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Drei Aerzte waren in ernster Beratung in Rameaus Studierzimmer beisammen, alle drei europäische Berühmtheiten. Talvanne stand ein paar Schritte vom Lehnstuhl seines Freundes, mit dem Rücken an den Kamin gelehnt, und hörte zu, welches Endergebnis seiner Beobachtungen Professor Lemarchand, der Spezialist für Lungenkrankheiten und Entdecker des Schwindsuchtsbacillus, zum besten gab. Derselbe sprach langsam, aufrecht dastehend, mit tiefbetrübter Miene und Gebärde und wandte sich dabei einerseits an seine Kollegen, um sie zu Zeugen zu nehmen, andrerseits an den Vater, um dessen Nachsicht und Geduld zu erbitten.
»Mein teurer Freund, wir wissen nicht, wie wir uns aussprechen sollen. Die Krankheit entschlüpft uns, entzieht sich unserm Urteil; die Symptome sind äußerst mannigfaltig und widersprechender Art. Gestern hatten wir eine ausgesprochene Blutgeschwulst mit begleitender Bauchfellentzündung. Heute ist keine Spur von Entzündung im Unterleib vorhanden, dabei steigt aber die Temperatur und sind Störungen in der Gesichts- und Gehörthätigkeit eingetreten . . . Gleichzeitig äußern sich cerebrale Zufälle, und Talvanne beharrt darauf, eine Gehirnhautentzündung zu fürchten.«
Die drei konsultierenden Herren sahen sich bekümmert an. Sie krümmten und wanden sich, als ob sie mit aller Gewalt einen Ausweg aus der sie gefangen haltenden Dunkelheit suchten, seufzten tief, redeten aber keine Silbe. Dabei hatten sie wahre Leichenbittermienen. Offenbar fühlten sie sich gänzlich machtlos, und das erfüllte sie, angesichts ihrer Kollegen, ihres Freundes, dessen ihrer Behandlung übergebene Tochter an einem Uebel litt, das sie sich nicht zu erklären vermochten und das von Stunde zu Stunde zunahm, mit tiefster Beschämung. Wenn ein beliebiger, gewöhnlicher Kranker stirbt, das geht ja noch, aber das einzige Kind des Professors Rameau! Darin lag ein Ohnmachtszeugnis, welches die ganze Fakultät entehrte! In dieser Stimmung saßen sie alle vor dem Schreibtisch, in Gedanken versunken und unheimlich anzusehen in ihren schwarzen Anzügen: der Livree des Mediziners, der stets Trauer zu tragen oder zu erwarten scheint.
»Die Krankheit entzieht sich Ihrer Beurteilung,« sprach Talvanne, »weil sie ihren Sitz im Gemüt hat. Sie haben es hier mit einem durch Gemütsbewegung infolge einer heftigen seelischen Erschütterung hervorgebrachten Zustand zu thun. Hoffen Sie deshalb nicht, durch die sonst in der Heilkunde bräuchlichen Mittel etwas auszurichten. Blutentziehungen, wie unser Kollege sie vorhin in Vorschlag gebracht, wären durchaus nicht ratsam und würden die Kranke nur in erheblichem Maße schwächen. Kalte Bäder sind ebensowenig am Platz, denn von typhösem Fieber ist keine Rede. Beruhigende Mittel, Ruhe, mit einem Wort, so wenig Medizin als möglich.«
Alle sahen sich an: die Ironie dieser Worte war empfindlich scharf. Aber Rameau, der zusammengesunken in seinem Lehnstuhl saß, zuckte nicht mit der Wimper. Sie erhoben sich und drückten ihm die Hand.
»Warten wir die fernere Entwicklung der Krankheit ab,« hieß es. »Auf Wiedersehen morgen!«
Und wie schwarze Spukgestalten zogen sie hinaus.
»Das sind also die Gestirne unsrer heutigen Wissenschaft,« sagte der Psychiater, als er sich mit Rameau allein sah, achselzuckend. »Arme Menschheit, die solchen Pfuschern preisgegeben ist! Wenn sie einen Kranken gesund machen, so ist's dessen eigner guter Wille. Der arme Doktor Bouvey, dessen Assistent in Saint-Louis ich gewesen, pflegte zu sagen: ›Ich habe in meiner Abteilung zwei Krankensäle! wer im ersten liegt, wird vorschriftsgemäß und schulgerecht behandelt, im zweiten bekommen sie Zuckerwasser zu trinken; die Sterblichkeit ist in beiden Sälen vollkommen die nämliche!‹ Der Mann war wenigstens ehrlich und ließ das Giftmischen bleiben – die Leute hatten den Vorzug, nichts schlucken zu müssen.«
Er trat ans Fenster, kehrte dann zu seinem Freund zurück, pflanzte sich vor ihm auf und sagte in verändertem Ton: »Ich weiß sehr genau, woran es unsrer Kranken gebricht und was sie rascher herstellen würde, als all die Rezepte der gelehrten Herrn . . .«
Er machte eine Pause und sah Rameau fest ins Auge.
»Deine Gegenwart nämlich.«
Da dieser immer noch schwieg und sich nicht bewegte, setzte er bittend hinzu: »Willst du nicht mit mir hinaufkommen?«
Der Doktor schüttelte verneinend den Kopf. Talvannes Gesicht ward tief traurig und sein Blick erlosch, als ob er sich ganz nach innen gekehrt habe; eine gute Weile schien er völlig von seinen Gedanken in Anspruch genommen, dann begann er mit großer Lebhaftigkeit: »Du solltest es thun, und wär's auch nur aus Berufsehrgeiz und Eitelkeit! Du siehst ja, daß all diese großen Herren Aerzte, deine Nebenbuhler, die dir aus Neid so spinnefeind sind, es nicht zu einer bestimmten Diagnose bringen . . . sie tappen im Dunkeln, irren sich, und wenn es sich nicht um deine Tochter handelte und ich mich nicht dagegen zur Wehr gesetzt hätte, würden sie das arme Kind mit allerhand Versuchen aufs äußerste quälen. Wenn du dich an der Sache beteiligen wolltest, du würdest nicht nur sofort den Sitz der Krankheit, von dem sie alle nichts wissen, finden, sondern auch die richtigen Mittel ihr beizukommen . . . Ihnen eine solche Lehre zu geben und das in deinem eignen Haus – es wäre herrlich! Ich bitte dich, Rameau, komm! . . .«
Der Doktor ließ den Kopf ganz auf die Brust herabsinken, nur um den Freund nicht ansehen zu müssen. Talvanne machte eine Gebärde tiefster Entmutigung.
