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Vom Kanzler verabschiedete sich der Kaiser beim Antritt seiner Nordlandreise mit allgemeinen Gesprächen. Er wies auf die Vorteile hin, die für Deutschland doch ein Abkommen mit Rußland brächte. Der Kanzler war der gleichen Meinung. Von Hernösand verlangte dann der Kaiser die telegraphische Übermittlung des Vertragsentwurfes, über den die Verhandlungen im abgelaufenen Herbst geführt worden waren, bis sie durch den Einspruch der russischen Minister scheiterten. Dem Kanzler teilte er gleichzeitig mit, daß er sich mit dem Zaren zu einer Begegnung verabredet habe. Kein Einspruch erfolgte, um die Begegnung oder eine Unterhaltung über eine russisch-deutsche Abrede zu vereiteln. Im Gegenteil: der Kanzler ging lebhaft und ausführlich auf das Thema ein. Auch wollte er dafür sorgen, daß die Zusammenkunft der beiden vorerst völlig geheim bliebe. Kaiser Wilhelm fuhr auf seiner »Hohenzollern« von Hernösand in Schweden nach Björkoe.
Auch im kaiserlichen Gefolge wußte außer dem Gesandten von Tschirschky niemand um die Absichten oder auch nur um das Reiseziel Wilhelms II. Die Fischer von Hernösand legten, wie immer beim Abschied der kaiserlichen Yacht ihre Boote und Barken an die »Hohenzollern« und sangen ihre schwermütigen Volkslieder. Das Gefolge warf Konfekt und Obst in die Boote, seltene Leckerbissen im Norden, dann spielte die Schiffskapelle ihre Märsche. Oben auf Deck ging der Kaiser, in endlose Gespräche vertieft, mit dem Gesandten auf und nieder. Die »Hohenzollern« glitt fort, sie nahm immer größere Geschwindigkeiten an, aber die Unterhaltungen auf Deck hörten nicht auf. Der Kaiser beriet das neue Programm, das er dem Zaren vorlegen wollte. Die russische Flotte hatte bei Tsuschima ihren Untergang erst vor knapp vier Wochen gefunden. Jetzt drangen die Einzelheiten der Katastrophe mit allen Schrecknissen durch. Der Kaiser wog die Lage und die Stimmung Rußlands ab, die sein Vorhaben fördern mußten. Seine Gedanken tauschte er mit dem Gesandten von Tschirschky aus:
1. »England steht hinter Japan.
2. Frankreich verweigerte der russischen Flotte jede Hilfe auf ihrer Ausfahrt.
3. Bedenkliche Gärung im russischen Volk und Heer über die Niederlagen in dem sehr unpopulären Krieg, die
4. S. M. persönlich und seiner Dynastie gefährlich werden konnte;
5. also mußte dem völlig vereinsamten Zaren Zuspruch, Trost und Stärkung zuteil werden und die Möglichkeit geboten werden, eine Stütze in der Welt zu finden.
6. Diese konnte nur noch von Deutschland angeboten werden, da wir die Einzigen waren, die eine sehr »wohlwollende bis an die Grenze des Möglichen« gehende Neutralität Rußland gegenüber geübt hatten (Bekohlen der ausfahrenden Flotte durch Ballin), auf Grund derer die Flotte überhaupt nur im Stande war, den fernen Osten zu erreichen.«
Das Abkommen, das der Kaiser mit dem Zaren schließen wollte, baute er nur zum Teil auf den Grundlagen auf, die der abgelehnte Entwurf vom Herbste 1904 gezeigt hatte. Der neue Vertrag sollte die Unterzeichner binden vom Tage des Friedensschlusses zwischen Rußland und Japan.
Die »Hohenzollern« lief am Abend des 23. Juli 1905 in die finnischen Gewässer ein. Ein Würdenträger in Galauniform mit großem Dreispitz kam an Bord. Das kaiserliche Gefolge stellte sich zum Empfange dieses Admirals bereit:
»Nein, der Lotsenkommandant«, lachte der Kaiser. »Meine Herren, in zweieinhalb Stunden stehen Sie vor S. M. dem Zaren!«
Die Yachten des Zaren, »Standart« und »Polarstern«, lagen auf der Reede von Björkoe vor Anker.
Kaiser Wilhelm hatte den Eindruck aufrichtiger Freude, die sein Kommen bei dem Zaren und seiner ganzen Begleitung auslöste. Nikolaus II. umarmte seinen Gast immer wieder. Der alte, dem Kaiser von früher her befreundete Hofminister Baron Fredericks war vor Rührung außer sich:
»In der Zeit, wo wir von aller Welt verlassen, ja verachtet sind und kein Hund mehr ein Stück Brot von uns nimmt, da kommen Euere Majestät als treuer Freund, trösten und richten uns wieder auf!«
Auch der Hofminister konnte es sich nicht versagen, den Kaiser zu umarmen.
