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Der erste Ausflug zu Pferde lief ohne jeden Zwischenfall ab. Frau von Ayères und Edmee ritten in Begleitung Ferdinands höchst vergnügt im Park spazieren und kehrten nach Verlauf von zwei Stunden wieder zurück. Die Bewegung und die frische Luft hatten Regines bleiche Wangen gerötet. Ihr Gemahl sagte ihr einige Artigkeiten über ihr gutes Aussehen, worüber sie hoch entzückt war. Doch am nächsten Morgen fühlte sie sich recht unwohl und mußte einsehen, daß derlei Anstrengungen für ihr Alter nicht mehr taugten. Nicht ohne Traurigkeit überredete sie ihre Tochter, allein zu reiten, indem sie ihr versprach, im Wagen zu folgen, was wohl fast das Gleiche wäre, und ihr viel bequemer und angenehmer sei. Indessen fand sich, daß die schönsten Wege für die Kutsche unfahrbar waren, und der Ausflug erlitt dadurch mannigfache Störungen.
»Ich sehe wohl, daß ich euch nur im Wege bin,« sagte Frau von Ayères. »Es ist ein großes Unglück, nicht immer jung bleiben zu können. Aber, was willst du, mein liebes Kind, es ist nicht zu ändern, wir können nicht mehr gleichen Schritt halten . . . Reitet ihr beide allein aus und laßt mich ruhig in meinem Lehnstuhl, da ich mich fast lahm fühle.«
Fräulein von Croix-Mort erklärte jedoch in solch entschiedenem Tone, daß sie ihrer Mutter Gesellschaft leisten werde, daß Regine jedes weitere Zureden aufgab, und so nahmen die Spazierritte ein plötzliches Ende. Ferdinand, der unter dieser Unterbrechung am meisten litt, ließ trotzdem keine Verstimmung merken.
Er fügte sich willig in diese Entbehrung, blieb zu Hause, unterhielt die Damen mit völliger Unbefangenheit und großer Gemütsruhe, und schien durchaus keine Langeweile zu verspüren. Das junge Mädchen empfand dies mit wahrer Herzenserleichterung und konnte nicht umhin, ihm im stillen dankbar zu sein. Sie faßte jetzt Zutrauen zu ihm und machte sich ihre grundlose Abneigung zum Vorwurf. Nun wurde sie auch gesprächiger und wies ihm nicht mehr jene eisige, mürrische Miene, die sie für ihn allein stets in Bereitschaft gehabt.
Um die langen Abende zu verkürzen, hatte Ferdinand es sich in den Kopf gesetzt, sie das Billardspiel zu lehren. Lange wollte sie sich nicht dazu herbeilassen, gab aber endlich seinem Drängen nach. Regine nahm unter der Tafel auf einem Sofa Platz und notierte die Points; so entspann sich allmählich ein recht trauliches Familienleben, Edmees Besorgnisse schwanden, denn Ferdinands Benehmen war das eines guten Kameraden, nicht mehr, nicht weniger. Das wachsamste Auge hätte weder in seinen Reden, noch in seinem Gebühren irgend etwas Tadelnswertes entdecken können. Er war ein gemütlicher Gesellschafter, heiter und zuvorkommend. Durfte man ihm sein liebenswürdiges Benehmen etwa als Verbrechen anrechnen?
Inzwischen war das Wetter, als wolle es mit der Stimmung der Schloßbewohner harmonieren, milder geworden. Ein verspäteter Nachsommer heiterte den Himmel wieder auf. Die rauhe, trockene Luft wurde linder, und die Vögel, die sich von dem warmen Tage täuschen ließen, zwitscherten in den Gebüschen. Eines Nachmittags, als Regine ihren Mann müßig und träumerisch sah, wendete sie sich an Edmee: »Es ist so schönes Wetter heute,« sagte sie. »Ihr solltet im Parke spazieren reiten; das würde auch den Pferden gut thun, die im Stalle steif werden.«
Hätte Ferdinand diesen Vorschlag gierig ergriffen, so wäre Fräulein von Croix-Mort wahrscheinlich stutzig geworden und hätte denselben abgelehnt. Allein er schien so überrascht, so unentschlossen, er beeilte sich so wenig mit seiner Einwilligung, daß die Vorsicht des jungen Mädchens nicht wachgerufen wurde. Von ihrer Mutter gedrängt, ließ sie sich hinreißen und erklärte sich bereit zu einem kleinen Spazierritt längs des Teiches unter den Fenstern des Salons. Eine Viertelstunde später ritten sie im Schritt am Strande des Flusses hin, sie voraus, er düster und träge hinterdrein.