»Mein Gott! Ich setze Himmel und Hölle in Bewegung, ich greife sogar zur List, und du bist und bleibst unerschütterlich: Was kann ich denn thun und sagen, um dein Mitleid wachzurufen? Und doch hast du mich lieb, du hast Robert lieb, der dem Wahnsinn nah ist und der uns zu Grunde geht, wenn wir Adrienne nicht retten, und ich gebe dir mein Wort, daß keiner außer dir das vermag. Wir sind alle miteinander Esel, du bist der einzige Wissende, Sehende! . . . Ist es denn möglich – hier, gleich zur Hand haben wir den ersten, den einzigen Arzt der Welt, und er weigert uns, was er Fremden, was er um schnödes Geld so vielen gewährt! Es ist also wirklich und wahrhaftig der Haß, der dir am Herzen frißt? . . . Du hast es gesagt, aber ich habe es nicht geglaubt, habe mir gesagt, der Zorn spricht aus ihm, das sind Fieberreden und er wird von selbst zur Einsicht kommen. Statt dessen bleibst du hart und kalt wie ein Stein! Bist du denn kein Geschöpf von Fleisch und Blut wie wir, ist nichts Menschliches in dir? Du machst mir angst, mir, der ich ein Leben an deiner Seite verbracht und den Aberglauben an deine Größe und Güte in mir genährt habe! Ach, Rameau, teurer alter Freund, wenn du mich nur bis an die Schwelle ihres Zimmerchens begleiten wolltest, nur einen Blick hineinwerfen, sie nur einmal wiedersehen, und wär's auch nur für eine Sekunde, du müßtest dich ja ihrer erbarmen . . . Den Kollegen, den Fremden hat sich das Herz im Leib umgedreht, und sie kennen das Mädchen nicht, wissen nicht, wie sanft und zärtlich und herzlieb sie ist! Dies Kind, das unser beider Freude und Lust gewesen, dessen Atemzüge wir belauschten, solange sie klein war, aus lauter Angst, sie könnte krank werden, dies Kind willst du sterben lassen? Denn, das sage ich dir, sie wird sterben und zwar durch dich! . . . Verstehst du mich? . . . Dich ruft sie, nach dir verlangt sie! Wenn sie aus ihrem pein- und schmerzvollen Halbschlaf erwacht und zur Besinnung kommt, sucht sie dich, und der Jammer, dich nicht an ihrer Seite zu sehen, wirft sie in den Fieberwahn zurück . . . Du bist es, der sie tötet! . . . Wenn es dein Ziel ist, dich ihrer zu entledigen, so hast du wahrlich den rechten Weg eingeschlagen! Und lange wird's nicht mehr dauern, in drei bis vier Tagen ist alles vorüber . . . Du verstehst mich doch, Rameau? alles zu Ende! . . . Wir nageln den Sarg zu und betten sie in die Erde und dann sind wir allein, jeder für sich ganz allein, denn von einem Zusammensein ist nicht mehr die Rede! Das erkläre ich dir, ich werde dich fliehen wie ein Ungeheuer und ganz gewiß keine Gemeinschaft halten mit einem Mörder! Denn ein Mörder bist du dann!«
Blaß, nach Atem ringend und völlig erschöpft sank Talvanne neben Rameau in einen Stuhl. Dieser schien in der That zu Stein geworden zu sein und kein menschliches Fühlen mehr zu kennen. Der helle Schein der Lampe fiel auf seine Stirn, die gelb und matt wie Elfenbein glänzte, sein weißer Bart bedeckte wie ein Silberschleier seine Brust und seine von vielen schlaflosen Nächten dunkel umrandeten Augenlider waren gesenkt, als ob er schliefe. Nur die Hände, die auf den Armlehnen des Stuhls auflagen, verrieten durch ihr Zucken eine mächtige innere Bewegung.
»Rameau, hörst du mich?« rief Talvanne verzweifelnd. »Gieb mir Antwort!«
»Ich habe dich als Herrn in meinem Hause schalten lassen,« versetzte der Doktor, ohne den Blick zu erheben und ohne daß die Starrheit und Kälte von seinen Zügen gewichen wäre. »Thue, was du willst, konsultiere, wen du willst. Handle, beschließe, befiehl. Aber mehr verlange nicht von mir. Du hast mich zum Weiterleben gezwungen und hast darin, wie ich dir damals sagte, unrecht gehabt. Du siehst es ja, daß du selbst anfängst, dein Einschreiten zu bereuen.«
Der Irrenarzt schlug wild die Hände zusammen und rief mit einer Heftigkeit und Gereiztheit, die er nicht länger beherrschen konnte und wollte: »Ich kenne dich gar nicht mehr! Deine Gedanken, deine Sprache, alles gehört einem andern an! Kann sich ein Mensch in so kurzer Zeit ganz und gar verwandeln? Es ist ja, als ob du eine greuliche, abscheuerregende Rolle durchführen wolltest. Ein letztes Mal höre mich an, ein letztes Mal bitte ich dich, thu' mir's zuliebe! Als Bettler trete ich vor dich hin und flehe dich an um eine Brosame des Erbarmens für dies Kind!«
»Fordre von mir nicht, was zu gewähren meine Kraft nicht ausreicht,« lautete Rameaus Antwort.
Hoch aufgerichtet, bleich wie ein Sterbender, trat Talvanne vor den Freund und mit einem Ton, in dem sein innerer Zwiespalt, das namenlose Weh seines Herzens wiederhallten, rief er: »Du bist ein schlechter Mensch!«
Ohne einen Blick hinter sich zu werfen, ging er hinaus und Rameau fand kein Wort, machte keine Bewegung, um den Freund eines ganzen Lebens festzuhalten. Als die Thür ins Schloß gefallen, da hob sich seine Brust, ein tiefer Seufzer entrang sich derselben und den geröteten Augen entströmten Thränen, deren bittre Flut langsam auf den schneeweißen Bart hinabtropfte.
In seiner Verzweiflung flog Talvanne in langen Sätzen die Treppe hinan. Er war wieder so beweglich wie der jüngste, und wer ihn so gesehen hätte, würde auf die Vermutung gekommen sein, daß es ihn dränge, jemand eine frohe Nachricht zu bringen. An der Thür zu Adriennes kleiner Wohnung blieb er stehen, die Erregung war mit einem Male verraucht und die ganze schaudervolle Wirklichkeit stand vor ihm. Rameau weigerte sich, persönlich auch nur das Geringste für die Kranke zu thun, die er in einem einzigen Augenblick ganz und für immer aus seinem Herzen gestoßen hatte, und doch hatte er, Talvanne, sich anheischig gemacht, ihn an dies Krankenbett zurückzuführen. Wie er es ihm gesagt hatte, so verhielt es sich; das Kind dachte nur an den Vater, verlangte nur nach dem Vater, und von ihm losgerissen und hinweggestoßen, mußte sie sterben. Die Wunde, deren verheerende Wirkungen die Aerzte wahrnahmen, ohne zum Sitz des Nebels durchzudringen und ohne die Ursache zu kennen, war mit roher Faust von Rameau selbst geschlagen worden und hatte ihren Sitz im Herzen. Der Vater allein hätte sie zu schließen und zu heilen vermocht, und er weigerte sich dessen.
Damit war alles verloren und das arme unschuldige Opfer, dessen Gehirn die qualvolle Glut versengte und verdorrte, war dazu verdammt, sein Leben in der immer wachsenden Angst des Fiebers auszuhauchen. Was sollte Talvanne erwidern, wenn sie auch heute wieder die alte Frage an ihn stellte, die sie von der ersten Stunde an unaufhörlich wiederholt hatte: »Weshalb kommt der Papa nicht?« Wieder mußte er sie zu tauschen suchen, sie mit Lügen abspeisen, wie es nun seit zwei Tagen seine unselige Aufgabe war.
