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2. Die Bevorzugung des Altertums.

126.

Daß es Gelehrte gibt, welche sich ausschließlich mit der Erforschung des griechischen und des römischen Alterthums beschäftigen, wird jeder billig, ja lobenswürdig und vor Allem begreiflich finden, falls er überhaupt die Erforschung des Vergangenen billigt: daß dieselben Gelehrten aber zugleich die Erzieher der edlern Jugend der reichen Stände sind, ist nicht ebenso leicht verständlich: hier liegt ein Problem. Warum sie gerade? Das versteht sich doch nicht so von selbst, wie das, wenn der Gelehrte der Heilkunst auch heilt und Arzt ist. Denn stünde es gleich, so müßte Beschäftigung mit dem griechischen und römischen Alterthum gleich sein mit »Wissenschaft der Erziehung«. Kurz: das Verhältniß von der Theorie und Praxis im Philologen ist nicht so schnell einzusehen. Wie kommt er zu dem Anspruch, der Lehrer im höheren Sinne zu sein und nicht nur alle wissenschaftlichen Menschen, sondern überhaupt alle Gebildeten zu erziehn? – Diese erziehende Kraft müßte also der Philologe doch dem Alterthume entnehmen; da fragt man denn erstaunt: wie kommen wir dazu, einer fernen Vergangenheit den Werth beizulegen, daß wir nur mit Hülfe ihrer Erkenntniß gebildet werden können? – Eigentlich fragt man nicht so oder selten so: vielmehr besteht die Herrschaft der Philologie über das Erziehungswesen fast unbezweifelt, und das Alterthum hat jene Geltung. Insofern ist die Lage des Philologen günstiger als die jedes andern Jüngers der Wissenschaft: er hat zwar noch nicht die größte Masse von Menschen, die seiner bedürfen; der Arzt zum Beispiel hat noch viel Mehrere. Aber er hat ausgesuchte Menschen und zwar Jünglinge, in der Zeit, wo Alles knospet; solche, die Zeit und Geld auf eine höhere Entwicklung verwenden können. So weit sich jetzt die europäische Bildung erstreckt, hat man die Gymnasien auf lateinisch-griechischer Grundlage angenommen, als erstes und oberstes Mittel. Damit hat die Philologie die rechte und beste Gelegenheit gefunden, sich fortzupflanzen und Achtung vor sich zu erwecken: hierin steht keine andre Wissenschaft so günstig. Im Ganzen halten auch alle Die, welche durch solche Anstalten hindurchgegangen sind, an der Vortrefflichkeit der Einrichtung fest; sie sind unbewußte Verschworene zu Gunsten der Philologie; erschallt einmal ein Wort dagegen, von Solchen, die nicht auf diesem Wege gegangen sind, so erfolgt die Ablehnung so einmüthig und so still, als ob klassische Bildung eine Art von Zauberei sei, beglückend und durch diese Beglückung sich jedem Einzelnen beweisend; man polemisirt gar nicht, »man hat's ja erlebt«.

Nun giebt es viele Dinge, an welche der Mensch sich so gewöhnt hat, daß er sie für zweckmäßig hält; denn die Gewohnheit mischt allen Dingen Süßigkeit bei, und nach der Lust schätzen die Menschen meistens das Recht einer Sache. Die Lust am classischen Alterthum, wie sie jetzt empfunden wird, soll nun einmal darauf hin geprüft und zerlegt werden, wie viel daran jene Lust der Gewohnheit, wie viel Lust der Ungewohnheit ist: ich meine jene innere, thätige, neue und junge Lust, wie sie eine fruchtbare Überzeugung von Tage zu Tage erweckt, die Lust mit einem höheren Ziele, die auch die Mittel dazu will: wobei man Schritt für Schritt weiter kommt, aus einem Ungewohnten in's andere Ungewohnte: wie ein Alpensteiger.

Auf welchem Grunde beruht die große Schätzung des Alterthums in der Gegenwart, daß man darauf die ganze moderne Bildung aufbaut? Wo ist der Ursprung dieser Lust? Dieser Bevorzugung des Alterthums?