Sie hatte ihn wiederholt über die Schulter hinweg angeblickt, erstaunt, ihn so nachdenklich zu sehen, da das Reiten ihn doch sonst stets in heitere Laune versetzte. Ein leichter Hieb mit der Gerte brachte ihre Stute in Trab, der sie alsbald einen bedeutenden Vorsprung gewinnen ließ.
Er folgte ihr nicht, sondern ritt langsam weiter, als habe er seine Aufgabe, das junge Mädchen zu begleiten, ganz vergessen. Sich frei fühlend, überließ sie sich ihrem Ungestüm und jagte rasch dahin, ohne sich um ihren Gefährten zu kümmern, vielmehr erfreut, ihn weit hinter sich zu lassen. So sprengte sie über die Brücke der Divonette und verlor sich im Parke.
Dort bot sich ihr eine sanft ansteigende Allee von hohen dunkeln Tannen dar. Sie spornte ihr Tier an und galoppierte durch dieselbe hin, bis sie zu einem Plateau gelangte, wo sie anhielt, indes die leckere Stute sich an den Kräutern des Bodens gütlich that. Sehr oft hatte sie schon an dieser Stelle geweilt und ihr Auge über die weite Ebene schweifen lassen, die mit Baumgruppen besäet und von Bächen durchkreuzt war, deren im Sonnenschein glänzender Spiegel zwischen dem Schilf der Ufer hindurch glitzerte. Niemals war ihr die Landschaft, die sich zu ihren Füßen ausdehnte, anmutiger erschienen. Ein Ackersmann ging mit langsamen Schritten die braunen Furchen entlang, über den mit vier kräftigen Pferden bespannten Pflug gebeugt. Man hörte, wie er die Tiere mit kurzem Zuruf antrieb, die vor Anstrengung dampften und mit Eifer vorwärts strebten.
Am Abhange eines weißen Kalkhügels ließen Brunnenarbeiter große Kübel an einer hölzernen Winde hinab, und im Hintergrunde des Thales, am Waldessaume, weidete verstreut eine Herde Schafe in den gelben, spärlichen Gräsern unter Aufsicht eines kleinen Hirtenjungen, der zu seiner Unterhaltung die Peitsche knallen ließ. Weiterhin ragte inmitten grüner Gärten und roter Häuserdächer der Kirchturm von Clairefont in die Höhe. Längs einer grauen Mauer besichtigte ein Winzer die Rebstöcke seines Weinberges. Es war ein liebliches Bild, das die Sonne mit goldnem Scheine überflutete. Alles atmete jenen Frieden, der sein Dasein der stillen Thätigkeit des Bodens und der mutigen Sorglosigkeit derer, die ihn bearbeiten, verdankt.
Edmee, die seit mehreren Tagen nicht aus dem Schlosse gekommen war, genoß voll Entzücken die Schönheiten dieser frischen, ruhigen Landschaft. Lange blieb sie regungslos, von dem milden Lüftchen umkost, das aus dem Thale heraufwehte, Ein Geräusch entzog sie plötzlich ihren Betrachtungen. Sie wendete sich um und gewahrte Herrn von Ayères, der in raschem Trabe die Allee heraufkam, die in das Plateau mündete.
Es verdroß Edmee, daß sie sich nun seiner Ueberwachung nicht länger werde entziehen können, und teils von dem Wunsche beseelt, allein zu bleiben, teils der launenhaften Eingebung folgend, ihrem Gefährten einen Possen zu spielen, erfaßte sie wieder die Zügel und lenkte in den nächsten Weg ein, der im Halbkreise zu der Divonettebrücke zurückführte.
