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57.
Meine Freunde, wir haben es hart gehabt, als wir jung waren: wir haben an der Jugend selber gelitten, wie an einer schweren Krankheit. Das macht die Zeit, in die wir geworfen sind – die Zeit eines großen inneren Verfalles und Auseinanderfalles, welche mit allen ihren Schwächen und noch mit ihrer besten Stärke dem Geiste der Jugend entgegenwirkt. Das Auseinanderfallen, also die Ungewißheit ist dieser Zeit eigen: nichts steht auf festen Füßen und hartem Glauben an sich: man lebt für morgen, denn das Übermorgen ist zweifelhaft. Es ist alles glatt und gefährlich auf unserer Bahn, und dabei ist das Eis, das uns noch trägt, so dünn geworden: wir fühlen alle den warmen unheimlichen Athem des Thauwindes – wo wir noch gehen, da wird bald Niemand mehr gehen können!
58.
Wenn das kein Zeitalter des Verfalls und der abnehmenden Lebenskraft ist, so ist es zum Mindesten eines des unbesonnenen und willkürlichen Versuchens: – und es ist wahrscheinlich, daß aus einer Überfülle mißrathener Experimente ein Gesammt-Eindruck wie von Verfall entsteht: und vielleicht die Sache selbst, der Verfall.
59.
Zur Geschichte der modernen Verdüsterung.
Die Staats-Nomaden (Beamte u. s. w.): ohne »Heimat« –.
Der Niedergang der Familie.
Der »gute Mensch« als Symptom der Erschöpfung.
Gerechtigkeit als Wille zur Macht (Züchtung).
Geilheit und Neurose.
Schwarze Musik: – die erquickliche Musik wohin?
Der Anarchist.
Menschenverachtung, Ekel.
Tiefste Unterscheidung: ob der Hunger oder der Überfluß schöpferisch wird? Ersterer erzeugt die Ideale der Romantik. –
Nordische Unnatürlichkeit.
Das Bedürfnis; nach Alcoholica: die Arbeiter-»Noth«.
Der Philosophische Nihilismus.
60.
Das langsame Hervortreten und Emporkommen der mittleren und niederen Stände (eingerechnet der niederen Art Geist und Leib), welches schon vor der französischen Revolution reichlich präludirt und ohne Revolution ebenfalls seinen Weg vorwärts gemacht hätte, – im Ganzen also das Übergewicht der Heerde über alle Hirten und Leithämmel – bringt mit sich 1. Verdüsterung des Geistes (– das Beieinander eines stoischen und frivolen Anscheins von Glück, wie es vornehmen Kulturen eigen ist, nimmt ab; man läßt viele Leiden sehn und hören, welche man früher ertrug und verbarg);
2. die moralische Hypokrisie (eine Art, sich durch Moral auszeichnen zu wollen, aber durch die Heerden-Tugenden: Mitleid, Fürsorge, Mäßigung und nicht durch solche, die außer dem Heerden-Vermögen erkannt und gewürdigt werden);
3. eine wirkliche große Menge von Mitleiden und Mitfreude (das Wohlgefallen im großen Beieinander, wie es alle Heerdenthiere haben – »Gemeinsinn«, »Vaterland«, Alles, wo das Individuum nicht in Betracht kommt).
61.
Unsere Zeit mit ihrem Streben, den zufälligen Nöthen abzuhelfen, vorzubeugen und die unangenehmen Möglichkeiten vorweg zu bekriegen, ist eine Zeit der Armen. Unsere »Reichen« – das sind die Ärmsten! Der eigentliche Zweck alles Reichthums ist vergessen!
62.
Kritik des modernen Menschen: – »der gute Mensch«, nur verdorben und verführt durch schlechte Institutionen (Tyrannen und Priester); – die Vernunft als Autorität; – die Geschichte als Überwindung von Irrthümern; – die Zukunft als Fortschritt; – der christliche Staat (»der Gott der Heerschaaren«); – der christliche Geschlechtsbetrieb (oder die Ehe); – das Reich der »Gerechtigkeit« (der Cultus der »Menschheit«); – die »Freiheit«.
