Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Unterschrift der Post war erledigt. Trélaurier hatte soeben seinen Prokuristen herbeschieden und wärmte sich, eine Zigarre ansteckend, die Füße am Feuer des mächtigen Kamins in seinem Arbeitszimmer, dessen Fenster auf die Gärten der Lafayettestraße hinausgingen. Der Bankier konnte mit seinem Tagewerk zufrieden sein. Eine sehr heikle Operation, bestehend in einer auf Rechnung der türkischen Regierung ausgeführten Konversion armenischer Obligationen, war vollständig geglückt. Das Ansehen des Hauses Trélaurier in der Geschäftswelt hatte sich dabei wieder einmal bewährt und die Börsen von London und Berlin hatten die für den Erfolg seines Unternehmens nötige Haussebewegung begünstigt. Aus der Provinz waren die Bestellungen stoßweise eingetroffen, Telephon und Telegraph hatten vom frühen Morgen an gearbeitet und Trélaurier konnte, zwar ermüdet, aber befriedigt, mit dem angenehmen Bewußtsein, ein glücklicher Mensch zu sein, die bläulichen Rauchringe zur Decke hinaufblasen.
War ihm nicht alles gelungen im Leben? Sein Vater, ein Börsenmakler, hatte ihm ein schönes Vermögen hinterlassen, das er verzehnfacht hatte, indem er sich mit den großen Genfer Bankiers Vassard & Mainguet assoziierte. Sie waren die Begründer der Emissionsbank, an deren Spitze jetzt nur noch sein Name stand, ein allgemein geachteter Name, der jeder Finanzoperation, womit er sich befaßte, die Vorteile großer Geschäftskenntnis und den fleckenlosen Glanz der Redlichkeit einbrachte. Hatte er nicht mit achtunddreißig Jahren, als die ersten grauen Haare an seinen Schläfen sichtbar wurden, das Glück gehabt, die entzückende Annina kennen zu lernen, die er zu seiner Frau gemacht hatte, und die seiner geschäftlichen Stellung jenen Duft der Vornehmheit, jenen Schönheitszauber beigesellt hatte, der bei Freunden Bewunderung, bei Nebenbuhlern Neid hervorrief.
Die Anmut und der Geschmack seiner jungen Frau befriedigten alle seine Neigungen. Sie hatte es verstanden, ihm die glänzendste Häuslichkeit, den gewähltesten Freundeskreis zu schaffen, indem sie in ihrem Haus von Künstlern und Weltleuten vereinigte, was durch Talent oder persönliche Vorzüge Beachtung verdiente. Wenn sie bei ihren Festen die Spitzen der Gesellschaft empfing, geschah es mit der vollendeten Haltung der großen Dame, und doch war sie in großer Einfachheit, in puritanischer Umgebung aufgewachsen. Sie war eben die geborene Pariserin, die zur Welt kommt, um ohne Mühe alles zu begreifen, ohne Absichtlichkeit alle hinzureißen und allerorten zu siegen.
In Trélauriers Augen war sie der Inbegriff aller Tugenden, nur hatte sie ihm bis jetzt noch keinen Erben geschenkt. Aber er war erst vierzig Jahre alt, stramm auf den Beinen, gichtfrei, ohne Augenschwäche oder Neurasthenie, da er immer in Arbeit und Mäßigkeit gelebt hatte. Es war also durchaus kein Grund, die Hoffnung aufzugeben. In Paris, wo die bösen Zungen so emsig sind, achtete man ihn als Ehemann, er hatte das seltene Glück, eine reizende Frau zu haben, von der man annahm, daß sie ihm allein gehöre. Annina lachte gern, aber mit Maß, sie war entgegenkommend und zugänglich, bewies aber dabei Takt und Sicherheit in hervorragendem Maß. Sogar die schöne Frau Roche, die schärfste Zunge von Paris, hatte an dem unberührten Ruf dieser Annina nichts auszusetzen gefunden und sich dafür durch eine Prophezeiung gerächt.
»Die kleine Trélaurier hat keine Liebschaften,« hatte sie gesagt, »das hindert indes keineswegs, daß sie einmal einen Geliebten haben wird. Wenn sie ihn aber einmal hat, mag ihr Mann sich in acht nehmen. Sie gehört zu denen, die Scheiben nicht eindrücken, sondern sie entzweischlagen, um hinausspringen zu können.«
Trélaurier, dem man diesen Ausspruch eilends zutrug, hatte gelächelt.
»Freuen wir uns, daß die Gegenwart gesichert ist, und warten wir die Zukunft ab. Wenn die Scheiben je in Gefahr kämen . . . nun dann müßte ich eben das Glaserhandwerk lernen, um sie auszubessern.«
Mittlerweile beunruhigte er sich gar nicht, freute sich vielmehr vertrauensvoll der Erfolge seiner Frau und betrieb sein Bankgeschäft mit erhöhtem Eifer in dem Gedanken, daß aller Gewinn Annina zu gute komme.
Der Prokurist trat ein. Es war ein breitschulteriger rothaariger Mann, namens Bernaut, der seine ganze Laufbahn an Trélauriers Seite zurückgelegt hatte und den einstigen Jugendgespielen heute noch duzte.
»Nun, wie weit seid ihr?« fragte der Bankier.
»So weit, daß ganz einfach heute nacht durchgearbeitet werden muß. Die Leute sind todmüde, aber sie lassen nicht nach, nichts spornt ja mehr an als der Erfolg, und man weiß, daß die Geschichte im Rollen ist.«
»Eine Extravergütung soll nicht ausbleiben.«
»Natürlich. Sie kennen dich ja und rechnen darauf – sollen sie auch haben. Das Personal reicht indes nicht aus, die ganze Abendpost zu erledigen, ich habe deshalb Hilfsarbeiter vom Finanzministerium eingestellt. Ich stehe für alles ein.«
»Schön! Brauchst du mich noch?«
»Durchaus nicht. Ich selbst werde nicht einmal bleiben. Nach Tisch will ich noch einmal die Runde machen in den Bureaus, weil mich die Geschichte interessiert, aber ich könnte getrost meinen Dienstag im Théâtre français mitnehmen, wenn ich Lust hätte. Die Abteilungsvorstände sind auf ihren Posten und die Maschine läuft wie geschmiert.«
»Unsre erste große internationale Operation, und sie ist geglückt . . .«
»Es wird nicht die letzte sein, darauf kannst du dich verlassen! Die Regierungen werden es bald merken, wie vorteilhaft es für sie ist, ihre Geschäfte durch unsre Hände gehen zu lassen. Wir werden auf Rechnung des Padischah verschiedene Ersparnisse realisiert haben, die sich auf ungefähr fünfundzwanzig Millionen belaufen . . . und dabei büßen auch wir nichts ein!«
»Das will ich meinen! Dabei hat man aber niemand geschmiert . . . Die Börsenblätter haben ja auch ein Wutgeheul angestimmt!«
»Und der Erfolg?«
»Ohne Erfolg! Der Presse gegenüber, einerlei ob finanzielle oder politische, gibt es nur eine Taktik – sie als gar nicht vorhanden zu behandeln. Ihre Macht besteht nur in der Angst, die man vor ihr hat. Nur muß man, um sich diesen Luxus gestatten zu können, reine Hände haben und nichts zu fürchten brauchen. Und das ist bei uns der Fall.«
»Ja, mein Freund, das ist bei uns der Fall. Ich weiß nicht genau, was es einträgt, ein Schurke zu sein, aber ich kann genau ausrechnen, wie sich die Ehrlichkeit rentiert.«
»Das habe ich von jeher gewußt, und ich möchte eigentlich nur wissen, warum es so viele Schurken gibt.«
»Weil die menschliche Natur von Haus aus schlecht ist, während die Anständigkeit erworben werden muß. Freilich sind nur die Anfangsgründe der Ehrlichkeit schwierig, aber vor diesen Anfangsgründen machen die meisten kehrt.«
Trélaurier warf die halb ausgerauchte Zigarre ins Feuer und fing zu lachen an.