Bei dieser Untersuchung glaube ich erkannt zu haben, daß auf demselben Grund, auf dem das Ansehen des Altersthums als wichtigen Erziehungsmittels ruht, auch die ganze Philologie, ich meine ihre ganze jetzige Existenz und Kraft ruht. Das Philologenthum als Lehrerthum ist der genaue Ausdruck einer herrschenden Ansicht über den Werth des Alterthums und über die beste Methode der Erziehung. Zwei Sätze sind in diesem Gedanken eingeschlossen; erstens: alle höhere Erziehung muß eine historische sein, zweitens: mit der griechischen und römischen Historie steht es anders als mit allen andern, nämlich classisch. So wird der Kenner dieser Historie zum Lehrer. Hier untersuchen wir den ersten Satz nicht, ob eine höhere Erziehung historisch sein müsse, sondern den zweiten: in wiefern classisch?

Darüber sind einige Vorurtheile sehr verbreitet.

Erstens das Vorurtheil, welches im synonymen Begriff » Humanitätsstudien« liegt: das Alterthum ist classisch, weil es die Schule des Humanen ist.

Zweitens: »Das Alterthum ist classisch, weil es aufgeklärt ist« – –

127.

Es ist das Werk aller Erziehung, bewußte Thätigkeiten in mehr oder weniger unbewußte umzubilden: und die Geschichte der Menschheit ist in diesem Sinne ihre Erziehung. Der Philologe nun übt eine Menge Thätigkeiten so unbewußt: das will ich einmal untersuchen, wie seine Kraft, das heißt sein instinktives Handeln, das Resultat von ehemals bewußten Tätigkeiten ist, die er allmählich als solche kaum mehr fühlt: aber jenes Bewußtsein bestand in Vorurtheilen. Seine jetzige Kraft beruht auf jenen Vorurtheilen, z. B. die Schätzung der ratio wie bei Bentley, Hermann. Die Vorurtheile sind, wie Lichtenberg sagt, die Kunsttriebe des Menschen.

128.

Es ist schwer, die Bevorzugung zu rechtfertigen, in der das Alterthum steht: denn sie ist aus Vorurtheilen entstanden.

  1. Aus Unwissenheit des sonstigen Alterthums.
  2. Aus einer falschen Idealisirung zur Humanitäts-Menschheit überhaupt, während Inder und Chinesen jedenfalls humaner sind.
  3. Aus Schulmeister-Dünkel.
  4. Aus der traditionellen Bewunderung, die vom Alterthum selbst ausgegangen ist.
  5. Aus Widerspruch gegen die christliche Kirche oder zur Stütze.
  6. Aus dem Eindruck, den die Jahrhunderte lange Arbeit der Philologen gemacht hat, und die Art ihrer Arbeit: es muß sich doch um Goldbergwerke handeln, meint der Zuschauer.
  7. Fertigkeiten und Wissen von dorther gelernt. Vorschule der Wissenschaft.

In Summa: theils aus Ignoranz, falschen Urtheilen und trügerischen Schlüssen, auch durch das Interesse eines Standes, der Philologen.

Bevorzugung des Alterthums sodann durch die Künstler, die das erkannte Maaß und die Sophrosyne unwillkürlich zu einer Eigenschaft des gesammten Alterthums machen. Die reine Form. Ebenso durch die Schriftsteller.

Bevorzugung des Alterthums als einer Abbreviatur der Geschichte der Menschheit, als ob hier ein autochthones Gebilde sei, an dem alles Werdende zu studiren sei.

Thatsächlich ist nun allmählich Grund für Grund dieser Bevorzugung beseitigt, und wenn es die Philologen nicht merken sollten, so merkt man es sonst außer ihren Kreisen so stark wie möglich. Die Historie hat gewirkt; sodann hat die Sprachwissenschaft die größte Diversion, ja Fahnenflucht unter den Philologen selbst hervorgebracht. Nur die Schule haben sie noch: doch auf wie lange! In der bisherigen Form ist die Philologie am Aussterben: ihr Boden ist ihr entzogen. Ob überhaupt ein Stand von Philologen sich erhalten wird, ist sehr zweifelhaft: jedenfalls wäre es eine aussterbende Rasse.