»Besonders unsern armen, schwer geprüften Herrn erfreuen Euere Majestät ja so durch den Besuch! Als er uns die Nachricht mitteilte, haben wir alle aufgeatmet, und einer rief: Enfin un rayon de soleil! Un ami! Wir sehen in Euerer Majestät unsern Retter in der Not. Rußland wird das niemals vergessen!«
Es war deutlich, daß der Kaiser eine gute Stunde gewählt hatte. Der Zar war zwanglos und heiter. Auf der »Hohenzollern« blieb er bis in den grauenden Morgen. Vorsichtig streifte schon am ersten Tage der Kaiser das Thema. Der Zar nahm es sofort auf. Er war von maßlosem Zorn gegen England erfüllt. Er selbst sprach es aus, daß die beste Lösung für Europas Wohl das Zusammengehen der drei großen Reiche, Rußland, Deutschland, Frankreich wäre – –
Am nächsten Morgen schloß er sich auf dem »Polarstern« mit dem Kaiser im Schreibzimmer Alexanders III. ein. Er konnte es allem Anschein nach selbst nicht erwarten, mit seinem Gast über so wichtige Angelegenheit allein zu sprechen. Ohne Übergang kam er wieder auf die Möglichkeit und Nützlichkeit eines Bundes. Die Blicke des Zaren spiegelten alle seine Gefühle wider. Er sah verträumt vor sich hin, da der Kaiser seinen eigenen Traum von dem großen Kontinentalblock der Zukunft vor ihm aufbaute. Er sprühte vor Haß, wenn das Wort »England« fiel. Nur der Haß gegen England bestimmte ihn. England hatte selbst bei dem verbündeten Frankreich erreicht, daß es den Bundesgenossen in höchster Gefahr im Stich ließ. Kaiser Wilhelm meinte, daß auch Frankreich einem Abkommen, wie es sich die beiden Herrscher im Augenblick dachten, gewiß keine Schwierigkeiten bereiten, vielmehr dem Bund beitreten werde. Er holte den Vertragsentwurf hervor. Der Zar las den Text dreimal langsam und genau. Eine einzige Abänderung wünschte Nikolaus II.: das Bündnis sollte Geltung nur für Europa haben. Kaiser Wilhelm sprach auch diese Wendung mit dem Zaren durch. Sie kamen beide zu der Überzeugung, daß die Beschränkung den Vorteil beider Reiche ausmachte.
»Das ist ganz ausgezeichnet«, rief endlich der Zar. »Ich bin ganz einverstanden« – –
»Möchtest du es unterschreiben?« fragte der Kaiser, scheinbar so nebenhin, wie er es zustande brachte. Denn er spürte seine eigene, große Erregung. »Es wäre eine sehr schöne Erinnerung an unsere Begegnung« – –
»Ja«, bestätigte der Zar, »ich will!«
Kaiser Wilhelm fügte in den Entwurf den Zusatz »en Europe«. Dann reichte er dem Zaren die Feder.
Die endgültige Fassung des Abkommens zeigte die Hauptforderung eines Schutzbündnisses und entwickelte vier Punkte:
»Ihre Majestäten der Kaiser aller Reußen und der Deutsche Kaiser haben, um die Aufrechterhaltung des Friedens in Europa zu sichern, die nachfolgenden Artikel eines Verteidigungsbündnisses festgesetzt:
Artikel I. Im Falle, daß eines der beiden Kaiserreiche von einer europäischen Macht angegriffen werden sollte, wird ihm sein Verbündeter in Europa mit allen seinen Land- und Seestreitkräften beistehen.
Artikel II. Die hohen vertragsschließenden Teile verpflichten sich, mit keinem gemeinsamen Gegner einen Sonderfrieden zu schließen.
Artikel III. Der vorliegende Vertrag wird in Kraft treten, sobald der Friede zwischen Rußland und Japan geschlossen sein wird, und wird gelten, solange er nicht ein Jahr vorher gekündigt werden wird.
Artikel IV. Der Kaiser aller Reußen wird, nachdem dieser Vertrag in Kraft getreten, die nötigen Schritte tun, um Frankreich in diese Abmachung einzuweihen, und es aufzufordern, ihr als Verbündeter beizutreten.«
Der Zar schrieb sein »Nicolas« unter das Blatt. Er erhob sich und schloß den neuen Verbündeten in seine Arme:
»Ich danke Gott und ich danke Dir! Es wird von den segensreichsten Folgen für mein Land und für Deines sein! Du bist Rußlands einziger und wirklicher Freund. Das habe ich den ganzen Krieg über gefühlt. Und ich weiß es« – –
Eine Art Gegenzeichnung war für den Vertragsschluß nötig. Weder Kaiser Wilhelms Kanzler war da, noch der Außenminister des Zaren, Graf Lambsdorff. Was den Kanzler betraf, so hatte der Kaiser ihn von seinem Vorhaben unterrichtet. Gerade den Grafen Lambsdorff aber hatte Kaiser Wilhelm vorläufig aus dem Geheimnis ausgeschaltet wissen wollen. Er war seit dem Augenblicke, da der Reichskanzler auf den von ihm gewünschten Ostasienpakt nicht eingehen wollte, auf Deutschland nicht gut zu sprechen. Schon die Versuche, zu einem Abkommen mit Rußland im Herbst 1904 zu kommen, waren vor allem an seinem Einspruch gescheitert. Graf Lambsdorff sollte die große Neuigkeit des Bündnisses erst nach dem Friedensschlusse mit Japan erfahren. Der Zar selbst hielt dies für richtig.
Einen Augenblick lang mußte Kaiser Wilhelm bedenken, daß dann kein verantwortlicher Staatsmann auf russischer Seite die kaiserliche Handlung bekräftigte. Aber der Zar war der Selbstherrscher eines absolutistisch regierten Reiches. Kein Kanzler, kein Minister konnte seinen Willen, seine Unterschrift umstoßen. Dem Kaiser schien es genug, wenn für die deutsche Seite, da der Kanzler im Einverständnis war, der Gesandte von Tschirschky mitunterschrieb. Für den Zaren und die Gültigkeit seiner Verpflichtung war es einerlei, ob auch noch ein russischer Würdenträger unterzeichnete. So bedeutete es mehr Form, als Inhalt, daß mit dem Gesandten von Tschirschky auch Admiral Birileff seinen Namen unter das Schriftstück setzte.
Die vier Unterschriften standen auf dem Dokument. Eine Abschrift stellte der Bruder des Zaren auf einem Briefbogen des »Polarstern« her. Der Admiral küßte dem Kaiser die Hand, ohne vor Erregung mehr herauszubringen als die Sätze:
»Quel honneur pour moi de pouvoir signer un tel document, Sire! Dieu vous bénisse, vous êtes un ange gardien de la Russie« – –
Kaiser Wilhelm dachte an seine Heimfahrt mit einem Frohgefühl, wie er es bisher nie gekannt hatte. Der Zar küsste ihn beim Abschied:
»Mein lieber Wilhelm, wenn Du jemals kriegerische Verwicklungen mit einem anderen Land hast, so werde ich mich niemals feindlich gegen Dich stellen. Ich werde entweder neutral bleiben oder an Deiner Seite sein. Ich gebe Dir als Souverain und als Gentleman mein heiliges Ehrenwort, daß ich bestimmt niemals in meinem Leben den Engländern in einem Kriege gegen Dich helfen werde, den sie vielleicht eines Tages versuchen werden.«
Zar und Kaiser trennten sich. Die beiden Yachten dampften. Das gleiche Ehrenwort hatte Nikolaus II. in Reval schon dem Admiral von Tirpitz gegeben.
