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Der Monte Cristallo hatte sein schneebedecktes Felsenhaupt verhüllt.
Seit Tagen schon war er schlechter Laune und zeigte sich den Sterblichen drunten im Ampezzo nicht. Dichte Wolken hingen bis tief herab über die Bewaldungszone. Man hätte kaum gewußt, wo man sich hier in Schluderbach befand. Nicht einmal Berge waren zu sehen, und in dem grauen Nebeldunst, der die Landschaft verschleierte, wäre die Vermutung nicht unmöglich gewesen: das Hotel läge in weiter Ebene oder etwa am Meeresstrand. Denn die Gegend sah flach aus: scheinbar ein Riesenwaldbezirk, vielleicht in öder Heide.
Dabei regnete es nicht, und die Gäste des Hotels konnten sich ohne Schirme im Freien ergehen, allerdings im Mantel, denn es war empfindlich kalt.
Nur Professor Hallbauer ging in seinem Bergsteigeranzuge in bloßer Jacke auf und ab; die Weste pflegte er nur bei Eistouren anzuziehen. Er blickte sich um nach allen Seiten, ob sich denn nirgends blauer Himmel zeige.
Er hätte nach der kleinen Zinne von Norden nicht mehr vor Einbruch der Dunkelheit Schluderbach erreichen können, da er noch einmal zur Hütte zurück mußte, um sein Gepäck zu holen. So war er oben geblieben und hatte mit den beiden Studenten, allein vorauskletternd, noch den Schwalbenalpenkopf bestiegen, kurz, aber schwierig.
An den jungen Leuten hatte er Gefallen gefunden. Sie waren so ehrlich begeistert für die Berge, daß er sich freute, einmal mit ihnen zu gehen. »Der Jugend gehört die Zukunft, und wer es mit der Jugend hält, bleibt selber jung«, pflegte er zu sagen. Er freute sich an diesen beiden jungen Führerlosen, die, wie er bald bemerkt, in ihren Mitteln beschränkt waren und aus der Not, die Führer nicht zahlen zu können, die Tugend gemacht hatten, allein zu gehen. Er freute sich an ihrer Begeisterung und Naivität, ihrer Unverdorbenheit und Frische.
Sie waren unter Scherzen darüber hinweggekommen, daß sie des Preises wegen auf der Hütte keine Konserven essen konnten, sondern, wie sie sich ausgedrückt, seit drei Tagen Erbswurstsuppe aßen in verschiedenster Form: »Mit Brot, ohne Brot, oder gar nicht.« Der Professor hatte gehört, wie sie die Beschreibung des Anstieges auf den Schwalbenalpenkopf in ihrem »Der Hochtourist in den Ostalpen, von Purtscheller und Heß« nachlasen und nun miteinander berieten, ob sie nicht lieber doch den Jörgl Tschurtschenthaler mitnehmen sollten. Der Jörgl aber war schon hinunter nach Schluderbach, weil er mit den beiden Österreichern nach Cortina gehen sollte.
Da hatte ihnen Professor Hallbauer vorgeschlagen, ihnen als Führer zu dienen, und sie waren glückselig, daß der berühmte Alpinist sie begleiten wollte.
Jetzt blieb er vor dem Hotel mit ihnen stehen und tröstete sie, es würde schon besseres Wetter werden. Klara stimmte ihm bei. Joachim schwieg. Ihm waren die Tage nicht unlieb gewesen, wo nichts unternommen werden konnte. Einmal schmerzten ihn die Glieder, als ob er Prügel bekommen hätte, und dann war angesichts der Kälte seine Begeisterung etwas verflogen, und er fürchtete sich vor der nächsten Tour, bei der er seine Freunde bis an den Einstieg bringen wollte oder gar seine Erstlingstour mit ihnen unternehmen.
Die Zeit jetzt war so schön. Stundenlang konnte er mit Klara allein sein, denn Professor Hallbauer pflegte an den Rast- und Schlechtwettertagen zu arbeiten. Er führte ein genaues Tagebuch, schrieb Aufsätze für alpine Blätter und erledigte seine wissenschaftlichen Pflichten.