»Denke dir einmal, Bernaut, wenn jetzt jemand die Frage aufwürfe: ›Worüber glauben Sie, daß der Bankier Trélaurier in diesem Augenblick mit seinem Prokuristen spricht?‹«
»Ganz gewiß würde niemand zur Antwort geben: ›Über Moral!‹ – Machst du auch noch die Runde im Geschäft?«
»Gewiß. Kein angenehmerer Anblick für einen Prinzipal, als jedermann an der Arbeit zu sehen . . .«
Trélaurier trat durch die mit dicker Polsterung abgeschlossene Türe des Privatzimmers in den Vorsaal, wo Besuche, die sich persönlich an ihn wenden wollten, zu warten hatten. Ein Livreediener versah darin den Dienst feierlich wie in einem Ministerium. Er saß in der Regel an einem großen eichenen Schreibtisch, worauf ein Messingtintenzeug stand und Löschpapier, Federn und Schreibpapier verschiedener Größe bereit lagen. Als Trélaurier und Bernaut jetzt in dieses Vorzimmer traten, war außer dem Diener ein Mann von unbestimmbarem Alter und bescheidener Kleidung anwesend. Den Hut auf den Knieen, den Regenschirm zwischen den Beinen haltend, saß er mit tief gesenktem Kopf da, so daß man nicht recht sehen konnte, ob er eingeschlafen oder nur in Gedanken versunken war. Als die Tür ging, fuhr der Diener vom Stuhl auf und der Fremde hob den Kopf. Das abgemagerte gelbliche Gesicht belebte sich durch eine leichte Röte, er machte eine Gebärde der Befriedigung und seine Lippen bewegten sich, als ob ihnen ein leises: »Endlich!« entführe.
»Sie wünschen mich zu sprechen, mein Herr?« sagte Trélaurier, in seiner gewohnten freundlichen Weise auf ihn zutretend.
»Ja, Herr Trélaurier, Sie,« versetzte der Unbekannte mit krächzender Stimme und einem harten Blick.
»Sie warten schon lange?«
»Über zwei Stunden,« erwiderte der andre, den Trélauriers Höflichkeit kühn zu machen schien, in vorwurfsvollem Ton.
»Entschuldigen Sie mich, mein Herr, wir sind sehr beschäftigt, heute mehr als gewöhnlich . . .«
»Das hat mir Ihr Schreiber auch gesagt und er hat mir geraten, ein andermal vorzusprechen, aber ich habe keine Zeit, die Sache aufzuschieben: Sie übrigens ebensowenig.«
»Ich?« versetzte Trélaurier verwundert. »Was soll das heißen? Sollten wir gemeinsame Interessen haben?«
»Mehr als Sie denken! Aber in Ihrem Vorzimmer und vor dritten kann ich Ihnen die Sache nicht auseinandersetzen. Bitte, empfangen Sie mich. Weder Ihre Zeit, noch Ihre Herablassung wird Sie gereuen.«
»Gewiß . . . treten Sie nur ein, mein Herr.«
Der Bankier machte selbst die Türe auf und ließ den Fremden vorangehen, während er Bernaut zurief: »Falls ich dich drüben nicht mehr treffe, sehen wir uns heute abend!«
»Gut, heute abend,« sagte Bernaut, indem er durch eine Türe, die der zu Trélauriers Privatzimmer gegenüberlag, in die Geschäftsräume ging.
Der Bankier hatte dem unbekannten Besucher einen Stuhl angeboten und sah ihn, vor seinem Rokokoschreibtisch Platz nehmend, erwartungsvoll und neugierig an.
»Mein Herr,« begann der Fremde, »ich heiße Prosper Linguet und bin Besitzer eines Hauses am Boulevard Poissonnière. Mein Vermögen, ein bescheidenes Sümmchen, habe ich in der Sentierstraße erworben, wo ich einen Laden mit Hemdkragen und Krawatten hatte, der die Aufschrift ›Zur schönen Französin‹ führt. Ich bin sechzig Jahre alt und schwächlich, dabei habe ich an einem jungen, kräftigen, gefährlichen Mann Rache zu üben, deshalb wende ich mich an Sie.«
»Sie setzen mich wirklich in Erstaunen, mein Herr . . .«
»Warten Sie nur, das Erstaunen soll erst kommen. Seit fünfzehn Jahren bin ich Witwer; mein einziges Kind war beim Tod der Mutter neun Jahre alt, ein engelschönes Töchterchen, das ich vergötterte. Ich wäre am Schmerz um meine Frau zu Grund gegangen, hätte ich nicht meine Rosine zu erziehen gehabt. Für sie habe ich gelebt; um sie reich zu machen, habe ich gearbeitet, sie war Zweck und Inhalt meines Daseins.«
»Aber, mein Herr . . .« unterbrach Trélaurier, der mehr und mehr verwundert war und sich zu fragen begann, ob er nicht einen Geisteskranken vor sich habe, diese vertraulichen Mitteilungen, »ich kann mir nicht recht vorstellen, in welchem Zusammenhang Ihre Privatangelegenheiten mit meiner Person stehen sollen.«
»In einem sehr engen, wie ich Ihnen mit wenig Worten zeigen werde. Meine Tochter ist, es sind jetzt anderthalb Jahre her, von einem nahen Freund Ihres Hauses entführt worden, von dem Vicomte André von Preigne . . .«
Trélaurier drückte durch eine Handbewegung sowohl Überraschung als Teilnahme aus.
»Glauben Sie mir, mein Herr, daß ich aufrichtiges Mitleiden mit Ihnen habe, denn Ihr Schmerz muß furchtbar sein . . . Sie sagten mir ja zuerst, daß Sie an einem gefährlichen jungen Mann Rache zu üben hätten; ich weiß jetzt, daß dieser junge Mann der Vicomte von Preigne ist, den ich in der Tat genau kenne. Sie sagten auch, daß Sie deshalb mich aufgesucht hätten . . . Glauben Sie etwa, ich würde mich als Werkzeug Ihrer Rache brauchen lassen?«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Dann sind Sie in einem seltsamen Irrtum über meinen Charakter und meine Gesinnungen befangen. Wenn ich auch das tiefste Mitleid für Ihr Unglück fühle, dies Unglück zu rächen bin ich keineswegs geeignet . . .«
»Das meinige? Ach nein!« krächzte Linguet mit einem verbitterten Lächeln. »Aber Ihr eigenes?«
Dem Bankier strömte das Blut zu Kopf, er sprang heftig auf, faßte das hinfällige Männchen am Arm und schüttelte diesen kräftig.
»Mein Herr, seien Sie etwas vorsichtiger in Ihren Behauptungen. Falls Sie unzurechnungsfähig sind, werde ich Sie festnehmen und in eine Anstalt bringen lassen, wenn aber das, was Sie andeuten, auch nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit hätte . . .«
Trélaurier erblaßte, so heftig war die Erregung, die sich seiner bemächtigt hatte. Er ballte unwillkürlich die Fäuste und schüttelte sie drohend.
