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In Kaiser Karls Umgebung war nach den Vorgängen in Schloß Schönbrunn in der Nacht zum 3. November, nach der Entscheidung des Kaisers, den Abschluß des Waffenstillstandes bedingungslos anzunehmen, Abspannung und Ruhe der Erschöpfung eingetreten. Noch hatte sich um die Mittagsstunde des 3. Novembers, da keinerlei Nachricht von General von Weber aus Villa Giusti eintraf, die Furcht gesteigert, daß das Zustandekommen des Waffenstillstandes, obgleich die Unterwerfung unter die Bedingungen des Gegners vollständig war, sich durch irgendwelche Umstände verzögern und damit die Zügellosigkeit der zurückströmenden Truppen noch vermehrt werden könnte. Endlich erhielt der Chef des Generalstabes Baron Arz, kurz nach drei Uhr, aus Padua die Meldung, daß das Vertragsinstrument von beiden Parteien unterzeichnet war. Er atmete sichtbar auf und ging, als unmittelbar darnach die Meldungen von der Gefangennahme großer Heeresteile einliefen, an die Abfassung von Protesten. Für den Kaiser traten die militärischen Ereignisse, durch die allerdings das Schicksal der Monarchie beschworen und besiegelt war, in den Hintergrund. In der Stille seines Schlosses, in die kein Ruf, kein Wort mehr aus den Provinzen von gestern drang, wartete er auf innere Entscheidungen, die nahe sein mußten.
Noch hatte er ein Ministerkabinett. Es regierte nicht, es beriet. Der letzte Minister des Äußern Graf Julius Andrássy war zurückgetreten. An seiner Stelle führte der Reichsfinanzminister Baron Spitzmüller, der eigentlich auch schon den Abschied gegeben hatte, den Vorsitz »in der gemeinsamen Regierung«. In seinem Arbeitsraum am Ballhausplatz hatte Graf Andrássy bis zuletzt in eisiger Ruhe ausgeharrt, unberührt von dem aufgeregten Hin und Her in seinem Palais, uneingeschüchtert von den Schreien der Gasse, die zu ihm heraufdrangen. Dem Grafen Ottokar Czernin, dem die Zeitläufte den Gedanken eingaben, daß man zur Aufrechterhaltung der Ordnung die Truppen der Entente ins Land rufen sollte, hatte Graf Andrássy geantwortet, daß die Anregung und Ausführung eines solchen Gedankens Hochverrat bedeute. In seinem Arbeitskabinett hatte sich in der Aufregung der sich überstürzenden Ereignisse, völlig verwirrt von dem Erlasse des Kaisers, daß Nationalarmeen in den neuen Staaten des alten Reiches gebildet würden und, wenn dies gefordert werden sollte, ein Gelöbnis abgelegt werden durfte, auch eine Reihe höherer Offiziere eingefunden. Sie wußten nicht, ob sie ihres Treueides vor dem Kaiser eigentlich entbunden waren oder nicht, sie fürchteten Gewissenskonflikte. Selbst der Kriegsminister Stöger-Steiner war sich nicht klar, wie die Frage des Eides stand. Den kaiserlichen Offizieren hatte Graf Andrássy kühl erklärt:
»Jetzt heißt es, dem Kaiser die Treue zu halten.«
Das Problem blieb vorläufig ungelöst. Die Ministerräte berieten über andere Dinge. Vor allem die Abreise und die Sicherheit des Kaisers beschäftigte sie. Es wurde mit der neuen deutschösterreichischen Regierung, schon ehe die Waffenstillstandsbedingungen bekanntgegeben waren, darüber verhandelt. Weder der Staatssekretär für Inneres Mataja, noch der Staatssekretär für Heereswesen besorgten etwas für die Sicherheit des Kaisers oder seiner Familie. Im Gegenteil: der dringende Rat sollte dem Kaiser gegeben werden, daß er in Wien verbleibe. Der Staatssekretär für Inneres sollte in Schönbrunn vorsprechen, um jede Besorgnis zu zerstreuen. Die nächsten Tage nach dem schweren Entschluß, den Waffenstillstand in jeder Form anzunehmen, verliefen ruhiger, als selbst Zuversichtliche vermeint hatten.
Die neu entstandenen Staaten waren und blieben abgetrennt und stumm. In der ungarischen Hauptstadt herrschten Nationalrat, Soldatenrat und Arbeiterrat unter der Präsidentschaft des Grafen Károlyi. Aber als Gegenmacht zur Macht des Präsidenten sammelte der neu ernannte »Regierungskommissar der Soldatenräte« schon am Morgen des 3. Novembers die Budapester Truppen in seiner Hand. Im Alten Landtagshause in der Erzherzog Sandor-Straße zerbrach der Regierungskommissar Joseph Pogány an diesem Tage den Widerstand der nationalistischen Offiziere, die sich selbst zu einem »Dreißiger-Soldaten-Rat« und »Elfer-Soldaten-Rat« vereinigt hatten. Der Kriegsminister Béla Linder, noch pazifistischer als der Staatspräsident, hatte am ersten Tage seines Amtes die Garnison begrüßt:
»Ich will keine Soldaten mehr sehen!«
Ihre furchtbare Gewalt, die alles beherrschen und alles diktieren konnte, wenn die beleidigten Mannschaften im Gefühl ihrer Preisgabe sich zusammenschlossen und auflehnten, hatte der neue Regierungskommissar Pogány im eigenen Aufstieg über Nacht sofort und besser erfaßt. Nach bescheidenem Mittun im ersten Umsturz war er von Nationalräten dem Grafen Károlyi als der Fähige bezeichnet worden, der wieder Ordnung in die wirren Soldatenhaufen bringen könnte. Dem neuen Staate erbot er sich, eine neue Truppe zu schaffen. Graf Károlyi hatte mit Unbehagen erklärt:
»Wir sind aber Pazifisten.«
Die Antwort nahm er hin:
»Auch den Pazifismus kann man nur mit Gewehren machen.«
Er hatte den Kommissar schließlich ernannt, der seinen Augenblick gekommen sah. Die Soldaten der Garnison befahl er durch angeschlagene Proklamation zu einer Riesenversammlung. Im Landtag rief er die Unschlüssigen mit seiner dröhnenden Stimme an, die der Sprache mit Massen von vielerlei sozialistischen Reden gewohnt war. Der mittelgroße, untersetzte Mann mit dunklen, leidenschaftlichen Augen, der das Wesen der Soldaten noch aus dem Schützengraben kannte, in dem er als Infanterist wie sie bei der Armee Böhm-Ermolli in den Karpathen zu Kriegsbeginn gelegen hatte, diktierte als Befehlshaber schnell der tausendköpfigen Menge. Zum Präsidenten des Soldatenrates wählte er sich selbst. Die nationalistischen Offiziere, die gegen ihn murrten, donnerte er, schon allgewaltig geworden, mit dem von ihm zuerst gesprochenen Schreckensworte an:
»Hier spreche ich im Namen der Revolution! Wer gegen mich spricht, ist ein Konterrevolutionär!«
Die Offiziere erbleichten. Sie begriffen den Sinn des Wortes. Der Regierungskommissar war der Herr der Soldaten geworden. Siebzigtausend Gewehre standen hinter ihm. Morgen war er vielleicht noch mächtiger als Graf Michael Károlyi.
Die ungarische Entwicklung stand vor neuen Wegen. Eigentlich mußte sie mit den vielen Problemen, die sie zu lösen hatte, mit den vielen Gefahren, die sie im Inlande und von außen her bedrohten, erst beginnen. Aber nichts von den Vorgängen, nichts von den Zeichen der Kampfansagen, die schon am 3. November neue ungarische Schatten warfen, drang mehr nach Schönbrunn. Dort und im Ministerrat blieb die Sicherheit des Hofes immer noch die wichtigste Sorge. Die größte Gefahr war die Rückflut von der Front. Allerlei Pläne und Maßnahmen waren erwogen worden, um die Reichshauptstadt, wenn sie anbrandete, vor Verheerung zu schützen. In weitem Bogen sollte ein Schutzkordon von Polizisten um Wien gezogen, die Truppen vor ihm und durch ihn entwaffnet werden. Aber es gelang, sie überhaupt an der Reichshauptstadt fast ganz vorbeizuführen.
Nichts Gewalttätiges ereignete sich.
Die Wachen vor Schönbrunn waren abgezogen. Zöglinge der Theresianischen Militärakademie kamen aus Wiener Neustadt, um den Dienst der entlaufenen Soldaten zu übernehmen. Die Zeit verrann, achtundvierzig Stunden lang, in Schönbrunn ereignislos. Der Kaiser schrieb, einsam geworden, an Wilhelm II.:
»An seine Majestät Wilhelm II.,
Deutscher Kaiser und König von Preußen.
Schönbrunn, am 4. November 1918.
Eben erhalte ich die Meldung über den Abschluß des Waffenstillstandes an der italienischen und an der Balkanfront. In diesem Augenblicke drängt es mich, vor allem Dir erneut auszusprechen, wie sehr schmerzlich es mir ist, daß wir diesen letzten Schritt in diesem Riesenkampfe, den wir vereint führten, nicht gleichzeitig machen konnten. Die Verhältnisse an beiden Fronten erzwangen es aber. Über die Details dieser Verhandlungen kann ich hinweggehen, da Du durch General von Cramon voll orientiert und daher auch unterrichtet bist, daß selbst eine Zusammenfassung der deutschösterreichischen Truppenkörper im Sinne meines letzten Telegramms unmöglich war. So kam es, daß unter dem Drucke der Verhältnisse um einen Waffenstillstand gebeten und Bedingungen angenommen werden mußten, die ich vor kurzer Zeit für indiskutabel gehalten hätte. Ihre rascheste Annahme war das einzige Mittel, eine Katastrophe hoffentlich einigermaßen zu vermeiden.
Ich will mir aber die Hoffnung nicht nehmen lassen, daß wir wenigstens den Frieden gleichzeitig schließen, wie der Krieg vereint begonnen wurde.