Kaiser Wilhelm sah die Erfüllung seiner Wünsche und Absichten weit übertroffen. Er zweifelte nicht an Frankreichs Beitritt zu dem Abkommen. Doppelte Genugtuung überkam ihn, daß er eine Politik der Schärfen dem französischen Kabinet gegenüber abgelehnt hatte. Die Abrede mit dem Zaren schien ihm die vollendete Grundlage des europäischen »Völkerbundes« den er sich ausgemalt hatte. Alle Reibungen wurden in Zukunft ohne den Anruf der Waffen ausgetragen. Für den Zweibund konnte der Zar, für den Dreibund er selbst der vermittelnde Sprecher sein. Erreicht war vor allem eins: daß Englands Einfluß vom Fesdande ausgeschaltet war. Es konnte sich dem Bunde der fünf Großmächte eingliedern, wenn es wollte. Anzunehmen war, daß auch die kleinen Nationen sich anschlossen. Viel anderes blieb ihnen nicht übrig. Frankreich konnte ruhig auch sein besiegeltes Verhältnis mit England weiterpflegen. Nur eine Möglichkeit schnitt das Abkommen mit dem Zaren entzwei: zu Ende war das englische Spiel mit der »Balance of power«, seit Jahrhunderten auf dem Festlande angewandt. England konnte seine eigene Welt regeln. England konnte an Europa teilhaben. Aber sein Schicksal bestimmte in Zukunft das Festland allein – –
Die Unwahrscheinlichkeit, daß Frankreich den Beitritt zum Bunde doch ablehnte, hatte der Kaiser in seine Berechnungen trotz seiner Zuversicht miteinbezogen. Rußland war zum Schutze Frankreichs verpflichtet, wenn Frankreich angegriffen wurde. Der Zar verpflichtete sich in Björkoe zum Schutze Deutschlands, wenn die Deutschen angegriffen wurden. Rußland hatte in beiden Fällen nur zur Verteidigung des Bundesgenossen zu fechten. Deutschland und Frankreich mußten es sich überlegen, zu den Waffen zu greifen. Ein neuer Rückversicherungsvertrag mit Rußland war aufgebaut: nur ohne Verrat.
Das Geheimabkommen von 1887 war gegen den eigenen Bundesgenossen abgeschlossen, hinter seinem Rücken und mit seiner Ausschaltung vom Bunde. Von Anbeginn hatte Zar Alexander III. die Geheimhaltung des dunklen Schriftstückes begehrt. Der Vertrag von Björkoe forderte offenes Spiel mit Frankreich. Er bestimmte seine Aufnahme in den Bund. Weder Österreich-Ungarn, noch Frankreich bezahlten ihn mit Opfern, Gefahren oder Zumutungen. Weder Rußland, noch Deutschland sollten den Vertrag mit Zugeständnissen verknüpfen, die dem Gebiet der Bundesgenossen Brandherde an ihren Grenzen schufen. Die Ruhe in Europa war erzwungen: das gleiche Ziel, das England gesucht, das der Kaiser erst mit ihm angestrebt, das aber jetzt erst auf dem entgegengesetzten Wege erreicht war. Wer Krieg beginnen wollte, sah fortan so viele Waffen starren, daß er den eigenen Säbel besser versorgte. Das Schiedsgericht der Völker, Zar und Kaiser im obersten Gerichtshof, erhielten das Wort – –
Kaiser Nikolaus hatte gewünscht, daß das Abkommen auf Europa beschränkt bliebe. Wenn England mit Rußland Krieg führte, so war gewiß der Schauplatz Ostasien wichtig. Die Engländer mußten dann, wie die Dinge nach den Ergebnissen des japanischen Krieges lagen, zum unmittelbaren Angriff auf die Russen schon bis nach Ostsibirien kommen. Der Marsch auf Persien und Indien als Vorstoß gegen die Engländer war eine Bedrohung, die zwar englische Truppen band, aber in die Tat war er nur sehr mühselig umzusetzen. Entschieden sich also die Dinge mit England einst wirklich in Sibirien, vielleicht in Nordchina, so mußte sich ihm auch ein völlig neu aufgebautes, völlig erholtes Rußland entgegenstellen. Die große, sibirische Bahn mußte dann andere Truppen, anderes Kriegsmaterial nach Osten tragen. In seinem Rücken sollte Rußland dabei das Gefühl vollkommener Sicherheit haben. Die Ostseeküste, die Hauptstadt Petersburg deckte die deutsche Flotte. Denn Rußland hatte überhaupt keine Flotte mehr. Seine Westgrenzen lagen dann in deutschem Schutz. Aus dem Abkommen konnte Deutschland, wenn es selbst mit England im Kriege lag, von Rußland keine fernen Kämpfe in Ostasien, keinen Marsch auf Indien verlangen. Aber auch Rußland konnte keine solchen Forderungen für Deutschland ableiten. Kaiser Wilhelm sah keine Schwierigkeiten. Die höchste Sicherheit für Deutschland hatte er erreicht. Kämpfe großer, deutscher Heere an den Toren Indiens, auf neuen mandschurischen Schlachtfeldern waren phantastische Abenteuer.
Auch Kaiser Wilhelm war für die Begrenzung des Vertrages auf Europa gewesen. Deutschland war an allen Grenzen sicher. Mehr hatte der Kaiser nie erträumt.