»Ach! Jetzt sind Sie der, den ich zu finden hoffte!« rief Linguet mit triumphierendem Blick. »Ihr Zorn erquickt mein Herz.«
»Was für ein Ungeheuer Sie sein müssen!«
»Ich bin kein Ungeheuer,« versetzte das kleine Männchen, wieder kaltblütig werdend, »ich bin ein verzweifelter Vater, dem man sein Kind geraubt hat . . .«
»Und ich? Was bin ich?« rief Trélaurier.
Linguet heftete die Augen, worin das Weiße gelblich leuchtete wie bei Leberkranken, fest auf den Bankier, während er mit verhaltener Wut zur Antwort gab: »Ein Unglücklicher, so gut wie ich. Der einzige Unterschied ist, daß man Ihnen die Frau rauben will.«
Trélaurier gewann rasch seine Selbstbeherrschung zurück, es war, als ob die Ankündigung der Gefahr all seine Fähigkeiten erhöhte. Er setzte sich wieder, sah den Mann, der so entschlossen diesen Streich gegen ihn geführt hatte, prüfend an und sagte, als praktischer Mann gerade aufs Ziel losgehend, ohne sich mit Abwehr des Verdachtes aufzuhalten: »Sie haben Beweise für Ihre Behauptung?«
»Würde ich sonst gewagt haben, Sie aus Ihrer Sicherheit aufzuschrecken? Die wechselseitige Verpflichtung, die Menschen untereinander haben, führt mich zu Ihnen, Herr Trélaurier. Wenn mir jemand diesen Dienst erwiesen hätte, würde ich das Unheil verhindert haben . . .«
»Machen Sie keinen Versuch, Ihre Handlungsweise zu rechtfertigen,« fiel ihm Trélaurier unwirsch in die Rede, »Angeberei ist und bleibt ehrlos! Ich nehme sie indes an, wie sie ist, und werde suchen, sie mir zu nutze zu machen. Ich mache mich damit zu Ihrem Mitschuldigen, aber wehe Ihnen, wenn Sie mich irregeführt haben! Nun erklären Sie sich. Sie behaupten, man wolle mir meine Frau rauben . . . ›man‹ wäre, wenn ich Sie recht verstehe, der Vicomte André von Preigne?«
»Jawohl, mein Herr, der hübsche Vicomte, der hinreißende André, der Romanheld Preigne,« kicherte Linguet, »das Schoßkind der Herzkönigin, aber auch das Opfer der Pikdame! Und auf diesem Punkt setzt meine Rache ein! Er hat nicht lauter Triumphe in seinem Haben zu verzeichnen, dieser berückende Herzenbezwinger, und das Glück ist ihm im Spiel weniger hold als in der Liebe! Ich bezweifle keinen Augenblick, daß er sehr verliebt ist in Ihre Frau, aber ich glaube, daß er Ihre Kasse nicht minder leidenschaftlich liebt. Er hat furchtbare Summen nötig, und weiß nicht, woher er sie nehmen soll . . . Sie täten wohl, beide Augen offen zu halten, das eine für die Frau, das andre für Ihr Geld!«
»Ach, was liegt mir am Geld!« rief der Bankier heftig.
»Jawohl . . . Sie sind sehr reich. Sie würden leichten Herzens eine bedeutende Summe aufwenden, um jemand zu beseitigen, der Ihnen lästig ist . . . nun, das ist eine Lösung, die Ihnen zu Gebot steht. Stellen Sie den Vicomte vor die Wahl zwischen einem ansehnlichen Bündel Banknoten und seiner Eroberung . . . wer weiß! Es ist denkbar, daß er nicht lange schwankt!«
Linguets letzte Worte hatten dem Bankier die ganze Lage des Vicomte vor Augen geführt. Er sah die glänzende Persönlichkeit des jungen Mannes vor sich, der, ohne Geld zu verdienen, wie ein Millionär auftrat und von dem man in der Gesellschaft annahm, daß er vom Spiel lebe. Er war ein Fürst der Mode, das Vorbild, wonach sich die vornehme junge Welt bildete. Seine Westen, sein Rockschnitt waren maßgebend und wurden ohne weiteres aufgenommen. Er bewohnte ein reizendes kleines Palais in der Avenue d'Antin, gab Gesellschaften, wozu man sich drängte und die regelmäßig nach der Mahlzeit mit einem Baccarat endigten, das Männer und Frauen bis in die unerbittliche Klarheit des anbrechenden nächsten Tages, bis zur Stunde des ersten Frühstücks festhielt.
Mütterlicherseits mit den ältesten Adelsgeschlechtern Deutschlands verwandt, hatte der Vicomte den blonden Schnurrbart eines überrheinischen »Fritz«, von den Preignes, den kühnen Jägern der Guyenne, dagegen war ihm die südliche Lebendigkeit, die glänzende Persönlichkeit vererbt worden. Seine Liebesabenteuer waren berühmt, eine Sängerin hatte sich sogar um seiner schönen Augen willen vergiftet. Was besonders dazu beitrug, ihn interessant zu machen, war der Gegensatz seines wilden Temperaments und seines gelassenen Benehmens: er sprach mit einer weichen, gleichsam müden Anmut, aber seine Kraft war unerschöpflich; man sah ihn ganze Tage und Nächte am Spieltisch zubringen, in die aufregendsten Partieen vertieft, ohne daß sich je eine Spur der Erschöpfung eingestellt hätte.
Wenn man ihn sah mit dem strohgelben Haar, dem blauen Blick und dem zärtlichen Mund, so hätte man ihn für ein junges Mädchen in Männerkleidern halten können, aber er war Zeuge gewesen, wie sich die junge Cäcilie Vernier, vom Arsenik zerfressen, in Krämpfen fürchterlichster Todesnot gewunden hatte, ohne daß ihm die schönen Augen feucht geworden wären. Er war mit dem Anschein der Güte eine wilde Bestie; wer ihn genau kannte, sagte von ihm: »Er hat sein Zeitalter verfehlt, er hätte ein Zeitgenosse der Borgia sein sollen! Diesen tollkühnen, verschlagenen und genußsüchtigen Kavalieren hätte er es an Durchtriebenheit und Verwegenheit gleichgetan, inmitten der modernen Zivilisation aber, die der Laune Grenzen setzt und der Leidenschaft Zügel anlegt, verbraucht er sich unnütz. Wozu kann er seinen Heldenmut verwenden? Zu Zweikämpfen, die höchstens einen Hautriß zur Folge haben. Welches Ziel verfolgt seine Verschlagenheit? Die Verführung von Frauen, die danach lechzen, verführt zu werden! Was kann sein Unternehmungsgeist erobern? Fraglichen Gewinn beim Kartenspiel im Klub! Was für Erbärmlichkeiten! Dieser schöne, unerschrockene, abenteuerlustige Bursche, der dazu geboren ist, kein Gesetz anzuerkennen, als das seiner Lust, mit lachendem Mund über die Menschheit wegzuschreiten, Blut und Gold nach Laune und aus Ruhmsucht zu vergießen und zu vergeuden, ist darauf beschränkt, die Führerschaft über eine abgeschmackte Jugend ohne Geist, ohne Leidenschaft, beinahe des Lasters unfähig, zu übernehmen, und dieser glänzende Typus eines Kondottiere schrumpft, von der Mittelmäßigkeit der Zeit beengt, zum kleinlichen Maßstab des modernen Lebemanns zusammen. Allerdings zu einem furchtbaren!«
Während Trélaurier sich in schmerzlichem Nachsinnen derartige Äußerungen zurückrief, fuhr Linguet, ganz in seinem Haß aufgehend, unermüdlich fort, sein Unglück zu schildern, ohne sich darum zu kümmern, ob er angehört und verstanden wurde. Er hatte das Messer in die Wunde getaucht, hatte Trélaurier vor Schmerz beben gesehen, im Zorn aufschreien gehört. Nun begehrte er nichts mehr, als sein Herz zu erleichtern, indem er allen Groll gegen den Vicomte ausströmen ließ.