129.

[Eigenthümlich bedeutende Stellung der Philologen: ein ganzer Stand, dem die Jugend anvertraut ist, und der ein specielles Alterthum zu erforschen hat. Offenbar legt man den höchsten Werth auf dies Alterthum. Wenn man das Alterthum aber falsch abgeschätzt hätte, so fehlte plötzlich das Fundament für die erhabene Stellung der Philologen. Jedenfalls hat man das Alterthum sehr verschieden abgeschätzt: und darnach hat sich jedesmal die Würdigung der Philologen gerichtet. Dieser Stand hat seine Kraft aus starken Vorurtheilen zu Gunsten des Alterthums geschöpft. – Dies ist zu schildern. –] Jetzt fühlt er, daß wenn endlich diesen Vorurtheilen gründlich widersprochen würde, und das Alterthum rein geschildert würde, sofort jenes günstige Vorurtheil für die Philologen schwände. Es ist also ein Standesinteresse, reinere Einsichten über das Alterthum nicht aufkommen zu lassen: zumal die Einsicht, daß das Alterthum im tiefsten Sinne unzeitgemäß macht.

Es ist zweitens ein Standesinteresse der Philologen, keine höhere Anschauung über den Lehrerberuf aufkommen zu lassen, als die, welcher sie entsprechen können.

130.

Hoffentlich giebt es Einige, die es als Problem empfinden, warum gerade die Philologen die Erzieher der edleren Jugend sein sollen. Es wird vielleicht nicht immer so sein. – An sich wäre es ja viel natürlicher, daß man ökonomische, gesellige Grundsätze beibrächte, daß man sie allmählich zur Betrachtung des Lebens führte und endlich, spät, die merkwürdigsten Vergangenheiten vorführte. So, daß Kenntniß des Alterthums zum Letzten gehörte, was Einer erwürbe; ist diese Stellung des Alterthums in der Erziehung die für das Alterthum ehrenvollere oder die gewöhnliche? – Jetzt wird es als Propädeutik benutzt, für Denken, Sprechen, Schreiben; es gab eine Zeit, wo es der Inbegriff der weltlichen Kenntnisse war, und man eben das durch seine Erlernung erreichen wollte, was man jetzt durch eben jenen beschriebenen Studienplan erreichen würde (der sich eben den vorgerückten Kenntnissen der Zeit entsprechend verwandelt hat). Also hat sich die innere Absicht im philologischen Lehrerthum ganz umgeändert, einst war dies die materielle Belehrung, jetzt nur noch die formale.

131.

Wäre die Aufgabe des Philologen, formal zu erziehen, so müßte er gehen, tanzen, sprechen, singen, sich gebahren, sich unterreden lehren: und das lernte man auch ungefähr bei den formalen Erziehern des zweiten und dritten Jahrhunderts. Aber so denkt man immer nur an die Erziehung des wissenschaftlichen Menschen, und da heißt »formal«: denken und schreiben, kaum reden.

132.

Wenn das Gymnasium zur Wissenschaft erziehn soll, so sagt man jetzt: es kann die Vorbereitung zu keiner Wissenschaft mehr geben, so umfassend sind die Wissenschaften geworden. Folglich muß man allgemein, das heißt für alle Wissenschaften, das heißt für die Wissenschaftlichkeit vorbereiten – und dazu dienen die classischen Studien! – Wunderlicher Sprung! Eine sehr verzweifelte Rechtfertigung! Das Bestehende soll Recht behalten, auch nachdem klar eingesehen ist, daß das bisherige Recht, auf dem es ruhte, zum Unrecht geworden ist.

133.

Fertigkeiten erwartet man von der Beschäftigung mit den Alten: früher z. B. Schreiben und Sprechen können. Aber welche erwartet man jetzt! – Denken und Schließen: aber das lernt man nicht von den Alten, sondern höchstens an den Alten, vermittelst der Wissenschaft. Zudem ist aber alles historische Schließen sehr bedingt und unsicher; man sollte das naturwissenschaftliche vorziehen.