Es gab immer eine Menge Briefe zu beantworten: Anfragen von Patienten, von seinen Assistenten aus der Klinik. Die Pausen dazwischen aber brachte er seine Eindrücke zu Papier, die überwältigenden Gefühle auf luftigen Hochgipfeln im Kampf der Elemente. In Vers und Prosa. Beides zeigte er niemand. Auch nicht seiner Frau. Er konnte sein tiefstes Inneres, seine Seele nicht entblößen. Er hätte sich geschämt vor jedem andern.
Er hatte Zeit zum Schreiben, denn voraussichtlich dauerte diese unfreiwillige Muße für den Bergsteiger noch eine Weile, selbst wenn es heute noch schön werden sollte; denn der Professor sagte eben zu dem älteren der beiden jungen Bergsteiger, dem Juristen, einem blonden, blauäugigen Menschen (der immer Professor Hallbauer ansah, als meinte er damit: Du bist mein Ideal!):
»Es ist so kalt, daß ohne Zweifel oben Neuschnee gefallen sein wird!«
Unwillkürlich blickten sie alle auf, doch man sah nichts als Nebel. Julius Weber, der jüngere, dunklere, fragte, obwohl er selbst seine Ansicht darüber hatte, um zu hören, was ein Mann, wie Professor Hallbauer, dazu meinte:
»Wie lange wird man dann warten müssen?«
»Je nachdem, ob viel Sonne scheint, die den Neuschnee schmilzt, ob viel gefallen ist oder wenig; aber zwei Tage sollte man warten – das heißt, wer vorsichtig ist.«
Da kamen die Töchter des Geheimrats von Erxleben, der sich bekannt gemacht, und wollten bergkundigen Rat haben von Klara und ihrem Mann, wie lange das schlechte Wetter noch dauern würde.
Die andern Gäste des Hotels trieben sich tatenlos, gelangweilt umher, ärgerlich über das Wetter, um dessentwillen sie gewiß nicht die Sommerfrische aufgesucht hatten.
Es gab nicht einmal ein interessantes Nebelspiel fürs Auge: ein Auf- und Abfluten der dichten Schwaden, ein Zerreißen der Schleier, verschiedene Nichtigkeiten oder Färbungen – alles lag im gleichen Grau da, als gäbe es über den Lärchenkronen nichts als eine farbenarme, schwere, eintönige Schicht, wie etwa auf dem Meere an trüben Herbsttagen.
Alles empfand die Trostlosigkeit der Naturstimmung.
Die Führer standen umher, die Hände in den Taschen, unablässig rauchend, sie mochten das Stubenhocken nicht leiden. Das gab es im langen Winter genug, wenn im Ampezzotal die Lawinen donnerten und Schluderbach oft wochenlang abgeschnitten war von allem menschlichen Verkehr, weil auch die Post ihre Fahrten eingestellt hatte.
Im Sommer war das anders, da hinderte sie kein Wetter, höchstens auf ein paar Stunden, ein, zwei Tage, wenn etwa beim Gewitter eine Muhr niedergegangen war und die Straße meterhoch verschüttet hatte. Jetzt mußte die Post gleich von Cortina kommen.
Der Wirt stand schon draußen, barhaupt, und lugte aus.
Aber es regte sich noch nichts. Doch im nächsten Augenblick klang von drüben her, wo im grauen Dunst die Croda rossa lag, Hufschlag, Räderrasseln und der Schellenton der Postpferde.
Einer der Sommerfrischler hatte die Laute gehört, benachrichtigte die andern, die nun herbeiströmten von allen Seiten, als stände ein großes Ereignis bevor.
Aus der Schwemme traten die Knechte, Kutscher aus Innichen, Toblach, Cortina, die trotz des Wetters ein paar Leute gebracht, vielleicht nur, weil sie sehen wollten, ob es im Ampezzo ebenso trostlos wäre wie im Pustertal.
Von allen Seiten erschienen die Sommergäste: die zwei englischen Damen, ihre Romane im Stich lassend, Kunstmaler Tobel aus München, der wie ein Offizier in Zivil aussah und nicht wie ein Künstler, der dicke Kaufmann Roest aus Trier mit seiner noch dickeren Frau. Er verlebte seit Jahren den ganzen Sommer in Schluderbach, entfernte sich nie weiter als ein paar hundert Meter vom Hotel und kehrte jedesmal geradeswegs nach Trier zurück, voller Geschichten über die schauerlichsten Hochtouren, ganz benommen von der unvergleichlichen Größe der Alpenwelt.