Die Unterschrift des Abkommens meldete er dem Reichskanzler noch am gleichen Tage. Erschüttert von der großen, staatsmännischen Leistung seines Monarchen antwortete der Kanzler aus Norderney:
»Euerer Majestät gnädiges Telegramm aus Björkoe mit tiefer Bewegung und innigem Dank erhalten. Zu diesem Erfolge sind allein Euere Majestät zu beglückwünschen, denn Euere Majestät allein haben diese Wendung ermöglicht und herbeigeführt« – –
Noch zwei Tage darauf erfüllte ihn vollkommene Bewunderung:
»Euerer Majestät ist durch den Abschluß des Vertrages ein großer Wurf gelungen. Jetzt kommt es darauf an, daß der Zar am Leben und am Ruder bleibt« – –
Am Tage vorher hatte er sich allerdings an Baron Holstein mit der Anfrage gewendet:
»Sind Sie der Ansicht, daß der Zusatz ›en Europe‹ den Vertrag für uns wertlos macht, weil in Europa Rußland uns mit seiner aufgeriebenen Flotte überhaupt nicht und mit seinem Heer nicht gegen England nützen kann? Soll ich unter diesen Umständen durch Verweigerung meiner Gegenzeichnung den Vertrag hinfällig machen? oder glauben Sie, daß auch in dieser Form der Vertrag als Durchlöcherung des Zweibundes für uns Wert hat?«
Der Kanzler fand sich in dem ganzen Abkommen nicht zurecht. Der Kern war für ihn nicht die Ruhe in Europa. Zweifel, ob nicht doch noch Frankreich einen dicken Strich durch die Rechnung machen könnte, kamen ihm nicht. Das Wesentliche schien ihm der Marsch nach Indien. Wenn Deutschland von Rußland nicht verlangen konnte, daß es England in Indien beunruhige, so hatte das ganze Abkommen keinen Wert. Dabei vergaß er die Wechselforderung, die dann der Zar stellen konnte: eine Reihe von Armeekorps gleichfalls nach Asien zu schicken. Günstiger dachte Baron Holstein von dem Abkommen. Annäherung und gewissen Schutz bot es auf alle Fälle. Wenn er etwas bedauerte, so war es die Tatsache, daß der Kaiser, wenn der Zar schon im Geben war, nicht noch mehr erreicht hatte. Aber der Kanzler fand plötzlich, ganz ohne Übergang von seiner Bewunderung zu seiner Entrüstung, daß der Kaiser überhaupt kein Abkommen zu schließen hatte. Seine Depeschen nach Hernösand hatte er vergessen. Jählings stellte er sich gegen den Kaiser: gegen jede Logik und trotz der Vorgeschichte. Wilhelm II. war nicht der russische Zar. Die Gegenzeichnung von Staatsakten war Sache des Reichskanzlers. Dem Gesandten von Tschirschky wollte er dies mit großer Klarheit deutlich machen. Auch war der Augenblick da, dem Kaiser für alle Zukunft die Neigung zur Eigenmächtigkeit zu nehmen. Ohne jede Voransage reichte der Kanzler sein Gesuch um Entlassung ein – –
Der Kaiser war »wie vor den Kopf geschlagen«. Er selbst hatte das Gefühl eines großen deutschen Erfolges und einer besonderen Leistung. Er begriff nicht, warum das Abkommen verfehlt sein sollte. Die Vertragsbegrenzung auf Europa entlastete Deutschland nur. Auf Europa kam es an: niemals sollten über zivilisierten Ländern wieder die Kanonen donnern. Deutschlands wesentliche Kolonien lagen in Afrika, in der Südsee. Rußland konnte außerhalb Europas überhaupt nichts helfen. Vielleicht nicht einmal in Kiautschou. Nur der große europäische Block konnte etwas gegen England ausrichten, in der Ausstrahlung sogar in anderen Erdteilen. Der Kanzler widerstritt. Er blieb bei Indien. Der Kaiser ließ den Chef des Generalstabes, den Grafen Schlieffen kommen. Der Feldmarschall teilte die Ansicht des Kaisers:
»Es ist ja der reine Blödsinn!« rief er. »Was sollen wir denn mit unseren Truppen in Indien anfangen« – –
Aber auch Graf Schlieffen überzeugte den Kanzler nicht. Allmählich wurde der Kaiser ganz verstört. Er hatte also wiederum alles schlecht gemacht. Wiederum war es dasselbe Spiel, wie in seiner Jugend, wie bei seinen Eltern, wie unter dem Fürsten Bismarck. Seine Niedergeschlagenheit vertiefte sich noch, da er an der Kraft und an den Fähigkeiten zu zweifeln begann, die Dinge der großen Politik, die Probleme von Zeit und Völkern zu durchdringen. Wilhelm II. war anders, wenn er Reden hielt, wenn Wort und Umwelt, der Glanz des kaiserlichen Aufwands ihn beflügelte, wenn Leidenschaftlichkeit ihn fortriß: anders indes im Nachdenken und im Grübeln. Was der Kanzler eigentlich wollte, wo das Gefährliche des Abkommens war, warum die Vereinbarung mit dem Zaren wertlos war, begriff der Kaiser umso weniger, je länger er nachdachte. Graf Schlieffen war ein Soldat. Vielleicht klammerte er sich an technische Schwierigkeiten, wenn er dem Kriegsherrn recht gab. Aber was der Kaiser sich auch selbst an Gründen vorbrachte, um Kritik an seinem Vorgehen zu üben: durch die Gedankenketten des Kanzlers drang er nicht. Bedrückt gestand er sich ein, daß sein Geist versagte – –
