Pastor, bei welchem die älteste Claasing'sche Tochter in Pension war, eine Frage aufgeworfen, welche die gesammte Gesellschaft, namentlich die weibliche, aufregte. Claasings gehörten selbstverständlich »zur Gesellschaft«, man mußte also die beiden Töchter zu der Fahrt einladen; von diesen war aber Auguste im Hause des Bankiers zum Besuch, nicht in Pension, man konnte sie anständigerweise nicht einladen, ohne zugleich Hirschsohns einzuladen. Allein, eine Judenfamilie zur Gesellschaft zu ziehen, wie wäre das möglich gewesen?

Der Pastor ersann den Ausweg, daß er Auguste mitnehme, allein diese erklärte: sie ginge nicht ohne Hirschsohns, die sie so freundlich aufgenommen, während Minna Claasing dabei beharrte, ohne Theilnahme ihrer Schwester mache sie die Partie nicht mit. Das war nun vor allem dem Assessor unlieb, den Bruno bei Claasings eingeführt hatte, er war ernstlich verliebt in Minna und ihr Geld; auch der Baron Franz, der Sidonie nur am Fenster hatte sitzen sehen, aber von ihrem Glutauge entzückt war, fing an sich dafür zu interessiren, daß Hirschsohns eine Einladung bekämen. Er zog die Baronin Bardenfleth ins Complot und beredete sie, dem Clubpräsidenten, der ein Anbeter von ihr war und ihr nichts übel nahm, gleichsam aus Spaß mit dem Circular wegen der Himmelfahrtspartie zuvorzukommen und dieses, als verstehe es sich von selbst, auch zu dem Bankier zu senden. So geschah es. Da gab es denn viel Nasenrümpfen, viel Gerede von Anmaßung, namentlich waren alle Mütter mit ältern Töchtern unglücklich, die schönen Jüdinnen würden ihren Herzenspüppchen die wenigen Tänzer, die ihnen bis dahin geblieben, abspenstig machen. Der Drost ließ anfangs sogar seinen Namen wieder streichen »dringender Geschäfte halber« –, als er aber bedachte, wie oft ihn der reiche Jude aus Geldverlegenheiten errettet, und daß er denselben nächstens wieder werde gebrauchen müssen, besann er sich eines bessern und unterschrieb von neuem.

Baumann war auf eine Ueberraschung bedacht; er ritt oft nach der Wüstenei, um den alten Meyer über die Abwesenheit des Enkels zu trösten und veranlaßte diesen, das königliche Amt und, durch die Baronin von Bardenfleth, die ganze Himmelfahrtsgesellschaft einzuladen, bei ihm ein Frühstück bei dieser Gelegenheit einzunehmen. Der nächste Weg zur Kirnburg ging nämlich über Kirnberg und die Wüstenei. Die Einladung ward angenommen.

Hatte man bisher die Erzählungen Baumann's von der Wüstenei für Uebertreibung gehalten, so überzeugte man sich jetzt, daß sie wie ein Paradies in der Heide sei, und der Drost, dem das Frühstück außerordentlich gemundet, drückte dem alten Bauer einmal über das andere die Hand und versicherte, er werde gleich morgen an die Landdrostei berichten, welche Verdienste er sich durch die Urbarmachung so großer Ländereien erworben habe.

Man ordnete das Zusammensitzen in den verschiedenen Wagen, bei dem bis dahin das Früher- oder Späterkommen vor dem Rathskeller den Ausschlag gegeben, jetzt mehr nach Beziehungen, Neigungen, Coterien. Die jüngere Welt, welche bis dahin in Equipagen bei Aeltern oder Tanten gesessen, nahm die Plätze auf den Leiterwagen ein, wo man möglichst bunte Reihe machte; ältere Herren und Damen wurden dagegen in die Equipagen gebracht. Auch Paulinchen, die Braut, und Auguste Claasing verließen den Hirschsohn'schen Wagen und räumten ihre Plätze dem Baron Franz und Bruno ein, um auf dem lustigern Leiterwagen Platz zu nehmen.

Das war denn ein so vergnügter Himmelfahrtstag, wie ihn die jungen Schönen noch niemals erlebt hatten, die Fröhlichkeit steckte auch die alten Herren und Damen an. Mehrere bremer Familien, namentlich Junkers, schlossen sich den Heustedtern an, sodaß an den schattigen Rändern der Waldwiese Gruppe bei Gruppe sich gelagert hatte, und gegen hundert Familien von nah und fern Eine große Familie zu bilden schienen. Erst tief in der Nacht dachte man an die Rückfahrt, bei der mancher zärtliche Händedruck gewagt und erwidert wurde.