Dazu kamen noch ein paar ältere Ehepaare und einige junge Herren, deren krebsroten, sich schälenden Gesichtern man die Touristen ansah.
Auch die Kellnerinnen erschienen, wie immer die Serviette in der Hand, die sich von den schwarzen Kleidern der Mädchen hell abzeichnete.
Und nun schoben sich auch die kräftigen, sehnigen Gestalten der Führer zwischen die übrigen Menschen: Jörgl Tschurtschenthaler und Pacifico Menardi; Hansl Unterwurzacher aus Schluderbach, groß, blond; Sepp Kuntner aus Innichen sowie der Ladiner Pietro Verzi, schwarzgelockt und sonnverbrannt wie seine Genossen aus Deutschtirol.
Da klang das Klingeln der Glöckchen an den Kumten, und im nächsten Augenblick erschien im Dunst ein Schatten, der wuchs, immer körperlicher wurde, bis ein paar Pferdeköpfe auftauchten. Wie durch Zauberschlag ward mit einem Male die ganze Post sichtbar: ein großer, vierrädriger Stellwagen mit Bankett hinter dem Bock, auf dem Verdeck ein Paar unförmige, segeltuchbelegte Klumpen und Ballen: das Gepäck der Reisenden.
Die Schluderbacher traten zur Seite, um den vier Gäulen Platz zu machen, die vor dem Hotel von selbst in Schritt fielen, schließlich halten blieben.
Nun vereinigte sich die ganze staunende Aufmerksamkeit der Sommergäste, um das Aussteigen zu beobachten.
Ein paar bis über den Kopf vermummte Gestalten tauchten zuerst auf. Man ahnte, daß es Damen waren. Zwei Bauern folgten in ihren dicken Lodenanzügen mit rotem Schlips, halb ländlich, halb städtisch gekleidet, vielleicht vom Viehhandel aus Cortina kommend.
Damit war der Inhalt des Wagens erschöpft; und der Wirt trat zurück, denn keiner der Fahrgäste wollte in Schluderbach bleiben. Doch vom Bankett waren noch zwei Herren herabgesprungen in englischen Bergsteigeranzügen. Der eine hatte das Gesicht glatt rasiert, der andere trug einen rotblonden Schnurrbart. Sie nahmen ihre schweren Pickel, Rucksäcke und ein Seil und gingen, ohne sich umzublicken oder sich um irgendeinen Menschen zu kümmern, ins Hotel. Sogar am Wirt, der fragen wollte, ob sie ein Zimmer brauchten, liefen sie vorbei.
Der Professor war mit Klara und Joachim in den Eßsaal gegangen. Sie setzten sich in eine Ecke, und jeder nahm eine Zeitung oder ein Buch vor. Der Professor die letzte Nummer der Medizinischen Wochenschrift: Joachim hatte sich die »Neue Freie Presse« geholt, und Klara blätterte in einem älteren Jahrgang des Jahrbuches des Deutsch-Österreichischen Alpenvereins.
Aber sie war zerstreut und warf immer ab und zu einen verstohlenen Blick auf die beiden andern. Ihr Mann war sehr vertieft. Joachim aber legte sein Blatt zur Seite:
»In so einer Zeitung steht doch immer dasselbe! Man kennt's schon auswendig!«
Klara freute sich, unterhalten zu sein:
»Dann wollen wir doch lieber schwatzen bei dem gräßlichen Regentage.«
»Natürlich.«
»Erzählen Sie mir was!«
»Was denn?«
»Einen Schwank aus Ihrem Leben.«
»Ich habe keine Schwänke erlebt.«
Sie lachte mit dem Ausdruck der Augen:
»Das machen Sie mir nicht weis!«
»Doch. Wirklich, ich habe nichts Besonderes und nichts Lustiges erlebt.«
»Aber Sie müssen doch irgend etwas erlebt haben, irgendetwas.«
Er zuckte die Achseln:
»Auch kaum. Ich habe mich immer, solange ich denken kann, unglücklich befunden. Wirklich. Sie lächeln, aber es ist so. Vor allem habe ich mich immer furchtbar gelangweilt.«
Sie wollte es ins Scherzhafte ziehen:
»So wie ich heute. Wie alle an so einem Tage.«