Der Reichskanzler war ihm, welche Zwischenfälle es auch geben mochte, ein treu ergebener Freund. Ein Leuchten überflog Graf Bülows Gesicht, wenn der Kaiser nur nahte. Aus Sorge und Bangen um den Kaiser vermochte er zu weinen. Keine Geheimnisse gab es zwischen Kaiser und Kanzler. Mit Zeichen seiner Dankbarkeit, seiner Anhänglichkeit, hatte ihn der Herrscher überschüttet. Vor kurzem erst hatte er den einfachen Bernhard von Bülow von einst zum Fürsten erhoben. Ihm dankte der Kanzler seinen ganzen, unvergleichlichen Aufstieg. Solche Gunst, solche Herzlichkeit hatte ihm die Zuneigung des Emporgehobenen ganz von selbst gewinnen müssen. Bisher hatte der Kaiser auch nichts als Proben von ihr. Wenn der Fürst sich jetzt von ihm trennen wollte, wenn er lieber seine ganze, beispiellose Stellung fortgeben wollte, als mit dem Freunde weiter arbeiten, dann mußte die Ursache von solcher Wendung von tiefstem Ernste sein. Dann hatte er die ganze Sache wirklich falsch gemacht. Den einzigen Freund, den er an einem Hofe besaß, den er niemals ganz durchschauen konnte, vermochte er nicht zu verlieren. Philipp Eulenburg war fern. Auch richtete die seherische Romantik Fürst Eulenburgs eine letzte Grenze zwischen beiden auf. Fürst Bülow war Tag für Tag um den Kaiser, er schuf mit ihm, baute mit ihm an Deutschlands Wohl. Wenn der Fürst ging, glaubte er sein Leben zerstört. Er wollte es nicht weiterleben. Er schrieb es dem Reichskanzler … Wenn er schied, so war wieder das Dunkel da. Gehorsame Soldaten, Minister, die trockene Vorträge hielten. Fürst Bülow war der sprühende, alles belebende, alles belichtende Geist. Sicherlich war er auch klüger als er selbst, der Kaiser. Der Reichstag leistete ihm bei jedem Anlaß Gefolgschaft. Im Volke war er beliebt. Die Öffentlichkeit pries täglich die Gaben des großen Staatsmannes. Er ließ es nicht zu, daß Fürst Bülow ihn verließ. Lieber sah er seinen Irrtum ein. Er hatte einen Fehler mehr begangen: das Abkommen mit dem Zaren war ein schöner Traum mit schlimmem Erwachen – –
Dem Fürsten Bülow versprach Kaiser Wilhelm, daß er keine selbständigen Staatsgeschäfte mehr unternehmen wollte. Der Kanzler ließ sich erweichen: das Abschiedsgesuch zog er zurück. Was den Vertrag mit dem Zaren betraf, so sollte freilich versucht werden, ob die Bindung für Europa nicht in ein Abkommen gewandelt werden konnte, das über Europa hinausgriff. Es brauchten ja nur die zwei Worte »in Europa« entfernt zu werden. Daß aber darum der ganze Vertrag verworfen werden sollte, fiel nunmehr dem Kanzler gar nicht ein. Dazu war das Abkommen doch zu kostbar. Endlich hatte man wenigstens irgend etwas vom Zaren in der Hand. Auch waren die zwei Worte »in Europa« ganz und gar nicht so wichtig, daß man die Dinge darum überstürzen mußte. Der Kanzler kam vorläufig gar nicht mehr auf sie zurück.
Der Kaiser war ganz still geworden. So still, wie Fürst Bülow es haben wollte. Aber im Innersten hoffte er, wie sich die Ansicht des Kanzlers wieder zu drehen schien, immer noch auf die Rettung seines Vertrags Werkes. Er konnte sich nicht damit abfinden, daß er alles in Björkoe verkannt haben sollte.
Sechs Wochen später besuchte der russische Staatsminister Witte, der von den Friedensverhandlungen zu Portsmouth kam, im Schlosse Rominten den Kaiser. Schon in Peterhof hatte ihn der Herrscher 1897 kennen gelernt: einen Kaukasier, von dem eine ungeheure Kraft auszuströmen schien, einen der willenstarken, großen Russen deutschen Ursprungs, die von den Zaren stets mit Vorliebe in den Staatsdienst gezogen worden waren. Der Kaiser nahm ihn wegen des Vertrages von Björkoe ins Vertrauen. Der Staatsminister überstürzte sich in Beteuerungen restloser Begeisterung.
»Das ist es ja«, rief er aus, »danach habe ich ja immer gestrebt« –
Fürst Bülow war der Ansicht, daß man den russischen Staatsmann irgendwie verpflichten müßte. Der Kaiser gab ihm die Kette zum Roten Adlerorden, eine überaus hohe Auszeichnung, die den Rang des Ministers weit überschritt.
»Das ist ein Geniestreich! Von sehr hohem Wert!« frohlockte der Kanzler »Wir erwarten ja so viel von Witte« – –
Der russische Staatsminister reiste ab. Er nahm zur Erinnerung noch Kaiser Wilhelms Bild mit, – die Inschrift stand darauf:
»Portsmouth – Björkoe – Rominten. Wilhelm Rex« – –
Gleich nach seiner Ankunft in Petersburg sprach er sich mit dem Grafen Lambsdorff über das Abkommen aus. Er tat es in gehobener Stimmung, denn nicht nur Kaiser Wilhelm hatte ihn mit Ehren überschüttet: der Zar hatte den Unterhändler von Portsmouth in den Grafenstand erhoben. Er trat mit der ganzen Überlegenheit, die er in jenen Tagen noch selbstbewußter zeigte als sonst, für den Zusammenschluß der drei Mächte ein, wie sie der Vertrag von Björkoe vorzeichnete.
»Aber haben Sie den Vertrag von Björkoe gelesen?« fragte Graf Lambsdorff.