Er kam dahin, daß er nur noch wünschte, daß sie nicht mehr aus dem fürchterlichen Schlaf erwache, der nichts war, als ein Zustand der Betäubung, in dem Schreckensbilder sie ängstigten, ein schwerer Alp auf ihrer Brust lag und sie sich rings von drohenden Gestalten umringt sah, daß sie unaufhörlich um Hilfe rief und um Gnade bat. Immer wähnte sie sich in einen Kampf, eine gewaltsame Scene verwickelt und Talvanne konnte sich diese Scene deutlich genug vorstellen, er kannte das Schreckbild, das sie in Angst und Verzweiflung trieb. Ein Zimmer voll Schutt und Trümmer, mitten darin Rameau mit wildem Haar, den Schaum auf den Lippen, das sah sie allezeit vor sich, und diese Vorstellung entlockte ihr den immer wiederholten, herzzerreißenden Jammerruf: »Papa, o Papa! O verzeih mir doch! . . . Ich kann ja nichts dafür, daß du Kummer hast! . . . O Papa, thu' mir nicht so weh!«
Und dann bat und flehte sie so sanft und rührend, daß Talvanne die Augen übergingen und daß Robert vor Schmerz und Wut aufstöhnte und sich in ohnmächtigem Jammer die Nägel der geballten Fäuste ins Fleisch grub. Dies angebetete Wesen von jedem Schmerz befreien, sich für sie zu opfern, in den Tod gehen, um ihr ein Leid zu ersparen, das war's, was die beiden Männer, der Pate und der Verlobte ersehnten und erstrebten. Allein sie waren machtlos, während einer, der mit einem Wort, einer Handbewegung dies Martyrium hätte enden können, sich in wildem Eigenwillen weigerte, dies Wort zu sprechen, diese Bewegung auszuführen, und unbeweglich, wie zu Stein oder zum Eisklumpen geworden, in seinem Wahnsinn verharrte, der ihm Kopf und Herz ausbrannte.
Nach dem, was Talvanne versucht und gewagt, war nichts mehr bei ihm zu machen. Nicht Vernunft, nicht Bitte, nicht Zorn verfingen. Wenn einer ihm die Pistole an die Stirn gehalten und gerufen hätte: »Rette sie oder ich schieße dich nieder!« so wäre seine Antwort gewesen: »Gesegnet deine Hand, wenn sie mir den Tod gibt, das einzige, wornach mich verlangt!«
Nichts, nichts war mehr zu thun! Alle menschlichen Hilfsmittel waren erschöpft. Der Vorsehung die Sache anheimstellen, auf die Natur hoffen, das war alles, was ihnen blieb.
Und doch, so namenlos die innere Wut in ihm gärte, so sehr er außer sich war, Talvanne gab die Hoffnung noch nicht auf. Woher die Hilfe kommen sollte, das wußte er nicht zu sagen, aber auf ihr Kommen wartete er; das Wunder, von dem er bei Rameau gesprochen, mußte und würde geschehen, und wenn ein Blitzschlag herniederfahren sollte, um den versiegten Quell der Güte in diesem Herzen wieder fliehen zu machen. Es war ja unmöglich, daß nichts, gar nichts geschehen sollte; Adrienne konnte nicht sterben!
Und doch, sie war nahe daran, und mit entsetzlicher Deutlichkeit traten ihm plötzlich die prophetischen Worte, die Conchita an Münzels Totenbett gesprochen hatte, vor die Seele: »Wer dem Gottlosen nahe tritt, den ereilt das Geschick: was um ihn ist, wird von dem tödlichen Hauch seines Giftes berührt.« Alle waren sie unterlegen, wie sie es vorausgesagt, und jetzt war die Reihe an dies Kind gekommen. Er glaubte die junge Frau vor sich zu sehen in ihren schwarzen Gewändern mit dem ausgestreckten Arm und dem prophetischen Leuchten im Blick. Heftig schüttelte er den Kopf, um solche Gedanken energisch von sich zu weisen, und dabei ward er plötzlich zu seiner Ueberraschung inne, daß er sich immer noch im Flur des oberen Stockwerks vor der Thür zum kleinen Salon und gänzlich im Dunkeln befand und wohl eine halbe Stunde so dagestanden haben mochte. Auf den Zehenspitzen schlich er nun vollends in Adriennes Zimmer, wo sich Robert, der am Kamin saß, rasch erhob und ihm mit fragender Miene und Gebärde entgegenging.
»Unmöglich, ihn dazu zu bewegen!« beantwortete Talvanne die unausgesprochene Frage.
»Und wenn ich einen Versuch wagte?«
»Das wäre meiner Ansicht nach völlig hoffnungslos, und jedenfalls müssen wir uns dieses letzte Auskunftsmittel noch bis zum äußersten aufsparen und vorbehalten. Nach dem, was ich ihn anzuhören gezwungen habe, wüßte ich nicht, was du vorbringen könntest, das ihn tiefer packte. Der Schlag, der ihn betroffen, hat alle Bande, die ihn mit uns verknüpft, zerrissen; unser Jammer rührt ihn nicht mehr; er hat alle Fühlung mit dem Menschlichen verloren. Daß mir für meine alten Tage noch eine solche Prüfung bestimmt sei, hätte ich mir nie gedacht; mir bricht's das Herz! Wie steht es bei Adrienne?«
»Sie klagt über heftige Schmerzen im Kopf und die Empfindlichkeit gegen Licht ist peinvoll gesteigert . . . sie erträgt es durchaus nicht . . .«
»Sind die Wahnvorstellungen wiedergekehrt?«
»Ja, während des Schlummers. Mit dem Erwachen kommt immer dieselbe Sehnsucht zum Ausdruck.«
»Nach ihrem Vater?«
»Ja. Nun ist es acht Uhr. Sie sind jetzt zwei Nächte dageblieben, heute werde ich mit Rosalie wachen, und Sie müssen nach Hause fahren und sich gründlich ausruhen.«
»Gut, wir wollen's so machen, aber bis Mitternacht bleibe ich hier.«
Er trat ans Bett. Unter den zum Schutze gegen das Licht zugezogenen Vorhängen ließ sich ein unregelmäßiges, pfeifendes, mühsames Atmen und ein undeutliches Murmeln und Flüstern vernehmen. Talvanne beugte sich herab, und nachdem sein Auge sich an das Dämmerlicht gewöhnt, unterschied er die von der Krankheit entstellten und verzerrten Züge des jungen Mädchens. Von der rosigen Frische, die ihrem Gesichtchen solchen Zauber verliehen, war jede Spur dahin. Ein paar unheimlich rote Flecken auf den Wangen ausgenommen, war sie totenblaß, und der immer noch krampfverzogene Kiefer war eingesunken und abgemagert. Von den fieberverbrannten Lippen kamen einzelne Worte, immer dieselben und immer denselben Gedankengang verratend. Auf ihrer Stirn standen große Schweißtropfen; ihre Glieder zuckten unter der Decke, als ob sie auf einem glühenden Rost läge.
Talvanne schüttelte den Kopf, seufzte tief auf und setzte sich dann neben Robert. Schweigend lauschten beide dem einförmigen Ticken der Standuhr. Gegen halb neun Uhr wurde die Thür leise und sachte geöffnet, und die alte Rosalie erschien. Sie ging auf die beiden Herren zu und flüsterte ihnen vorsichtig ins Ohr, daß sie ihre Mahlzeit in den kleinen Salon heraufgeschickt habe.
»Es ist des Herrn Mittagessen,« sagte sie mit mitleidigem Ton. »Er hat nichts angerührt.«
Auch Talvanne und Robert schienen wenig Eßlust zu verspüren.