»Der Elende,« fuhr er fort, »hatte die Wohnung im Zwischengeschoß meines Hauses gemietet und bezaubernd eingerichtet. Der Tapezierer forderte mich einmal auf, einzutreten und mir anzusehen, welchen Luxus mein Mieter entfalte. Es war unglaublich! Von diesem Tag an schwante mir indes, was in diesen Räumen vor sich gehen würde . . . Man spannt nicht so viel Atlas über die Wände, breitet nicht so dicke Teppiche aus, streut nicht so viele seidene Kissen auf samtene Ruhebetten umher, wenn man bürgerlich wohnen will. Dahinter mußte etwas stecken! Mein Hausmeister ist ein sehr zuverlässiger, wachsamer Mann, obwohl er, wie sich's gehört, über die Geheimnisse der Mieter zu schweigen weiß. Ich selbst hatte ihn gewarnt, auf die Fährte gelenkt. Er wäre übrigens ohnehin der Mann, Geheimnisse aufzustöbern, nur daß der Vicomte sein Treiben gar nicht geheim hielt! Er empfing in dieser Wohnung Frauen, Herr Trélaurier, und zwar verschiedene zu gleicher Zeit, hören Sie nur! Was für Orgien gefeiert wurden, weiß ich nicht, aber man speiste auch zuweilen, und zwar wie üppig! Dann kamen abends Kameraden, um die Damen hier zu treffen. Es kam vor, daß zehn Equipagen vom Klub vor meiner Haustüre standen! Dabei beileibe kein Lärm im Haus . . . o nein . . . auf den Treppen hielt man sich tadellos. Man merkte wohl, daß nur wohlerzogene Leute da verkehrten! Ohne die Kellner von Rey, die das Essen brachten, hätte man keine Ahnung gehabt, wie es drinnen zuging. Dann eines schönen Tages gänzliche Wandlung . . . der Vicomte fing an, nachmittags allein zu kommen und niemand mehr zu empfangen als eine sehr große, immer schwarz gekleidete, tief verschleierte Dame, der mein Hausmeister nachging, um ihren Namen zu erfahren. Es war die Marquise von Courgiron . . .«
»Ach!« entfuhr es Trélaurier, den dieser Name überraschte.
»Jawohl, Herr Trélaurier, eine der hübschesten Frauen von Paris, die er, wie es scheint, bis auf den letzten Centime ausgeplündert hat . . . Stundenlang mußte sie oft auf ihn warten, in meinem Haus! Es war schamlos, wie er sie warten ließ! Meine kleine Rosine war immer ganz empört darüber!«
»Ihre Tochter wußte um diese Dinge . . .« unterbrach ihn Trélaurier mit Bitterkeit.
»Mein Gott, Herr Trélaurier . . . Sie werden ja auch wissen, wie Kinder sind! Sie stecken voller Neugier . . . Meine Rosine war den ganzen Tag zu Hause, sah also alles, was vorging, und dann schnappte sie auch einige Äußerungen von mir auf, und dumm war sie weiß Gott nicht, somit begriff sie schließlich, was los war. Ich sagte dann, um sie in der Ehrbarkeit zu befestigen: ›Siehst du, dahin führt's, wenn man unrecht tut!‹ und sie war voll Mitleid für die Dame in Schwarz und voll Entrüstung über den Vicomte, den sie förmlich zu hassen schien.
»›Kannst du es glauben, Papa, jetzt hat er die arme Frau wieder drei Stunden warten lassen? Wie herzlos dieser Mann sein muß! Wie sieht er denn aus? Er huscht immer nur so die Treppe herauf.‹
»Eines Abends aber sagte sie: ›Heute bin ich ihm begegnet, als ich ausging. Er kam wie gewöhnlich eilig herausgestürmt, trat aber sehr höflich beiseite, um mich vorbeizulassen . . . er ist ja blond.‹
»Von da an nannte sie nie mehr seinen Namen und das hätte mir eine Warnung sein sollen, aber ich hatte solches Vertrauen in mein Kind! Und wie hätte ich denken können, daß dieser junge Mensch, der alle vornehmen Damen von Paris haben konnte, wenn er nur wollte, Augen haben würde für ein kleines Bürgermädchen wie meine Tochter? Aber er hatte sie. Der Vicomte, der Ruchlose, hatte meine Rosine bemerkt! Er hatte sie hübsch gefunden. Ach, und das war sie auch, hübscher als alle die Zierpuppen, die in seiner Wohnung Tollheiten begingen, selbst seine berühmte Marquise miteingerechnet! Das hatte er auf den ersten Blick losgehabt! Ach, warum habe ich meine Wohnung an diesen Elenden vermieten müssen? Mein Hausmeister hatte, durch ein Trinkgeld von vierzig Franken verblendet, das Geschäft abgeschlossen, obwohl er hätte wissen können, daß ich nur friedliche, geordnete Leute im Haus haben wollte. Aber nicht wahr, das elende Geld hat Anziehungskraft? Ich habe ihn vor die Tür gesetzt, den Dummkopf, aber zu spät, denn das Unglück war schon geschehen! Meine Tochter war mit dem Vicomte durchgegangen, und ich war allein zwischen meinen verödeten vier Wänden, dem Wahnsinn nah, weil ich nicht wußte, was aus meiner armen Kleinen geworden war. Sie war ja davongegangen, ohne mir ein Wort zu hinterlassen, ohne irgend etwas mitzunehmen von ihren Kleidern, ihrer Wäsche . . . kein Taschentuch, nichts! Ich konnte mir vorstellen, daß sie von der elektrischen Bahn zermalmt, im Fluß ertrunken, in einer Gasse ermordet worden sei! Was wußte ich! Im ganzen Stadtviertel habe ich sie gesucht, von Tür zu Tür um Kunde von ihr gebettelt! Ich ging auf die Polizei, in die Morgue, wandte mich an Auskunftsbureaus. Auf einem solchen erhielt ich durch einen ehemaligen Polizisten den ersten Fingerzeig. Meine Tochter war in der Schweiz, in Lugano . . . mit dem Vicomte von Preigne. Ja, Herr Trélaurier, mein Kind, meine kleine Rosine, hatte, von diesem Schurken betört, das väterliche Haus verlassen und irrte in der Fremde umher.«
Linguet verstummte: ein dumpfes Stöhnen drang aus seiner Brust und Tränen rollten ihm über die von Leiden vergilbte Wange. Trélaurier, der beim Anblick dieses rückhaltlos ausströmenden Jammers fast seine eigene Sorge vergaß, fragte zögernd: »Und Sie haben das unglückselige Kind gefunden?«
»Ja, Herr Trélaurier, nach einer dreimonatlichen Verfolgung kreuz und quer durch Italien fand ich sie in Padua in einem Gasthof, aus dem der Elende, der sie mir gestohlen hatte, verschwunden war, weil er ihrer überdrüssig geworden. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie am Fenster der Hotelstube saß, so verändert, daß ich sie kaum erkannte, verhärmt, vom Leid zernagt. Als sie mich erblickte, richtete sie sich hoch auf und fiel mir ohne einen Laut, ohne Tränen stumm in die Arme. Ich brachte sie nach Paris zurück und sechs Monate darauf habe ich sie auf den Kirchhof Montmartre begleitet, Herr Trélaurier, in das Grab, wo die Mutter sie erwartete. Das hat der Vicomte André von Preigne mir angetan. Ich glaube nicht, daß es auf Erden einen unglücklicheren Mann gibt als mich, denn ich habe alles verloren und kann mich nicht rächen für das Unrecht, das mir geschehen. Als ich zu dem Verführer meiner Tochter ging, um Rechenschaft zu fordern über seine Schandtat, ließ er mich durch seinen Bedienten hinauswerfen. Ich lauerte ihm an der Türe seines Palastes auf, um ihn niederzuschießen, da lud mich der Polizeikommissär vor, drohte mir mit Verhaftung, mit dem Narrenhaus, wenn ich nicht mein Wort geben wolle, mich ruhig zu verhalten. Was blieb mir also übrig, als meinen Haß hinunterzuwürgen bis zu dem Tag, wo die unablässige Wachsamkeit, die ich über meinen Feind ausübe, mich auf die Spur des neuen Abenteuers brachte, das Ihre Ehre bedroht, Herr Trélaurier. Sie, mein Herr, Sie sind noch jung, sind kräftig, ohne Zweifel tapfer, jedenfalls reich. Folglich sind Sie in der Lage, sich zu wehren oder am letzten Ende sich zu rächen. Ich bin also hergekommen, um Sie zu warnen. Es ist an der Zeit, sich zu rühren. Der Liebeskrieg hat vor drei Wochen begonnen, die entscheidende Schlacht steht nahe bevor. Gestern um drei Uhr war Frau Trélaurier in der Avenue d'Antin beim Vicomte von Preigne . . .«
»Das lügen Sie!« rief der Gatte, vor Schmerz erbebend.