134.

In Betreff der Einfachheit des Alterthums steht es wie bei der Einfachheit des Stils; es ist das Höchste was man erkennt und nachzuahmen hat, aber auch das Letzte. Man denke, daß die classische Prosa der Griechen auch ein spätes Resultat ist.

135.

Was liegt für ein Hohn auf die » Humanitäts«-Studien darin, daß man sie auch belles lettres (bellas litteras) nannte!

136.

Wolf's Gründe, weshalb man Ägypter, Hebräer, Perser und andere Nationen des Orients nicht auf einer Linie mit Griechen und Römern aufstellen darf: »Jene erhoben sich gar nicht oder nur wenige Stufen über die Art von Bildung, welche man bürgerliche Policirung oder Civilisation, im Gegensatz höherer eigentlicher Geistescultur, nennen sollte«. Er erklärt sie gleich darauf als die geistige und die litterarische: »bei einem glücklich organisirten Volke kann diese schon früher anfangen als Ordnung und Ruhe des äußeren Lebens (»Civilisation«). Er stellt dann den fernsten Osten von Asien (»ähnlich solchen Individuen, die es nicht an Reinlichkeit, Schicklichkeit und Bequemlichkeit von Wohnungen, Kleidungen und allen Umgebungen fehlen lassen, aber niemals das Bedürfniß höherer Aufklärung empfinden«) den Griechen gegenüber (»bei den Griechen, auch bei den gebildetsten Attikern, trat oft das Gegentheil bis zur Verwunderung ein und man vernachlässigte das als unbedeutend, was wir vermöge unserer Ordnungsliebe insgemein als Grundlage der geistigen Veredlung selbst anzusehen pflegen«).

137.

Schon unsere Terminologie zeigt, wie sehr wir geneigt sind, die Alten falsch zu messen; der übertriebene Sinn der Litteratur zum Beispiel, oder wie Wolf von der »innern Geschichte der antiken Erudition« redet, er nennt es auch »die Geschichte der gelehrten Aufklärung«.

138.

Die Alten sind nach Goethe »die Verzweiflung der Nacheifernden«. Voltaire hat gesagt: »wenn die Bewunderer Homer's aufrichtig wären, so würden sie die Langeweile eingestehen, die ihnen ihr Liebling so oft verursacht«.

139.

Unsre Stellung zum classischen Alterthum ist im Grunde die tiefe Ursache der Unproduktivität der modernen Cultur: denn diesen ganzen modernen Culturbegriff haben wir von den hellenisirten Römern. Wir müssen im Alterthum selbst scheiden: indem wir seine einzig produktive Zeit kennen lernen, verurtheilen wir auch die ganze alexandrinisch-romanische Cultur. Aber zugleich verurtheilen wir unsre ganze Stellung zum Alterthum und unsre Philologie zugleich.

140.

Es giebt einen alten Kampf der Deutschen gegen das Alterthum, das heißt, gegen die alte Cultur: es ist gewiß, daß gerade das Beste und Tiefste am Deutschen sich mit sträubt. Aber der Hauptpunkt ist doch der: jenes Sträuben ist nur im Recht, wenn man die romanisirte Cultur meint; diese ist aber bereits der Abfall einer viel tieferen und edleren. Gegen diese sträubt sich der Deutsche mit Unrecht.

141.