Mit wallendem Schleier sprengte Fräulein von Croix-Mort auf dem elastischen, weichen, moosbedeckten Heidegrund dahin. Sie dachte gar nicht mehr an Ferdinand, als sie ihn plötzlich links in einer Seitenallee bemerkte; er hatte einen Querweg eingeschlagen und war nun nahe daran, sie zu erreichen. Sie wollte sich nicht einholen lassen und setzte ihren raschen Lauf fort, er machte ihr ein Zeichen, anzuhalten, und rief ihr zu: »Sie sind höchst unbesonnen, Ihr Pferd wird mit Ihnen durchgehen.«
Sie aber jagte trotzdem im Galopp dahin, gebrauchte zwar die Gerte nicht, feuerte aber ihr Tier heimlich mit der Stimme an, aufgeregt durch die Schnelligkeit des Rittes, den sie noch zu verschärfen trachtete. Als Ferdinand sie so bestrebt sah, ihm zu entfliehen und ihm zu trotzen, gab er einem Gefühle der Eitelkeit nach und suchte sie zu überholen. Das Pferd, welches er an jenem Tage ritt, war ein Vollblut und besonders feurig. In den Steigbügeln stehend, den Körper vorgeneigt, mit der Sicherheit eines erfahrnen Steeplechasereiters ließ er sein Roß jetzt in richtigem Renntempo dahinjagen. Alsbald verringerte sich die Entfernung zwischen beiden sichtlich.
Als Edmee ihn nahen hörte und ihn so entschlossen heransprengen sah, überfiel sie plötzlich eine blinde Furcht, als ob diese Verfolgung eine ernsthafte und bedrohliche gewesen wäre. In ihrem von dem rasenden Lauf erhitzten Gehirn stiegen bizarre Gedanken auf. Sie glaubte sich flüchtig, bedrängt von unerbittlichen Feinden, und ihre Freiheit von der Schnelligkeit ihres Rittes abhängig. Zuerst die Brücke zu erreichen, schien ihr die einzige Rettung; dort meinte sie Hilfe und Schutz zu finden, doch wenn sie sich einholen ließe, so wäre sie verloren. Die nervöse Aufregung, die sich ihrer bemächtigt hatte, schien sich jetzt auch ihrem Rosse mitzuteilen, welches schäumend, mit dampfenden Nüstern, wildem, stierem Blicke und gesenktem Kopfe dem Zügel nicht mehr zu gehorchen anfing.
Herr von Ayères, der ruhiger war, erschrak über den rasenden Lauf, und da er glaubte, Edmees Stute gehe durch, wagte er nicht zu rufen, um sie nicht noch mehr zu erregen. Sie stürmten so rasch dahin, daß er schon nach einigen Minuten die schmale, schlüpfrige Brücke der Divonette nahen sah, als sei diese ihnen entgegengeeilt. Er dachte: »Edmee wird nicht anhalten können, und wenn ihr Tier unglücklicherweise auf den Brettern ausgleitet, so wird sie sich vor meinen Augen die Glieder zerschmettern. Um jeden Preis muß ich trachten, sie einzuholen, ehe sie die Brücke erreicht hat.«
Jetzt war er dicht hinter ihr, der Kopf seines Pferdes an der Kruppe ihrer Stute. Noch eine äußerste Anstrengung und er war um einige Meter Länge voraus und konnte mit der Linken Edmees Zügel erfassen. Sie erbleichte vor Zorn und Furcht und schrie: »Lassen Sie mich los!«
Mit keuchendem Atem, rot vor Aufregung, entgegnete er:
»Sie wissen nicht mehr, was Sie thun!«
»Ich weiß es ganz genau,« gab sie zurück, »ich verbiete Ihnen, mich anzuhalten!«
Sie sprengten jetzt nebeneinander hin, noch immer im Galopp, doch in weniger rasendem Tempo: sie mit mißtrauischen Blicken und drohenden Worten, er immer noch die Zügel in der Hand, die er loszulassen sich weigerte. Durch diese Hartnäckigkeit erwachte der alte Haß in ihr und ihre Angst wuchs. Sich in der Gewalt desjenigen sehend, den sie fürchtete und verabscheute, suchte sie sich um jeden Preis zu befreien, erhob die Gerte und schlug wütend nach der Hand, die sie hindern wollte, zu entfliehen.