Die romantische Attitüde des modernen Menschen: – der edle Mensch (Byron, Victor Hugo, George Sand); – die edle Entrüstung; – die Heiligung durch die Leidenschaft (als wahre »Natur«); – das Parteinehmen für die Unterdrückten und Schlechtweggekommenen: Motto der Historiker und Romanciers; – die Stoiker der Pflicht; – die »Selbstlosigkeit« als Kunst und Erkenntniß; – der Altruismus als verlogenste Form des Egoismus (Utilitarismus), gefühlsamster Egoismus.
Dies Alles ist achtzehntes Jahrhundert. Was dagegen nicht sich aus ihm vererbt hat: die insouciance, die Heiterkeit, die Eleganz, die geistige Helligkeit. Das Tempo des Geistes hat sich verändert; der Genuß an der geistigen Feinheit und Klarheit ist dem Genuß an der Farbe, Harmonie, Masse, Realität u. s. w. gewichen. Sensualismus im Geistigen. Kurz, es ist das achtzehnte Jahrhundert Rousseau's.
63.
Im Großen gerechnet, ist in unsrer jetzigen Menschheit ein ungeheures Quantum von Humanität erreicht. Daß dies im allgemeinen nicht empfunden wird, ist selber ein Beweis dafür: wir sind für die kleinen Nothstände so empfindlich geworden, daß wir Das, was erreicht ist, unbillig übersehn.
Hier ist abzurechnen, daß es viel décadence giebt und daß mit solchen Augen gesehn, unsre Welt schlecht und miserabel aussehn muß. Aber diese Augen haben zu allen Zeiten das Gleiche gesehn:
1) eine gewisse Überreizung selbst der moralischen Empfindung,
2) das Quantum Verbitterung und Verdüsterung, das der Pessimismus mit sich in die Veurtheilung trägt: – beides zusammen hat der entgegengesetzten Vorstellung, daß es schlecht mit unsrer Moralität steht, zum Übergewicht verholfen.
Die Thatsache des Credits, des ganzen Welthandels, der Verkehrsmittel – ein ungeheures mildes Vertrauen auf den Menschen drückt sich darin aus ... Dazu trägt auch bei
3) die Loslösung der Wissenschaft von moralischen und religiösen Absichten: ein sehr gutes Zeichen, das aber meistens falsch verstanden ist.
Ich versuche auf meine Weise eine Rechtfertigung der Geschichte.
64.
Der zweite Buddhismus. – Vorzeichen dafür: Das Überhandnehmen des Mitleids. Die geistige Übermüdung. Die Reduktion der Probleme auf Lust- und Unlust-Fragen. Die Kriegs-Glorie, welche einen Gegenschlag hervorruft. Ebenso wie die nationale Abgrenzung eine Gegenbewegung, die herzlichste »Fraternität«, hervorruft. Die Unmöglichkeit der Religion, mit Dogmen und Fabeln fortarbeiten zu können.
Mit dieser buddhistischen Cultur wird die nihilistische Katastrophe ein Ende machen.
65.
Was heute am tiefsten angegriffen ist, das ist der Instinkt und der Wille der Tradition: alle Institutionen, die diesem Instinkt ihre Herkunft verdanken, gehen dem modernen Geiste wider den Geschmack ... Im Grunde denkt und thut man Nichts, was nicht den Zweck verfolgte, diesen Sinn für Überlieferung mit den Wurzeln herauszureißen. Man nimmt die Tradition als Fatalität; man studirt sie, man erkennt sie an (als »Erblichkeit« –), aber man will sie nicht. Die Anspannung eines Willens über lange Zeitfernen hin, die Auswahl der Zustände und Werthungen, welche es machen, daß man über Jahrhunderte der Zukunft verfügen kann – das gerade ist im höchsten Maaße antimodern. Woraus sich ergiebt, daß die desorganisirenden Principien unserem Zeitalter den Charakter geben.