In langer Kriegszeit haben wir in frohen und trüben Tagen zueinander gestanden. In den bitteren Tagen, die ich nun erlebe, in denen ich mit schweren Sorgen um das Geschick der Völker erfüllt bin, denke ich an Dich in herzlichster und aufrichtigster Freundschaft; sie soll uns erhalten bleiben und uns in treuem Gedenken über schwere und schwerste Tage hinweghelfen.
Karl.«
Der Brief fuhr ins Leere. Den Kaiser erreichte kein Echo.
Zwei Tage später ergaben sich plötzliche, scharfe Meinungsunterschiede in Auffassung und Haltung bei den Beratungen des Ministerrates. Gegen das von Graf Andrássy vor Tagen dem Präsidenten der Vereinigten Staaten unterbreitete Sonderfriedensangebot wandten sich abermals, vom Standpunkte der Deutschnationalen aus, die das Schicksal des verbündeten Deutschen Reiches bis zum harten Schlusse in keiner Form beeinträchtigt wissen wollten, die Minister Wieser und Paul. Es war nicht die einzige Spaltung, die das Bestehen des merkwürdigen Kabinetts ohne Macht und Reich bedrohte: eines Kabinetts, das in seinen Mitgliedern eigentlich auch schon alles umfaßte, was von der alten Monarchie geblieben war.
Die Fachminister verwiesen auf die völlige Ohnmacht, unter der sie ihr Amt auszuüben sich verurteilt sahen. Denn alle Gewalt war in die Hände der neuen Staatssekretäre bereits übergegangen. Die Fachminister sahen ihre Bemühungen, noch irgend etwas an Arbeit zu leisten, völlig zwecklos, sie verlangten die Demission des Kabinetts. Aber im Gegensatze zu den Fachministern betonten der Ministerpräsident Lammasch, der Minister für soziale Fürsorge Professor Seipel und der Finanzminister Professor Redlich, sie alle drei als »die politischen Minister«, daß das Kabinett nicht demissionieren solle, da sonst der Kaiser, durch den Staatszerfall nicht mehr imstande, ein anderes Kabinett einzusetzen, ohne Kabinett überhaupt nicht mehr weiterregieren könne.
Die Gegensätze unter seinen eigenen Mitgliedern vermochte der Ministerrat nicht auszugleichen. Vielleicht war es am besten, die Entscheidung, ob das letzte Kabinett auseinandergehen sollte oder nicht, dem Kaiser zu überlassen. Mit dem Ministerpräsidenten sollte als Sprecher der Eisenbahnminister Freiherr von Banhans, als Sprecher der »politischen Minister« Professor Seipel schleunigst Vortrag halten in Schönbrunn.
Übrigens waren auch die Staatssekretäre Mataja und Fink, Mitglieder des neuen, deutschösterreichischen Staatsrates, für das Verbleiben nicht nur der kaiserlichen Regierung im Amte. Mit ihnen verhandelte, ehe die drei Minister sich zum Kaiser begaben, Professor Seipel. Die Staatssekretäre waren zugleich für ein Ausharren des Kaisers, vor dem schon am gestrigen Tage des Ministerkonflikts, am 6. November, der Staatssekretär Mataja die Bitte ausgesprochen hatte, daß der Kaiser die Stadt Wien nicht verlassen möchte. Den Ministervortrag in Schönbrunn erwiderte Kaiser Karl mit der Entscheidung, daß das Kabinett nicht auseinandergehen dürfe. Freiherr von Banhans rief aus:
»Wie kann ich Eisenbahnminister bleiben, wenn ich über keine Lokomotive mehr verfüge?«
Aber der Kaiser entwaffnete ihn:
»Schauen Sie, ich bin der oberste Kriegsherr und habe keinen Soldaten mehr. Und muß doch bleiben.«
Inmitten der völlig ratlos gewordenen Umgebung des Herrschers, die stündlich den Eintritt eines letzten Umsturzes fürchtete, zeigte sich der Kaiser selbst noch als der ruhigste. Verstört hatte der in seiner Leibesfülle groteske, nur in animalischen Gewohnheiten an Vorbilder des Rabelais oder an die böhmischen Zecher in Wallensteins Schloß gemahnende Prinz Zdénko Lobkowic, der Erzieher und Generaladjutant des Kaisers, eine verspätete Erscheinung aus den Genußzeitaltern prassender Adelsschaft, das Kommen der Minister in Schönbrunn gesehen. Noch die Ereignisse der Nacht vom 2. zum 3. November hatten ihn nicht berührt. Er hatte im Flügeladjutantenzimmer die Jagdszenen studiert, die dem Raum auch den Namen »Rösselzimmer« gaben. Dann hatte er den zum Telephon stürzenden Flügeladjutanten mit bizarrem Deutsch aufgehalten:
»Weißt du, wieviele Rösseln im Rösselzimmer an der Wand herumspringen?«
Der Adjutant hatte ihn fortgestoßen. Jetzt fragte der im Augenblick selbst seine leiblichen Behaglichkeiten einstellende Riese, bleich und mit einem Zittern:
»Wenn Seine Majestät fortgeht, dann braucht man ja auch keine Generaladjutanten mehr?«
Der kaiserliche Sekretär ließ endlich lange verhaltene Genugtuung durch:
»Gott sei Dank!«
Der Ministerrat trat in seinem Palais zusammen. Der Ministerpräsident berichtete die Entscheidung des Kaisers. Wieder versuchten die Minister Wieser und Paul heftige Widerstände. Aber der Ministerrat beschloß, vorerst, bis die Lage sich kläre, im Amte zu bleiben.
Die Frage der Abdankung des Kaisers von Österreich, bedingt durch die ganze Entwicklung, mußte binnen kürzester Frist aufgeworfen und dem Versuche einer Lösung unterzogen werden; ob sie auch niemand bisher öffentlich und unmittelbar gestellt hatte, ob auch das Kabinett auf seinem Posten ausharrte und ob auch Professor Seipel den Parlamentariern wie den Ministern erklärte, daß »seine Nerven stark genug wären, um ein Aushalten sowohl des Kaisers als der Regierung zu verantworten«. Es war das Ziel dieser stärksten und geistigsten katholischen Führernatur in Österreich, »bis zum Beginne der Friedensverhandlungen zu bleiben, damit unsererseits ein befugter Paziszent da wäre und der Kaiser durch Lammasch an den Friedensverhandlungen teilnehmen könnte«. Ein Teil der Öffentlichkeit und Minister dachte sich die Art solcher Verhandlungen wie nach jedem Kriege bisher. Viele hofften auf die werbenden Botschaften des Präsidenten Wilson. Es schien ihnen erst noch gar nicht ausgemacht, daß der Kaiser überhaupt abdanken müsse. Ihn hatte der Ministerpräsident Professor Lammasch noch vor einer Woche aufgefordert, auf seine Krone in keinem Falle zu verzichten. Niemand auf der Seite der Entente sinne Böses gerade gegen ihn. Der schlimmgehaßte Feind der Gegner, in ihrem Gedankenkreis ein Schädling, der gestürzt werden müsse, sei Kaiser Wilhelm II., nie und nimmer der Kaiser von Österreich.
Aber der Präsident der Vereinigten Staaten von Nordamerika hatte zwar allen Nationalstaaten, deren neue Regierungen sich mit der Anmeldung ihrer Ansprüche oder Rechte an ihn gewendet hatten, in zuvorkommenden Depeschen geantwortet. In Prag waren sie beim Nationalausschuß, in Budapest bei der Regierung des Grafen Károlyi eingetroffen. Sogar der Präsident der provisorischen Nationalversammlung Deutschösterreichs, sogar Präsident Seitz hatte am 8. November solch eine Depesche erhalten. Aber das Schreiben des Ministerpräsidenten Lammasch, schon vor dem 30. Oktober an den Präsidenten Wilson gerichtet, war überhaupt ohne Antwort geblieben. Es wurde klar, daß der Präsident der Vereinigten Staaten, noch immer beraten von dem tschechischen Professor Massaryk, nunmehr von ihm, der in Wahrheit nicht nur die Karten des neuen tschechoslowakischen Staates, sondern von ganz Mitteleuropa zu zeichnen entschlossen war, noch mehr beeinflußt als je zuvor, den Sprecher Kaiser Karls von Österreich gar nicht mehr hören wollte. Daß er einen Kaiser von Österreich, mit dem er vor Jahresfrist noch Briefe mit allem geziemenden Respekt gewechselt hatte, überhaupt nicht mehr anerkannte.