Das Humanistische ist von Karl dem Großen mächtig angepflanzt worden, während er gegen das Heidnische mit den härtesten Zwangsmitteln vorgieng. Die antike Mythologie wurde verbreitet, die deutsche wie ein Verbrechen behandelt. Ich glaube, hier lag das Gefühl zu Grunde, daß das Christenthum eben schon fertig geworden sei mit der antiken Religion: man fürchtete sie nicht, aber benutzte die auf ihr ruhende Cultur des Alterthums. Die deutsche Götterwelt fürchtete man. – Eine große Äußerlichkeit in der Auffassung des Alterthums, fast nur die Schätzung seiner formalen Fertigkeiten und seiner Kenntnisse, muß hier gepflanzt worden sein. Es sind die Mächte zu nennen, die einer Vertiefung der Einsicht in's Alterthum im Weg gestanden haben. Zunächst wird die alterthümliche Cultur als Reizmittel zur Annahme des Christenthums benutzt: es ist gleichsam das Draufgeld für die Bekehrung. Die Versüßung beim Einschlürfen jenes Giftes. Dann war man der Hülfsmittel der antiken Cultur benöthigt, als Waffen zum geistigen Schutz des Christentums. Selbst die Reformation konnte die classischen Studien in diesem Sinne nicht entbehren. Dagegen beginnt nun die Renaissance mit reinerem Sinn die classischen Studien, aber durchaus auch im christenfeindlichen; sie zeigt ein Erwachen der Ehrlichkeit im Süden, wie die Reformation im Norden. Vertragen konnten sie sich freilich nicht, denn ernstliche Neigung zum Alterthum macht unchristlich. Es ist der Kirche im Ganzen gelungen, den classischen Studien eine unschädliche Wendung zu geben: der Philologe wurde erfunden, als Gelehrter, der im übrigen Priester, oder sonst so Etwas ist. Und auch im Bereiche der Reformation gelang es, den Gelehrten ebenfalls zu castriren. Deshalb ist Friedrich August Wolf merkwürdig, weil er den Stand von der Zucht der Theologie befreite: aber seine That wurde nicht völlig verstanden, denn ein angreifendes, aktives Element, wie es den Poeten-Philologen der Renaissance anhaftet, wurde nicht entwickelt. Die Befreiung kam der Wissenschaft, nicht den Menschen zu gute.

142.

Es ist wahr, der Humanismus und die Aufklärung haben das Alterthum als Bundesgenossen in's Feld geführt: und so ist es natürlich, daß die Gegner des Humanismus das Alterthum anfeinden. Nur war das Alterthum des Humanismus ein schlecht erkanntes und ganz gefälschtes; reiner gesehn ist es ein Beweis gegen den Humanismus, gegen die grundgütige Menschennatur u. s. w. Die Bekämpfer des Humanismus sind im Irrthum, wenn sie das Alterthum mit bekämpfen: sie haben da einen starken Bundesgenossen.

143.

Es ist so schwer, nur Etwas aus dem Alterthume nachzuempfinden, man muß warten können, bis wir Etwas zu hören bekommen. Das Menschliche, das uns das Alterthum zeigt, ist nicht zu verwechseln mit dem Humanen. Dieser Gegensatz ist sehr stark hervorzuheben: die Philologie krankt daran, daß sie das Humane unterschieben möchte; nur deshalb führt man junge Leute hinzu, damit sie human werden. Ich glaube, um das zu erreichen, genügt viel Historie: das Brutal-Selbstbewußte wird dadurch abgebrochen, wenn man Dinge und Schätzungen so wechseln sieht. – Das Menschliche der Hellenen liegt in einer gewissen Naivetät, in der bei ihnen der Mensch sich zeigt, Staat, Kunst, Societät, Kriegs- und Völkerrecht, Geschlechtsverkehr, Erziehung, Partei; es ist genau das Menschliche, das sich überall bei allen Völkern zeigt, aber bei ihnen in einer Unmaskirtheit und Inhumanität, daß es zur Belehrung nicht zu entbehren ist. Dazu haben sie die größte Menge von Individuen geschaffen – darin sind sie über den Menschen so belehrend; ein griechischer Koch ist mehr Koch als ein andrer.

144.

Ich beklage eine Erziehung, bei der es nicht erreicht ist, Wagner zu verstehen, bei der Schopenhauer rauh und mißtönend klingt; diese Erziehung ist verfehlt.


145. Letzte Niederschrift des Anfangs.

Il faut dire la vérité et s'immoler.
(Voltaire.)