66.
»Seid einfach« – eine Aufforderung an uns verwickelte und unfaßbare Nierenprüfer, welche eine einfache Dummheit ist ... Seid natürlich: aber wie, wenn man eben »unnatürlich« ist? ...
67.
Die ehemaligen Mittel, gleichartige, dauernde Wesen durch lange Geschlechter zu erzielen: unveräußerlicher Grundbesitz, Verehrung der Älteren (Ursprung des Götter- und Heroen-Glaubens als der Ahnherren).
Jetzt gehört die Zersplitterung des Grundbesitzes in die entgegengesetzte Tendenz. Eine Zeitung an Stelle der täglichen Gebete. Eisenbahn, Telegraph. Centralisation einer ungeheuren Menge verschiedener Interessen in Einer Seele: die dazu sehr stark und verhandlungsfähig sein muß.
68.
Weshalb Alles Schauspielerei wird. – Dem modernen Menschen fehlt: der sichere Instinkt (Folge einer langen gleichartigen Thätigkeitsform einer Art Mensch); die Unfähigkeit, etwas Vollkommnes zu leisten, ist bloß die Folge davon: – man kann als Einzelner die Schule nie nachholen.
Das, was eine Moral, ein Gesetzbuch schafft: der tiefe Instinkt dafür, daß erst der Automatismus die Vollkommenheit möglich macht in Leben und Schaffen.
Aber jetzt haben wir den entgegengesetzten Punkt erreicht, ja, wir haben ihn erreichen gewollt – die extremste Bewußtheit, die Selbstdurchschauung des Menschen und der Geschichte: – damit sind wir praktisch am fernsten von der Vollkommenheit in Sein, Thun und Wollen: unsere Begierde, unser Wille selbst zur Erkenntnis ist ein Symptom einer ungeheuren décadence. Wir streben nach dem Gegentheil von Dem, was starke Rassen, starke Naturen wollen, – das Begreifen ist ein Ende ...
Daß Wissenschaft möglich ist in diesem Sinne, wie sie heute geübt wird, ist der Beweis dafür, daß alle elementaren Instinkte, Nothwehr- und Schutz-Instinkte des Lebens nicht mehr fungiren. Wir sammeln nicht mehr, wir verschwenden die Kapitalien der Vorfahren, auch noch in der Art, wie wir erkennen –
69.
Nihilistischer Zug
a) in den Naturwissenschaften (»Sinnlosigkeit« –); Causalismus, Mechanismus. Die »Gesetzmäßigkeit« ein Zwischenakt, ein Überbleibsel.
b) Insgleichen in der Politik: es fehlt einem der Glaube an sein Recht, die Unschuld; es herrscht die Lügnerei, die Augenblicks-Dienerei.
c) Insgleichen in der Volkswirthschaft: die Aufhebung der Sklaverei: Mangel eines erlösenden Standes, eines Rechtfertigers, – Heraufkommen des Anarchismus. »Erziehung«?
d) Insgleichen in der Geschichte: der Fatalismus, der Darwinismus; die letzten Versuche, Vernunft und Göttlichkeit hineinzudeuten, mißrathen. Sentimentalität vor der Vergangenheit; man ertrüge keine Biographie! – (Der Phänomenalismus auch hier: Charakter als Maske; es giebt keine Thatsachen.)
e) Insgleichen in der Kunst: Romantik und ihr Gegenschlag (Widerwille gegen die romantischen Ideale und Lügen). Letzterer, moralisch, als Sinn größerer Wahrhaftigkeit, aber pessimistisch. Die reinen »Artisten« (gleichgültig gegen den Inhalt). (Beichtvater-Psychologie und Puritaner-Psychologie, zwei Formen der psychologischen Romantik: aber auch noch ihr Gegenschlag, der Versuch sich rein artistisch zum »Menschen« zu stellen, – auch da wird noch nicht die umgekehrte Werthschätzung gewagt!)