»Nein«, erwiderte Graf Witte, »ich habe ihn nicht gelesen« –
»Haben denn Wilhelm und der Zar ihn Ihnen nicht zu lesen gegeben? Lesen Sie doch dieses Wunderwerk!«
Graf Witte las. Die Einleitung des Abkommens – er nannte sie »Wortkram« – übersprang er in Flüchtigkeit. Den Vertrag, nach dem er »immer gestrebt« hatte, fand er auf einmal ganz unmöglich. Wenn Frankreich und Deutschland miteinander Krieg hatten, so mußte nach dem Vertrage von Björkoe Rußland den Deutschen helfen. Es war der russische Verrat an Frankreich. Der Vertrag war »ehrlos«. Er mußte aufgehoben werden. Daß im »Wortkram« des Abkommens der Ausdruck »Verteidigungsbündnis« stand, daß Rußland auch aus seinem Bündnis mit Frankreich keine Verpflichtung hatte, den Franzosen bei einem Angriffskriege beizustehen, – daß die Russen sich trotz jener Bindungen gegen sie stellen konnten, wenn die Franzosen selbst den Krieg begannen: all das hatte Graf Witte übersehen. Zweifellos verstieß Rußland trotz der rechtlichen Unanfechtbarkeit der Freiheit, die es im Falle eines französischen Angriffs auf Deutschland besaß, unter Umständen gegen den Geist seines Bündnisses mit den Franzosen. Wie sich Österreich-Ungarn in jedem Kriege mit Rußland aus militärischen Gründen zum Angriff gezwungen sah, ebenso konnte auch ein herausgefordertes Frankreich zum Angriff gezwungen werden. Rußlands Hilfe war dann selbstverständlich. Aber eben diese Möglichkeit und Entwicklung schaltete das Abkommen von Björkoe aus. Den Franzosen sollte das Bündnis nicht verheimlicht werden. Ferner sollten sie gleichberechtigt, gleich beschützt dem Bunde beitreten. Deutschland und Frankreich sollten überhaupt keinen Angriff mehr wagen können ohne eigene, schwerste Gefahr. Der Krieg sollte sterben. Wenn sich Frankreich über die Friedensbürgschaft des Vertrages von Björkoe hinaus die Freiheit des Angriffs sichern wollte, wenn es den Vertrag von Björkoe durchaus nicht annahm, dann entlastete es Rußland von der moralischen Pflicht, dem Bundesgenossen beizustehen. Mit einem angriffslustigen Frankreich hatte Rußland nie einen Bund geschlossen. Frankreich wußte dann nicht, was Rußland tun würde, ohne daß es einen Vorwurf gegen den Bundesgenossen erheben durfte. Der Vertrag von Björkoe war in wirklichem Ausbau geschaffen. Er berücksichtigte alle Möglichkeiten und Einwände. Überdies baute er auf ethischem Grund. Aber so weit gingen die Gedanken des Grafen Witte gar nicht. Für ihn hatte Rußland den Franzosen in jedem Kriege Waffenhilfe zu leisten – ob Angriffskrieg, ob nicht. Der Vertrag mußte also fallen, Ehrlosigkeiten durfte man nicht begehen – –
Graf Lambsdorff vertrat den Standpunkt, daß Rußland bei seinem Bündnis mit Frankreich bleiben, aber mit keiner anderen Macht ein Abkommen haben sollte. Er wußte, daß das russische Bündnis mit Frankreich der Form nach in keinerlei Widerspruch stand mit dem Vertrage von Björkoe. Er wußte auch, daß der Geist des Abkommens mit Frankreich sich vereinigen konnte mit dem Geiste des neuen Abkommens. Aber er wollte keine Brücke geschlagen wissen, wollte sie nicht einmal zugeben, weil er kein Bündnis mit Deutschland wünschte. In Abwehr stellte er sich hinter die moralischen Bindungen mit Frankreich. Von Frankreichs Annahme oder Ablehnung hing das Schicksal des Vertrages von Björkoe ab. Graf Lambsdorff wartete auf die Ablehnung. An den »Völkerbund« und seinen Wert brauchte er gar nicht erst zu denken, denn er hielt es für ausgeschlossen, daß Frankreich jemals zu Deutschland trat. Ihm war also die merkwürdige Entscheidung ganz recht, zu der Graf Witte nach seinem Vertragsstudium von zwei Minuten gekommen war.
Graf Witte sprach mit dem Großfürsten Nicolai Nicolajewitsch, dessen Einfluß auf den Zaren er kannte. Längst begann dieser Einfluß eine größere Macht zu werden, als der Zar selbst besaß. Den Deutschen war der Großfürst abgeneigt, er war das Haupt der Russen, die allslavisch dachten. Dem Grafen Witte war er wohlgesinnt, aber Graf Witte konnte selbst die Frage überdenken, wie lange das Wohlwollen des Großfürsten für ihn anhielte, wenn er sich für die Deutschen einsetzte. Er vergaß Rominten. Mit dem Großfürsten und dem Grafen Lambsdorff drang er auf den Zaren ein. Nikolaus II. zerriß das Netz der Gedanken nicht, das die drei Gegner um das Abkommen spannen. Sie verwirrten es ihm immer mehr. Schließlich fiel der Zar um. Er berief die Drei zu entscheidendem Rate am 1. Oktober 1905. Der Vertrag sollte aufgehoben oder, was die Einbeziehung von Frankreich betraf, noch einmal umgeändert werden.