Nehmen wir einmal an, es gäbe freiere und überlegenere Geister, welche mit der Bildung, die jetzt im Schwange geht, unzufrieden wären und sie vor ihren Gerichtshof führten: wie würde die Angeklagte zu ihnen reden? Vor Allem so: »ob ihr ein Recht habt anzuklagen oder nicht, jedenfalls haltet euch nicht an mich, sondern an meine Bildner; diese haben die Pflicht mich zu vertheidigen, und ich habe ein Recht zu schweigen: bin ich doch nichts als ihr Gebilde.« Nun würde man die Bildner vorführen: und unter ihnen wäre auch ein ganzer Stand zu erblicken, der der Philologen. Dieser Stand besteht einmal aus solchen Menschen, welche ihre Kenntniß des griechischen und römischen Alterthums benutzen, um mit ihr Jünglinge von 13-20 Jahren zu erziehen, und sodann aus solchen, welche die Aufgabe haben, derartige Lehrer immer von Neuem heranzubilden, also Erzieher der Erzieher zu sein; die Philologen der ersten Gattung sind Lehrer an Gymnasien, die der zweiten Professoren an den Universitäten. Den Ersteren übergiebt man ausgewählte Jünglinge, solche an denen Begabung und ein edlerer Sinn bei Zeiten sichtbar werden, und auf deren Erziehung die Eltern reichlich Zeit und Geld verwenden können; übergiebt man ihnen noch Andre, welche diesen drei Bedingungen nicht entsprechen, so steht es in der Hand der Lehrer sie abzuweisen. Die zweite Gattung, aus den Philologen der Universität bestehend, empfängt die jungen Männer, welche sich zum höchsten und anspruchsvollsten Berufe, dem der Lehrer und Bildner des Menschengeschlechts, geweiht fühlen; wiederum steht es in ihrer Hand, die falschen Eindringlinge zu beseitigen. Wird nun die Bildung einer Zeit verurtheilt, so sind jedenfalls die Philologen schwer angegriffen: entweder nämlich wollen sie, in der Verkehrtheit ihres Sinnes, gerade jene schlechte Bildung, weil sie dieselbe für etwas Gutes halten, oder sie wollen sie nicht, sind aber zu schwach, das Bessere, das sie erkennen, durchzusetzen. Entweder liegt also ihre Schuld in der Mangelhaftigkeit ihrer Einsicht oder in der Ohnmacht ihres Willens. Im ersten Falle würden sie sagen, sie wüßten es nicht besser, im zweiten, sie könnten es nicht besser. Da aber die Philologen vornehmlich mit Hülfe des griechischen und römischen Alterthums erziehen, so könnte die im ersten Falle angenommene Mangelhaftigkeit ihrer Einsicht einmal darin sich zeigen, daß sie das Alterthum nicht verstehen; zweitens aber darin, daß das Alterthum von ihnen mit Unrecht in die Gegenwart hineingestellt wird, angeblich als das wichtigste Hülfsmittel der Erziehung, weil es überhaupt nicht oder jetzt nicht mehr erzieht. Macht man ihnen dagegen die Ohnmacht ihres Willens zum Vorwurf, so hätten sie zwar darin volles Recht, wenn sie dem Alterthum jene erzieherische Bedeutung und Kraft zuschreiben, aber sie wären nicht die geeigneten Werkzeuge, vermittelst deren das Alterthum diese Kraft äußern könnte, das heißt: sie wären mit Unrecht Lehrer und lebten in einer falschen Stellung: aber wie kamen sie dann in diese hinein? Durch eine Täuschung über sich und ihre Bestimmung. Um also den Philologen ihren Antheil an der gegenwärtigen schlechten Bildung zuzuerkennen, könnte man die verschiedenen Möglichkeiten ihrer Schuld und Unschuld in diesen Satz zusammenfassen: Drei Dinge muß der Philologe, wenn er seine Unschuld beweisen will, verstehen, das Alterthum, die Gegenwart, sich selbst: seine Schuld liegt darin, daß er entweder das Alterthum nicht oder die Gegenwart nicht oder sich selbst nicht versteht.



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