»Edmee!« rief er, mit einem jähen Ruck die Stute zurückreißend und sie auf der Stelle zum Stillstehen zwingend. Das junge Mädchen, das durch den heftigen Stoß das Gleichgewicht verloren hatte, vermochte nicht, sich im Sattel zu halten, und war dem Herabsinken nahe, als er sie mit kräftigem Arme umfaßte. Betäubt, mit getrübtem Blick und einer Ohnmacht nahe, lehnte sie eine Sekunde, ohne sich zu rühren, ohne denken zu können, an Ferdinands Schulter, indem sie sich instinktmäßig an ihn klammerte. Ihr schwarzes Haar hatte sich gelöst und umhüllte sie mit balsamischem Duft.
Er sah sie an, und berauscht von ihrer Schönheit, ihrer Jugend, vergaß er, wo er war, wer sie war, ohne einen andern Gedanken, als daß der reizende Körper, der an seiner Brust atmete, der eines anbetungswürdigen und insgeheim angebeteten Weibes sei. Er verlor die Vernunft, seine Lippen tauchten in die dunkle Masse ihres duftigen Haares, und unverständliche Worte stammelnd, drückte er Edmee an seine Brust.
Sie hatte kaum die Augen geöffnet und sich in Ferdinands Armen gesehen, als sie ihn auch schon mit Heftigkeit von sich stieß, zur Erde sprang und aus allen Kräften gegen die Divonette zu laufen begann. Sie war außer sich, strauchelte über die Schleppe ihres langen Reitkleides und stieß unartikulierte Klagetöne aus.
Bei der Brücke angelangt, mußte sie, dem Ersticken nahe, innehalten. An das Geländer gelehnt, preßte sie die Hand auf das vor Schrecken und Abscheu hochklopfende Herz, indes Ferdinand mit befangener Miene langsam daherkam. Da rief sie ihm mit von Schluchzen unterbrochener Stimme zu: »Kommen Sie mir nicht näher!«
»Edmee,« sagte er, indem er trotzdem näherschritt, »ich beschwöre Sie . . .«
»Wenn Sie noch einen Schritt weiter thun, so stürze ich mich ins Wasser!«
Sich über die Brüstung neigend, schien sie bereit, ihre Drohung auszuführen. Er hielt inne. So standen sie einander gegenüber, beide voll Entsetzen; er über das, was er gewagt, sie über das, was sie erlitten. Hastige Schritte im Dickicht entrissen sie ihrer Verblüffung. Das junge Mädchen stieß einen Freudenruf aus, als sie Billet wahrnahm, der, seiner Gewohnheit gemäß, quer durch den Wald heranschritt. Auch er hatte Fräulein von Croix-Mort und Herrn von Ayères bemerkt, sein Antlitz verfinsterte sich und er beschleunigte seinen Schritt.
»O, o! Sollten Sie es gewesen sein, Fräulein Edmee, die vor einem Augenblick um Hilfe rief?« fragte er, indem er die verstörte Haltung und die Verwirrung gewahrte, in der sich seine geliebte Herrin befand.
Und da Edmee mit der Antwort zögerte, weil sie sich schämte, das Vorgefallene zu gestehen, fuhr er fort: »Was konnte Ihnen denn geschehen, der Herr Baron ist ja ein ausgezeichneter Reiter?«
Ferdinand gewann zuerst seine Kaltblütigkeit wieder, und da er die Fragen des Hüters kurz abschneiden wollte, sagte er: »Die Stute ist durchgegangen und hätte Fräulein von Croix-Mort beinahe in die Divonette geworfen.«
»Hm – jetzt ist sie ganz ruhig,« bemerkte der Alte, indem er mit dem Blicke nach dem Tiere wies, das, mit Schweiß bedeckt, Baumzweige am Wegesrande benagte. »Haben Sie diesen hübschen Riß bekommen, als Sie das Pferd anhielten?« sagte er zu Ferdinand, über dessen Hand eine rote tiefe Schramme lief.
»Jawohl, beim Anhalten,« erwiderte Edmee mit Nachdruck.
