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14.

Denken wir uns jetzt das eine grosse Cyklopenauge des Sokrates auf die Tragödie gewandt, jenes Auge, in dem nie der holde Wahnsinn künstlerischer Begeisterung geglüht hat – denken wir uns, wie es jenem Auge versagt war, in die dionysischen Abgründe mit Wohlgefallen zu schauen – was eigentlich musste es in der »erhabenen und hochgepriesenen« tragischen Kunst, wie sie Plato nennt, erblicken? Etwas recht Unvernünftiges, mit Ursachen, die ohne Wirkungen, und mit Wirkungen, die ohne Ursachen zu sein schienen, dazu das Ganze so bunt und mannichfaltig, dass es einer besonnenen Gemüthsart widerstreben müsse, für reizbare und empfindliche Seelen aber ein gefährlicher Zunder sei. Wir wissen, welche einzige Gattung der Dichtkunst von ihm begriffen wurde, die aesopische Fabel: und dies geschah gewiss mit jener lächelnden Anbequemung, mit welcher der ehrliche gute Gellert in der Fabel von der Biene und der Henne das Lob der Poesie singt:

»Du siehst an mir, wozu sie nützt,
Dem, der nicht viel Verstand besitzt
Die Wahrheit durch ein Bild zu sagen«.

Nun aber schien Sokrates die tragische Kunst nicht einmal »die Wahrheit zu sagen«: abgesehen davon, dass sie sich an den wendet, der »nicht viel Verstand besitzt«, also nicht an den Philosophen: ein zweifacher Grund, von ihr fern zu bleiben. Wie Plato, rechnete er sie zu den schmeichlerischen Künsten, die nur das Angenehme, nicht das Nützliche darstellen und verlangte deshalb bei seinen Jüngern Enthaltsamkeit und strenge Absonderung von solchen unphilosophischen Reizungen; mit solchem Erfolge, dass der jugendliche Tragödiendichter Plato zu allererst seine Dichtungen verbrannte, um Schüler des Sokrates werden zu können. Wo aber unbesiegbare Anlagen gegen die sokratischen Maximen ankämpften, war die Kraft derselben, sammt der Wucht jenes ungeheuren Charakters, immer noch gross genug, um die Poesie selbst in neue und bis dahin unbekannte Stellungen zu drängen.

Ein Beispiel dafür ist der eben genannte Plato: er, der in der Verurtheilung der Tragödie und der Kunst überhaupt gewiss nicht hinter dem naiven Cynismus seines Meisters zurückgeblieben ist, hat doch aus voller künstlerischer Nothwendigkeit eine Kunstform schaffen müssen, die gerade mit den vorhandenen und von ihm abgewiesenen Kunstformen innerlich verwandt ist. Der Hauptvorwurf, den Plato der älteren Kunst zu machen hatte, – dass sie Nachahmung eines Scheinbildes sei, also noch einer niedrigeren Sphäre als die empirische Welt ist, angehöre – durfte vor allem nicht gegen das neue Kunstwerk gerichtet werden: und so sehen wir denn Plato bestrebt über die Wirklichkeit hinaus zu gehn und die jener Pseudo-Wirklichkeit zu Grunde liegende Idee darzustellen. Damit aber war der Denker Plato auf einem Umwege ebendahin gelangt, wo er als Dichter stets heimisch gewesen war und von wo aus Sophokles und die ganze ältere Kunst feierlich gegen jenen Vorwurf protestirten. Wenn die Tragödie alle früheren Kunstgattungen in sich aufgesaugt hatte, so darf dasselbe wiederum in einem excentrischen Sinne vom platonischen Dialoge gelten, der, durch Mischung aller vorhandenen Stile und Formen erzeugt, zwischen Erzählung, Lyrik, Drama, zwischen Prosa und Poesie in der Mitte schwebt und damit auch das strenge ältere Gesetz der einheitlichen sprachlichen Form durchbrochen hat; auf welchem Wege die cynischen Schriftsteller noch weiter gegangen sind, die in der grössten Buntscheckigkeit des Stils, im Hin- und Herschwanken zwischen prosaischen und metrischen Formen auch das litterarische Bild des »rasenden Sokrates«, den sie im Leben darzustellen pflegten, erreicht haben. Der platonische Dialog war gleichsam der Kahn, auf dem sich die schiffbrüchige ältere Poesie sammt allen ihren Kindern rettete: auf einen engen Raum zusammengedrängt und dem einen Steuermann Sokrates ängstlich unterthänig fuhren sie jetzt in eine neue Welt hinein, die an dem phantastischen Bilde dieses Aufzugs sich nie satt sehen konnte. Wirklich hat für die ganze Nachwelt Plato das Vorbild einer neuen Kunstform gegeben, das Vorbild des Roman's: der als die unendlich gesteigerte aesopische Fabel zu bezeichnen ist, in der die Poesie in einer ähnlichen Rangordnung zur dialektischen Philosophie lebt, wie viele Jahrhunderte hindurch dieselbe Philosophie zur Theologie: nämlich als ancilla. Dies war die neue Stellung der Poesie, in die sie Plato unter dem Drucke des dämonischen Sokrates drängte.