In Philadelphia hatte Professor Massaryk im Frühjahr 1918 die slawischen Völker gegen das Haus Habsburg in einem feierlichen Kongresse aufgerufen. Ihm war es natürlich, daß seine Heimat keinen Tag länger magyarischen Oligarchien ausgeliefert bleiben dürfte. In Philadelphia hatten sich damals bei ihm auch die Karpathorussen gemeldet: die Verbrüderung bezog auch sie schon in den neuen tschechoslowakischen Staat ein. Es war unklar, gegen wen sich die demokratische Weltüberzeugung des Professors Massaryk heftiger und erbitterter wandte, ob gegen die Habsburger oder gegen die Hohenzollern. Und unklar im ganzen für alle Öffentlichkeit war, wie sehr überhaupt der Einfluß des tschechischen Gelehrten – viel behauptet, dennoch unprüfbar – hinter allen Geschehnissen, hinter den Beschlüssen, hinter den nächsten Absichten des Präsidenten der Vereinigten Staaten und seiner Alliierten stand – –
Der tschechische Abgeordnete Professor Thomas G. Massaryk hatte Österreich kurz nach Kriegsausbruch verlassen, noch beim Abschied, noch eine Weile danach skeptisch im Glauben, ob ein neues, durch modernen Geist verjüngtes Österreich aus der Gewitterreinigung des Weltkrieges sich erheben könnte. Unruhig war er nach Holland gegangen, nach Berlin zu einer Aussprache mit dem Sozialisten Kautsky, den er voll Pessimismus über das Kriegsende antraf, über Italien war er nach Prag und Brünn zurückgekehrt, weil er dort, bereichert um die Eindrücke vom Ausland, mit möglichster Genauigkeit die Stimmungen seiner Landsleute prüfen wollte. Die Abneigung des Sozialisten gegen alles Absolutistische und Autokratische, das der Zustand harter Ausnahmen in den Mittelmächten täglich verschärfte, wandte erneutes Zuschauertum in der Fremde, kehrte die andere Einstellung, die andere Aufklärung über Schuldfrage und Neutralitätsrechte, über westliche Begriffe von Völkerfreiheit und wahre Demokratie fast von Tag zu Tag mehr in Abwehr gegen das daheim Verlassene, mehr in Haß gegen das daheim Bestehende. In Rom konnte, was italienische Politiker ihm im Ausgange von 1914 sagten, nicht ohne Wirkung auf den Professor bleiben. Von jenem römischen Besuche an mochte er sich auch in entschlosseneres Rebellentum von österreichisch-ungarischer Seite selbst gedrängt sehen: der Ausführung eines Haftbefehles war er, von einem schnell aus Böhmen entsandten Boten im Züricher Bahnhof gewarnt, nur durch Aufgabe der Heimreise entgangen. In der Schweiz entschied er sich endgültig für die leidenschaftliche Kampfansage an alle mitteleuropäischen Systeme, die ihm zugleich ein Kampfruf für seine slawischen Brüder war. Im Oktober 1914 brachte der tschechische Sozialistenführer Doktor Habermann aus Genf seinen Ausspruch nach Prag zurück:
»Uns wird im Laufe des Krieges nichts anderes übrig bleiben, als Revolution zu machen. Wenn wir die Freiheit erringen wollen, müssen wir in die Ereignisse selbst und aktiv eingreifen.«
Tief wühlte Professor Massaryk damit, wenn auch noch in Heimlichkeit, alle Tschechen zu Hause auf, die verwirrt, geblendet vor neuen, nie gewagten, bisher ungedachten Gedanken und Möglichkeiten standen. Er selbst aber sprach zum erstenmal offen, weithin im Auslande hörbar und ohne Umschreibung, bei der Genfer Feier für den tschechischen Reformator Hus, zwischen den Reden von Ernest Denis, dem Historiker der tschechischen Reformation, am 6. Juli 1915 den Abfall von Österreich-Ungarn aus. Nur für die Freiheit und Unabhängigkeit der Tschechen und Slowaken wollte er, der Sohn der Slowakei, fortan wirken.
Stets hatte der Fünfundsechzigjährige sich, ob es vor Jahren den Einsatz gegen einen Justizmord an einem Einzelnen, ob es die Daseinsrechte eines ganzen Volkes galt, für alle Unterdrückten oder ihm unterdrückt Scheinenden leicht und rücksichtslos entflammt, mit seinem ganzen zähen, aus lediglich geistiger Struktur sich erhebenden Willen, der die Freiheit der Nationen und die Unverletzlichkeit der Person über alle Forderungen stellte. Umfassende Bildung, seine weiten Reisen, wissenschaftliche Beziehung und persönliche Zusammenhänge hatten den an sich bescheidenen Mann, um den, seit er in der Heimat öffentlich hervorgetreten, stets eine Atmosphäre von Reinheit und Unbestechlichkeit gewesen war, dem Westen und westlicher Weltauffassung früh genähert. Vielleicht war der hohe, im Scheitel breite und rundgewölbte, dünnbehaarte Kopf, wie ihn die alten Stiche tschechischer Vorkämpfer seit Hus und Ziska, seit Koménsky und Palatzki häufig zeigen, allein tschechoslawisch an dem schlank und eindrucksvoll gewachsenen Professor, dessen ernster, abgekehrter Blick im Gespräch zwischen Theoremen immer beschäftigt schien, dessen Lebenshaltung indes bei aller Einfachheit mit Ausritt und Gesellschaft das landläufige Professorentum leicht und nicht ohne angenehme Geschmeidigkeit auch abzustreifen wußte. Alles in ihm drängte dem Westen zu, seinen Staatseinrichtungen, seiner politischen Kultur, seiner Lebensweise. Rußland hatte seine Zuneigung nicht. Den »russischen Zaren« bekämpfte er im Innersten so haßerfüllt wie den »österreichischen Zaren« oder den »preußischen Zaren«. Wenn er monarchische Staatsform schon gelten lassen mußte, gab er höchstens englischen Konstitutionalismus zu. Bisweilen schwankte er, ob nicht die demokratische Form des Königtums auch das Heil der Tschechoslowaken sein könnte. Bisweilen entschied er sogar für sie. Aber im Kriege wollte er auch den absolutistischen Herrscher Rußlands nach außen hin gelten lassen. Auch der Zar war vorläufig als Machthaber der russischen Kraft sein Bundesgenosse. Seine Heere halfen seinem eigenen Ziel. Der Professor wollte sich klug, wollte sich politisch einrichten mit allen Mitteln, die zum Zwecke weiterhalfen. Die unglückliche österreichische Innenpolitik des Jahres 1916 und 1917, vor allem der schroff verkündete »deutsche Kurs« des Kabinetts Seidler, konnte dem verletzten Slawen nur die letzte Besiegelung zum Verharren in seinen Angriffen geben. Er war längst entschlossen, seinen Vernichtungskampf gegen den habsburgischen Staat bis zur vollendeten Niederlage auszutragen.
Er war ein Einzelner. Aber wenige hatten sich mit den Machtverhältnissen, mit der ganzen Machtentwicklung und mit allen Anzeichen wahrscheinlicher Weltentwicklung durch den Krieg so gründlich beschäftigt wie er. Sein Geist verstand unendlich viele, gefährliche Waffen mit geschulter Meisterschaft zu führen. An alle Dinge schritt er methodisch, er tastete sich von Kern zu Kern, und, wenn er ein Thema darstellte, wurde selbst in der Sprache das Suchen nach logischen Zusammenhängen, nach logischen Brücken sichtbar, über die der Gelehrte langsam und nur sehr vorsichtig schritt.
Nüchtern in der Abmessung des Wirklichen, ohne verräterischen Überschwang, erstrebte er doch die Ziele phantastisch bauender Patrioten mit der Verbissenheit alttschechischer Volksvorkämpfer, die die Religionskriege überlieferten. Alle großslawischen Träume schlummerten in ihm. So nüchtern er die Realität überall abwog: die Meerengenfrage am Bosporus, die Einigung von Nordslawen und Südslawen über fremdrassiges Land hinweg, über dessen Recht zum Widerspruch er sich in Erörterungen nicht verlor, sah er dennoch mit erstem Anspruch als Tscheche und Allslawe. Alle Wege zu fernen Kontinenten und die Notwendigkeit solcher Wege begriff er für alle Völker der Welt. Aber er untersuchte es nicht, ob er die Not dazu auch für Deutschland nicht verkannte. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker war ihm wirkliches und natürliches Gesetz. Aber, indes er die Unverletzlichkeit der Nationen verfocht, wies er neuen Herren die Hauptstadt der Türken zu, die er vom Kontinent, aus ihrem Land verjagte. Elementar war endlich sein Haß gegen Österreich-Ungarn geworden, das die Slawen in der Monarchie nicht frei werden ließ. Aber heiß war zugleich seine Betonung der Selbstverständlichkeit und des Rechts der Tschechen, daß drei Millionen Deutscher in Zukunft tschechoslowakische Staatsbürger zu werden hätten. Und mit strenger Nüchternheit fand er sich zu den Mitteln für sein Programm sofort wieder zurück, wenn er die Aussichten seiner Erfolge an der Kriegslage abmaß. An Rußlands Endsieg glaubte er im Gegensatze zu dem Tschechenführer Kramaø nicht. Ihm war die Hoffnung, daß 1914 nach den ersten russischen Siegen ein Großfürst die Habsburger im neuen Königreich Böhmen ablösen werde, nicht nur ein Gedanke voll Unbehagen. Vielleicht widersprach er dem Gedanken nur nicht, weil Karl Kramaø' großer Anhang den politischen Wünschen der Tschechen solche Richtung wies. Er sprach, früher als irgendwer und, obgleich ein Slawe, von russischem Niederbruch und russischer Revolution, die ihm um des getroffenen Zarismus willen recht waren. Von Rotterdam aus hatte er sich noch 1914 mit einem Memorandum an die Alliierten gewendet, darin er seine Ideen über eine Neuordnung Europas entwickelte. Und er hatte, völlig vertieft in diese europäischen, sehr slawisch gesehenen Zukunftsprobleme, schon im nächsten Jahr ein neues Memoire ausgearbeitet, darin er die Umrisse seiner Pläne den Alliierten bereits viel genauer zeigte. Das »Londoner Protokoll« von 1915, das die österreichisch-ungarische Monarchie zu zerschmettern beschloß, um auch noch Italien gegen die Mittelmächte aufzurufen, mußte den Professor in seinen sich allmählich aussichtsreicheren Absichten gegen das habsburgische Reich nur bestärken. Professor Massaryk war kein Stratege. Von der deutschen Kriegskunst glaubte er im Anfange, uneingeweiht in die Zusammenhänge in den Generalstäben der Mittelmächte, ohne Kenntnis der von Deutschland unerfüllbaren Abmachungen über die Kriegsgestaltung im Osten, daß sie allein die österreichisch-ungarische Monarchie vor den marschierenden Russen gerettet hätte. Aber da er länger der Kriegführung beider Gegner zusah, so schien ihm, daß die vielgepriesene Kunst deutscher Feldherrnschaft gegenüber der französischen Fechtart völlig versagte. Die Moltkesche Taktik hatte sich 1870 bewährt. Aber der Professor war kühn genug, den Versuch kindlich zu nennen, daß die deutschen Generale fünfzig Jahre später unter völlig geänderten Verhältnissen, bei völlig anderen Ausmaßen mit überholten Doktrinen operieren wollten. Das deutsche Volk fand ohne Zweifel auch er groß in der Leistung, groß im Ertragen von Opfern. Aber der »Absolutismus im Heer«, den die Generale übten, erstickte alles Schöpferische. Sie schlossen selbst den Endsieg aus. Die Franzosen fand er elastischer. Ihm schienen sie auch strategisch klarer. Die Engländer hatten ihre Armeen über Nacht geschaffen. Unübersehbar war, was ihr Wille, ihre Kraft zur Organisation noch leistete. Das Gesamtbild solcher Kriegsentwicklung litt den Professor schließlich nicht mehr in Rotterdam zwischen Memoranden, die er an die Alliierten gab. Im Frühjahr 1917 beschloß er – ein einzelner, ohne Staatsamt und ohne Auftrag –, für die Überzeugungen, die in ihm schlummerten, seit er zu denken vermochte, gewaltsam, nur durch die Überlegenheit seines Geistes in die Weltgestaltung einzugreifen.