Über die Stimmung in Frankreich war der russische Außenminister Graf Lambsdorff durch den Botschafter Baron Nelidow ausgezeichnet unterrichtet. Nur Fürst Bülow und Baron Holstein konnten sich dem »Traume einer schöneren Zukunft« hingeben, die sie durch ihre Staatskunst angebahnt glaubten. Um die gleiche Zeit, da Fürst und Geheimrat in irgendeiner Form den Vertrag von Björkoe noch zu retten gedachten, hatte der Geheimrat wieder kriegerische Anwandlungen gegen die Franzosen. Er wußte nicht, daß in der Zwischenzeit vom Tage in Tanger bis zum Herbst England den Franzosen ernste Zusicherungen für den Fall gegeben hatte, daß Deutschland sie angriff. Er glaubte sie in voller Schwäche und Angst. Der deutsche Geschäftsträger in Tanger, der Legationssekretär Richard von Kühlmann, erlaubte es sich, darüber eine andere Ansicht zu haben:
»Man kann doch nicht die Angst der Franzosen, die im Frühjahr, frisch genossen, ein bekömmliches Getränk ergeben hätte, im Herbst auf Flaschen gezogen kalt genießen« – –
Der Legationssekretär hatte inzwischen mit dem Grafen Chérisey, dem französischen Geschäftsträger in Tanger, viel nützliche Gespräche geführt. Beide Diplomaten waren sich über den Vorteil klar, wenn Deutschland und Frankreich mit dem genauen Wissen über ihre gegenseitigen Zusagen auf die Konferenz gingen. Sie wollten beide nur ein Scheingefecht der beiden Gegner auf der Konferenz: die Beschlüsse der Einigung sollten sie schon vorher gefaßt haben. Wenn Frankreich von den anderen Mächten etwa ein Mandat über Marokko und dort die Polizeigewalt erhielt, so mußte Deutschland nicht zustimmen. Aber wenn die Mächte nach zwei weiteren Jahren dieser Ordnung dauernde Geltung zusprachen, so brauchte Deutschland kein Veto einlegen. Für solche Haltung konnte Deutschland den französischen Kongo und das Vorkaufsrecht auf den belgischen Kongo erhalten. Graf Chérisey fand die Bedingungen durchaus annehmbar:
»Ich werde mit meinen Freunden sprechen. Sie werden mit Ihren Freunden in Berlin reden. Und wenn sie einverstanden sind, werden wir einen Geheimvertrag machen« – –
In Paris sprach der Legationssekretär mit dem Grafen noch einmal. Graf Chérisey war zu der Pariser Unterhaltung mit unauffälliger Geschicklichkeit, aber eilig aus Tanger geholt worden. Seine Zuversicht war so groß, daß nur die Bereitschaft und das Einverständnis des französischen Außenamts sie erklärten. Die beiden Diplomaten verabredeten bestimmte Merksätze, in denen der Legationssekretär von Kühlmann die Ergebnisse seiner Unterhaltung mit dem Geheimrat von Holstein berichten sollte. Die Verhandlungen liefen nach Wunsch, wenn er depeschierte: »Das Wetter ist gut!« Sie liefen unbestimmt, wenn er drahtete: »Wetter lau!« Dann reiste der deutsche Geschäftsträger ab. Er eröffnete die Angelegenheit dem Botschafter von Radowitz. Beide sprachen bei dem Geheimrat von Holstein vor. Der Geheimrat hörte dem Vortrag stumm zu, dann erklärte er eiskalt, wie er bei solchen Überraschungen war:
»Ich kann das nicht entscheiden. Ich muß das Auswärtige Amt befragen« – –
Botschafter und Legationssekretär kamen am nächsten Tage wieder. Der Legationssekretär depeschierte dem Grafen Chérisey:
»Wetter sehr kalt. Vorläufig Reise unmöglich. Aber nicht alle Hoffnung ausgeschlossen« – –
Keinerlei Einzelheiten durfte er hinzufügen.
»Ich habe Sie jetzt noch einmal empfangen«, sagte ihm einige Zeit später der Geheimrat, »damit Sie wissen, daß ich Ihnen Ihre Opposition nicht nachtrage. Sie werden nach Washington gehen. Dort haben Sie ein neues Betätigungsfeld, – weit ab vom Schuß« – –
Auf solche Art ging der Geheimrat von Holstein seit dem Amtsantritt des französischen Ministerpräsidenten Rouvier seinem Traume von einer deutsch-französischen Verständigung nach. Der Kanzler paßte sich an. Aber der französische Ministerpräsident ließ bei dem russischen Kabinett gar keinen Zweifel darüber aufkommen, daß Frankreich nicht daran dächte, sich einer Bündnisgruppe mit Deutschland anzuschließen. Er hatte genug von deutscher Staatskunst, deutscher Verständigungsbereitschaft seit dem Tage, da er dem Frieden zuliebe Delcassé gestürzt hatte, ohne dafür auch nur ein freundliches Wort, geschweige denn irgendein Zugeständnis zu erhalten. Jeder deutsche Schritt hatte neue Verstimmung gebracht: eine Demütigung war die Opferung des Außenministers gewesen, eine Demütigung die gewaltsam erzwungene Zustimmung zur Konferenz, eine Kette von Demütigungen die von Deutschland immer neu aufgebotenen Schwierigkeiten, sich über ein Programm zu dieser Unglückskonferenz vor ihrem Zusammentritt zu einigen. Wenn der Vertrag von Björkoe auch in der Form und im juristischen Inhalt dem russisch-französischen Bündnis nicht widersprach: Frankreich gab doch in betonter Art die Unruhe darüber zu erkennen, daß sein Verbündeter sich enger einer Macht anschließen könnte, die täglich neu bewies, daß kein Vergessen der Vergangenheit möglich war.
So stürzte der Vertrag von Björkoe im Grunde über die Franzosenpolitik des Reichskanzlers Fürsten Bülow und seines ersten Beraters. Nur Staatsmänner ihres geistigen Ranges konnten an das Zustandekommen eines Bündnisses mit Rußland glauben, das in dem von ihnen mißhandelten Frankreich verwurzelt lag. Kaiser Wilhelm war an das Abkommen mit dem Bewußtsein der Bemühungen gegangen, die Deutschland mit Frankreich aussöhnen sollten. Seine Weisung an den Botschafter Fürsten Radolin, sein Werben um die Hilfe des Fürsten von Monako, seine bestimmten, oft wiederholten Willensäußerungen, die Verständigung trotz aller Schwierigkeiten herbeizuführen: all dies war Vorbereitung gewesen. Jetzt schlugen die Russen vor, den ersten Punkt des Vertrages von Björkoe vorläufig außer Kraft zu setzen, die Verpflichtung zur Waffenhilfe, wenn einer der Bundesgenossen angegriffen würde. Damit war dann freilich alles so, wie es vor dem Tag von Björkoe gewesen war. Das ganze Abkommen blieb ohne Sinn und Inhalt. Natürlich war dem Zaren der ganze Ablauf der Ereignisse peinlich. Er ließ Kaiser Wilhelm zum Schlusse nur noch der Form halber, nur des besseren Abganges wegen, den Zusatz zu dem Abkommen vorschlagen, mit dem es unverändert im Wortlaut bestehen bleiben sollte, der in Wahrheit aber den ersten Vertragsartikel beseitigte:
»In Anbetracht der Schwierigkeiten, die sich dem sofortigen Beitritt der französischen Regierung zu dem in Björkoe am 11./24. Juli 1905 unterzeichneten Defensivallianzvertrag entgegenstellen, einem Beitritt, der im Artikel IV des erwähnten Vertrages vorgesehen ist, ist es selbstverständlich, daß der Artikel I dieses Vertrages im Falle eines Krieges mit Frankreich keine Geltung hat, und daß die gegenseitigen Verpflichtungen, die Frankreich mit Rußland verbinden, bis zu dem Zeitpunkt des Zustandekommens eines Dreibundes in Geltung bleiben.«
Mit solchem Abschluß hatte Graf Lambsdorff dem deutschen Kabinett die Behandlung heimgezahlt, die seinen eigenen Freundschaftsvorschlägen im Herbst zuteil geworden war. Frankreich aber gab gleichzeitig die erste, große Quittung für Deutschlands Vorgehen im Marokkostreit. Der Vertrag von Björkoe war vernichtet. Ihn hatte der Reichskanzler Fürst Bülow erst von der deutschen Seite her zu hintertreiben versucht. Dann aber stellte sich heraus, daß das Abkommen, als er selbst wieder darauf zurückgriff, durch seine Politik nach Ost und West in Wahrheit schon torpediert war. Der Völkerbund verschwebte. So viel stand fest, daß weder gegen England, noch zu anderem Ziel ein Kontinentalblock der Mächte aufzurichten war.