Unser Freund hatte seinen Nebenzweck bei dem Frühstück in der Wüstenei erreicht – der Besuch des ganzen Amtes und der Honoratioren von Heustedt wirkte mehr als alle Zeitungsblätter und Reclamen. Seit dreißig Jahren ließ sich der Bruder der verstorbenen Frau Meyer zum ersten mal in der Wüstenei blicken, und ein Vollmeier der Umgegend nach dem andern sprach dort vor, um die Dinge anzusehen und anzustaunen. Der Wüsteneibesitzer war erst von jetzt an unter seinen Standesgenossen wieder ehrlich geworden.

So die Erholungen unsers Anwalts; seine Thätigkeit, soweit sie nicht in seiner Praxis bestand, war äußerlich kaum greifbar. Er correspondirte mit seinem Onkel und seinem Vetter Schulz in Hannover, der sich gleichfalls dem Advocatenstande widmen wollte und zum ersten Examen vorbereitete, mit Onkel Hermann in Wien, mit Oheim Gottfried Schulz in Paris, mit seinen Zöglingen Grant und dem jungen Baumgarten in Nordamerika, mit den zerstreuten Genossen des jungen Göttingen, mit Literaten, Philosophen und Dichtern. Es war eine schlimme Zeit für die Presse in Deutschland; die »Deutschen Jahrbücher« waren unterdrückt, die »Neue Rheinische Zeitung« ebenfalls; die Censur ward allerorten verschärft, und in den Köpfen der Jugend brauste noch immer der abenteuerliche negative Gedanke:

Reißt die Kreuze aus der Erden,
Alle sollen Schwerter werden!

während in Berlin Romantik, Frömmelei und eine verschwommene Naturphilosophie den Reigen führten.

Die Kritik rüttelte und schüttelte zwar an allen Ketten und Vorurtheilen, aber sie durfte keinen Gedanken klar und scharf aussprechen, sie mußte errathen lassen, was sie meinte, sich in Bilder und Phrasen hüllen und hoffen, daß Publikus verstehen werde, zwischen den Zeilen zu lesen. In diesem Sinne muß alle Literatur von 1840 bis 1848 gelesen werden.

Die Unzufriedenheit mit den Zuständen stieg, aber die Gestaltung der Zukunft schwebte in Dunst und Nebel. Nur Ruge hatte in seinen »Jahrbüchern« den Gedanken eines Deutschland unter Preußens Führung klar ausgesprochen, aber wie konnte eine Hegemonie Preußens im Süden, dem constitutionellen Sachsen und dem Norden Anklang finden, solange Preußen nicht den Schritt that, constitutionell zu werden, solange es selbst von Metternich's Hand geleitet schien?

In Hannover galt es, auf dem Boden der Verfassung von 1840 Terrain zu erobern, nachdem der Versuch misglückt war, dieselbe abzuschütteln. Detmold schrieb an Baumann: »Werfen Sie Ihre ›Philosophie der Geschichte‹ beiseite, Sie locken damit doch den Hund nicht hinter dem Ofen hervor. Studiren Sie Budget und abermals Budget; die Actenstücke des vorigen Jahres besitzen Sie ja, ich sende Ihnen hier eine als Manuscript gedruckte Broschüre Stüve's über das Finanzkapitel, aus der Sie ersehen werden, um welche Summen das Land bei der Auseinandersetzung der Ueberschüsse zu kurz gekommen. Das ist der wunde Fleck, auf den immer und immer geschlagen werden muß, das ist das Thema, das unaufhörlich bis zum Anfange der nächsten Diät in allen Variationen vorgetragen werden muß. Ihre ›Philosophie der Geschichte‹ können Sie zu schreiben anfangen, wenn Sie funfzig Jahre alt geworden sind und die Welt besser kennen als jetzt.«

Bruno war so beschäftigt mit allen diesen Dingen, daß ihm kaum Zeit blieb, den nothwendigsten gesellschaftlichen Ansprüchen Genüge zu leisten. Die Beamten ohne Ausnahme, die nur ihrem Berufe lebenden Collegen, sie alle hatten Zeit in Ueberfluß und litten nur am Mangel von Abwechselung beim Todtschlagen derselben. Das war keine Situation zum Verliebtsein. Und wenn er sich ernstlich prüfte, war er denn wirklich in Auguste oder in Sidonie oder in deren Mutter verliebt? Wenn das Liebe war, was die Dichter als Versenkung, als Aufgehen in ein weibliches Wesen, als unendlichen Born neuen Lebens und Fühlens und neuer Phantasien schildern, so war er nicht verliebt. Hätte er von der Politik lassen können unter der Bedingung, Auguste zur Frau zu bekommen? Nein. Hatte er doch selbst zuerst den Gedanken gehegt, das beste Ende seines Processes werde eine Verheirathung seines Pupillen mit Auguste sein.