»Ich lüge nicht,« versetzte Linguet mit gelassener Bestimmtheit. »Sie blieb eine halbe Stunde in der Wohnung, lange genug, um ihren Ruf zu gefährden, wenn auch nicht, um sich zu Grunde zu richten . . . Sie dürfen also nicht zögern, es muß gehandelt werden. Sind Sie ein Pistolenschütze? Reizen Sie den Vicomte, fordern Sie ihn und jagen Sie dem Scheusal eine Kugel in den Bauch!«
Trélaurier hatte sich wieder gefaßt. Seine Angst vor diesem Fremden verraten zu haben, trieb ihm das Blut ins Gesicht; er wollte ihn irreführen, um seinem Mitleid zu entrinnen.
»Sie täuschen sich gänzlich über die Beziehungen, die zwischen Frau Trélaurier und dem Vicomte bestehen, ich aber bin darüber besser unterrichtet, als Sie annehmen, und die Anwesenheit meiner Frau in seiner Wohnung hat gar nichts zu bedeuten. Als sie hinkam, war ich schon dort . . .«
»Sie?« rief Linguet, dessen gelb unterlaufene Augen funkelten.
»Ja, ich,« versicherte Trélaurier, über seine zweite Unwahrheit errötend. »Wenn Sie noch länger auf der Lauer gelegen hätten, würden Sie auch mich unter der Haustüre bemerkt haben. Wir trafen, wie ich zu Ihrer Erbauung und zur Rechtfertigung der von Ihnen verdächtigten Personen beifügen will, Verabredungen für ein Wohltätigkeitsunternehmen . . .«
»Pff!« zischte Linguet, den Kopf schüttelnd. »Sie wollen mir etwas weismachen. Das ist Ihr gutes Recht, und ich mache es Ihnen nicht zum Vorwurf. Jeder faßt seine Lage auf, wie es ihm gefällt, und wenn Sie an einer Ehe zu dreien Geschmack finden, so ist das Ihre Sache.«
»Genug, mein Herr!« rief der Bankier blaß vor Wut. »Ich schenke Ihnen mit einer Geduld, die mich selbst in Erstaunen setzt, seit einer Stunde Gehör, aber jetzt hat es ein Ende damit. Ich begreife nicht, wie Sie dazu kommen, sich in meine Angelegenheiten zu mischen, und die Rolle, die Sie spielen, ist an sich häßlich genug. Angeberei ist, selbst dem Feind gegenüber geübt, ein Verfahren, das den Mann entehrt.«
»Ganz wohl, Herr Trélaurier, ich verstehe Sie. Aber was Sie mir da hinwerfen, berührt mich gar nicht. Mir liegt sehr wenig an Ihrer Achtung, mir liegt nur an meiner Rache. Ich habe Sie gewarnt. Sie mögen nun handeln, wie es Ihnen beliebt; aber bilden Sie sich nicht ein, daß ich von jetzt an untätig sein werde, und daß Ihre Abweisung mich hindert, meine Rolle weiter zu spielen, mag sie schön oder häßlich sein. Ganz gewiß nicht! Der Vicomte von Preigne ist mein Feind, ist mir verfallen, und ich lebe nur noch, um ihm zu schaden, nur der Rachedurst hält mich aufrecht. Ohne diesen würde ich längst meiner Frau und meiner Tochter nachgefolgt sein, mich fesselt nichts mehr ans Leben als das Verlangen, den glänzenden Vicomte im Schmutz und in seinem eigenen Blut liegen zu sehen, ihn mit Füßen zu treten, ehe er sterben kann, und ihm zuzuschreien: ›Schurke, ich bin's, der dich niedergeworfen hat, der dich beschimpft, der dich zertritt, hörst du, fühlst du es? Der elende Kleinbürger, den du verlacht, verachtet, verhöhnt hast, er setzt seinen Fuß auf deine schöne Fratze, du schmieriger Lump, erbärmlicher Verführer, ruchloser Mörder!‹ Und das werde ich erreichen, Herr Trélaurier, es kann gar nicht fehlen. Es steht im Buch der Vorsehung geschrieben: einem Schurken wie er, kann gar kein anderes Ende bestimmt sein. Schritt für Schritt werde ich ihm nachschleichen, um zuletzt dieses köstliche Schauspiel zu genießen. Ich hatte gehofft, Sie würden es mir bereiten, Sie scheinen sich aber nicht dazu entschließen zu können. Das ist Ihre Sache. Nun wird eben ein anderer Ehemann das Amt übernehmen, falls es der Spielteufel nicht besorgt, denn ich habe ja zwei Eisen im Feuer, die Weiber und die Karten! Wenn der Vicomte an den einen nicht zu Grund geht, so doch sicher an den andern! Entschuldigen Sie mich also, Herr Trélaurier . . . ich habe die Ehre, mich gehorsamst zu empfehlen.«
Er verbeugte sich vor dem in Gedanken versunkenen Bankier und ging schon auf die Tür zu, als Trélaurier ihn zurückrief.
»Ich möchte nicht, daß Sie eine peinliche Erinnerung an mich mit fortnehmen, Herr Linguet,« sagte er. »Sie kamen in guter Absicht zu mir, das erkenne ich vollkommen an und ich danke Ihnen dafür.«
»Auf Ihre Dankbarkeit verzichte ich, da Sie mich Ihres Vertrauens nicht würdigen. Sie hätten sich meiner Dienste bedienen können, denn ich würde vor nichts zurückschrecken, um die Pläne des Vicomte zu durchkreuzen. Statt dessen hüllen Sie sich in Würde, Ihre Eigenliebe zu behüten liegt Ihnen allein im Herzen, und mittlerweile macht der andre vorwärts. Es geht rasch bei ihm, das können Sie mir glauben, und Sie werden Ihre Blindheit noch bitter bereuen. Hoffen wir, daß es dann nicht zu spät sein wird! Ihr Diener, Herr Trélaurier, empfehle mich ergebenst.«
Zitternd und fröstelnd sah Trélaurier das kleine Männchen mit dem quittengelben Gesicht hinausgehen, und er machte keinen zweiten Versuch, ihn aufzuhalten. Mit gesenkter Stirn und schmerzverzerrten Zügen stand er einen Augenblick unbeweglich mitten im Zimmer; jetzt, da er allein war, brauchte er sich ja keinen Zwang mehr aufzuerlegen. Dann setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch und stützte den Kopf in beide Hände.