»Man darf nicht so von Kräften kommen,« redete sie ihnen zu. »Sie werden sie schon noch brauchen können.«
Sie standen auf und folgten der getreuen Dienerin in den kleinen Salon, wo auf einem Tischchen für beide gedeckt war. Todestraurig setzten sie sich einander gegenüber und aßen schweigend ein paar Bissen – welch fröhliche Mahlzeiten hatten sie nicht sonst unter diesem Dache eingenommen!
Rameau hatte sich, seit Talvanne das Zimmer verlassen, nicht von der Stelle gerührt. Wie leblos lehnte er in tiefem Nachdenken in seinem Stuhl. Mehrmals war die Haushälterin hereingekommen und hatte alles aufgeboten, um ihn zum Essen zu bewegen. Sie hatte einen kleinen Tisch neben ihn rücken wollen, damit er gar nicht aufzustehen brauche. Da hatte sich seine Stirn noch tiefer gefurcht und er hatte ein ärgerliches: »Weg mit dem Zeug!« gemurmelt, um gleich wieder in seine wilden, trostlosen Gedanken zu versinken. Wie er so da saß, in dem schwarzen, weiten Hausrock, mitten unter seinen Büchern, gemahnte er an den alten Faust, der über die Geheimnisse des menschlichen Daseins brütet.
Seit zwei Tagen und Nächten hatte er nicht eine Sekunde die Augen geschlossen, und doch glaubte er, nie ein stärkeres Schlafbedürfnis empfunden zu haben. Aber rast- und ruhelos arbeitete sein Gehirn, alles Wirkliche und Greifbare um ihn her versank in nichts, und mit mächtigem Flügelschlag hob sich sein Gedanke hoch und höher, bis in die Regionen der ewigen Einsamkeit, wo nach der Dichter Sang die Seelen der Verstorbenen kreisen, und eng umschlungen wie Francesca da Rimini und Paolo sah auch er ein ehebrecherisches Paar dahinschweben, klagend und verzweiflungsvoll, unauflöslich aneinander geschmiedet durch die Qual des Gewissens. Er vermochte es nicht, den Blick von diesen Gestalten abzuwenden, und ein namenloses Weh preßte ihm das Herz zusammen. Immer wieder versuchte er es, sie einzuholen, und immer blieb die Entfernung zwischen ihm und ihnen die nämliche. Mit leidenschaftlicher Hast verfolgte er sie, allein sie verloren sich in der wüsten Unendlichkeit, und schaurig flatterten ihre lang herabhängenden schwarzen Schleier um sie her; ohne Rast und ohne Ermüdung zogen sie ihre Bahn und ihm war, als ob er ewig und endlos hinter ihnen herjagen müßte, gestachelt und verzehrt von dem wilden Verlangen, sie festzuhalten und zu züchtigen.
Stunde auf Stunde verfloß; der düstere Wahn, dem er zur Beute ward, wich nicht. Beruf, Welt, Freunde, alles war versunken und vergessen, und er lebte traumumfangen nur noch in den Gebilden seines überreizten Gehirns. Rosalie trat wieder bei ihm ein; er hörte sie nicht; sie sprach ihn an und beschwor ihn, sich zu Bett zu legen, nicht abermals die ganze Nacht in seinem Lehnstuhl zu verbringen, er gab ihr keine Antwort. Nach und nach verstummte jedes Geräusch; das Haus lag schweigend und dunkel wie ein Grab. Talvanne war längst fort, die Nacht ging zur Neige, die Lampen brannten trübe und waren dem Erlöschen nahe, und immer noch sann und träumte Rameau mit umwölkter Stirn und starrem Blick und einem zornigen, drohenden Zucken der Lippen.
Es schlug zwei Uhr. Ein plötzlicher Frost, die erste körperliche Empfindung, deren er sich seit achtundvierzig Stunden bewußt wurde, schüttelte ihn und machte ihn zusammenschaudern. Verstört sah er um sich und bemerkte, daß kein Feuer mehr im Kamin brannte, sein Zimmer öde und verlassen und die Nacht weit vorgeschritten war. Die Gegenwart mit ihrem Jammer tauchte in seiner Erinnerung auf; eine flüchtige Vision zeigte ihm Adriennes helles, heiteres Zimmer, in dem sie in Schmerzen, als eine Sterbende lag, und ein stechendes Weh durchfuhr wie ein scharfer Pfeil sein Herz. Er sagte sich, daß er nicht der einzige sei, der zu leiden habe, und daß diese freiwillige Hingabe an den Jammer ungeheuerliche Selbstsucht sei. Aber sofort wallte der Zorn wieder heiß in ihm auf, und er riß das Mitleid, welches gewagt hatte, seine Stimme zu erheben, mit der Wurzel aus. Ein Leiden, das dem seinigen zu vergleichen war, konnte, durfte es nicht geben. Was lag an den andern? Stand er jetzt nicht ganz allein? Welches Band neu zu knüpfen konnte ihm die menschliche Schwachheit raten? Das, welches ihn mit dem Verbrechen, dessen Opfer er war, verband? Nein, nie und nimmer! Einer solchen Feigheit wollte er sich nicht schuldig machen.
Er erhob sich und ging mit schwerem, schleppendem Schritt umher. Ringsum Schweigen. Er war äußerlich wie innerlich abgetrennt von der Menschheit und einsam. Die Oede, die er durch Heftigkeit und Härte um sich geschaffen, sie blieb, man löste sich von ihm los – das fühlte er – so gut wie er sich von den andern losgelöst. Hatte ihm nicht sogar Talvanne gesagt, daß er nicht wiederkehren werde? Talvanne! War das möglich? Sollte Rameaus letzte Stunde kommen, ohne daß der Freund ihm die Augen zudrückte? Allein sein, allein wie ein freiwilliger Paria, war es nicht das gewesen, wonach ihn verlangt?
Langsam ging er nach der Thür und öffnete dieselbe; er brauchte kein Licht, jeder Winkel des Hauses war ihm ja bekannt. Sein Fuß bedurfte der Hilfe des Auges nicht, um hier allenthalben seinen Weg zu finden. Er durchschritt den Flur und gelangte an den Anfang der Treppe, die zu Adriennes Gemächern führte. Ueberall tiefes Schweigen, kein Gehen und Kommen, kein Schleichen und Flüstern im oberen Stockwerke, nichts was Nachtwache und treue Krankenpflege verraten hätte. Hatte man auch sie verlassen und vernachlässigt oder – ein Schauer überlief ihn – war alles vorüber? War sie tot?
Er fing an sich im Dunkeln die Treppe hinanzutasten; von Stufe zu Stufe lockte ihn eine Neugierde, deren er sich nicht zu erwehren wußte. Wen er wohl dort oben vorfinden würde? Was er zu sehen bekäme? Vielleicht Menschen, die, vor Leid zusammenbrechend, im Schein der Totenkerzen bei einem starren, wächsernen Gesicht die letzte Wache hielten! Vielleicht würde er bald Seufzer, Gebete und Schluchzen vernehmen! Er ging weiter und weiter, gelangte bis an den Salon, der offen stand, und trat ein. Durch eine Spalte der nur angelehnten Thür ins Nebenzimmer fiel ein schmaler Lichtstreifen, und er vernahm eine halblaute Stimme, die Psalmen zu singen schien. Er trat noch einen Schritt weiter vor, näherte sein Gesicht der Thüröffnung und blickte hinein.