Noch mehr stand fest: Kaiser Wilhelms Politik, trotz aller Schwankungen seiner Art durch anderthalb Jahrzehnte zäh geführt, war völlig gescheitert in diesem Abschnitt deutscher Geschichte. Zwei Linien war er nachgegangen. Das Bündnis mit England, von ihm heißer angestrebt als der Bund mit Rußland, hatte er nicht erreichen können. England war zu Deutschland weder durch die Neigung gekommen, die der Kaiser ihm bewies, noch durch Ängstigung, wenn Wilhelm II. auf Rußland hinzusteuern schien. Rußland allein war zum Schlusse vielleicht noch als Freund zu gewinnen: aus seinen Kontinentalbundplänen, gegen Englands Zurückhaltung ausgedacht, hatte der Kaiser Ernst machen wollen, – Rußland hatte ihn genau so verlassen, wie England.
Im Osten wie im Westen hatten seine Staatsmänner seine Absichten vereitelt. Wenn es eine Schuld war, daß sie ihn hintergehen und, was er anspann, heimlich wieder durchkreuzen konnten, so traf den Kaiser diese Schuld. Drei große Verdienste durfte er, indes Deutschlands Reichtum, Glanz und Fülle unter seiner Herrschaft sichtbar stiegen, sich selbst zuschreiben: Helgoland hatte er erworben, für den Erwerb von Samoa hatte er Cecil Rhodes verpflichtet, die Bagdadbahn und den kleinasiatischen Einfluß hatte er Deutschland gesichert. Gegen seine bessere Überzeugung hatte er sich zweimal den von den Kanzlern vorgetragenen Forderungen von Reichstag und Volksstimmung gefügt. Sie hatten sich auf die Pflichten des konstitutionellen Herrschers berufen. Er hatte sie erfüllt. Er hatte die Depesche an den Burenpräsidenten abgeschickt. Er war nach Tanger gegangen. Besuch und Depesche hatten Unheil gebracht. Selbständig wollte er endlich in Björkoe handeln. Aber wiederum war Unheil die Folge. Ihn traf das Urteil des zuschauenden Volkes, wenn er die Schranken der Konstitution nicht durchbrach, um Deutschlands Schicksal zu sichern. Ihn traf das Verdikt, wenn er sich anschickte, die Schranken der Verfassung nach besserer Überzeugung zu durchbrechen.
In Wahrheit hatte er es nie getan. Obgleich er durch merkwürdige und bedrückende Schicksalsfügung im Kreise seiner Ratgeber der Einzige war, der überhaupt Linien politischen Denkens zeigte, zugleich der Einzige, der das Richtige sah. Daß er in äußerlichen Dingen, in Unvorsichtigkeit und rednerischer Entgleisung Züge absolutistischen Wollens aufwies, aber in großen, klar erkannten Entscheidungen sein Wollen nicht ausspielte, war seine Schwäche. In Deutschlands innerer Politik hatte ihn der zum Schlusse stets behauptete Konstitutionalismus vor schwerer Verwicklung bewahrt. In Deutschlands Außenpolitik war es Unsegen, daß er den Ratgebern sich fügte. In Wirklichkeit herrschte über Deutschland nicht er, sondern die Auswahl des Volkes, gedeckt durch seine Sprecher. Deutschlands führende »Köpfe« lenkten sein Schicksal in dieser Zeit: der Reichskanzler Fürst Bülow und die gespenstische Figur des Mathematikers Holstein. Urteilslos nahm sie der Reichstag hin. Der Mathematiker trieb sein Werk im Dunkel. Dem Fürsten jubelte die Menge zu – –
So kamen am Vorabend der Marokkokonferenz, am Vorabend des Jahres 1906 nur langsam bei Kaiser Wilhelm die Zweifel, ob des Kanzlers stets lächelndes Gesicht und seine Wortwolken nicht doch nur ein Maskenabglanz und das Symbol des wahrhaftigen Nichts waren, das die Ergebnisse seiner Staatsführung bisher bedeuteten. Zum erstenmal nach Björkoe, nach der Ernüchterung aus dem Schmerz, sein Leben ohne Fürst Bülow nicht weiter tragen zu können, erwog der Kaiser die Trennung vom Kanzler.
Er spürte die große Wendung in der Geschichte seines Kaiserreiches. Deutschland sank in Vereinsamung. London und Björkoe waren die Merkzeichen. Was die deutschen Staatsmänner zu der Vereinsamung des Reiches hatten tun können, hatten sie vollbracht. Die Mächte nahmen sich von da ab die vollen Früchte ihres Tuns. An allen Grenzen regten sie sich – –
Die Einkreisung Deutschlands begann.