Er ging nach Rußland. Er beschloß, sich eine Armee zu schaffen. Vom Mai 1917 bis zum Herbst 1917 stellte er ein tschechoslowakisches Heer von 150 000 Mann aus Kriegsgefangenen und Deserteuren auf, bewaffnete, disziplinierte es. Er setzte die Armee sodann durch Sibirien auf Wladiwostok in Marsch, um sie auf die Schlachtfelder in Frankreich und Italien zu bringen. Mit den Bolschewisten schloß er einen Vertrag über freien Durchzug. Als sie ihm den Durchzug dennoch weigerten, lieferte er ihnen Gefechte, um den Durchmarsch zu erzwingen. Die Truppen wurden schließlich nach Europa eingeschifft. Der Professor begab sich nach Amerika.
Richard Crane, einer der Sekretäre des Außenministers Lansing, der Sohn eines Freundes Professor Massaryks, verschaffte ihm Zutritt und Beziehung zu Wilson. Im »Weißen Haus« in Washington lebte Woodrow Wilson einsam, abgeschlossen von aller Welt. Ihn hatte das amerikanische Volk als einen Präsidenten gegen den Krieg an die Spitze der Regierung gestellt. Dann hatte es das Schicksal Wilsons gewollt, daß gerade er den Krieg an Deutschland erklären mußte. In England, in Frankreich, in Italien herrschten Koalitionskabinette. Aber gerade im freiheitlichen Amerika gebot der Präsident allein ohne Koalition. Durch die demokratische Partei, deren Haupt und Rufer er darstellte, lenkte Wilson die Schickungen des Landes ohne Einschränkung. Kein einziger Republikaner saß in seinem Kabinett. Mit dem Staatssekretär für Äußeres Lansing lebte der Präsident in stetem Gegensatz und häufiger Verstimmung. Sein Arbeitskabinett betrat selbst ein Minister selten. Seine Weisungen gab er schriftlich. Die Antworten hatten schriftlich überreicht zu werden. Die fremden Gesandten kamen nur bei feierlichem Anlaß. Die Aussprachen gingen frostig über Dinge, die belanglos waren. Aber häufig war der Gast des Präsidenten der französische Gesandte Jusserand, seit vielen Jahren Frankreichs amerikanischer Bote, der das Englische im Sprechen und Schreiben auf gleich vollendete Art beherrschte. Durch ihn sprach Frankreich, sooft es dies wünschte. Neben den Gesandten Jusserand trat jetzt der tschechische Professor Massaryk in Wilsons Haus und Arbeitskabinett.
Überall hatte Professor Massaryk eine Zuneigung für die österreichisch-ungarische Monarchie feststellen können, stärker, als jemand wußte in der Monarchie: in England, in Frankreich, in Amerika – überall galt die Abneigung Deutschland allein. Aber in der Fortentwicklung der Verhältnisse im Innern der österreichisch-ungarischen Monarchie war Massaryk längst entschlossen, das ganze Reich, soweit es an ihm lag, zu zerbrechen. Der Professor wollte nicht mehr zurück: die anderen wollte er zu sich bekehren. Aber die Zukunft des tschechoslowakischen Staates, den er aufrichten wollte, bewegte ihn nicht allein. Ihm schien das europäische Problem, das der Weltkrieg lösen sollte, das Problem der kleinen Nationen überhaupt zu sein, das Schicksal von etwa zwanzig kleinen Völkern, eingeklemmt im Norden zwischen Rußland und Deutschland, vom Baltischen Meer abwärts in südöstlichem Verlaufe bis hinab zu den Griechen am Golf von Salonik. Die Freiheit aller kleinen Nationen mußte der Sieg, mußte der Preis des Krieges sein. Aber niemand besaß über die Tiefe und Bedeutung solcher Fragen geringere Klarheit als der Präsident der Vereinigten Staaten. Er sah zu Europa als Amerikaner hinüber, wie es dem Professor Massaryk schien, mit dem Fernrohr über den Ozean. Ihm war der Begriff von Staat und Volk eine einzige, durch nichts getrennte Einheit. Er begriff anders beide gar nicht. Unklar spiegelte sich ihm in amerikanischem Liberalismus eine »Ligue of nations«, die nach dem Kriege allein über das Wohl und Wehe der Nationen waffenlos gebieten würde. Nur die »Ligue of nations« bewegte ihn. Nur die »Ligue of nations« war ein Friedensziel. Grüblerisch hatte er einen Plan von vierzehn Punkten ausgearbeitet, beschwerlich und in ideologischer Art, ein Programm von vierzehn Friedenspunkten, zu denen er von Kongreßrede zu Kongreßrede, von Volksrede zu Volksrede vorgedrungen war, bis er überzeugt glaubte, daß sie das Glück der freigewordenen Völker ganz umspannten. Er hatte in den »Vierzehn Punkten« freilich, was Österreich-Ungarn betraf, von Abtretungen gesprochen, die an Polen und an Italien zu gewähren seien, dennoch hatte er mit Österreich-Ungarn als einer einheitlichen Nation gesprochen, so daß eigentlich schon darin ein Widerspruch oder eine Unklarheit war. Den Widerspruch hatte der Präsident Wilson dann selbst gespürt, abermals grüblerisch hatte er versucht, die vierzehn Punkte in fünf andere Punkte umzugießen. Sie waren allgemeiner gehalten, noch unklarer, sie hatten die Wirrnis nur vermehrt. Unklar über die Begriffe von Volk und Staat in Europa, unklar über alle strategischen Begriffe, war ihm selbst der Begriff vom Selbstbestimmungsrecht der Völker ein Nebelwort. Er kannte das Wesen, das Bestehen, die Not zur Einordnung oder das Recht zur Selbständigkeit auch bei nationalen Minoritäten nicht. Denn auch der Begriff der nationalen Minorität war dem Amerikaner fremd. Er ging daran, die neuen fünf Punkte abermals umzuformen. Freiheit der Meere, Freiheit der Weltwirtschaft, amerikanische Kaufmannschaft im Zusammenhang mit den Auffassungen amerikanischer Demokratie, stets aufs neue vom Kolumbuskontinent auf Europa überpflanzt, schlichen sich ihm wiederum in Gedanken und Text. Er griff auf die »Vierzehn Punkte« zurück. Sie nannte er seinen Plan. Sein Staatssekretär des Äußeren Lansing kämpfte für radikalere Fassungen. Über die Unklarheit in Wilsons Kopf sprach der Außenminister Lansing nur mit herbem Wort. Er bestritt, daß der Präsident der Vereinigten Staaten überhaupt Pläne oder einen Plan zur Neuordnung der Welt besäße. Dennoch: die »Vierzehn Punkte« wurden verkündet. Wenige Monate danach stieg Professor Massaryk in Amerika ans Land. Seine Arbeit war fortan, die »Vierzehn Punkte« umzubiegen.
Sein Kampf ging gegen das hohenzollernsche und gegen das habsburgische Haus. Er wollte den »Zarismus« befehden, der in Rußland von selbst gefallen war, wollte ihn vernichten, wo immer er ihn traf. Er wußte, daß er Deutschland zu Boden streckte, wenn Österreich-Ungarn durch ihn zerschellte. Sein eigener Plan war katonisch einfach: »Austriam esse delendam.« Vor Wilson sprach er selbst gegen die »Austrophilie«, wann immer er bei Wilson sprach. Was er selbst nicht sagen mochte, was er besser durch Frankreich vertreten wünschte, wenn er die Waffen gegen Deutschland wandte, sprach für ihn bei Wilson der französische Gesandte Jusserand. So stark wurde das Wort des tschechischen Professors, so willig Wilsons Ohr, daß schließlich kaum ein diplomatischer Schritt mehr geschah, ein wichtiger Beschluß kaum mehr gefaßt wurde, von dem der Professor nicht vorher gewußt hätte, bei dem er durch Beeinflussung nicht noch rechtzeitig hätte mitsprechen können. Seine Memoranden über die russische, österreichisch-ungarische, deutsche Friedensforderung des vierten Kriegsjahrs gingen nicht mehr »an die Alliierten«. Die Memoranden hielt jetzt Wilson in der Hand. Im August 1918 studierte der Präsident der Vereinigten Staaten abermals ein Massaryksches Mémoire über Rußland, im gleichen Monat über die Verhältnisse in der Tschechoslowakei. Der tschechische, geschickt beeinflussende Professor, dem man in Frankreich und England eröffnet hatte, daß die Neuordnung der europäischen Verhältnisse eine ethnographische Auffassung in seiner Heimat berücksichtigen wolle, brachte ohne viel Schwierigkeit den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu der Überzeugung, daß für die Tschechoslowakei nur die alte historische Auffassung – die auch die Deutschböhmen an die Tschechen gab – gerechte und logische Lösung sei. In die Wirrnis, durch die der Präsident der Vereinigten Staaten, organisch überdies nicht in bestem Zustande, sich durch all diese Probleme tastete, brachte erst die Aufstellung der tschechoslowakischen Armee den endgültigen Anlaß, sich für die Forderungen Professor Massaryks zu entscheiden. Der Präsident der Vereinigten Staaten wollte mit überzeugtem Recht und überzeugender Gerechtigkeit die Welt neu ordnen. Er wehrte sich gegen die Preisgabe der Seestadt Danzig an die Polen, denn er sah diesen Hafen deutsch und sah es als einen Gewaltakt an, hier polnische Herrschaft aufzurichten. Bedrängt von polnischen Forderern, hatte er sich endlich für geteilten deutsch-polnischen Besitz entschieden. Ihn widerriet Professor Massaryk, der nichts ein schlimmeres Unheil nannte als ein »Kondominium«. Die Danziger Frage konnte schließlich vertagt werden. Aber in der Gesamteinstellung mußte der Präsident der Vereinigten Staaten endlich eine Selbstentscheidung treffen. Wenn tschechische Soldaten im Kampf gegen Österreich-Ungarn sogar ihr Leben lassen wollten, so hatte der Professor Massaryk ohne Zweifel recht mit seiner Feststellung, daß die Selbstbestimmung des österreichisch-ungarischen Volkes nicht das gleiche war wie die Forderungen der Tschechen, der Südslawen, der Polen, aller anderen Nationen dieser vielgemischten Monarchie, die der Präsident bisher als Einheitsnation angesprochen hatte. Für die Selbstaufopferung der tschechischen Legionäre, die gegen die habsburgische Herrschaft marschierten, verlangte Professor Massaryk von Amerika Hilfe. Sie wurde von dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gewährt. Aber wenn die neuen tschechischen Truppen an der Seite der Alliierten kämpften, so verlangte Professor Massaryk auch noch ihre Anerkennung als kriegführende Macht. Der Präsident der Vereinigten Staaten begriff die Billigkeit solcher Forderung. Er gewährte sie. Und wenn die tschechische, kämpfende Armee eine selbständige kriegführende Macht war, anerkannt von den Alliierten, so konnte ihr niemand die Konstituierung einer Regierung verwehren. Noch ehe die Note des Staatssekretärs Lansing über die Anerkennung der Tschechoslowakei das Washingtoner »Weiße Haus« verließ, las sie Professor Massaryk. Noch ehe sie durch den Draht abgespielt wurde, rief am 18. Oktober 1918 der Professor die neue, selbständige tschechoslowakische Regierung aus, Er selbst erklärte sich zu ihrem Präsidenten. Mit dem Tschechenführer Benesch in Paris und dem Tschechengeneral Stephani bildete er das erste tschechoslowakische Kabinett im Exil, das die Unabhängigkeit des neuen Staates verkündete und allen Verbündeten notifizierte.