Beim schwachen, zitternden Schein eines Nachtlichtes erkannte er Robert, der ganz nahe am Bett, fast von den Vorhängen desselben verdeckt, saß. Er war es, dessen Stimme er gehört; er sprach, aber die, zu der er sprach, hörte ihn nicht. Sie war abermals von den entsetzlichen Fieberphantasieen befangen, die ihr nur von Zeit zu Zeit eine kurze Spanne der Klarheit ließen, um sie dann mit neuer Gewalt zu erfassen und die ihr Leben langsam aber sicher zu verlöschen drohten. Um sie diesem Schlummer zu entreißen, der ein Vorläufer des Todes zu sein schien, redete der Verlobte mit ihr, bat und beschwor sie mit glühender, jammervoller Innigkeit. Es war ein ergreifendes und zugleich unheimliches Bild mitten in diesem Dunkel und diesem Schweigen: der Lebende, der die Halbtote mit Liebesworten und Liebeskraft zu erwecken und festzuhalten suchte.
Mit gierigem Ohr lauschte Rameau, und Robert, der nun, nachdem Talvanne sich entfernt, Rosalie sich zur Ruhe gelegt und der Vater sich feindselig und eigensinnig von der Welt verschlossen hatte, ganz allein zu sein glaubte, ließ dem Jammer seines Herzens freien Lauf.
»Ist es möglich, daß wir dich verlieren sollen,« flüsterte er über Adriennes leblose Hand gebeugt, »dich, du Süße, Gute, Liebliche? Was wird unser Leben sein ohne dich? Reue und Verzweiflung werden die verzehren, die dich von sich gelassen! Dann wird man ermessen, welche Leere dein Scheiden gelassen, dann wird man dich zurückrufen, zurückfordern, aber keine Stimme wird mehr zu dir dringen! Dann wird es heißen: zu spät! Und jetzt, jetzt würde ein einziger Lichtstrahl, der in die Nacht des Wahnsinns fiele, ein einziger, vernünftiger Gedanke, der diesen unbegreiflichen Wahn erhellte, hinreichen, um dich zu retten . . . Wenn der, nach dem deine Seele schreit, den du in jedem lichten Moment so flehentlich rufst, sich herbeiließe, an dein Bett zu treten, wenn er das Unrecht, das ihm widerfahren, und für das du wahrhaftig nicht verantwortlich bist, vergessen, und sich deiner Liebe, deiner Anmut, deiner Engelhaftigkeit entsinnen wollte, dann wäre dein Leben gesichert, denn sein Zorn ist deine Krankheit, daran, daß er dich verläßt, stirbst du. Und ich, ich bin dazu verdammt, unthätig solch himmelschreiende Ungerechtigkeit mit anzusehen, solche Feindseligkeit zu ertragen, und kann nichts, nichts für dich thun! . . . Und doch hast du mich lieb, aber die Liebe zu dem, der dich tötet, ist mächtiger in dir! Armes Kind, wie glühend deine süße, kleine Hand ist! Hörst du mich nicht? O erwache, raffe dich auf, lieg nicht immer so leblos da und murmle Worte, deren Sinn wir erraten . . . Dein Vater wird kommen . . . ja, o ja, auf meinen Knieen werde ich ihn darum anflehen . . . Dein Pate hat es nicht verstanden, ihm das Herz zu rühren, er ist hart und heftig mit ihm verfahren! So darf man dem Meister nicht kommen . . . den Thränen hätte er nicht widerstanden . . . und ich werde ihn rühren und erweichen, wenn er anders noch ein Herz in der Brust hat . . . O Geliebte, dir Erleichterung zu schaffen, würde ich alles überwinden, vor nichts zurückschrecken! Die Macht, dich zu retten, wie gerne würde ich sie mit meinem Leben bezahlen! . . . Dich haßt er, dich? . . . Und wegen irgend einer vermoderten Thorheit! Und wenn du heute wieder gesund und frisch und glücklich wärst und mich verließest, um einen andern zu lieben, ich könnte dir kein Leid zufügen, nichts Böses wünschen . . . ich würde sterben vor Jammer und Schmerz, und mit dem letzten Atemzug würde ich dir Glück und Freude erflehen. Dich hassen! Ist es denn möglich? Es kann ja nur eine vorübergehende Geistesstörung sein! O verlaß uns nicht, habe Geduld, warte es ab, er wird dir zurückkehren, Kummer und Leid werden schwinden, aus deinen lieben Augen werden wir wieder die helle Fröhlichkeit strahlen sehen und dein süßer Mund wird lachen und plaudern . . .«
Ganz außer sich preßte er die schmale Hand des jungen Mädchens, als ob er die Krankheit von ihr nehmen und ihr seine Gesundheit geben könnte. Er fühlte die abgemagerten Fingerchen sich unruhig bewegen, und als er sich erhob, sah er, daß Adrienne mit offenen Augen in die Nacht starrte. Mit großer Anstrengung wandte sie den Kopf und sah den Verlobten an.
»Du bist's, Robert! . . . Ist der Pate nicht mehr da?«
Sie zögerte, dann fragte sie noch leiser als zuvor: »Und wo ist der Papa? Ich möchte ihn so gerne sehen!«
»Er war da, eben vorhin, Liebste, aber du hast geschlafen,« erwiderte der junge Mann.
Ein todestrauriges Lächeln zuckte um ihre Lippen.
»Ja wohl, er kommt immer, wenn ich schlafe . . . ihr sagt es . . . aber nie ist er da, wenn ich aufwache, nie . . .«
Sie schwieg, und erst nach einigen Minuten fuhr sie mit herzzerreißendem Ausdruck fort: »Und das thut mir so weh . . . o so furchtbar weh . . .«
Ihr Blick wurde wieder irr und unstät, der Kopf sank aufs Kissen zurück, ein paarmal flüsterte sie noch: »O so weh! . . . So weh . . .« dann begann das Delirium von neuem.
Verzweifelnd drückte Robert seine brennende Stirn auf das fieberheiße Händchen, das sie ihm nicht entzogen hatte, und Rameau hörte ihn schluchzen. Noch gebeugter, noch düsterer, noch unglücklicher, als er gekommen, entfernte sich der Doktor, schlich sich im Dunkel davon wie ein Verbrecher, erschrocken und geängstigt dies Bild voll Jammer und Todesangst fliehend. Er ging leisen Schritts die Treppe hinab und trat in sein Zimmer.
Er konnte nicht sitzen, er mußte umhergehen, sich bewegen, eine heftige Erregung gärte in ihm. Seine Gedanken hatten eine andre Richtung genommen. Nun waren es nicht mehr Conchita und Münzel, die seine Phantasie ihm vor Augen führte; das ehebrecherische Paar war verschwunden und an seiner Stelle beschäftigte ihn die junge Kranke, der er körperlich so nahe war, und von der ihn innerlich so unermeßliche Weiten trennten. Er sah das lichte, freundliche Zimmer vor sich, die weißen Vorhänge, die den süßen, friedlichen Schlummer des Kindes so oft behütet hatten, und aus deren Schatten nun das ungleiche Atmen eines qualvollen Fieberschlummers zu ihm drang. Das Geschöpf, das sich dort in Schmerzen wand, war dasselbe süße Mädchen, das er so geliebt, dessen Schmeichelworte ihm die Seele bewegt, und er machte keinen Versuch, sie zu heilen.