»Nun, dann haben Sie kräftig angefaßt,« meinte Billet mit solch ironischer Betonung, daß Herr von Ayères erbebte. »Doch dort drüben, an der rechten Seite der Brücke, steht Ihr Pferd . . . Sie könnten vielleicht aufsteigen, Herr Baron, ohne Ihnen übrigens befehlen zu wollen, und im Schloß Nachricht geben . . . denn die gnädige Frau müßte sehr erschrecken, wenn sie das Fräulein so blaß sähe . . . Ich werde sie zurückbegleiten, indem ich das Tier beim Zügel führen werde. Seien Sie unbesorgt, mit mir wird ihr nichts passieren.«
Ferdinand nickte, ohne etwas zu erwidern, mit dem Kopfe, überschritt den Fluß, bestieg sein Roß und trabte langsam von dannen.
Als sie ihn sich entfernen sah, stieß Fräulein von Croix-Mort einen Seufzer aus und sank totenbleich auf einen der Prellsteine nieder, die zu beiden Seiten das Brückenende begrenzten. Billet ergriff das Taschentuch des jungen Mädchens, stieg zum Flusse hinab, tauchte es ins Wasser und kehrte zurück, um ihr die Schläfen damit zu befeuchten. Er redete in leisem Tone zu ihr, streichelte ihr die Hände und gab ihr die Versicherung, »daß es diesmal nichts zu bedeuten habe«.
»Nur,« fügte er mit scharfer Betonung hinzu, als er sah, daß sie sich wieder aufrichtete, »sollten Sie niemals mit diesem Manne allein ausgehen, sonst könnte ein Unglück geschehen; Ihnen vielleicht, ihm gewiß.«
»Aber, Billet, was glaubst du denn?« rief Edmee, entsetzt bei dem Gedanken, der Alte könnte die Szene mitangesehen haben.
»Ich glaube nichts andres, als was Sie mir selbst erzählt haben,« erklärte er. »Aber ich bemerkte Sie, als Sie vom Schlosse fortritten, und ich trieb mich im Holzschlage umher, um Ihnen auf dem Wege einen ›guten Tag‹ zu wünschen . . . Da vernahm ich Ihre Stimme, als Sie um Hilfe riefen . . . Es war ein solch schrecklicher Schrei, daß ich dachte, man erwürge Sie . . . So habe ich mich denn beeilt . . . Glücklicherweise habe ich Sie noch ganz lebendig gefunden, wenn auch ein wenig scheu und erschreckt.«
Er bückte sich und schob mit einer raschen Bewegung den Tragriemen seiner Flinte in die Höhe. Dann faßte er das Fräulein um den Leib, hob sie in den Sattel, und die Stute hinter sich herziehend, schlug er die Richtung nach dem Schlosse ein.
Auf der Freitreppe stand Frau von Ayères allein, voll unruhiger Erwartung. Als sie ihrer Tochter ansichtig wurde, eilte sie ihr entgegen. Doch Edmee, die einem neuen peinlichen Ausfragen zu entgehen wünschte nahm eine heitere Miene an und sprang, von Billet unterstützt, behende zur Erde.
»Beruhige dich, Mama,« sagte sie, »meine Angst war größer als die Gefahr.«
»Dank Ferdinand!«
»Ja, Mama, dank ihm.«
»Du bist ein wenig unbesonnen, mein Kind, und diese Pferde sind gar so dumm! . . . Gewiß, du darfst mir nicht mehr ausreiten . . . Ich verginge vor Angst, solange du fort wärest.«
Edmee begab sich auf ihr Zimmer und schloß sich ein. Hier konnte sie nach Herzenslust weinen und ihr bedrücktes Gemüt erleichtern. Die ganze Seelenkraft, die sie bewiesen, um vor Billet und ihrer Mutter das Geschehene zu verheimlichen, war jetzt von ihr gewichen, sie fühlte sich schwach wie ein Kind. Entsetzen ergriff sie bei dem Gedanken, daß sie den Anblick dieses Mannes, an den sie nicht ohne tiefes Beben denken konnte, werde erdulden müssen. In seiner Nähe sein, seinen Blick ertragen, nicht etwa während einiger Augenblicke, nicht bloß ein einziges Mal, um dann für immer von ihm befreit zu sein; nein, alle Tage mit ihm an einem Tische sitzen, mit ihm im Salon weilen, ihm auf den Treppen, in den Gängen begegnen, ihm allein gegenüberstehen und vielleicht ein zweites Mal seinen vermessenen Angriffen ausgesetzt sein! Das war es, was dem jungen Mädchen bevorstand. Verzweifelt rang sie die Hände.