Was! Annina, die er heute früh um zehn Uhr verlassen hatte, so fröhlich, so rosig in ihrem gestickten Frisiermantel, zwitschernd wie ein Vögelein, während sie die schönen dunkeln Haare kämmte, sie sollte ein heimliches Liebesverhältnis haben, ohne sich je im geringsten in Wort, Blick, Gebärde, Stimmung zu verraten? Wem war noch zu trauen, wenn die Sünde diese Unschuldsmiene tragen, wenn die Lüge so unbefangen lachen, so hell und klar blicken konnte? Gewiß, er hatte ja viel zu viel vom Leben gesehen, um sich vom Schein trügen zu lassen, er wußte, wie gewandt die Frauen im Täuschen sind, aber Annina! Jetzt wallte der Zorn wieder in ihm auf.
»Hol's der Teufel!« sagte er sich. »Es ist ja immer dieselbe Geschichte: man hält sich für bevorzugt, und warum sollte Annina zuverlässiger und besser sein als eine andre? Seit wann bewahrt Vertrauensseligkeit vor Gefahr? Ist meine Frau vor der Versuchung gefeit, weil ich an ihre Tugend glaube? Ich bin ein Einfaltspinsel! Man darf nicht nach dem Schein urteilen, muß aufpassen, nachforschen, beobachten, und je harmloser ich war, desto energischer muß ich jetzt zu Werke gehen und der Sache nachspüren . . .«
Ein schmerzlicher Seufzer entrang sich seiner Brust; er preßte die Handflächen gegeneinander.
»Mein Gott,« murmelte er, »welch jäher Sturz aus allen Himmeln! Da sitze ich und hege Verdacht gegen mein Weib, zermartre mir die Seele, um Anzeichen ihrer Schuld zu entdecken, während ich ihr doch unbedingt vertrauen sollte, will ich nicht Gefahr laufen, ihr die schmählichste aller Kränkungen anzutun! Und doch wäre es Wahnsinn, wissentlich die Augen zu schließen, Wahnsinn und Feigheit! Freilich seit drei Jahren bin ich verheiratet, und der Vicomte verkehrt, wie so viele andre, bei mir, auch in kleinem Kreis, und nie hatte ich den Eindruck, daß er sich mit Annina beschäftige, nie hat er ihr gegenüber einen andern Ton angeschlagen, als den scherzhafter Galanterie, ja sogar nur den der Kameradschaftlichkeit. Ach, ich Unseliger! Jetzt halte ich wieder mein Sicherheitsgefühl für einen Beweis! Aber gerade das ist's ja, was mich mißtrauisch machen sollte! Daß ich nichts gesehen habe, ist doch kein Grund, daß nichts vorgefallen ist. Aber was? Wie? Warum?«
Zum zweiten Male tauchte die hohe, schlanke, vornehme Gestalt des blonden Vicomte deutlich vor ihm auf. War es nicht ein schöner, zur Liebe geschaffener Jüngling, das Ideal eines Liebhabers? Bis auf die zugestandene Sittenlosigkeit, die wohlbekannte Herzlosigkeit gegen seine Geliebten hinaus, die für eine selbstbewußte Frau einen verlockenden Reiz haben mußte. War es etwa nicht verführerisch, diesen Sieger zu überwinden, diesen Flatterhaften zu fesseln, diesen Grausamen zu quälen? Welche Befriedigung des Selbstgefühls, welch köstlicher Triumph, um so köstlicher, weil man ihn geheimhalten mußte! Hatte die dunkle Annina nicht den entzückenden Plan fassen können, sich von dem blonden André lieben zu lassen? Ein erlesenes Paar, mächtig zusammenstimmend und wie geschaffen, sich in Liebeslust zu verzehren. Ein entsetzliches Bild stieg vor Trélaurier auf; er sah beide eng umschlungen in leidenschaftlicher Umklammerung vor sich, er glaubte, sie beben zu sehen vor Lust, glaubte, ihre Wonne schreien zu hören. Er selbst stieß einen dumpfen Laut des Entsetzens aus und hämmerte mit geballten Fäusten gegen seine Stirne, um die gräßliche Vorstellung loszuwerden. Aber sie verfolgte ihn gegen seinen Willen: wieder erblickte er Annina in Andrés Armen, nicht mehr die lachende leichtherzige Annina, sondern ein ernstes, liebeglühendes Weib, das sich gleichsam zwang, die Trunkenheit verbotener Lust zu genießen, sie festzuhalten versuchte, und doch fest überzeugt, daß sie ihr entrinnen würde.
In diesem Augenblick kam ihm plötzlich wieder in den Sinn, was Linguet über des Vicomtes Geldansprüche an seine Geliebten geäußert hatte. Daß die Marquise von Courgiron bankrott war, wußte der Bankier. Es waren damals viele häßliche Gerüchte über des Vicomtes Anteil an diesem Schiffbruch im Umlauf gewesen, aber die Marquise war eine Spielerin, und die Börse wie die Bank von Monte Carlo hatten auch ihren Anteil am Raub eingesackt. »André oder die Roulette?« hatte man gefragt, und die Eingeweihten hatten zur Antwort gegeben: »Beide.« Trélaurier hatte zu diesen gehört; er wußte, daß die Marquise bei Spekulationen in Goldminen, die sie gemeinsam mit dem Vicomte gemacht hatte, schlecht weggekommen war.
»Annina ist sicher schön genug, daß er sie um ihrer selbst willen begehren kann,« sagte er sich, »indessen verfügt sie auch über große Summen, da ich ihr ein Konto mit unbeschränktem Kredit in der Bank eröffnet habe . . .«
Sobald dieser Gedanke entstand, berührte seine Hand die Klingel des Telephons, das sein Arbeitszimmer mit den Geschäftsräumen verband.
»Schicken Sie mir Herrn Chalgrin mit dem Privatkontobuch . . .«
Er fuhr sich mit seinem Taschentuch über die Stirne, um den Schweiß zu trocknen, der darauf perlte. Sein Herz war angstvoll gepreßt . . . was für Offenbarungen würde ihm Anninas Konto bringen? Hatte die junge Frau, die für ihre Toilette von jeher viel ausgab, da sie der Stellung des Gatten Ehre machen wollte, sich neuerdings ungewöhnlich große Beträge ausbezahlen lassen? Würde Trélaurier in den Büchern den Beweis finden, daß dieser vorurteilslose Liebhaber auch hier jenen Kunstgriff ausgeübt hatte, den man ihm so bitter zum Vorwurf machte?
Ein leiser Schritt ertönte, eine geschickte Hand drehte sachte die Türklinke auf und an Stelle des gewünschten Beamten erschien Vernaut selbst, ein Kontobuch unterm Arm.