70.
Gegen die Lehre vom Einfluß des Milieu's und der äußeren Ursachen: die innere Kraft ist unendlich überlegen; Vieles, was wie Einfluß von Außen aussieht, ist nur ihre Anpassung von Innen her. Genau dieselben Milieu's können entgegengesetzt ausgedeutet und ausgenützt werden: es giebt keine Thatsachen. – Ein Genie ist nicht erklärt aus solchen Entstehungs-Bedingungen –
71.
Die » Modernität« unter dem Gleichniß von Ernährung und Verdauung. –
Die Sensibilität unsäglich reizbarer (– unter moralistischem Aufputz: die Vermehrung des Mitleids –); die Fülle disparater Eindrücke größer als je: – der Kosmopolitismus der Speisen, der Litteraturen, Zeitungen, Formen, Geschmäcker, selbst Landschaften. Das Tempo dieser Einströmung ein Prestissimo; die Eindrücke wischen sich aus; man wehrt sich instinktiv, Etwas hereinzunehmen, tief zu nehmen, Etwas zu »verdauen«; – Schwächung der Verdauungs-Kraft resultirt daraus. Eine Art Anpassung an diese Überhäufung mit Eindrücken tritt ein: der Mensch verlernt zu agiren; er reagirt nur noch auf Erregungen von Außen her. Er giebt seine Kraft aus theils in der Aneignung, theils in der Verteidigung, theils in der Entgegnung. Tiefe Schwächung der Spontaneität: – der Historiker, Kritiker, Analytiker, der Interpret, der Beobachter, der Sammler, der Leser, – alles reaktive Talente, – alle Wissenschaft!
Künstliche Zurechtmachung seiner Natur zum »Spiegel«; interessirt, aber gleichsam bloß epidermal-interessirt; eine grundsätzliche Kühle, ein Gleichgewicht, eine festgehaltene niedere Temperatur dicht unter der dünnen Fläche, auf der es Wärme, Bewegung, »Sturm«, Wellenspiel giebt.
Gegensatz der äußeren Beweglichkeit zu einer gewissen tiefen Schwere und Müdigkeit.
72.
Wohin gehört unsre moderne Welt: in die Erschöpfung oder in den Aufgang? – Ihre Vielheit und Unruhe bedingt durch die höchste Form des Bewußtwerdens.
73.
Überarbeitung, Neugierde und Mitgefühl – unsere modernen Laster.
74.
Zur Charakteristik der » Modernität«. – Überreichliche Entwicklung der Zwischengebilde; Verkümmerung der Typen; Abbruch der Traditionen, Schulen; die Überherrschaft der Instinkte (philosophisch vorbereitet: das Unbewußte mehr werth) nach eingetretener Schwächung der Willenskraft, des Wollens von Zweck und Mittel.
75.
Ein tüchtiger Handwerker oder Gelehrter nimmt sich gut aus, wenn er seinen Stolz bei seiner Kunst hat und genügsam und zufrieden auf das Leben blickt. Nichts hingegen ist jämmerlicher anzuschauen, als wenn ein Schuster oder Schulmeister mit leidender Miene zu verstehen giebt, er sei eigentlich für etwas Besseres geboren. Es giebt gar nichts Besseres, als das Gute! und das ist: irgend eine Tüchtigkeit haben und aus ihr schaffen, virtù im italienischen Sinne der Renaissance.