Er wollte sich vor sich selbst rechtfertigen. »Was geht mich das Mädchen an?« sagte er sich. »Ich kenne sie nicht, und wäre es nicht um die Erklärung, welche die Welt von mir verlangen würde, und vor der ich zurückschrecke, ich würde sie aus meinem Hause entfernt haben. Ich liebe sie nicht, ich kann sie nicht lieben. Das hieße all dem Lug und Trug noch einen weiteren hinzufügen! Den Bastard dieser Elenden und ihres Liebhabers sollte ich lieben? Die Schande anerkennen, gutheißen? O! Das fehlte mir gerade noch, dazu müßte ich denn doch erst geistesschwach und kindisch geworden sein! Unsinn! Schwachheit! Die andern konnten mich entehren, ich selbst werde es nicht thun!«
Zum erstenmal erhob sich, erst noch ganz leise und schüchtern, eine Stimme in ihm, die völlig andrer Meinung war. Wer wüßte denn darum? Talvanne? Ach, der hat ja selbst um Barmherzigkeit und Liebe für sie gebeten! Robert? Der wird dir's sein Lebenlang danken! Aber sofort lehnte er sich wieder gegen diese feige Ratgeberin auf und verschwor sich, so treulosem, schwächlichem Zureden die Seele nicht aufzuthun. Er versuchte sich ganz und gar mit Gleichgültigkeit zu wappnen, aber das wollte nicht recht gelingen. Vergebens mühte er sich, an andre Dinge zu denken, seine Einbildungskraft mit andern Gegenständen zu beschäftigen, aber immer wieder tauchte das nämliche Bild vor ihm auf: das weiße, wie zu glücklichen Träumen geschaffene Bett, in dem die Kleine, von Fieberglut verzehrt, von Schreckgestalten geängstigt, so jammervoll daniederlag. Immer zudringlicher wurde diese Vorstellung; sie steigerte sich in eigentümlicher Weise und er empfand ein heftiges Verlangen, alles, was vor sich ging, zu erfahren.
Beinahe war er versucht zu klingeln, um sich Nachricht geben zu lassen. Darin lag aber immer noch kein Wiederaufleben seiner Zärtlichkeit, er fühlte sich nicht zu dem Kind hingezogen; es kam ihm vor, daß er gar keinen Anteil mehr an ihr nehmen würde, sobald sie wieder hergestellt wäre. Jetzt aber war sie krank und er sagte sich: »Nur weil sie krank ist, beschäftigt sie mich.« Diese Bemäntelung seiner inneren Anfechtung und Aufregung erfüllte ihn mit Genugthuung. Der Tag brach an; er öffnete ein Fenster und setzte sich wieder in seinen tiefen Lehnstuhl. Die frische, reine Morgenluft that ihm wohl; er atmete sie mit Lust ein, ging dann an seinen Tisch und griff nach einem Buch, und bis zum Frühstück las er ruhig und gesammelt.
Rosalie, die morgens eintrat, war fast eben so entsetzt wie überrascht, ihn so ruhig zu finden, wie wenn auf der weiten Welt nichts Außergewöhnliches vorgefallen wäre. Sie hatte darauf gerechnet, daß die Erschöpfung, die mit Notwendigkeit auf diesen Sturm folgen müsse, eine Wandlung in dem Geisteszustand ihres Gebieters hervorbringen werde, und jetzt, da sie ihn niedergeschlagen, elend und dem Einfluß seiner Umgebung preisgegeben zu finden erwartet, hatte er sich schon selbst aufgerichtet und war so kraftvoll und sicher in sich wie je. Sie fragte sich, ob er denn einen Pakt mit den Unsichtbaren habe, aus dem ihm geheimnisvolle Kräfte zuströmten. Er nahm von seiner gewohnten Mahlzeit, kaltem Fleisch und Obst, die sie ihm auf einer Platte gebracht, ein paar Bissen zu sich und trank ein Glas Wasser. Noch hatte sie seine Stimme nicht wieder vernommen, und sie schickte sich an, ohne ein Wort das Zimmer zu verlassen. Erst als sie schon an der Thür war, gewann er es über sich, eine Frage zu stellen, die ihm auf den Lippen brannte.
»Ist Doktor Talvanne da?«
»Ja, Herr Doktor,« war die Antwort. »Er ist oben mit Herrn Robert.«
Sie nannte Adriennes Namen nicht, sagte nicht: »bei Ihrer Tochter«, nur »oben«, das war alles. Und war das nicht auch alles, was er hatte wissen wollen? Sie wollte hinzusetzen: »es steht nicht gut,« aber sie bezwang sich und schwieg. Auf Rameaus Zügen lag ein Schmerzensausdruck, und sein vorher blasses Gesicht war jetzt erdfahl; mit einer hastigen, ärgerlichen Handbewegung gebot er der alten Dienerin, ihn allein zu lassen.
Talvanne hatte also Ernst gemacht mit seiner Drohung – er kam nicht mehr zu ihm. »Oben« war er, bei seinem Patenkind, aber er hatte sich nicht im unteren Geschoß aufgehalten, um seinem alten Kameraden die Hand zu drücken. Das war seit vierzig Jahren zum erstenmal unterblieben. Eine tiefe Traurigkeit überkam ihn; wohl hatte er jedes Wort gehört, was Talvanne ihm gesagt, aber er hatte nicht an die Möglichkeit seiner Rache geglaubt. »Jetzt bin ich allein,« sagte er sich, »alles versagt mir zu gleicher Zeit. An nichts kann ich mich halten – nun ist es völlig und für immer öde und leer um mich.«
Das Gefühl dieser Oede und Verlassenheit machte ihm einen fürchterlichen Eindruck. Er hatte Schwindel und er fragte sich mit Entsetzen, ob das, was er empfinde, nicht Furcht sei. Ein ihm bisher fremder Druck schnürte ihm das Herz zusammen, er grollte mit sich und mit den andern. Eine schwere Last schien ihn erdrücken und ersticken zu wollen, und fast wollte ihm scheinen, als ob dies Gewissensbisse seien. Mit Empörung wies er den Gedanken von sich. Gewissensbisse – worüber? Was hatte er sich vorzuwerfen? War er denn der Schuldige? Er lächelte bitter: Arme Menschheit, die sich immer auf dem Meer der Träume hin und her schaukelt und vor der Wirklichkeit erschrickt! Schwachheit, Schwachheit und nichts als Schwachheit! Eine Veränderung in seinen Lebensgewohnheiten, eine Umgestaltung in seinem Tageslauf, und selbst er, der starke Geist, verlor das Gleichgewicht seiner Fähigkeiten! Talvanne grollte und bot ihm Trotz, und diese augenblickliche Feindseligkeit veranlaßte ihn, alles schwarz zu sehen und sich zu ängstigen wie ein Kind, dem vor Gespenstern graut. Gespenster, Phantasiegebilde! das war ja all diese Traurigkeit, all diese Schwermut; sobald er fest hinsah, mußten sie in nichts zerfließen.