Die Ereignisse aber liefen weiter. Im Oktoberanfang, als General Ludendorff die Waffen streckte, als sein Schrei nach Waffenstillstand die Stadt Newyork in maßlosem Jubel das Fest des Kriegsendes feiern ließ, im tausendfachen Raketenfeuerwerk, das über den Wolkenkratzern aufleuchtete, in dem bunten, alles überflatternden Konfettiregen, der von den Dachgärten in die Straßen niederstob, wußte nicht nur der Professor Massaryk, daß der Krieg für die Alliierten gewonnen war. Nur noch das Schweigen der Waffen, nur mehr die vielbesprochene Neuordnung der Welt waren die Aufgaben der Epoche geworden.
Sofort sollten nach Woodrow Wilsons pazifistischem Sinne die Waffen schweigen. Er hatte sich in mancherlei Widersprüche verstrickt. Von den Habsburgern hatte er in den »Vierzehn Punkten« die Autonomie für die Slawen verlangt. In seinen Noten rief er, von Professor Massaryk umgestimmt, der österreichisch-ungarischen Regierung jetzt zu, daß Autonomie nicht mehr genüge, daß die Regierung selbst mit den Völkern sich einigen müsse. Wer die »Vierzehn Punkte«, wer dazu die Noten mit Genauigkeit las, mußte die Verwirrung ahnen, in der der Präsident der Vereinigten Staaten sich befand. Aber nunmehr sah auch Professor Wilson das Kriegsende gekommen. Alle Widersprüche mußte die nahe Friedenskonferenz ordnen. Im Glauben des Präsidenten war der letzte Krieg durchgekämpft. Der Tag für seine »Ligue of nations« brach an, ob auch der französische Gesandte Jusserand über solchen Gedankengang lächelte, indes der englische Botschafter kühl dazu mit den Achseln zuckte. Vor allem aber sollte das Töten enden.
Unklar, wie er zwischen allen Ereignissen, allen Beziehungen, allen Problemen, allen Zusammenhängen war, hatte der Präsident der Vereinigten Staaten unsicher auch vor dem ersten Waffenstillstandsbegehren der deutschen Regierung gestanden. Er wußte nicht, wer eigentlich mit ihm sprach, ob der deutsche Kaiser, ob die deutsche Regierung im Auftrage des deutschen Volkes. So fragte er stets von neuem danach in seinen Noten, – ganz genau wollte er sich vergewissern. Denn nirgends bei den Alliierten war, wenn man vom hohenzollernfeindlichen Radikalismus des tschechischen Professors absah, nicht bei dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, nicht in England, selbst in Frankreich nicht, bei den Staatsmännern und Entscheidenden – indes die Massen in kühner Phantasie den Kaiser verjagten oder gefangen setzten – der Wille und die Forderung gewesen, daß Wilhelm II. vom Throne gestürzt werde. Es traf sich, daß die Auffassungen über das Abdankungsproblem bei den Alliierten, bei dem Reichskanzler, bei dem Kaiser selbst sich in einer einzigen Lösung vereinigen konnten: wenn Kaiser Wilhelm II. nur rechtzeitig nichts weiter blieb als der König von Preußen. Ihn sah die westliche Welt mit der Schuldfrage verstrickt. Wie immer die Schuldfrage sich späteren Epochen in Wahrheit klärte: die Sieger nannten den Kaiser mitbelastet. Er hatte stets zur Welt als deutscher Kaiser gesprochen, als der Repräsentant und Lenker des Deutschen Reiches. Wenn in Deutschland nicht mehr sein Wille, sein Wort, seine Allmacht bestimmend war, wenn Verfassungsänderung die Welt vor Übergriffen durch seine Machtaufbietung Deutschlands sicherte, so konnten auch die Alliierten den in seine Grenzen zurückgeworfenen König von Preußen dulden. Im Gedankenaustausch der Bestimmenden schien es gleich, ob Kaiser Wilhelm ein Privatmann wurde, ob er als Preußenkönig blieb, ob er die Regentschaft an einen Prinzen des Hohenzollernschen Hauses weitergab. Die Wortführerschaft des deutschen Kaisers für alle Deutschen wollte der Präsident der Vereinigten Staaten, wollten alle Verbündeten ausgeschaltet wissen: durch klare beruhigende deutsche Verfassungsänderungen. Ihrer wollte der Präsident sich genau vergewissern, bevor er handelte.
Dann wollte der Pazifist Wilson schnell ein Ende. Menschliche Rücksicht, die nirgends mehr Opfer dulden wollte, sprach bei ihm mit. Marschall Foch widerstritt. Der französische General begehrte weitere Kampffrist. Der Marschall fand die militärische Situation so, daß sie mit einer ungeheueren Kapitulation ganzer deutscher Armeen, mit ihrer Entwaffnung enden mußte. Mit der gleichen Kapitulation, die der Erste Generalquartiermeister Gröner als unvermeidlich ansah. Nicht nur Marschall Foch, auch Professor Massaryk wollte das klare militärische Endergebnis. Daß Deutschland geschlagen war, behaupteten im Lager der Alliierten alle Militärs. Aber nur, wenn, Deutschlands Heere kapitulieren mußten, konnte auch das deutsche Volk sich der vollen Erkenntnis solcher Tragödie nicht verschließen. Die Verhandlungen mit einem unzweideutig niedergeworfenen Gegner nannte der tschechische Professor dem Präsidenten der Vereinigten Staaten besser für die Zukunft als alle Neuordnungsversuche bei Duldung von Legenden, die den Gegner als unbesiegt im Felde darstellten und mit der Möglichkeit, unwahre Gründe für den Niederbruch aus dem Volksinnern abzuleiten, nur das Aufflammen kommender Vergeltungskriege fördern mußten. Pazifist war Woodrow Wilson. Pazifist war Professor Massaryk. Aber um der Klarheit willen war Massaryk dennoch für die Fortsetzung der Schlacht, wie Marschall Foch, für den Einmarsch in Berlin und den Weitermarsch seiner tschechoslowakischen Divisionen über die deutsche Reichshauptstadt in das alte Prag. In das Schwanken des amerikanischen Präsidenten, der gleichwohl mehr seiner Auffassung zuneigte, als der Meinung Massaryks, brachte nicht nur Frankreich, brachten zugleich die Ereignisse in Deutschland die Entscheidung. Unruhe war auch im französischen Heer. Rücksicht auf die Sozialisten, Furcht vor sich vielleicht erhebendem Bolschewismus, drängten die französischen Staatsmänner, über den Willen Marschall Fochs zu triumphieren, obgleich der Marschall zuletzt nicht mehr als zehn Tage für sich begehrte. Wilhelm II. erklärte seinen Verzicht auf die deutsche Kaiserkrone am 9. November in Spaa. Zu spät im Empfinden seines Volkes, das auch den König von Preußen nicht mehr ertragen wollte. Zu spät in seinem Kampf um beide Kronen. Zu spät für die Mühen des letzten kaiserlichen Reichskanzlers Prinz Max von Baden, der die Rettung wenigstens des Hohenzollernhauses erstrebt hatte, ohne ahnende Kenntnis der Spiegelung, in der die Alliierten selbst das Abdankungsproblem betrachteten. Die nächste Nacht sah den deutschen Kaiser auf der Reise nach Holland. Der Waffenstillstandsabschluß wurde befohlen. Selbst Marschall Foch mußte jetzt sich fügen. Nur was unmittelbar von der kaiserlichen Flucht ausstrahlte, war, wenn man noch an Professor Massaryks triumphierendes Dogma gegen den »Zarismus« dachte, wichtig im Augenblick: der letzte Anlaß zum historischen Abschied des Hauses Habsburg.