»Du?« rief Trélaurier mit einem Gefühl der Freudigkeit in aller Bekümmernis. »Du warst noch da?«
»Jawohl,« sagte der Bevollmächtigte, seinen Vorgesetzten mit einigem Erstaunen anblickend. »Ich war im Begriff zu gehen, als Chalgrin das Privatkontobuch für dich verlangte . . . Ich wunderte mich ein wenig darüber, und da Chalgrin sehr beschäftigt war, die Sortenzettel zu kontrollieren, kam ich an seiner Stelle. Was gibt's denn?«
»Nichts! Ich möchte nur eine Zahl nachsehen . . .«
Mit zitternder Hand hatte der Bankier das Buch ergriffen und schlug nun den Buchstaben T auf. Dann blätterte er mit geübten Fingern weiter bis zum »Konto der Frau Trélaurier«. Mit einem Blick überflog der Gatte die Zahlenreihen des Debets und entdeckte nach Posten für Putzmacherinnen, Schneiderinnen, Weißzeuggeschäfte, Juweliere eine Summe, deren Verwendung nicht angegeben war.
»Frau Trélaurier hundertfünfzigtausend Franken.«
Es legte sich wie ein Nebel vor Trélauriers Augen, es kostete ihn eine Anstrengung, das Datum zu lesen. Es war der 23. Februar, also vorgestern. Er klappte das Buch heftig zu, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hing seinen Gedanken nach, ohne sich um Vernauts Anwesenheit zu kümmern. Vor zwei Tagen hatte Annina diese hundertfünfzigtausend Franken erhoben . . . Wozu? Sie hatte noch nie Geld verlangt, sie begnügte sich, die Rechnungen ihrer Lieferanten an die Kasse zu verweisen. Für ihre kleinen Ausgaben, wie Beiträge und Geschenke, reichten die zwanzigtausend Franken aus, die ihr der Bankier spaßeshalber an jedem Neujahrstag in Gold schenkte, und die ihr reichlich genügten, ja wovon sie fast jedes Jahr Ende Dezember einen Rest übrig hatte. Und nun mit einem Male hatte sie hundertfünfzigtausend Franken nötig . . . Wozu? Die Züge des Gatten waren so schmerzlich verzerrt, in seinem Blick lag eine so namenlose Angst, daß Vernaut sich nicht enthalten konnte zu fragen: »Sage mir doch, Felix, was hast du?«
Jetzt hatte Trélaurier nicht mehr die Kraft, zu schweigen.
»Du gehst viel in den Klub,« begann er, »vor dir sprechen die Bekannten ohne Scheu . . . sage mir, hast du keinen Klatsch über mich gehört?«
»Was soll ich denn gehört haben?«
»Das frage ich!«
»Aber was soll das heißen? Weshalb soll man über dich reden? In welcher Beziehung? Du weißt ja, daß du unbedingt auf mich zählen kannst, also habe die Güte, offen zu sein. Du bist ganz verstört! Und daß du dich gerade heute mit anderem beschäftigst, als mit der Bank, beweist mir, daß es sich um etwas sehr Ernstes handeln muß . . .«
»Jawohl, um etwas sehr Ernstes.«
»Und um was?«
»Um meine Frau.«
»Um deine Frau? Ist ihr etwas zugestoßen?«
Der Bankier griff nach der Hand des Freundes und drückte sie innig; sein Blick war voll liebevoller Dankbarkeit, er atmete erleichtert auf, so wohl tat es ihm, daß in Vernaut keine Spur von Argwohn gegen Annina aufgestiegen war. Er fragte ja, was ihr zugestoßen sei, fürchtete einen Unglücksfall, eine Erkrankung, hielt alles für möglich, nur nicht eine Schuld, wußte jedenfalls nichts, hatte nichts gehört. Bekannt war es also noch nicht, was dieser Linguet ihm zugetragen hatte. Ja, war es denn richtig? Trotz der Genauigkeit der Angaben, trotzdem, daß der Angeber keinen Vorteil dabei gehabt hätte, ihn zu täuschen, fing er wieder an zu zweifeln. Aber diese hundertfünfzigtausend Franken? Die waren kein Irrtum, da lag keine Verwechslung, keine Erfindung vor. Die Zahl stand ihm deutlich vor Augen, und er brauchte nur das vor ihm liegende Buch aufzuschlagen, um sich aufs neue davon zu überzeugen.
»Ach, mein guter Vernaut,« sagte er stöhnend, »ich bin so unglücklich! Stelle dir vor, daß der entsetzliche Mensch, den wir wartend im Vorzimmer trafen und den ich vor deinen Augen hier eintreten ließ, die abscheulichsten Anklagen gegen Annina erhoben hat.«
»Was!« rief Vernaut entrüstet. »Gegen deine Frau! Hoffentlich hast du ihn schon nach den ersten Worten an die Luft gesetzt, wie sich's gebührte?«
»Nein! Ich habe ihm Gehör geschenkt, erst mit Staunen, dann mit Empörung, zuletzt verzweifelnd . . .«
»Verzweifelnd? Du glaubst es also? Du, Trélaurier! Und von einer Frau wie die deinige!«
»Ja,« rief der Bankier, »nicht wahr? Sag mir's noch einmal! Es erscheint dir so unmöglich wie mir? Du kannst den Gedanken nicht fassen, daß Annina keine anständige Frau mehr sein, sich über mich lustig machen soll . . . Auch ich, verstehe mich wohl, kann mich nicht entschließen, daran zu glauben, trotz allem, was mir das Ungeheuer gesagt, trotzdem, was ich soeben selbst festgestellt habe . . .«
»Wo? In dem Buch, das du verlangtest! . . . Was enthält es denn?«
»Ach, nichts, was mich berühren würde, wenn mich dieses qualvolle Mißtrauen nicht ängstigte . . . Annina hat vorgestern ohne Angabe des Zwecks eine große Summe erhoben . . . Hundertfünfzigtausend Franken . . .«
»Ach, sie wird irgend eine kostspielige Dummheit gemacht haben, die sie dir nicht gleich eingestehen mochte, wird sich gesagt haben, daß sie dir's ja erklären könne, wenn du davon sprechen werdest, wenn du überhaupt je davon anfangen würdest, denn sie kennt dich ja und weiß, daß Geld für dich keine Bedeutung hat,«
»Ach, wenn du recht hättest!«
»Aber ich habe recht! Daran ist gar nicht zu zweifeln! Du mußt verrückt sein, wenn du es tust! Felix, mir kannst du doch vertrauen. Komm, erzähle mir alles, was man dir zugetragen, speie das Gift wieder aus, womit man dich krank gemacht hat . . . Das wird dir das Herz erleichtern, was die Hauptsache ist, und, wenn's nottut, überlegen wir dann zu zweien, was zu geschehen hat. Komm, alter Freund, laß dich doch nicht derart aus dem Geleis bringen! Es tut mir in der Seele weh, dich in dieser Verfassung zu sehen, einen Mann deines Schlags . . . hol's der Teufel!«
Trélaurier fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, um ein paar Tränen abzuwischen, die ihm über die Wangen laufen wollten. Die warme Liebe des Jugendfreundes richtete ihn auf, er ward in stummem Kampf wieder seiner Erregung Herr, und sobald er seiner Stimme sicher geworden, begann er die giftigen Enthüllungen des kleinen Linguet Wort für Wort zu wiederholen. Ohne ihn zu unterbrechen, hörte Vernaut mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Je weiter er in seinem Bericht kam, desto deutlicher nahm Trélaurier zu seiner Qual wahr, daß auch die Züge des Freundes sich verfinsterten, gleich als ob die so energisch zurückgestoßene Gewißheit nach und nach Macht über ihn gewänne. Er sagte nicht mehr: »Das ist erlogen!« Ihn überfiel mehr und mehr die Angst, es könne wahr sein, und doch lehnte er sich bei Trélauriers letzten Worten noch einmal heftig gegen diese Überzeugung auf.