Lange Stunden arbeitete er heute mit aller Macht, sich moralisch zu kräftigen, sich innerlich zu festigen. Er setzte all seine Willenskraft und seinen vollen Mut ein, um zum Ziel zu gelangen, und vermittelst großer Anstrengungen erreichte er dasselbe auch. Es gelang ihm, eine Gewissensprüfung anzustellen, aus der er frei aller Schuld gegen die andern hervorging, ebenso frei, wie sie schuldig waren. Er glaubte auf Talvannes Gerechtigkeitssinn bauen zu können und tröstete sich mit der sicheren Hoffnung, daß der Freund zu ihm zurückkehren werde. All seine Festigkeit stand ihm wieder zu Gebot, und er hatte sich selbst überzeugt, daß er so, wie er gehandelt, hatte handeln müssen. Seine Kollegen, die sich zum Zweck der jeden Tag stattfindenden Konsultation einfanden, empfing er wie sonst und er schien ganz zu übersehen, daß Talvanne sich ihnen nicht angeschlossen hatte. Er besprach den Fall und die bisher eingeschlagenen Wege zur Bekämpfung des Fiebers, ließ sich Trost und Hoffnung einreden und spielte die Rolle des besorgten Vaters mit einer grauenhaften Sicherheit und Ruhe.
Als aber gegen sechs Uhr abends die Dämmerung hereinbrach, kam von neuem die Unruhe über ihn. Er konnte sich nicht still verhalten und fing wieder an, mit großen Schritten auf und ab zu gehen. Auf sein Klingeln erschien Rosalie; er verlangte Licht, und während sie ihm die Lampe anzündete, fragte er heute zum zweitenmal: »Ist Doktor Talvanne hier?«
Erstaunt und vorwurfsvoll sah ihm die alte Dienerin ins Gesicht.
»Ach, Herr Doktor, seit heute früh schon! Er ist den ganzen Tag oben!«
Wieder dies »oben«, nicht »bei dem Fräulein«, wie sie sonst zu sagen pflegte, wenn sie förmlich sprach, oder »bei Adrienne«, wie sie oft vertraulich sagte. Oben! Rameau stellte sich vor die alte Frau hin und bemerkte plötzlich, daß große Thränen an ihren Wimpern hingen. Es war, als ob sein Atem ins Stocken gerate, und seine Stimme klang sehr unsicher, als er fragte: »Steht es weniger gut?«
Jetzt brach Rosalie in fassungsloses Schluchzen aus.
»O, Herr Doktor! Herr Doktor!« stammelte sie. »Die Kleine, die wir in Baumwolle gewickelt und wie unsern Augapfel behütet haben vom ersten Schrei an! . . . Keine Prinzessin ist so verhätschelt worden . . . Und sie nun so elend hinsterben sehen! Mein Gott! Mein Gott! Muß es denn sein, daß wir sie hergeben, wie wir ihre Mutter hergeben mußten?«
Bei diesen Worten erinnerte sich Rameau plötzlich, daß er der Obhut dieser Frau, die da weinend vor ihm stand, einst Conchita auf ihren Gängen zu Münzel anvertraut hatte. Er sah nicht mehr die treue Dienerin in ihr, die um das Leben des geliebten Kindes zitterte, sondern die willige Helferin eines ehrlosen Weibes. Mit einem Blicke, der sie zusammenschrecken ließ, und in schneidendem Tone warf er die Worte hin: »Da Sie es waren, welche die Mutter zu ihrem Liebhaber geführt, werden Sie sehr genau wissen, daß jenes Mädchen nicht mein Kind ist! Wozu mir die Komödie vorspielen und mich rühren wollen? Sie sind um kein Haar besser gewesen, als die andern . . . Sie haben alles gewußt, nicht?«
»Bei meinem ewigen Heil, erst auf ihrem Sterbelager hat meine arme Frau mir alles gesagt . . . und ich, ich hätte mein Leben gegeben, es ungeschehen zu machen.«
»Heuchelei und Lüge jedes Wort!« schrie Rameau wild. »Lassen Sie mich allein!«
Erschrocken trat sie zurück und rang flehend die Hände.
»Aber die arme Kleine, was kann denn sie dafür? . . .«
»Leute wie Sie sind es, die mich von ihr fern halten,« erwiderte Rameau wütend. »Fort – hinaus mit Ihnen!«
Er ging mit solch entsetzlichem Ausdruck auf sie zu, daß sie kein Wort mehr zu sagen wagte und sich schleunigst zurückzog. Als er allein war, erschrak er selbst über das stürmische Klopfen seines Herzens. Er hatte geglaubt, wieder vollkommen Herr über sich zu sein, und nun hatte er sich durch ein ungeschicktes Wort, eine unzeitige Bemerkung abermals zu solcher Heftigkeit hinreißen lassen, und zwar gegen eine Frau, deren unermüdliche, treue Hingebung er in fünfundzwanzig Jahren nach Gebühr hatte schätzen lernen. Weil sie ein Unglück nicht zu verhindern vermocht, trug sie die Schuld daran? Ach, er wußte es ja, daß sie die Wahrheit sprach und ihn noch niemals belogen hatte!
Daß er sich selbst auf solcher Schwachheit ertappen mußte, daß er so wehr- und waffenlos war, stimmte ihn von neuem tief traurig. Ein Diener brachte ihm seine Mahlzeit, doch er ließ sie unberührt wieder abtragen. Um seine Geisteshoheit, die ihn hoch über jeden Richterspruch stellte, war es geschehen; der eine Augenblick hatte ihn wieder in die Reihen der gewöhnlichen Sterblichen, die von ihrem Blut und der Reizbarkeit ihrer Nerven abhängig sind, zurückgestoßen. Das Haupt tief gesenkt, verharrte er in finsterem Nachsinnen, und wilde, stürmische Gedanken wogten in seiner Seele. Seit er keinen Sturm, keinen Ueberfall von Talvannes Seite mehr zu fürchten hatte, geriet seine ganze Entschlossenheit ins Wanken. Rosalies Versuch einer Einmischung hatte noch einmal eine Empörung zur Folge gehabt. Wenn man ihm in seinem letzten Bollwerk beizukommen suchte, da verteidigte er sich bis aufs Blut; ließ man ihn allein und unangefochten, so war es um seine Widerstandsfähigkeit gethan. So stark er sich den andern gegenüber gezeigt, so wenig war er es gegen sich.
Wie gestern, überkam ihn auch heute mit unwiderstehlicher Gewalt das Bedürfnis nach Kenntnis der Vorgänge in seinem Hause. Das Bild der jungen Kranken mit Robert an ihrer Seite, sein rührendes Flehen, daß sie nicht sterben möge, trat wieder mit voller Deutlichkeit vor seine Seele, und wieder flüsterte ihm die einschmeichelnde Stimme, die sich schon einmal hatte vernehmen lassen, zu: »So befriedige doch dein Verlangen. Geh hinaus, sieh nach; wer soll denn darum wissen?« Immer wieder dieser heuchlerische Trost, der ihn zur Feigheit antrieb! Das empörte ihn, und mit erhobener Stimme, wie wenn er mit einem unsichtbaren Gegner spräche, erklärte er: »Ich gehe nicht!«
Die Zeit verstrich; es schlug Mitternacht. Die Stille um ihn her ward von keinem Laut mehr unterbrochen; kein Wagen rollte mehr die Straße entlang, lautlose, schweigende Einsamkeit umfing ihn. Man hätte annehmen können, es sei insgeheim alles so angeordnet, daß er ungehindert und unbemerkt hinaufgehen könne, sobald er nur wollte. Er machte sein Fenster auf; der Kopf war ihm so heiß und schwer. Helles Mondenlicht lag mit silbernem Schimmer auf dem Buschwerk des Gartens; eine Nachtigall fing im Fliederbusch zu flöten an und die Triller des liebetrunkenen Vögeleins standen in so grellem Gegensatz zu der Grabesstille, die drinnen herrschte, daß ihm war, als erhebe der gefiederte Sänger seinen Gesang auf einer Gruft. Er wollte denselben nicht länger hören, und warf hastig das Fenster zu.