Hatte er je Verlangen getragen, von der schönen Frau Hirschsohn den ihm verheißenen Kuppelpelz zu begehren? Ironisirte er nicht in mephistophelischer Weise die Liebe, die Pauline für ihn zu hegen vorgab, tröstete er nicht die Verliebte mit ähnlichen Mitteln?

Und nun gar Sidonie, war sie nicht ein bloßes Kind mit feurigen orientalischen Augen?

Wahrlich, die Zeit war nicht geschaffen, mit Puppen zu spielen und in weichen Armen auszuruhen, nicht zum Seufzen und Schmachten angethan; die Stunde des Kampfes konnte täglich schlagen; Louis Philipp war alt. Die damalige Jugend erwartete schon von seinem Tode ein neues Jahrhundert.

Zwar hatte Pauline nach ihrer Verlobung noch zwei- oder dreimal den Raptus bekommen, wie der Vater es nannte, indem sie unter Thränen erklärte, bei näherm Nachdenken sei sie zu der Ueberzeugung gekommen, daß sie den Dr. Behrend nicht heirathen könne, er sei nicht »der Rechte, den ihr Herz gesucht habe«. Die Mutter kannte das Hausmittel gegen solchen Raptus. Sie ließ Bruno ersuchen, das Mädchen wieder auf vernünftige Wege zu bringen; dieser ließ sie sich aussprechen und ausweinen, ehe er mit seinen Verstandesgründen sie zu überzeugen wußte, daß in Frankfurt an Behrend's Seite ihrer eine heitere und glückliche Zukunft harre.

So wurde denn nach Pfingsten die Hochzeit gefeiert; die Neuvermählten traten in Begleitung Sidoniens die Hochzeitsreise an, durch die Schweiz, Frankreich, über Paris, Brüssel, den Rhein hinauf nach Frankfurt. Die junge Frau schrieb von allen Hauptorten beglückte Briefe, Sidonie Naturschilderungen in Prosa und Versen.

In Hirschsohn's Hause war es einsamer geworden, allein die geschäftlichen Beziehungen Bruno's zum Comptoir hatten sich bedeutend vermehrt, da er auch Notar geworden war und nun Wechsel protestiren, Obligationen aufnehmen, Unterschriften beglaubigen mußte, sodaß selten ein Tag verging, ohne daß er bei Frau Bettina und Augusten, welche ihr Hauptquartier in dem Weserpavillon des Hintergartens aufgeschlagen, vorsprach, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Zwar hatte die Mutter Augusten den Befehl ertheilt, jeden Umgang mit dem falschen Vetter zu meiden, der danach strebe, sie von Haus und Hof zu bringen, und bei dem Charakter der Mutter war nicht daran zu denken, daß, mochte der Proceß günstig oder ungünstig ausfallen, sie je ihre Einwilligung geben würde, daß die Tochter »dem pauvern Advocaten«, wie sie ihn nannte, die Hand reichen dürfe; allein im Pavillon der Frau Bettina zu erscheinen, konnte sie dem jungen Manne nicht wehren.

So kamen die Gerichtsferien, und es zog unsern Freund an den Rhein; aber er vermied Frankfurt – er fürchtete die Glutaugen Sidoniens, an die er seit ihrer Abwesenheit öfter dachte, als er selbst wollte.

Schon auf dieser Reise las er in den Zeitungen, daß im August, an des Königs Geburtstage, endlich das langersehnte Glück, der Titel Commerzienrath für den Bankier Meyer Moses Hirschsohn, eingetroffen sei.

Auch ihm begegnete, als er Anfang September von Heidelberg und dem Schwarzwalde zurückkehrte, ein doppeltes Glück. Der Proceß gegen die Claasing'sche Vormundschaft war ausnahmsweise rasch zu Gunsten seines Pupillen entschieden, sodann aber war sein Zögling von Göttingen her, Theodor Hellung, als Ingenieur in Heustedt eingezogen, um eine Strecke an der Bremer Bahn zu bauen.