Heute, in der Zeit wo der Staat einen unsinnig dicken Bauch hat, giebt es in allen Feldern und Fächern, außer den eigentlichen Arbeitern, noch »Vertreter«: z. B. außer den Gelehrten noch Litteraten, außer den leidenden Volksschichten noch schwätzende prahlerische Thunichtgute, welche jenes Leiden »vertreten«, – gar nicht zu reden von den Politikern von Berufs wegen, welche sich wohlbefinden und Nothstände vor einem Parlament mit starken Lungen »vertreten«. Unser modernes Leben ist äußerst kostspielig durch die Menge Zwischenpersonen; in einer antiken Stadt dagegen, und im Nachklang daran noch in mancher Stadt Spaniens und Italiens, trat man selber auf und hatte Nichts auf einen solchen modernen Vertreter und Zwischenhändler gegeben – es sei denn einen Tritt!
76.
Das Übergewicht der Händler und Zwischenpersonen, auch im Geistigsten: der Litterat, der »Vertreter«, der Historiker (als Verquicker des Vergangenen und Gegenwärtigen), der Exotiker und Kosmopolit, die Zwischenpersonen zwischen Naturwissenschaft und Philosophie, die Semi-Theologen.
77.
Den größten Ekel haben mir bisher die Schmarotzer des Geistes gemacht: man findet sie, in unserem ungesunden Europa, überall schon, und zwar mit dem besten Gewissen von der Welt. Vielleicht ein wenig trübe, ein wenig air pessimiste, in der Hauptsache aber gefräßig, schmutzig, beschmutzend, sich einschleichend, einschmiegend, diebisch, krätzig – und unschuldig wie alle kleinen Sünder und Mikroben. Sie leben davon, daß andere Leute Geist haben und mit vollen Händen ausgeben: sie wissen, wie es selbst zum Wesen des reichen Geistes gehört, unbekümmert, ohne kleinliche Vorsicht, auf den Tag hin und selbst verschwenderisch sich auszugeben. – Denn der Geist ist ein schlechter Haushalter und hat kein Augenmerk darauf, wie Alles von ihm lebt und zehrt.
78.
Die Schauspielerei
Die Farbenbuntheit des modernen Menschen und ihr Reiz. Wesentlich Versteck und Überdruß.
Der Litterat.
Der Politiker (im »nationalen Schwindel«).
Die Schauspielerei in den Künsten:
Mangel an Probität der Vorbildung und Schulung (Fromentin);
die Romantiker (Mangel an Philosophie und Wissenschaft und Überfluß an Litteratur);
die Romanschreiber (Walter Scott, aber auch die Nibelungen-Ungeheuer mit der nervösesten Musik);
die Lyriker.
Die »Wissenschaftlichkeit«.
Virtuosen (Juden).
Die volksthümlichen Ideale als überwunden, aber noch nicht vor dem Volk:
der Heilige, der Weise, der Prophet.
79.
Die Zuchtlosigkeit des modernen Geistes unter allerhand moralischem Aufputz. – Die Prunkworte sind: die Toleranz (für »Unfähigkeit zu Ja und Nein«); la largeur de sympathie (– ein Drittel Indifferenz, ein Drittel Neugierde, ein Drittel krankhafte Erregbarkeit); die »Objektivität« (– Mangel an Person, Mangel an Wille, Unfähigkeit zur »Liebe«); die »Freiheit« gegen die Regel (Romantik); die »Wahrheit« gegen die Fälscherei und Lügnerei (Naturalismus); die »Wissenschaftlichkeit« (das » document humain«: auf Deutsch der Colportage-Roman und die Addition – statt der Composition); die »Leidenschaft« an Stelle der Unordnung und der Unmäßigkeit; die »Tiefe« an Stelle der Verworrenheit, des Symbolen-Wirrwars.
80.
Zur Kritik der großen Worte.– Ich bin voller Argwohn und Bosheit gegen Das, was man »Ideal« nennt: hier liegt mein Pessimismus, erkannt zu haben, wie die »höheren Gefühle« eine Quelle des Unheils, das heißt der Verkleinerung und Wertherniedrigung des Menschen sind.