War es möglich, daß eine solche Pein ihr bestimmt war? Sie sann eifrig auf ein Mittel, um sich ihr zu entziehen, vermochte aber keins ausfindig zu machen. Waren sie nicht beide an dieselbe unlösliche Fessel gekettet, die der Familie? Ihre Mutter war es, die sie unzertrennlich miteinander verband. Er war der Gatte, sie die Tochter. Die Entfernung des einen oder des andern, das war die einzige Lösung; die Familienbande mußten thatsächlich, unwiderruflich zerrissen werden.
Doch wie diesen Bruch herbeiführen, ohne das Herz ihrer Mutter zu brechen? Welch ein Schlag für sie, wenn sie die empörende Niedertracht desjenigen erführe, durch den sie schon so viel gelitten! O! Alles lieber erdulden, als der armen Frau diese Abscheulichkeit mitteilen! Auf welche Weise ihr überhaupt die Sache beibringen, welche Ausdrücke gebrauchen, um ihr den Frevel zu erklären, bei dessen Erinnerung sich ihr das Herz im Leibe umwendete?
Von Zorn erfaßt, träumte Edmee von entsetzlichen Rachethaten, um den Elenden zu züchtigen. Der Haß, der in ihr gärte, verzerrte ihr den Mund zu einem bösen Lächeln, ihre Augen blitzten wild unter den schwarzen Brauen, sie bedauerte, keine Waffe zur Hand zu haben, um den Verrat zu bestrafen und den Verräter auf der Stelle niederzuschießen. Aber, er lebte! Und in dem Bestreben, sich gegen ihn zu verteidigen, stieß sie auf hundert Schwierigkeiten. Der einzige Ausweg, der ihr blieb, war, das Haus zu verlassen, um sich in einem Kloster zu verbergen oder ihre Mutter zu bewegen, alsbald nach Paris zurückzukehren.
Das Kloster? Unter welchem Vorwande es aufsuchen? Man wußte, daß sie wenig Vorliebe für die Religionsgebräuche besaß. Plötzlich behaupten, einen religiösen Beruf zu empfinden? Das mußte allen höchst unwahrscheinlich dünken. Und zu welchen Auslegungen, zu welchen Voraussetzungen und welchem Geschwätz würde diese That nicht Stoff bieten? Wenn ein Mädchen ihres Alters ins Kloster ginge, wäre dies nicht ein Beweis, daß sie eine sträfliche Neigung empfinde oder sich im Hause ihrer Mutter unglücklich fühle?
Es hieße ihr Leben der allgemeinen Neugier preisgeben. Schon vernahm sie die Urteile all der Müßiggänger, die während des Herbstes auf Croix-Mort geweilt. Welch willkommene Beute für ihren Klatsch! Und dann, war man im Kloster nicht so gut wie gestorben? Das klösterliche Leben, die kahlen, frostigen Zellen, die langen Betstunden in der Kapelle, die Orgelklänge, die Litaneien, der ganze feierliche und große Pomp des Kultus ließ sie im voraus zu Eis erstarren. Sie vermöchte sich seinen Anordnungen nicht zu beugen, und würde mit rebellischem Gemüte in das fromme Haus treten.
Was dann also? Ferdinand bewegen, sogleich nach Paris zurückzukehren und diese Abreise als eine Gunst von ihm erflehen? Als Bittende erscheinen, wo sie sich unversöhnlich hätte zeigen müssen? Welche Bitternis und welche Schmach!