»Das ist ja Wahnsinn! Laß dir doch nichts weismachen! Und wenn ich's mit eigenen Augen sähe, würde ich mich noch nicht entschließen, die Sache für möglich zu halten!«
»Und doch erklärst du sie nicht mehr für unwahr!« rief Trélaurier rasch.
Vernaut machte eine Gebärde der Ungeduld.
»Alter, ich muß mir Klarheit verschaffen, und ich werde dazu gelangen!«
»Wie wirst du das angreifen?«
»Nichts einfacher als das! Ich werde diesen Vicomte persönlich überwachen, und zwar sehr genau. Für alles, was du selbst nicht tun kannst, werde ich an deine Stelle treten, und ich stehe dir gut dafür, daß wir binnen vierundzwanzig Stunden wissen werden, woran wir sind. Dein unbedingtes Vertrauen ist die Ursache, daß man dich derart überrumpeln konnte. Du hast den angeblichen Sündern volle Bewegungsfreiheit gelassen, jetzt werden wir sie mit Beobachtungsposten umziehen, wozu ich alle nötigen Elemente in Händen habe . . . Verlaß dich auf deinen alten Freund und verhalte dich abwartend.«
»Fällt mir nicht ein, untätig zu bleiben! Vielleicht ist noch nicht alles verloren . . . Dieser Elende gab ja selbst zu, daß noch nichts Unwiderrufliches geschehen sein könne zwischen . . .«
Er brachte es nicht über sich, die Namen seiner Frau und des Vicomte in einem Atem zu nennen, und vollendete seinen Satz nur durch eine trostlose Gebärde. Vernaut legte ihm liebevoll die Hand auf die Schulter.
»Fasse Mut und sei namentlich bemüht, äußerlich unveränderte Gelassenheit zu bewahren. Deinen Verdacht durchschimmern zu lassen, hieße vielleicht die drohende Katastrophe beschleunigen. Wenn du eingreifst, muß es mit vollwertigen Beweisen, niederschmetternden Gründen geschehen, damit dir alle Möglichkeiten gegeben sind, die junge Frau, die vielleicht unvorsichtig war, vor der Schuld zu bewahren. Es gilt ein gewagtes Spiel . . .«
»Ich werde die Kraft haben, alles einzusetzen, um es zu gewinnen.«
»Du wirst nach Hause kommen, als ob nichts geschehen wäre . . . Du warst doch im Begriff, heimzugehen, ehe der Angeber kam?«
»Ja, wir sollten in Gesellschaft gehen, Annina und ich, zu Frau von Préjean.«
»Geh du nicht hin, gebrauche irgend eine Ausrede. Du würdest den Vicomte dort treffen, der ein Kamerad von Saint-Yrieix, des Freundes der Hausfrau, ist. Laß aber deine Frau hingehen, und ich werde beobachten, was vorgeht. Ich fange auf der Stelle an, den Vicomte zu überwachen, und ich werde leicht herausbringen, was er treibt, ich brauche mich ja nur an Saint-Yrieix und ihn selbst anzuschließen, wenn sie von Frau von Préjean weggehen. Ein unvorsichtig hingeworfenes Wort kann mich über viel aufklären, ich werde also die Ohren spitzen. Geht er wie gewöhnlich in den Klub, so begleite ich ihn. Du mußt dich deinerseits auch auf die Lauer legen und dich bereithalten, jeden Zufall zu nützen; eine an sich noch so unwichtige Kleinigkeit kann hie und da Katastrophen verhüten, menschliche Entschließungen hängen oft von so winzigen Dingen ab! Ein augenblicklicher Eindruck, ein Wort, das zu Herzen geht, ein unheimliches Vorgefühl . . . Herz und Kopf sind in schweren Stunden so überempfindlich, daß man nichts unversucht lassen darf, auf sie einzuwirken.«
Trélaurier schüttelte schwermütig den Kopf.
»Wenn es mir gelingt, Annina zu behalten, so wird es ein unschätzbarer Sieg sein, aber wie jeder Sieg wird auch dieser Schmerzen und Wunden genug hinterlassen. Meine Mannesehre wird gerettet, meine gesellschaftliche Stellung unerschüttert sein, aber meine Liebe und mein Vertrauen werden unheilbar gelitten haben. Wie sich die Sache auch entwickeln mag, Vernaut, das Unglück ist da. Nie wieder werde ich die Gemütsruhe finden, womit ich diese letzten drei Jahre gelebt habe. Möglich, daß ich mich allzu willig in dieses Behagen wiegen ließ, ich hätte mich vielleicht mehr mit meiner Frau beschäftigen, mir einen größeren Raum in ihrem Dasein schaffen sollen. Ich nahm an, daß mein Arbeitseifer, die Leidenschaft, womit ich mich mühte, ihr immer größeren Reichtum, eine immer glänzendere Stellung zu erwerben, hinreichen würden, sie treu und zärtlich an mich zu fesseln. Ich habe mich in den Traum aller wackern Leute gewiegt, die sich immer einbilden, daß Tüchtigkeit und andre bescheidene Tugenden den Reiz von Schönheit und Jugend aufwiegen. Ich bin achtzehn Jahre älter als meine Frau, und die Arbeit hat mich schwerfällig gemacht. Wie könnte ich mit diesem übermütigen, glänzenden, hinreißenden Preigne in die Schranken treten? Bin ich nicht ein Narr, es jetzt noch zu hoffen? Er hat seine schönen Augen, seinen blonden Schnurrbart, seine elegante Figur, seine Anmut! Was habe ich dem entgegenzusetzen? Sieh mich doch nur an, Vernaut! Ein netter Nebenbuhler für die Blume Pariser Schicks, den Beherrscher der Mode! Ein feister Bankier von vierzig Jahren, dessen Haar grau wird und der nicht Liebe zu girren versteht, wie sollte der den Sieg davontragen? Und was wird aus mir, wenn ich unterliege?«
»Darüber magst du dich besinnen, wenn die Niederlage da ist, augenblicklich handelt sich's nur darum, Klarheit zu erlangen. Das Schlimmste, was dir geschehen kann, ist, daß dein Argwohn sich bewahrheitet . . . dann wirst du erst endgültige Entscheidungen treffen können. Denke aber nicht zu viel an die Folgen des möglichen Unglücks, beschäftige dich lieber mit den Mitteln, es zu verhüten. Nachher? Nun, davon sprechen wir später. Ich werde ja immer auf dem Posten sein, um dir zu helfen, dich zu beraten, dich zu trösten, vorläufig aber kämpfen wir. Das Spiel ist noch nicht verloren, es fängt ja erst an.«
»Ja, Vernaut, aber mein Gegner hat die Herzdame in der Hand . . .«
»Und du den Schippenbuben, der, wie alle Kartenschlägerinnen behaupten, Geld bedeutet. Der Schlingel hat auch seinen Wert, namentlich wenn der Gegner André von Preigne heißt. Halt! Es ist ja schon sieben Uhr. Kopf hoch, Mann, besinne dich auf deine Kraft, mache zur Stärkung einen Gang durchs Geschäft und sieh dir an, wie die Arbeit fleckt!«
»Ja, du hast recht. Ich darf über meinen persönlichen Kümmernissen die wichtigen Interessen, die mir anvertraut sind, nicht vernachlässigen.«
Er stand auf und verließ mit dem Prokuristen sein Arbeitszimmer.