Man täuscht sich jedesmal, wenn man einen »Fortschritt« von einem Ideal erwartet; der Sieg des Ideals war jedesmal bisher eine retrograde Bewegung.
Christenthum, Revolution, Aufhebung der Sklaverei, gleiche Rechte, Philanthropie, Friedensliebe, Gerechtigkeit, Wahrheit: alle diese großen Worte haben nur Werth im Kampf, als Standarte: nicht als Realitäten, sondern als Prunkworte, für etwas ganz Anderes (ja Gegensätzliches!).
81.
Man kennt die Art Mensch, welche sich in die Sentenz tout comprendre c'est tout pardonner verliebt hat. Es sind die Schwachen, es sind vor Allem die Enttäuschten: wenn es an Allem etwas zu verzeihen giebt, so giebt es auch an Allem etwas zu verachten! Es ist die Philosophie der Enttäuschung, die sich hier so human in Mitleiden einwickelt und süß blickt.
Das sind Romantiker, denen der Glaube flöten gieng: nun wollen sie wenigstens noch zusehen, wie Alles läuft und verläuft. Sie nennen's l'art pour l'art, »Objektivität« u. s. w.
82.
Haupt-Symptome des Pessimismus: – die diners chez Magny; der russische Pessimismus (Tolstoi, Dostoiewsky); der ästhetische Pessimismus, l'art pour l'art, » description« (der romantische und der antiromantische Pessimismus); der erkenntnißtheoretische Pessimismus (Schopenhauer; der Phänomenalismus); der anarchistische Pessimismus; die »Religion des Mitleids«, buddhistische Vorbewegung; der Cultur-Pessimismus: (Exotismus, Kosmopolitismus); der moralistische Pessimismus: ich selber.
83.
» Ohne den christlichen Glauben, meinte Pascal, werdet ihr euch selbst, ebenso wie die Natur und die Geschichte, un monstre et un chaos.« Diese Prophezeiung haben wir erfüllt: nachdem das schwächlich-optimistische achtzehnte Jahrhundert den Menschen verhübscht und verrationalisirt hatte.
Schopenhauer und Pascal, – In einem wesentlichen Sinne ist Schopenhauer der Erste, der die Bewegung Pascal's wieder aufnimmt: un monstre et un chaos, folglich Etwas, das zu verneinen ist ... Geschichte, Natur, der Mensch selbst!
» Unsre Unfähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, ist die Folge unsrer Verderbniß, unsres moralischen Verfalls«: so Pascal. Und so im Grunde Schopenhauer. »Je tiefer die Verderbniß der Vernunft, umso nothwendiger die Heilslehre« – oder, Schopenhauerisch gesprochen, die Verneinung.
Schopenhauer als Nachschlag (Zustand vor der Revolution): – Mitleid, Sinnlichkeit, Kunst, Schwäche des Willens, Katholicismus der geistigsten Begierden – das ist gutes achtzehntes Jahrhundert au fond.
Schopenhauers Grundmißverständniß des Willens (wie als ob Begierde, Instinkt, Trieb das Wesentliche am Willen sei) ist typisch: Wertherniedrigung des Willens bis zur Verkennung. Insgleichen Haß gegen das Wollen; Versuch, in dem Nicht-mehr-wollen, im »Subjektsein ohne Ziel und Absicht« (im »reinen willensfreien Subjekt«) etwas Höheres, ja das Höhere, das Werthvolle zu sehen. Großes Symptom der Ermüdung oder der Schwäche des Willens: denn dieser ist ganz eigentlich Das, was die Begierden als Herr behandelt, ihnen Weg und Maaß weist ...
85.
Man hat den unwürdigen Versuch gemacht, in Wagner und Schopenhauer Typen der geistig Gestörten zu sehen: eine ungleich wesentlichere Einsicht wäre gewonnen, den Typus der décadence, den Beide darstellen, wissenschaftlich zu präcisiren.
86.