Und da sie nicht genau wußte, ob ihr Mann zugehört, auch im dunklen Gefühl, seine Aufmerksamkeit prüfen zu wollen, fragte sie ihn:
»Karl, langweilst du dich nicht?«
Er fuhr von seiner Lektüre auf:
»Was meinst du, Kläre?«
Sie ärgerte sich, es wiederholen zu müssen:
»Ach, es ist nichts weiter.«
»Bitte, bitte, ich hatte gelesen. Mas meintest du?«
»Nichts Besonderes.«
»Ja, willst du mir's nicht sagen?«
»Ich fragte, ob man sich nicht langweilen muß an so 'nem Tage wie heute.«
Der Professor meinte in seiner oft belehrend klingenden Art, die Klara jedesmal reizte:
»Wenn man sich zu beschäftigen weiß, langweilt man sich nie.«
Sie wurde erregt:
»Ja, du, natürlich du!«
Aber er war schon wieder derartig in seine wissenschaftliche Zeitschrift vertieft, daß er nicht mehr auf ihre Worte achtete. Das ärgerte Klara noch mehr, und sie rückte von ihm fort in die entgegengesetzte Ecke des Saales, indem sie Joachim dabei zurief:
»Kommen Sie hierher, Herr Doktor, hierher. Bitte. Drüben stören Sie meinen Mann im Lesen.«
Joachim erhob sich und nahm wie widerstrebend, als müsse er nur einem Gebote der Artigkeit folgen, neben Klara Platz.
Der Professor aber hatte nur einen Moment zu seiner Frau aufgeblickt und gesagt:
»Aber Kind, sei doch nicht so!«
Dann las er mit angespannter Aufmerksamkeit weiter, und seine schwarzen Augen glänzten hinter den Gläsern der goldenen Brille.
Nun saßen die beiden ganz für sich, und sie ließ sich von Joachim erzählen. Sie liebte das über alles. Er hatte ein angenehm flüsternd intimes Organ, und er sprach und sprach unaufhörlich. Seine Gedankengänge pflegten nicht gerade tief zu sein, waren aber auch nicht zu oberflächlich. Er hatte Gefühl, vor allem wußte er es jedoch auszudrücken, und Betonung und Gebärde fehlten dabei nicht, über allem, was er redete, konnte eine ergebene, milde Traurigkeit liegen.
Er hatte sich nie recht glücklich gefühlt. Teils war es Naturanlage, ein Hang seines Temperamentes zu Schwermut und Unzufriedenheit, teils lag es an seinem, für einen Menschen, wie er nun einmal war, zu vielem Gelde, das ihn zur Beschäftigungslosigkeit führte, teils endlich gefiel er sich in der Rolle des Unglücklichen, des Weltenwanderers, des Ruhelosen.
Und den Mann, dem das Schicksal Heim und Glück verwehrt, spielte er unwillkürlich vor Klara. Jetzt neigte er sich zu ihr und knüpfte wieder an:
»Wahrhaftig, ich habe mich immer furchtbar gelangweilt.«
»Warum denn nur?« fragte sie.
»Ja, warum langweilt man sich? Weil man unbefriedigt ist.«
»Aber Sie hatten doch alles ....«
»Nein, nein, ich hatte eigentlich nichts ....«
»Was hat Ihnen denn gefehlt?«
»Jemand, dem ich mich hätte anvertrauen können. Man hat doch einmal Bedürfnis nach Aussprache, nicht wahr? Man möchte sich anvertrauen können, ich habe nie jemanden gehabt ....«
Es machte ihr Vergnügen, ihn zu weiterer Aussprache zu bringen:
»Das wird aber wohl Ihre Schuld gewesen sein!«
»Meine Schuld?«
»Nun ja, warum haben Sie niemand gefunden?«
»Ja ... ja kann man denn das so, wie man will? Dazu gehören doch zwei.«
Sie schlug die Augen zu Boden. Er fuhr fort:
»Nun, und wenn man das Glück nicht hat, ein Wesen zu finden, mit dem man übereinstimmt, so, so ..... Ach, mir kommt die Zeit, wo ich mich langweilte, ganz unerklärlich vor. Ich sage Ihnen, wahrhaftig, ich habe mich gelangweilt .... Sie glauben gar nicht wie. Ich habe Ihnen doch erzählt, wie ich lebte: auf Reisen, im Süden, in Seebädern. Aber gelangweilt habe ich mich überall. In Ostende sehnte ich mich nach den Schweizer Bergen, und in Sankt Moritz fehlte mir das Meer. In Frascati wollte ich deutschen Laubwald rauschen hören, und auf Rügen überkam mich eine Sehnsucht nach Pinien und Zypressen. Wenn ich mich in die Einsamkeit zurückgezogen hatte, verzehrte mich der Wunsch, Pariser Boulevardleben um mich zu hören, und stand ich im Straßengewirr, so hatte ich nur einen Gedanken:
Ruhe, Stille, Frieden, überall aber packte mich die öde, die entsetzliche, gähnende Langeweile so, daß ich ein paarmal gedacht habe: das beste wäre, du schössest dich tot!«
Er hielt inne und blickte Klara an, die nun fragte:
«Und jetzt?«
»Jetzt?«
»Langweilen Sie sich noch?«
Joachim warf einen Blick zum Professor, der lesend dasaß, ohne sich zu rühren, dann flüsterte er Klara zu, indem er immer abwechselnd die Augen schloß und sie wieder verzehrend anblickte, wobei er bald die Stimme sinken ließ, bald sie hoch erhob:
»Wissen Sie denn nicht, daß das Leben erst Bedeutung für mich gewonnen hat, seitdem ich in Ihr Haus gekommen bin? Ach, Sie wissen es ja, Sie müssen es doch gefühlt haben! Bin ich nicht täglich und stündlich bei Ihnen gewesen? Habe ich mich da gelangweilt? Bin ich nicht immer glücklich von Ihrer Schwelle gegangen? Bin ich nicht glücklicher jedesmal wiedergekehrt? Ich denke ja nur noch daran: wann werde ich Sie sehen? Ich freue mich jeden Abend, wenn ich mich zur Ruhe lege, wie ein Kind auf den Morgen, denn da erblicke ich Sie wieder. Und doch, doch bin ich unglücklich, wenn ich von Ihnen Abschied nahm, die Tür schloß sich hinter mir, und ich bin allein. Allein, und eben sprach ich noch mit Ihnen, eben küßte ich noch Ihre Hand. Dann träume ich von Ihnen, dann ... träume ich Sie ....«
Plötzlich erhob sich der Professor und kam an den Tisch zu den beiden. Er hielt ein Zeitungsblatt in der Hand, deutete darauf und sprach:
»Was die Zeitungen sich immer über sogenannte Bergfexe aufregen müssen. Da wird behauptet, das Bergsteigen wäre ein krankhafter Sport. Als ob es überhaupt ein Sport wäre. Es ist kein Sport. Das Wort lehne ich unbedingt ab...«
Joachim biß schweigend die Zähne aufeinander. Klara fuhr auf, als sei sie aus dem Traum geweckt worden, und blickte ihren Mann fast feindselig an. Mit dieser Erklärung, die sie übrigens schon soundso oft von ihm gehört, die also keineswegs neu, wichtig oder eilig war, hätte er wohl noch warten können.
Der Professor setzte sich neben die beiden und begann nun etwas schwerfällig und weitschweifig zu erklären, was ihm am Herzen lag:
»Beim Bergsteigen fehlen alle Komponenten des Sports. Das Bergsteigen ist kein Wettbewerb. Wir wollen keine Rekords aufstellen. Uns Bergsteigern fehlt das Publikum, das unsere Eitelkeit anstachelt. Uns sieht niemand. Ja, wenn wir nicht wollen, hört auch Niemand von unsern Leistungen. Wir befinden uns nur einem gegenüber, der Natur, der großen, heiligen Natur. Die Einsamkeit, die Größe zieht uns hinauf. Es ist, als sollten wir dort oben alles abtun, was hier unten an uns gehangen hat. Und: ›selbst ist der Mann‹. Dort oben hilft uns nichts, als selbst etwas können, am wenigsten das Geld – Geld, das alle Menschen verdirbt. Dort oben hat es keinen Kurs. Die Frage ist nicht mehr: arm oder reich? Dem Reichen nutzt in den Felsöden und Eiswüsten kein Gold der Welt etwas. Nur eine Frage gilt: hast du Kraft, Mut, Ausdauer. Alles...«
Klara hatte sich ärgerlich erhoben und war im Begriff, fortzugehen.