Die Glocke, die zu Tisch rief, hallte wie Trauergeläute an ihr Ohr und weckte sie aus ihren stürmischen Betrachtungen. Der Augenblick war da, wo sie eine marmorne Miene annehmen mußte, um die Blicke des verhaßten Wesens zu ertragen. Sie preßte die Hand auf das zitternde Herz, und unschlüssig in Bezug auf die Zukunft, aber entschlossen für den Augenblick, begab sie sich in den Salon hinab.
Ihre Mutter fragte sie liebevoll, ob sie sich von ihrer Aufregung erholt habe. Der Baron sprach kein Wort, ja erhob nicht einmal die Augen zu ihr, und blieb während des ganzen Mahles düster und nachdenklich. Frau von Ayères, die den Abgrund nicht ahnte, der hart vor ihr lag, neckte ihn lachend über sein Stummsein und behauptete, daß er wieder einmal Grillen fange. Er gab eine ausweichende Antwort, schien auch seine Schlaffheit bekämpfen zu wollen, aber es gelang ihm nicht. Kaum hatte man sich vom Tische erhoben, als er sich sofort auf die Terrasse flüchtete und, eine Cigarre rauchend, mit raschen Schritten, wie dies seine Gewohnheit war, auf und ab wandelte.
Edmee sah ihn mit gesenktem Haupte an dem Fenster vorbeischreiten. Woran mochte er denken? Welch verruchten Hoffnungen gab er sich hin? Er schien gebeugt, wie unter einer schweren Last; es war wohl die seiner Verworfenheit.
Er war es in der That. Der Zufall, der ihm zu seiner eignen Ueberraschung während eines Augenblicks Fräulein von Croix-Mort in die Arme geführt, hatte jäh den Schleier zerrissen, der seit einem Monate seinen Geist umflorte. Wie ein Blitzstrahl hatte es ihn plötzlich erleuchtet. Er erkannte nun das Gefühl, das ihn zu dem jungen Mädchen zog, und diese furchtbare Entdeckung hatte ihn völlig außer Fassung gebracht.
Die widerstreitendsten Empfindungen bekämpften sich in Ferdinands Seele. Er empfand Mitleid, Scham, Zorn und dazwischen eine Art gräßlicher Wollust. Er sagte sich, daß er sich einem widernatürlichen Gefühle hingebe, und dachte zugleich, daß Edmee anbetungswürdig sei. Er verdammte und rechtfertigte sich gleichzeitig. Ein unseliger Konflikt erhob sich zwischen seinem Gewissen und seinen Begierden. Alles, was noch rein und edel in ihm geblieben, empörte sich, und alles Ungesunde und Verderbte, was das schlechte Leben, das er geführt, in ihm entwickelt hatte, steigerte sich zu einer fürchterlichen Trunkenheit. Der gute und der böse Engel stritten sich noch um diese geängstigte Seele und kämpften noch mit gleichen Waffen. In dieser entscheidenden Stunde hatte ein teilnahmsvolles Wort von Edmee, eine keusche Thräne aus ihren Augen den Unglücklichen, der willenlos zwischen seinen angeborenen Tugenden und seinen erworbenen Lastern schwankte, bereuend und gebessert ihr zu Füßen geworfen.
Nach einer Viertelstunde etwa kehrte er in den Salon zurück, mehr vor Aufregung als vor Kälte fröstelnd, und nahm mit niedergeschlagenen Augen am Kamin Platz in der Haltung eines Verurteilten, der die Vollstreckung des Urteilsspruches erwartet.
Fräulein von Croix-Mort saß arbeitend an dem Tische neben ihrer Mutter; die Nadel zitterte in ihren Fingern, indes ihr Herz mit gewaltigen Schlägen in ihrer Brust hämmerte. Seit kurzem vermochte Frau von Ayères nicht länger als eine Stunde stillzusitzen, da ihr bei längerer Unbeweglichkeit die Füße einschliefen. Ferdinand kannte diese Eigenheit und wartete sehnsüchtig auf den Augenblick, wo Regine, um ihre Glieder wieder zu beleben, sich in der angrenzenden Galerie ein wenig ergehen würde.