Immer noch schwankend und zögernd, ging er im Zimmer hin und her; das Verlangen, im oberen Stockwerk nachzusehen, quälte ihn förmlich. Plötzlich riß er die Thür auf, ging hinaus, im Dunkeln den Flur entlang, die Treppe hinauf und trat, ohne das leiseste Geräusch zu verursachen, in den kleinen Salon, wo er, wie gestern, die Schlafzimmerthür nur angelehnt fand. Er hörte sprechen und schlich sich näher. Wieder saß eine männliche Gestalt in dem Lehnstuhl neben dem Bette, aber diesmal war es nicht Robert, sondern Talvanne. Der von mehreren Nachtwachen übermüdete Greis, für den die Aufregungen der letzten Tage ohnehin zu viel gewesen waren, hatte dem Schlaf nicht länger widerstehen können und war eingenickt. Das Sprechen, das er vernommen, ging von der Kranken aus, die in ihrem unheilbaren Delirium da lag und unaufhörlich Wehelaute ausstieß: sie erschien ihm blässer, magerer, mehr vom Fieber abgezehrt als gestern.
Auf den Zehenspitzen, wie ein Dieb, trat Rameau über die Schwelle und sogar ganz nahe an das Bett, ja er fand den Mut, das Kind genau ins Auge zu fassen. Die Verheerungen, welche die Krankheit äußerlich angerichtet, erschreckten ihn, sie deuteten auf eine tiefe Entkräftung und verkündigten dem Arzte die nahe bevorstehende Katastrophe. Die Augen des süßen Geschöpfchens waren geschlossen; ihr Blau gemahnte ihn nicht an den treulosen Freund; ihr blondes Haar war tief beschattet; sein Goldton erhob keine Anklage gegen die Ehebrecherin. Er sah nur den schmerzverzogenen Mund, dessen heiße Lippen ihn so oft geküßt, ihm so viele süße, kindliche Liebesworte zugeflüstert. Er sah nur die kleinen Hände, die seinen weißen Bart so sanft und zärtlich gestreichelt hatten, und nun im Fieber zuckten. Schmerz und Sehnsucht, Reue und Verzweiflung machten ihn erbeben. Wie gern, wie gern hätte er seine Lippen auf diese weiße Stirn gedrückt, und doch – sie flößte ihm Grauen ein!
Krampfhaft rang er die Hände in Schmerz und Angst. O, die Qual, der Fluch, nicht neben diesem Schmerzenslager in die Kniee sinken zu können, nicht das Recht zu haben, diese zarte Gestalt zu umklammern und sie mit starkem Arme vor dem Tode zu schützen! O, diese Elenden! Sie hatten sein Herz vergiftet, sein Denken befleckt, seinen Glauben zerstört und zwischen ihm und dem Kinde, das er anbetete, einen Abgrund von Schande und Ekel aufgethan! Heiß und bitter drängte es sich ihm auf die Lippen, und angesichts ihres sterbenden Kindes rief er die Schuldigen zu Zeugen ihres Frevels!
Plötzlich erbebte der starke Mann vom Wirbel bis zur Sohle. Ein schwaches Stimmchen ließ sich vernehmen, und mit einem Klange voll unsagbaren Jubels ertönte es: »Papa! O, Papa! Da bist du ja – endlich!«
Erschüttert wollte Rameau zurückweichen, aber die zitternde kleine Hand hatte ihn gefaßt, und er fühlte sie heiß auf seinem Arme ruhen. Er sah Adriennes Augen fest auf sich gerichtet, ob sie aber blau waren oder nicht, konnte er nicht sagen, denn sie standen voll Thränen. Noch einmal versuchte er es, sich loszumachen, aber wieder erhob sich die Stimme, und noch rührender, noch inniger flehte sie: »O, Papa! Ich bitte dich, verlaß mich nicht! O bleibe da!«
Regungslos, wie unter dem Bann eines schweren Alps, stand er da, es schwirrte ihm vor den Augen, ein dumpfes Getöse erfüllte sein Gehör, die Kniee versagten ihm fast den Dienst. Von neuem ließ sich die Stimme hören, aber schwächer, so daß er glaubte, es sei wieder die kleine Adrienne, wie damals, da er bei den ersten Kinderkrankheiten an ihrem Bettchen gesessen.
»O, Papa, ich bin recht . . . recht krank! Weder der Pate, noch Robert, noch deine Freunde können mir helfen! . . . Nur du, du! O wenn du mich wieder lieb haben könntest wie sonst!«
Sie stützte sich auf ihren Arm und es war herzzerreißend, sie sagen zu hören: »Ich möchte doch so gern bei euch bleiben! Ich will nicht fort . . . ich möchte leben! . . . O, Papa! Du hast ja immer allen Kranken geholfen, du wirst doch dein Kind nicht sterben lassen?«
Jetzt löste sich der Druck auf Rameaus Brust in ein wildes Schluchzen: wie ein vom Blitz getroffener Eichbaum sank er an dem Bette nieder, und mit den ersten wohlthuenden Thränen, die er seit der Schmerzensstunde vergoß, drückte er das Kind an sich, überhäufte es mit leidenschaftlichen, tollen Liebkosungen und stammelte: »Nein, nein, mein Liebstes! Mein Herzenskind! Mein einziges Glück, mein Schatz, mein Heiligtum, du wirst nicht sterben! . . . Du sollst leben, sollst mein Trost sein, mich lieb haben . . .«
»O ja! Das bist du wieder,« hauchte sie ganz leise und unsäglich sanft. »Ich habe dich wieder . . . du bist's! . . . O du darfst mich nicht mehr schlafen lassen, denn siehst du, da kommen so böse Träume und immer meine ich, du stoßest mich von dir und drohest mir . . .«
»Hab keine Angst mehr . . . du sollst schlafen, schlafen, um gesund zu werden.«
Er stand aufrecht da, die hohe Gestalt stolz gehoben, als ein Kämpfer gegen den Tod, dem er Trotz zu bieten schien – der Retter, wie er stets an jedem Krankenbett erschienen war. Adrienne lächelte ihn an; er legte ihr die Hände auf die Stirn und nach wenig Augenblicken ließ die Spannung ihrer Züge nach, und ruhig, wie wenn ein gebieterischer Wille ihren Leiden Einhalt geboten hätte, ruhte sie.
Eine Weile lang blieb er in seliger Betrachtung vor ihr stehen, dann wandte er sich um und begegnete Talvannes Blick. Rameau legte den Finger an den Mund, um ihm Schweigen zu befehlen, und Talvanne trat näher, schlang den Arm um seinen Freund und küßte ihn. Hand in Hand sahen sie sich ins Auge und aus beider Blick leuchtete überirdische Freude. Schließlich zog Talvanne den Doktor mit sich in den Salon und flüsterte ihm mit lachenden Augen und erleichtertem Aufseufzen zu: »Ich werde mich jetzt zu Bett legen können, nicht, mein Alter?«
Rameau nickte bejahend, sagte leise: »Auf morgen früh!« und verließ den Freund, um sich an Adriennes Bett zu setzen.