Der Professor wurde erregt, fast heftig, wie es ihm leicht geschah, wenn er einmal sich überwand, zu sprechen und dann nicht die Aufmerksamkeit zu finden meinte, die er forderte. Er rief sie etwas kurz an:
»Wo willst du hin?«
Sie warf die Lippen auf:
»Mein Gott, ein bißchen herumgehen!«
»Muß das denn gerade jetzt sein?«
»Allerdings, gerade jetzt.«
»Kannst du denn nicht wenigstens eine Minute zuhören!«
»Ich kenne es ja!«
»Was ich sage? Woher denn? Du weißt doch gar nicht, was ich sagen will.«
»Ach Gott, ich hab's doch schon hundertmal gehört.«
»Das?«
»Jedes Wort weiß ich auswendig.«
Er blickte sie scharf durch die Brillengläser an und wurde plötzlich wütend:
»Dann werde ich dir überhaupt nichts wieder erzählen!«
Sie machte ein verächtliches Gesicht und lief davon. Der Professor runzelte die Brauen. Er ärgerte sich über sich selbst und wandte sich zu Joachim, der sitzengeblieben war, aber nur auf Klara geachtet hatte, so daß er kaum wußte, was ihm eigentlich sein Freund erzählte:
»Ich bin heftig gewesen. Aber... aber sie reizt mich eben manchmal. Und es sind immer dieselben Sachen. Sie weiß, daß es mich ärgert, wenn sie fortläuft, gerade in dem Augenblick, wo ich anfangen will, etwas zu erzählen. Es hat auch etwas Unfreundliches. Und es ist ärgerlich. Jeder würde sich darüber ärgern. Nicht wahr, Dörstling?«
Joachim machte eine finstere Miene, die man so oder so deuten konnte. Der Professor aber rückte näher an ihn heran und begann, ihm, zum erstenmal eigentlich, seitdem sie sich als Männer wiedergesehen, von seiner Frau zu sprechen.
Er klagte, daß sie sich manchmal nicht verstünden. Sie ärgerte sich, würde erregt und heftig. Aber er wäre nicht etwa blind, er wüßte genau, wie große Schuld er selber trüge, denn auch er ließe sich gehen und gösse manchmal Öl ins Feuer.
Je mehr er sprach, desto mehr gewann er die Überzeugung, wenn hier und da einmal Mißverständnisse zwischen ihnen obwalteten, hätte er selbst die Hauptschuld daran. Er wurde immer mitteilsamer, als entlastete es ihn, einem Freunde einmal sein Herz auszuschütten. Sonst ließ er niemanden in seine Seele blicken. Vor allem nicht seine Frau, als hinderte ihn eine Art Keuschheit, sein Inneres zu entblößen.
Er stemmte den Ellbogen auf das Ecksofa, in dem Joachim saß, daß sein Arm tief einsank, und er sagte leise, halb vor sich hin, indem er durch die Brillengläser starrte und dem Freunde unwillkürlich immer näher kam:
»Worin ich es versehe, ich weiß es oft nicht. Womit ich's verfehle – ja, ja, wirklich, ich weiß es nicht. Und ich bin so todunglücklich darüber. Ich möchte ja gern alles recht machen, aber ich sage dir, Dörstling – und du wirst ja das auch selbst bemerkt haben –, ich kann's manchmal anfangen, wie ich will, es ist ihr nicht recht!«
Joachim schwieg. Es war ihm unmöglich, zu antworten. Das Geständnis war ihm peinlich; er wäre am liebsten fortgelaufen. Als der andere nun aber ganz weich schloß:
»Und im Grunde genommen verstehen wir uns doch, lieben wir uns ja. Nur manchmal eben...«
Da sprang er auf und drängte fort:
»Deine Frau ist ganz allein.«
Auch der Professor war aufgestanden. Es schoß ihm durch den Kopf: warum bist du weich gewesen und hast so etwas gesagt? Keiner versteht dich ja doch. Dieser Dörstling ist nun dein Freund. Aber würdest du ihm alles anvertrauen? War es nicht fast schon zuviel? Blieb nicht doch einer dem andern ewig fremd? Und was sprachen nun eigentlich diese beiden Menschen miteinander? Was hatten sie sich, seitdem sie sich vorigen Herbst wiedergetroffen, eigentlich Einschneidendes, Tiefstes, mitgeteilt? Fast nichts, nein, sogar überhaupt nichts. Im Grunde waren sie einander so fremd wie zwei Menschen, die gegenseitig ihre Sprache nicht verstehen.