Henrik Ibsen ist mir sehr deutlich geworden. Mit all seinem robusten Idealismus und »Willen zur Wahrheit« hat er sich nicht von dem Moral-Illusionismus frei zu machen gewagt, welcher »Freiheit« sagt und nicht sich eingestehen will, was Freiheit ist: die zweite Stufe in der Metamorphose des »Willens zur Macht« seitens Derer, denen sie fehlt. Auf der ersten verlangt man Gerechtigkeit von Seiten Derer, welche die Macht haben. Auf der zweiten sagt man »Freiheit«, d. h. man will »loskommen« von Denen, welche die Macht haben. Auf der dritten sagt man » gleiche Rechte«, d. h. man will, so lange man noch nicht das Übergewicht hat, auch die Mitbewerber hindern, in der Macht zu wachsen.
87.
Niedergang des Protestantismus: theoretisch und historisch als Halbheit begriffen. Thatsächliches Übergewicht des Katholizismus; das Gefühl des Protestantismus so erloschen, daß die stärksten antiprotestantischen Bewegungen nicht mehr als solche empfunden werden (zum Beispiel Wagner's Parsifal). Die ganze höhere Geistigkeit in Frankreich ist katholisch im Instinkt; Bismarck hat begriffen, daß es einen Protestantismus gar nicht mehr giebt.
88.
Der Protestantismus, jene geistig unreinliche und langweilige Form der décadence, in der das Christenthum sich bisher im mediokren Norden zu conserviren gewußt hat: als etwas Halbes und Complexes werthvoll für die Erkenntniß, insofern es Erfahrungen verschiedener Ordnung und Herkunft in den gleichen Köpfen zusammenbrachte.
89.
Was hat der deutsche Geist aus dem Christenthum gemacht! – Und daß ich beim Protestantismus stehen bleibe: wie viel Bier ist wieder in der protestantischen Christlichkeit! Ist eine geistig verdumpftere, faulere, gliederstreckendere Form des Christen-Glaubens noch denkbar, als die eines deutschen Durchschnitts-Protestanten? ... Das nenne ich mir ein bescheidnes Christentum! eine Homöopathie des Christentums nenne ich's! – Man erinnert mich daran, daß es heute auch einen unbescheidnen Protestantismus giebt, den der Hofprediger und antisemitischen Spekulanten: aber Niemand hat noch behauptet, daß irgend ein »Geist« auf diesen Gewässern »schwebe« ... Das ist bloß eine unanständigere Form der Christlichkeit, durchaus noch keine verständigere ...
90.
Fortschritt. – Daß wir uns nicht täuschen! Die Zeit läuft vorwärts, – wir möchten glauben, daß auch Alles, was in ihr ist, vorwärts läuft, – daß die Entwicklung eine Vorwärts-Entwicklung ist ... Das ist der Augenschein, von dem die Besonnensten verführt werden. Aber das neunzehnte Jahrhundert ist kein Fortschritt gegen das sechszehnte: und der deutsche Geist von 1888 ist ein Rückschritt gegen den deutschen Geist von 1788 ... Die »Menschheit« avancirt nicht, sie existirt nicht einmal. Der Gesammt-Aspekt ist der einer ungeheuren Experimentir-Werkstätte, wo Einiges gelingt, zerstreut durch alle Zeiten, und Unsägliches mißräth, wo alle Ordnung, Logik, Verbindung und Verbindlichkeit fehlt. Wie dürften wir verkennen, daß die Heraufkunft des Christentums eine décadence-Bewegung ist? ... Daß die deutsche Reformation eine Recrudescenz der christlichen Barbarei ist? ... Daß die Revolution den Instinkt zur großen Organisation der Gesellschaft zerstört hat? ... Der Mensch ist kein Fortschritt gegen das Thier: der Cultur-Zärtling ist eine Mißgeburt im Vergleich zum Araber und Corsen; der Chinese ist ein wohlgerathnerer Typus, nämlich dauerfähiger, als der Europäer ...