Die Wirkung auf die habsburgische Frage, die Auswirkung auf die revolutionären Elemente in Österreich oder auf Elemente, die dort sich revolutionär dünkten, mußte sofort sichtbar werden. Die Frage der Abdankung Kaiser Karls war vereinzelt und umschrieben im Staatsrat schon an dem Tage des Eintreffens von Wilsons höflicher Antwortdepesche an die provisorische deutschösterreichische Nationalversammlung aufgetaucht. Der deutschnationale Abgeordnete Oskar Teufel stellte den Antrag auf Proklamierung der Republik. Die Sozialdemokraten schwiegen. Aber länger als vierundzwanzig Stunden konnten auch sie ihr Schweigen nicht gut mehr bewahren.
Naturgemäß begann sich, gerade nach der leicht täuschenden Stille der vorangehenden Tage, in Schloß Schönbrunn die Unruhe zu erhöhen. Viel kam, vielleicht alles für den Kaiser und die Stellung seines Hauses auf die Haltung an, die in Österreich von der Partei der Christlichsozialen eingenommen wurde. Noch nachts vom 8. zum 9. November, unmittelbar nachdem im Staatsrat zum ersten Male von Abdankung gesprochen worden war, erbat der kaiserliche Sekretär Hauptmann Werkmann von Kardinal Piffl Auskünfte über seine Auffassung des Augenblickes.
»Schwer, aber nicht hoffnungslos«, antwortete der Kardinal. Er mußte freilich eine Nacht später, als der Sekretär abermals vor ihm stand, seine Ansicht berichtigen: »Sehr ernst!«
Der Kaiser wurde sogleich geweckt, da der Sekretär aus dem Palais des Kardinals zurückgekommen war. Seine Berater empfahlen, gewillt, um jeden Preis Klarheit zu schaffen, daß der Kaiser den Prälaten Hauser in Audienz empfange. Es konnte sein, daß der Prälat in ziemlich entscheidender Art die Haltung der Christlichsozialen mitbestimmte. Aber der Kaiser fand ein Verhandeln mit ihm vorerst weder angemessen, noch aussichtsvoll. Er zog es vor, ein Handschreiben durch seinen Sekretär an den Kardinal zu senden. Nicht ohne Erfolg. Der Kirchenfürst erklärte seine Bereitschaft, »unzweifelhaft festzustellen, welche Haltung die Partei bei dem für den 12. zu gewärtigenden Kampf innehalten wolle«.
Offenbar aber tat der Kardinal noch mehr. Denn unmittelbar nach dem Eintreffen des kaiserlichen Handschreibens wurde der Minister Professor Seipel von dem Prälaten Hauser in das Parlament gebeten. Mit ihm und dem Vorarlberger Abgeordneten Fink sollte er über die Abdankungsfrage beraten. Prälat und Abgeordneter erklärten, daß die Proklamation der Republik sich nicht mehr verhindern lassen werde. Sie stehe vor der Tür. In bestimmtem Tone forderte der Prälat nicht bloß, daß die Christlichsoziale Partei die Einsetzung der Republik ablehnen und gegen sie stimmen solle. Er versicherte, daß er Bürgschaft übernehmen könne für die Haltung, die sie am Sturmtage des 12. Novembers zeigen werde. Unbedingt versprach er, ausharren zu wollen. In seinen Gefühlen begriff der Abgeordnete Fink nicht nur die Haltung des Prälaten. Er hätte sie am liebsten auch zur eigenen Stellungnahme gemacht. Im Grundsätzlichen erklärte er sich mit ihm einverstanden. Aber er hatte Rücksichten zu nehmen. Seine vorarlbergischen Landsleute, die er vertrat, wären von republikanischer Gesinnung. Er hielte es für richtig, positiv für die Republik zu stimmen. Aber was den Kaiser betreffe, so wäre es für seine Sache richtiger, daß er durch ein Manifest die Entscheidung über die Staatsform in die Hände des Volkes lege. Minister Seipel griff ein. Er versuchte, den Abgeordneten zu überzeugen, daß sich die Proklamierung der Republik vielleicht überhaupt noch werde verhindern lassen. Er wollte ihn so völlig zu einem Kämpfer gegen sie gewinnen.
Die Besprechungen gingen weiter, zu dem Prälaten und dem Abgeordneten trat am Nachmittage des 10. Novembers noch der Staatssekretär Mataja. Auch ihn versuchte der Minister Seipel durch gleiche Taktik wie den Abgeordneten Fink zu gewinnen. Das offenbare Kommen einer Proklamation, die zur Republik führen sollte, beschäftigte zugleich die Ministerräte. Als das Kabinett sich abends zum zweiten Male versammelte, erschien mit dem Präsidenten der provisorischen Nationalversammlung Seitz in der Beratung auch der sozialdemokratische Staatsrat Karl Renner. Der Antrag des deutschnationalen Abgeordneten Teufel hatte sie beide an die Grundforderung ihrer sozialdemokratischen Gesellschaftsauffassung wieder erinnert. Beide verlangten die Proklamation der Republik. Sie drangen auf die Abdankung des Kaisers. Der Staatsrat Karl Renner hatte einen Entwurf mitgebracht, der eine Abdankungsurkunde darstellte. Ein heftiger Kampf entbrannte. Minister Seipel wehrte sich gegen die Abdankung. Wieder tat er es mit angewandter Technik. Er schloß die Abdankung nicht aus. Aber auf keinen Fall dürfe man sich mit ihr auch nur befassen, ehe nicht der erste Schritt zur Verkündung der Republik durch die Nationalversammlung getan wäre. Wäre es so weit, dann sollte man sich auch mit der Abdankung schnell beschäftigen. Dann dürfe man nicht bis zur formellen Entthronung des Kaisers warten.
Er führte seinen Verteidigungskampf zäh. Er wollte Zeit gewinnen. Er wollte keine Tatsachen schaffen lassen. Vielleicht kam alles noch anders. Vielleicht drang in der Nationalversammlung der Beschluß gar nicht durch, der die Republik verkündete. Er war gegen jede voreilige Preisgabe. Soviel erreichte der Minister, daß der Rennersche Entwurf – die Rücktrittsurkunde – im Ministerrat zunächst noch gar nicht behandelt wurde. Die Frage der Erlassung eines kaiserlichen Manifestes wurde beraten. Aber man kam zu keinem Beschlusse. Nachrichten von außerhalb drangen in den Rat und beunruhigten ihn. Aus Spa war Kaiser Wilhelm nach Holland geflohen. Alle deutschen Bundesthrone waren gestürzt. Die Stimmung mußte bedenklicher werden für Kaiser Karl. Die Wirkung von Beispielen ließ sich nicht ausschalten. Das Hin und Her im Ministerrate währte bis 1 Uhr nachts. Für ihn war das Wichtigste: der sozialdemokratische Vorstoß war wohl unternommen. Aber noch nicht durchgedrungen.
Allerdings hatte am gleichen Abend auch der deutschösterreichische Staatsrat seine Mitglieder zusammengerufen. Und zum Beschluß erhoben, daß in der am 12. November zusammentretenden Nationalversammlung die Einsetzung der Republik Österreich und der Anschluß des Landes an das Deutsche Reich gefordert werden solle.
Aus Oberösterreich hatte am nächsten Morgen der Prälat Hauser zuverlässige Nachrichten, daß selbst die Bauernschaft von umstürzlerischem Geiste erfüllt sei. Auch sie verlange die Republik. Dem Minister Seipel gestand der Prälat, daß nunmehr auch er das Spiel des Kaisers als hoffnungslos ansehe. Der deutschnationale Abgeordnete Sylvester vertrat die Meinung, daß der Deutsche Nationalverband der Sozialdemokratie, wenn irgend möglich, zuvorkommen und selbst in der Nationalversammlung die Proklamation der Republik vorschlagen solle.
Minister Seipel versuchte immer noch zu retten, was irgend zu retten war. In der Nationalversammlung besaß der Deutsche Nationalverband damals neunzig Stimmen. Er stellte die stärkste Partei dar. Dem Abgeordneten Sylvester erwiderte Professor Seipel, daß er seinem Plane aus zwei Gründen nicht beipflichten könne: zunächst sollte gerade die stärkste Partei »den Umfall doch nicht so weit treiben«; zweitens wäre es richtiger und wichtig, wenn es schon zur Republik käme, den Erfolg und das Ansehen aus dem Erfolge den Sozialdemokraten zu lassen. Vielleicht wären ihre Anhänger dann leichter von Ausschreitungen und Gewalttat abzuhalten, die immerhin noch nicht ausgeschlossen wären. Der Abgeordnete konnte sich der Logik des Ministers nicht verschließen. Den Sozialdemokraten sollte der Vorrang bleiben.
Ihre Führer Seitz und Renner setzten am 11. November den Wortlaut des Gesetzes fest, das am Tage darauf die Nationalversammlung in feierlicher Form beschließen sollte. Er enthielt die Verkündigung der Republik sowohl wie die Forderung, Deutschösterreich an Deutschland anzugliedern. Nicht nur die Flucht Kaiser Wilhelms II. und die Umwälzungen in den deutschen Bundesfürstentümern, nicht nur die blutigen Zusammenstöße, die aus Deutschland von manchem Ort gemeldet wurden und die deshalb – nach der, Auffassung der Parlamentarier – auch in Österreich herausgefordert werden konnten, brachten die Entscheidung gegen das Haus Habsburg. In seiner Botschaft an das deutsche Volk, die am 9. November den Thronverzicht Kaiser Wilhelms II. und des deutschen Kronprinzen verkündete, hatte der Reichskanzler Prinz Max von Baden zum Schlüsse noch von der Absicht des deutschen Kaisers gesprochen:
»Die Vorlage eines Gesetzentwurfes wegen der sofortigen Ausschreibung der allgemeinen Wahlen für die verfassungsgebende Nationalversammlung vorzuschlagen, der es zu obliegen hat, die künftige Staatsform des deutschen Volkes einschließlich der Volksteile, die ihren Eintritt in die Reichsgrenzen wünschen sollten, endgültig festzustellen.«
Der Schlußsatz des Prinzen war ein Ansporn: blieb Kaiser Karl auf dem Throne, so mußten alle ihre Hoffnung begraben, die auf die Verbrüderung mit dem Deutschen Reiche rechneten. Überdies hatten alle Nationalstaaten das Erbe der alten Monarchie längst angetreten. Die Tschechoslowakei und der südslawische Staat hatten ihre Selbständigkeit unzweifelhaft aufgerichtet. Der Staatsrat Karl Renner erklärte:
»Die Deutschen sollen nicht als Krongut der Habsburger übrigbleiben!«
Vor dem Aussprechen des Anschlußgedankens warnte ihn Professor Seipel. Wenn ihn auch die Deutschösterreicher in ihrer Gesamtheit verfechten wollten, so war doch abzuwarten, was Frankreich, besorgt um jeden Zuwachs für das niedergeworfene Deutschland, dazu sagte. Staatsrat Renner widerstritt nicht. Er selbst überdachte das Verhalten der Entente gleichfalls. Er fürchtete härtere Friedensbedingungen für das Land, wenn Kaiser Karl sein Herrscher blieb, und stützte auch darum jeden Kampf gegen die Habsburger. Er fürchtete den französischen Einspruch in der Anschlußfrage nicht weniger. Aber hier behauptete er, Stimmungen im Volke Rechnung tragen zu müssen. Wenn auch die Anschlußforderung aus dem Gesetzentwurf gestrichen würde, so würde sie dennoch in der Nationalversammlung erscheinen: nur würde sie dann »durch Initiativ-Vortrag« gestellt werden. Klar war, daß an dem Gang der Ereignisse, was die Absichten und Beschlüsse der Nationalversammlung betraf, kaum mehr etwas geändert werden konnte. Und daß die Minister sich mit den Tatsachen abzufinden, nach ihnen ihre Vorschläge an den Kaiser einzurichten hatten.