Die technischen Anschläge und Vorarbeiten sollten schnell beendet werden, um den Ständen in der Diät von 1844 die erforderlichen Summen abfordern zu können; in Hannover fehlte es noch an Eisenbahntechnikern, daher hatte man aus Preußen und Sachsen solche herangezogen. Die Bahn konnte der Weserkrümmungen wegen zwar nicht an Heustedt herangeleitet werden, Theodor hatte es indessen vorgezogen, statt auf einem Dorfe zu wohnen, nach Heustedt zu ziehen, wo er Bruno und andere gute Gesellschaft wußte. Es lagen zwei Projecte vor, nach dem einen sollte die Bahn sich dem Passe Hengstenberg und Heustedt möglichst nähern, nach dem andere östlicher, am Rande großer Moore, zwischen Weser und Aller sich hinziehen. Die erste Richtung würde für Claasings die vortheilhafteste gewesen sein, denn in derselben lagen die zum Dorfe Grünfelde gehörenden Geestländereien, namentlich hatte der Siebenmeier wie der Vollmeierhof am rechten Weserufer lange Strecken Heide und schlechte Ackerländereien, die nothwendig für einen Bahnhof nach Heustedt verwendet werden mußten.

Theodor Hellung nannte sich selbst einen durch und durch realistischen und praktischen Menschen, er haßte die graue Theorie, war er doch den Studien entlaufen, um ein technisches Fach zu ergreifen. Dennoch war er, wie es bei solchen Köpfen nicht selten ist, ein großer Idealist und Schwärmer, er war, wie die meisten jungen Leute jener Zeit, begeistert für eine deutsche Republik, für eine einheitliche, untheilbare. Der stark verpönte Kaisergedanke der alten Burschenschaft war der jungen Generation abhanden gekommen, sie hatte zu sehr den Druck des Dualismus und die Schwäche der Kleinen gefühlt. Mochte man nach Wien, mochte man nach Berlin blicken, an der Donau wie an der Spree fehlte das Zeug zu einem Kaiserthrone. »Der Rubel auf Reisen« erregte damals viel böses Blut, und man fürchtete vor allen Rußland. Theodor pflegte zu sagen: »Eine ungetheilte einheitliche französische Republik, ein einheitliches freies Italien, eine ungetheilte deutsche Republik, eine ungarische und polnische, eine griechische Republik mit der Hauptstadt Konstantinopel – dann mag der Zar kommen mit seinen asiatischen Horden!«

Bruno, obgleich nur wenige Jahre älter, fühlte sich weiser, weil er über das Stadium eines Republikaners hinaus war; die Form des Staats hielt er für ziemlich gleichgültig und wollte nur, daß der Staat vieles, was andern Gesellschaftskreisen angehöre, an diese oder die verschiedenenen werkthätigen Genossenschaften, die sich neben dem Staate bilden sollten, abgebe und sich auf die Rechtssphäre beschränke. Er hatte mehr Gelegenheit, das Volk kennen zu lernen, fühlte und wußte, daß es an Republikanern fehle, daß die Masse allein vom Eigennutz regiert werde, daß die Macht der Autorität auf kirchlichem und weltlichem Gebiete viel größer sei, als sie der Gebildete sich denke, daß Gewohnheit und Aberglaube in den niedrigsten und höchsten Ständen viel tiefere Wurzeln geschlagen haben als im Mittelstande mit seinem nie rastenden Streben nach Weiterbildung. Die politischen Gegensätze stießen nicht selten im Privatgespräche wie in der Gesellschaft der Ungeschlossenen aufeinander. Theodor sagte dann fast verächtlich, wie er es von seinem Lehrherrn, dem Maschinenbauer Schulz, gehört hatte: »Ja, mit euern Theoremen, politischen Gedichten, politischen Liedertafeln und Vaterlandsgesängen werdet ihr die Freiheit niemals erobern; wir sind es, die euch Freiheit und Einheit bringen. Diese Eisenbahnbänder, welche die Erde umschlingen, die Flüsse überbrücken, die Berge durchstechen, diese Telegraphendrähte, welche die Entfernung verschwinden machen, sie dulden keine Unfreiheit und keine Auseinanderreißung des Zusammengehörigen.«


 << zurück weiter >>