Und war es bei andern etwa anders?
Doch im gleichen Moment fast hatte er alles wieder vergessen und ging mit Joachim Klara suchen. Sie stand drüben in der Gaststube, einem verandaartigen Vorbau, rundum mit Glasscheiben. Aber von Aussicht war noch nichts zu sehen. Der gleiche Nebel lag auf dem Wald.
»Was ist denn das?« fragte Klara, indem sie auf ein zusammengeknotetes, verschlungenes Seil deutete, das an der Wand hing.
Der Professor wurde ernst, wenn er sich auch bemühte, möglichst freundlich zu sein:
»Eine alpine Reliquie.«
Klara tat, als wäre nichts gewesen, und sah ihn an:
»Von wem denn?«
»Von Michel Innerkofler, dem berühmten Führer und wundervollen Menschen.«
Joachim trat nun auch näher:
»Was ist es denn von ihm?«
»Sein Seil. Sein letztes. An dem er in den Tod ging, bemüht, die in eine Spalte stürzenden Touristen zu halten. Hier war's. Da droben. Droben, über uns, am Cristallo.«
Die drei traten ans Fenster und blickten in den Nebel empor, als könnten sie dort oben den Gletscher sehen. Klara und Joachim wendeten sich wieder herum und gingen an die Wand, wo das Seil hing, das äußerlich nichts verriet. Sie sagte leise:
»Das ist schrecklich!«
Der Professor aber blieb nachdenklich stehen. Er dachte daran, wie er vor fünfzehn Jahren, als er noch nicht verheiratet gewesen, hier herumgeklettert war, den halben Sommer hindurch. Mit eben jenem Michel Innerkofler, dem besten Dolomitenführer seiner Zeit, der nun längst in seinen geliebten Bergen den Tod gefunden, an dem Gipfel, dem er so oft den Nagelschuh aufs uralte Felsenhaupt gesetzt, auf dem der Firn lag wie von den Jahren gebleichtes, dichtes, weißes Haar. Am Cristallo, der sich an dem Zinnenabend noch im weißen Mondenschein im nahen Dürrensee gespiegelt, kristallrein und unschuldig.
Doch ein Mörder, ein Totschläger, nein, einer, der in der Notwehr einmal einen Angriff abgewiesen von vorwitzigen Menschlein, die durch Leichtsinn den Bruch der dünnen Gletscherbrücke verursacht, und Michel, der sie halten gewollt, durch den Ruck gegen die eisharte Hand der Spalte geschleudert, daß er sich den Schädel zerschmetterte.
Er war geblieben auf dem Felde der Pflicht, der Ehre, denn ohne seinen Herrn kehrt ein Tiroler Führer nicht heim.
Ihm allein hätte sein alter Freund, der Cristallo, nichts getan. Wer zu den Bergen kommt nicht mit Vorwitz und Keckheit, wer ihnen naht schönheitstrunken, erfüllt von ihrem Frieden, ihrer keuschen Herbe, wer sie bezwingt mit Dankbarkeit gegen die Natur, die ihm unvergeßliche Eindrücke schenkt, die ihm Hochgefühle bereitet, rein wie ihr Firn, unvergänglich wie ihr Felsenleib, wer ihnen demütig naht mit dem Gedanken: ich bin nur ein Staubatom gegen dich, gewaltige Natur, Jungbrunnen für uns arme Menschlein, wer zu ihnen spricht: ich danke euch, daß ihr mich Einkehr lehrt durch eure Einsamkeit, daß ihr mir Demut gebt durch eure Größe, daß ihr mir schenket höchstes Erdenglück: Rückkehr zur Schlichtheit, Einfachheit, zur Natur, daß ihr mich weiset, Gott in eurer Hoheit zu erkennen – dem sind die Berge Freund.
Freund, liebe Freunde, wie dem ernsten Mann, der nun wieder weilte in dem Bergrevier, das er einst als junger Bursch durchstreift, durchklettert und durchträumt hatte, dankbar für jede Stunde Glückes der Einsamkeit im tiefen Tal, an steiler Felsenwand, auf ewiger Gipfelhöhe.