Vor allem war wichtig, wie der Kaiser selbst zu der ganzen Entwicklung stand. Verharrte er in Zurückhaltung, ohne eine Entscheidung zu treffen, so sprach die Nationalversammlung schließlich die Absetzung aus. Verzichtete er auf den Thron, noch ehe die Nationalversammlung ihre Beschlüsse zum Gesetz erhob, so unterblieb die Demütigung seiner Absetzung. Der ausgesprochene Thronverzicht bedeutete freilich zugleich die Unmöglichkeit oder wenigstens die größte Unwahrscheinlichkeit, jemals auf den Thron zurückzukehren.
Das Kabinett beschloß, dem Kaiser vorzuschlagen, daß er seinen Verzicht auf jeden Anteil an den Regierungsgeschäften ausspreche. Professor Seipel, im Innersten immer noch für ein Ausharren von Kaiser und Regierung, hatte solche Lösung angeregt, die dem Kaiser wenigstens nicht alle Zukunftsmöglichkeit versperrte. Der Ministerrat hatte sich zu dem Auswege erst entschlossen, als mit dem Präsidenten der Nationalversammlung die Staatsräte Dinghofer und Renner eintraten: die Proklamierung der Republik wäre für den kommenden Tag unabänderlich im Staatsrate bestimmt worden.
Noch einmal versuchte der Staatsrat Renner, die Annahme des von ihm verfaßten Entwurfes durchzusetzen, der als Rücktrittsurkunde vom Kaiser unterzeichnet werden sollte. Aber der Ministerrat verwarf den Text. Nicht der Rücktritt, nur der Verzicht an den Staatsgeschäften sollte besiegelt werden. Die Übereinstimmung der Minister war darin vollkommen. Von den Staatsräten Dinghofer und Renner forderte der Minister Seipel noch die ausdrückliche Bestätigung, daß der vorbereitete Gesetzesentwurf »als provisorisch« bezeichnet werde. Der Staatsrat Renner gab die Erwiderung, »daß die ganze Nationalversammlung nur provisorisch sei und daher keine bindenden Entschlüsse fassen könne«. Seine Haltung unterschied sich in der Wirkung nicht, im Wollen kaum sichtbar von allen anderen Abgeordneten, die in der Nationalversammlung für die Republik zwar stimmen wollten, ohne die Monarchie indes endgültig zu beseitigen. Sie alle fürchteten die Revolution, verheerende Stürme der Revolution, die erst, wenn sie nicht überhaupt beschworen werden konnten, verbrausen sollten, ehe man das Volk zur Entscheidung über Republik oder Monarchie aufrief. Der Staatsrat Karl Renner erklärte schließlich sein Einverständnis mit der Forderung der Minister, vorläufig nur einen Verzicht des Kaisers an den Staatsgeschäften zu begehren. Staatsrat und Sozialdemokratie, Minister und Monarchie schlossen ein Kompromiß. Der Kaiser dankte nicht ab. Er zog sich nur von der ausübenden Macht zurück. Im Grunde waren alle nunmehr einig in dem Beschlusse zur Forderung einer Republik, in der selbst die Sozialdemokratie zustimmte, daß der Kaiser unzweifelhaft der Kaiser blieb.
Der Wortlaut des Manifestes, das der Kaiser unterschreiben sollte, wurde im Ministerrate noch am Vormittage festgesetzt. Namentlich der Unterrichtsminister versuchte, der Fassung einen warmen, herzlicheren Abschiedsklang zu geben. Bevor eine Reinschrift von ihr fertiggestellt werden konnte, eilten der Ministerpräsident Professor Lammasch und der Minister des Innern Gayer nach Schönbrunn, um dem Kaiser über die Ereignisse und ihr Ergebnis zu berichten. Auch den Verzicht auszusprechen weigerte sich, bestärkt durch die leidenschaftlich erregte Kaiserin, im Anfang der Kaiser. Aber die Vorstellungen der Minister ließen nicht nach. Der Kampf des Herrschers war sichtbar und schwer. Endlich malten die Minister die Folgen der Weigerung: die Arbeiter hätten mit dem Anmarsch um vier Uhr gedroht, wäre die Verzichterklärung nicht bis drei Uhr nachmittags plakatiert. Wenige Minuten vor zwölf gelang es den Ministern, den Kaiser zu der Entscheidung zu bringen, daß er unterschreiben wolle. Sie fuhren sogleich zurück. Die Verzichterklärung wurde, noch ehe sie der Kaiser unterfertigt hatte, unmittelbar darauf dem Volke mitgeteilt.
Der Kaiser stand vor dunkler Zukunft. Zwei Jahre trug er jetzt die Krone der Habsburger, ihm nicht von Anbeginn zugedacht, ihm zugefallen durch den Thronfolgermord von Serajewo, gefährdet durch den Ausgang des unglücklichen Krieges, der um eben jenes Mordes willen aufgeflammt war. Er selbst hatte, für seine unerwartete, schwere Würde nicht erzogen, von schlecht gewählten Lehrern gebildet, zwei Jahre lang um den Frieden mit allen Mitteln gekämpft. Sie hatte er, von ungeeigneten Ratgebern umstellt, oft Einflüssen zugänglich, von denen selbst die Ratgeber nichts wußten, stets um des Endzweckes willen gebilligt. Er hatte Fehler auf Fehler im Regieren gehäuft, das er, bestärkt von halb leichtsinniger, halb untertäniger Umgebung, im Vollbewußtsein seines Gottesgnadentums als absolute Herrschaft geübt. So sehr der Kaiser nunmehr litt, so trug doch er selbst am Niederbruche seiner Herrschaft tiefste Schuld. In Ungnade hatte er nicht bloß Warner und Berater fortgeschickt, die den Bau des Staatsschiffes besser kannten, die Steuerung im Kriege besser wußten, als die neuen Männer, mit denen er sich schnell umgab. Er hatte über die Mißgriffe hinaus, zu denen ihn Zuneigung oder Abneigung für die persönliche Art der von ihm Erwählten oder Abgelehnten verleiteten, sich in schwere Irrungen verstrickt, die das Wesen seines Reiches, wie der ihm anvertrauten Herrschaft verkannten.
Kaum an der Macht, kaum mit dem Purpur bekleidet, der ihm von seinem Großohm Franz Joseph überkommen war, hatte er diese Herrschaft sogleich mit vieler Neuerung, mit großer äußerer Bewegung geübt, sich aber der selbstverständlichsten, staatsrechtlichen Verpflichtungen nicht entsonnen, die des neuen Trägers der Krone harrten. Den Eid auf die Verfassung hatte Kaiser Karl, bestimmt durch religiöse Einflüsse oder bestimmt durch Einwirkungen, die er aus den Forderungen der Religion zu schöpfen vorgab, nicht geleistet. Er hatte sich geweigert, die Verfassung zu beschwören, weil er im Kriege die Not erkannte, durch »Oktroys«, durch diktatorische Gewalt zu herrschen. Ihm war die Heiligkeit des Eides als verletzt bezeichnet worden, wenn er nach beschworener Verfassung gleichwohl von Zeit zu Zeit mit Machtworten ohne Widerspruch herrschte, wobei er und die aus kalten, dogmatischen Formeln fromm Einflüsternden völlig übersahen, daß gerade die Verfassung, die beschworen werden sollte, von dem Kaiser forderte, durch Gesetz forderte, daß er nach bestem Wissen und Gewissen allein regiere, wenn die durch die Verfassung Mitberufenen versagten. Daß er so lange auf solche Art regiere, bis neue Zeitläufte und Männer neuer Berufungen auch die Möglichkeit neuen Konstitutionalismus gäben. Aber der Kaiser beschwor aus mißverstandener Hemmung nicht nur bei seinem Regierungsantritt die Verfassung nicht: er setzte trotzdem Neuerung neben Neuerung. Sichtbar strebte er eine neue Verfassung an, sichtbar setzte er die alte Verfassung – die er nicht schonen zu müssen glaubte, denn er hatte sie eben nicht beschworen – in Zeitläuften außer Kraft, denen er eine andere Verfassung noch gar nicht zu geben vermochte. In die Gewalt seines Herrscheramtes hatte er sich, vielleicht bewußt, vielleicht auch unbewußt, mit der sophistischen Deutung frömmelnder Berater geschickt, die er als Forderung des Glaubens angab oder fühlte und die gerade die klarsten Köpfe, selbst hohe Verfechter katholischen Bekenntnisses, als Pflichtverletzung gegenüber den Völkern bezeichneten. Der Eid war nicht geleistet worden. Zwei Jahre verstrichen. Der erste Riß im Staatsbau klaffte: von innen her, vom Kaiser selbst verschuldet. Die Unsicherheit aller Gesetze war im Reich. Was immer geschah: es geschah fast mit dem Anstrich des Staatsstreiches.