Edmee erbebte, als sie ihre Mutter sich erheben sah. Um ein Alleinsein mit dem Verhaßten zu vermeiden, wollte sie gleichfalls hinaustreten, als Ferdinand sie mit einer raschen Bewegung daran hinderte und, als sie entsetzt aufschreien wollte, in flehendem Tone sagte: »Ich beschwöre Sie, Edmee, entfernen Sie sich nicht! Ich muß Sie sprechen, und ich fühle, daß ich, wenn ich es nicht heute abend thun kann, für immer verloren bin . . .«
»Was wollen Sie?« fragte sie, wieder etwas Festigkeit gewinnend.
»Nichts als Ihr Mitleid.«
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
»Verdienen Sie etwas andres, als Verachtung?«
»Sie haben mich ja längst gehaßt,« sagte er schmerzlich erregt, »der Unterschied wird also nicht groß sein.«
»Könnte ich,« entgegnete sie heftig, »andre Gefühle für Sie hegen, der Sie Unruhe und Trübsal in dieses Haus gebracht haben? Ehe wir Sie kannten, war meine Mutter gesund, ruhig und glücklich; heute ist sie krank, sorgenvoll und verzweifelt. Kummer und Sorge waren mir fremd, durch Sie lernte ich Kränkung und Bitternisse kennen. Und nicht genug damit, Sie wußten sich sogar in einem Grade verhaßt zu machen, daß ich es ferner nicht werde wagen dürfen, in diesem Hause zu leben, das meinen Namen trägt, wenn Sie dasselbe nicht verlassen, um nie wieder zurückzukehren.«
Das Blut stieg Ferdinand nach dem Kopfe und rote Flecken wurden auf seinem blassen Antlitz sichtbar.
»Habe ich demnach nichts als Zorn und Heftigkeit von Ihnen zu erwarten?« seufzte er. »Ich bin entsetzlich unglücklich! . . . Ich leide mehr, als ich es zu sagen vermöchte . . . Wenn Sie wüßten, was ich für Sie empfinde! . . . Das ist mehr als Zuneigung, es ist eine überirdische Anbetung! . . . Sagen Sie mir doch nur ein einziges weniger hartes Wort! . . . Wollen Sie mich hoffen lassen, daß Sie mir vergeben? . . .«
Edmees Gesicht nahm einen Ausdruck unversöhnlichen Hasses an, mit übereinander gepreßten Zähnen und blitzenden Augen rief sie: »Niemals!«
»Sie thun unrecht,« murmelte Ferdinand mit dumpfer Stimme, »mit ein wenig Güte könnten Sie aus mir machen, was Sie wollten! . . .«
»Ich will nichts aus Ihnen machen,« versetzte Edmee empört; »ich will Sie nicht mehr sehen, nicht mehr hören! . . . Ich würde von Herzen gern mein Leben hingeben, um Sie mit einem Worte vernichten zu können . . . Wenn Sie nicht der letzte aller Nichtswürdigen und Feiglinge sind, so reisen Sie morgen ab, nehmen Sie meine Mutter mit und lassen Sie sich niemals wieder vor mir blicken! . . . Wollen Sie dies thun?«
Er schüttelte den Kopf, indem er ein unheimliches Lachen ausstieß, als ob er dem Wahnsinn verfalle, und wiederholte düster: »Sie thun unrecht.«
»Wohlan denn,« erklärte Edmee, »da ich auch nicht den letzten Rest von Ehre in Ihnen zu erwecken vermochte, so kann ich mich nur noch an Ihre Klugheit wenden . . . Ich sage Ihnen daher, daß ich mich gegen Sie wehren werde, als ob ich es mit einem Räuber zu thun hätte, und ich erkläre Ihnen, daß ich von diesem Augenblicke an, wenn Sie nur wagen sollten, das Wort an mich zu richten, vor den Augen meiner Mutter die Hand gegen Sie erheben werde . . .«
Jetzt kündigten nahende Schritte die Rückkehr der Frau von Ayères an. Sie summte sorglos ein Liedchen, ohne eine Ahnung von der furchtbaren Scene zu haben, die sich, einige Schritte von ihr entfernt, hinter der Thür abgespielt hatte. Edmee würdigte Ferdinand nicht einmal eines drohenden Blickes mehr, sie umarmte ihre Mutter und zog sich in ihr Zimmer zurück.