Wirr wurde dann sogleich der Kampf der Völker, da der Kaiser, ohne auch hier die Folgen und Entwicklung zu Ende durchzudenken, den Reichsrat einberief. Im leidenschaftlichen Streit der Nationen, deren Gefahr er durchaus begriff, hatte er bisweilen Berater von tiefem, warnendem Ernst, die auch Wege der Lösungen zeigten. Aber die Zukunft der Südslawen, die als erster Marschall Conrad von Hötzendorf von ihm gefordert hatte, setzte er gegen die Magyaren nicht durch. Noch zuletzt, als das Gebälk des ganzen Reichs schon stürzte, hemmte auch hier ihn die formale Bindung eines Eids. Die Lösung der tschechischen Frage, die minder wichtig war, wenn die Südslawen treu blieben, die wichtig wurde, wenn das südslawische Problem scheiterte, verrann ihm nebenher. Der Statthalter von Böhmen, Graf Coudenhove, hatte die Tschechen den Habsburgern vor Jahresfrist noch einmal näher verbinden wollen. Er hatte die Gefahr erkannt, die vor allem von den tschechischen, ententefreundlichen Politikern drohte, auch wenn von ihnen der vertrauensselige, nicht eben staatskunstsichere Ministerpräsident Seiler erklärte:
»Die Tschechen sind wie die Kinder. Sie müssen auch wie die Kinder behandelt werden.«
Der Statthalter hatte die Politiker von dem Wege entfernen wollen, der von dem Volk zu dem König von Böhmen führte. Er war dafür gewesen, daß sie kaltgestellt würden, Kaiser Karl aber sich zum König krönen lasse. Dem Statthalter hatte der Kaiser auch fast schon zugestimmt. Seine Bedenken waren gewesen:
»Aber was werden die Deutschen dazu sagen? Und wie soll der Eid gefaßt werden?«
Graf Coudenhove wußte, daß der Eid natürlich nicht auf eine nicht bestehende Verfassung geleistet werden konnte. Aber dennoch hoffte er einen Ausweg zu finden. Er schlug etwa die Formel vor:
»An den Einrichtungen, die im Einverständnis beider Nationen unter Genehmigung der Krone zustande kommen, soll unverbrüchlich festgehalten werden.«
Kaiser Karl hatte daraufhin vollkommen zugestimmt. So sehr war er für den Plan einer Krönung in Böhmen, daß technische Einzelheiten bereits bestimmt wurden. In Prag hatte dann der Statthalter in größter Eile das Zeremoniell der letzten Krönung hervorsuchen und schon feststellen lassen, was davon noch brauchbar wäre, was geändert werden müßte. Aber die Wiener Ratgeber hatten sich offenbar wieder anders besonnen. Dem drängenden Statthalter hatte eines Tages der Ministerpräsident Seidler erklärt:
»Es ist ganz undenkbar, an derartiges zu denken. Die tschechischen Abgeordneten haben mich bei einer Sondierung ernsthaft gewarnt und gesagt, es würde eine fürchterliche Blamage geben. Der König würde durch leere Straßen in Prag einziehen.«
Der Statthalter hatte widersprochen. Er übersehe und kenne aus der Nähe die Verhältnisse besser. Die Atempause hatte aber der habsburgfeindliche Tschechenführer Zahradnik in der Tat auch noch benützt, die Stimmung mehr als im Lande, bei den »sehr einfältigen Ratgebern des Kaisers« und so beim Kaiser selbst gegen eine Krönung zu kehren, da durch sie »alle nicht stramm nationalen Männer in Böhmen ihm zugefallen wären«. Graf Coudenhoves Plan war versunken. Der Kaiser hatte abermals eine Rettungsmöglichkeit, vielleicht sogar die Wahrscheinlichkeit der Reichsrettung versäumt.
Versäumnis an Versäumnis, Fehler neben Fehler mußten sich ihm aufreihen, wenn er die beiden Jahre seiner Regierung überdachte. Er hatte sie nach außen wie nach innen begangen, militärisch wie politisch: eine einzige Kette von der Eidesverweigerung über seine Amnestie vom Frühjahr 1917, über die unglückliche Technik der Sixtus-Briefe bis zu dem Auflösungsmanifest vom Oktober 1918. Und von der Entfernung und Sprengung jenes Armeeoberkommandos, darin als geistiges Haupt Marschall Conrad saß, bis zu den Waffenstillstandsverhandlungen, die vor wenigen Tagen der Chef des Generalstabes Baron Arz zu Ende gebracht hatte.
Alles war verfehlt, verkannt, verdorben. Ein altes Reich zersprengt, mit seinen Vermächtnissen begraben für immer. Und bitter zwischen den Trümmern war das Ende, wie es sich für Kaiser Karl selbst gewendet hatte.
Der Minister des Innern Gayer erschien nachmittags um die fünfte Stunde nochmals in Schönbrunn. Ihn hatte der Ministerrat zum Überbringer des Schriftstückes gewählt, denn als Minister des Innern war er verantwortlich für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung: gerade er vermochte den Kaiser am besten zugleich über seine persönliche Sicherheit und über die Sicherheit der kaiserlichen Familie zu beruhigen. Der Minister legte die Reinschrift der Verzichtsurkunde vor:
»Seit meiner Thronbesteigung war ich unablässig bemüht, meine Völker aus den Schrecknissen des Krieges herauszuführen, an dessen Ausbruch ich keinerlei Schuld trage. Ich habe nicht gezögert, das verfassungsmäßige Leben wieder herzustellen und habe den Völkern den Weg zu ihrer selbständigen staatlichen Entwicklung eröffnet. Nach wie vor von unwandelbarer Liebe für alle meine Völker erfüllt, will ich ihrer freien Entwicklung meine Person nicht als Hindernis entgegenstellen. Im voraus erkenne ich die Entscheidung an, die Deutschösterreich über seine künftige Staatsform trifft. Das Volk hat durch seine Vertreter die Regierung übernommen. Ich verzichte auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften. Gleichzeitig enthebe ich meine österreichische Regierung ihres Amtes. Möge das Volk von Deutschösterreich in Eintracht und Versöhnlichkeit die Neuordnung schaffen und befestigen. Das Glück meiner Völker war von Anbeginn das Ziel meiner heißesten Wünsche. Nur der innere Frieden kann die Wunden des Krieges heilen.«
Der Kaiser setzte unter die Urkunde seinen Namenszug. Der Minister trug sie in den Ministerrat zurück. Die Gegenzeichnung vollzog als Ministerpräsident Professor Lammasch. Für den Kaiser blieb nur noch die Abreise, die Wahl des Aufenthaltes zu regeln.
Vom Ministerium des Äußern überbrachte der Botschafter von Flotow einen Vorschlag. Alle neutralen Botschafter und Gesandten hatten sich bei ihm eingefunden und ihm, als dem Leiter des vom Grafen Andrássy übernommenen Amtes, ihre Bereitschaft erklärt, den Souverän, bei dem sie akkreditiert waren, insgesamt ins Ausland zu begleiten. Aber der Kaiser wehrte ab. Er wolle die Entscheidung des Volkes abwarten, nicht vorher ins Ausland gehen.
Auch das Herrenhausmitglied Fürst Lobkowitz hatte sich vor Tagen schon um einen Zufluchtsort für Kaiser Karl bemüht. Schloß Brandeis an der Elbe war ein Lieblingssitz des jungen Erzherzogs gewesen. Dort hatte er als Dragoneroffizier lange und frohe Zeit verbracht. Der Fürst hatte sich an den tschechischen Abgeordneten Tuszar gewendet, nunmehr tschechoslowakischen Gesandten in Wien, damit er bei seiner Regierung die Erlaubnis des Aufenthaltes erwirke. Sie wurde auch gegeben, zugleich wurden die Bedingungen und Einzelheiten der Übersiedlung geordnet. Ein einziger Offizier sollte den Kaiser begleiten. Beim Betreten der tschechoslowakischen Grenze sollte er eine Urkunde unterzeichnen für sich und sein Haus, die alle Thronansprüche auf ein königliches Böhmen für erloschen erklärten. Eine gleiche Urkunde sollte auch noch in Schloß Brandeis untersiegelt werden. Schon rüsteten sich die tschechischen Beauftragten zum Empfange an der Grenze. Aber Fürst Lobkowitz erschien noch einmal bei dem Gesandten Tuszar: der Kaiser fuhr nicht.
Er entschied sich für das einsame Donauschloß Eckartsau, nahe bei Wien. In Hast packten Kaiserin, Hofdamen und Hofkavaliere. Um die achte Stunde kam der Kaiser die Treppe hinab. Die Zöglinge der Akademien traten ihm mit ihrem Oberstbefehlshaber entgegen. Dem Abschiednehmenden leisteten sie noch einmal den Schwur der Treue. Die Autos bogen aus dem Schloßhof, den eben anrückende Volkswehr des deutschösterreichischen Staates füllte. Sie war in Marschausrüstung und mit Maschinengewehren gekommen. Jetzt harrte sie milizhaft und bürgerlich bequem des Befehls, der Schloß und kaiserliche Gemächer mehr ihrer Neugier als ihrer Habsucht öffnen sollte.
Die Autos fuhren ihren Weg mit dem kaiserlichen Wappen. Dennoch unbemerkt. Ein einziger Offizier war aus der Umgebung des Kaisers in Schönbrunn noch zurückgeblieben. Er schritt noch einmal durch die verlassenen Zimmer. Im leeren Maria Theresien-Saal saß, zusammengesunken auf einem Stuhl, in tiefem Schlaf ein Gardereiter. Viele Stunden hatte er der Ablösung geharrt. Man hatte ihn vergessen.
Auf dem spiegelnden Boden lag, ihm entglitten und weit im Bogen fortgerollt, sein Helm mit schwarzem Roßhaarbusch.
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