Hier überwächst der philosophische Gedanke die Kunst und zwingt sie zu einem engen Sich-Anklammern an den Stamm der Dialektik. In dem logischen Schematismus hat sich die apollinische Tendenz verpuppt: wie wir bei Euripides etwas Entsprechendes und ausserdem eine Uebersetzung des Dionysischen in den naturalistischen Affect wahrzunehmen hatten. Sokrates, der dialektische Held im platonischen Drama, erinnert uns an die verwandte Natur des euripideischen Helden, der durch Grund und Gegengrund seine Handlungen vertheidigen muss und dadurch so oft in Gefahr geräth, unser tragisches Mitleiden einzubüssen: denn wer vermöchte das optimistische Element im Wesen der Dialektik zu verkennen, das in jedem Schlusse sein Jubelfest feiert und allein in kühler Helle und Bewusstheit athmen kann: das optimistische Element, das, einmal in die Tragödie eingedrungen, ihre dionysischen Regionen allmählich überwuchern und sie nothwendig zur Selbstvernichtung treiben muss – bis zum Todessprunge in's bürgerliche Schauspiel. Man vergegenwärtige sich nur die Consequenzen der sokratischen Sätze: »Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der Glückliche«: in diesen drei Grundformen des Optimismus liegt der Tod der Tragödie. Denn jetzt muss der tugendhafte Held Dialektiker sein, jetzt muss zwischen Tugend und Wissen, Glaube und Moral ein nothwendiger sichtbarer Verband sein, jetzt ist die transscendentale Gerechtigkeitslösung des Aeschylus zu dem flachen und frechen Princip der »poetischen Gerechtigkeit« mit seinem üblichen deus ex machina erniedrigt.

Wie erscheint dieser neuen sokratisch-optimistischen Bühnenwelt gegenüber jetzt der Chor und überhaupt der ganze musikalisch-dionysische Untergrund der Tragödie? Als etwas Zufälliges, als eine auch wohl zu missende Reminiscenz an den Ursprung der Tragödie; während wir doch eingesehen haben, dass der Chor nur als Ursache der Tragödie und des Tragischen überhaupt verstanden werden kann. Schon bei Sophokles zeigt sich jene Verlegenheit in Betreff des Chors – ein wichtiges Zeichen, dass schon bei ihm der dionysische Boden der Tragödie zu zerbröckeln beginnt. Er wagt es nicht mehr, dem Chor den Hauptantheil der Wirkung anzuvertrauen, sondern schränkt sein Bereich dermaassen ein, dass er jetzt fast den Schauspielern coordinirt erscheint, gleich als ob er aus der Orchestra in die Scene hineingehoben würde: womit freilich sein Wesen völlig zerstört ist, mag auch Aristoteles gerade dieser Auffassung des Chors seine Beistimmung geben. Jene Verrückung der Chorposition, welche Sophokles jedenfalls durch seine Praxis und, der Ueberlieferung nach, sogar durch eine Schrift anempfohlen hat, ist der erste Schritt zur Vernichtung des Chors, deren Phasen in Euripides, Agathon und der neueren Komödie mit erschreckender Schnelligkeit auf einander folgen. Die optimistische Dialektik treibt mit der Geissel ihrer Syllogismen die Musik aus der Tragödie: d. h. sie zerstört das Wesen der Tragödie, welches sich einzig als eine Manifestation und Verbildlichung dionysischer Zustände, als sichtbare Symbolisirung der Musik, als die Traumwelt eines dionysischen Rausches interpretiren lässt.

Haben wir also sogar eine schon vor Sokrates wirkende antidionysische Tendenz anzunehmen, die nur in ihm einen unerhört grossartigen Ausdruck gewinnt: so müssen wir nicht vor der Frage zurückschrecken, wohin denn eine solche Erscheinung wie die des Sokrates deute: die wir doch nicht im Stande sind, Angesichts der platonischen Dialoge, als eine nur auflösende negative Macht zu begreifen. Und so gewiss die allernächste Wirkung des sokratischen Triebes auf eine Zersetzung der dionysischen Tragödie ausging, so zwingt uns eine tiefsinnige Lebenserfahrung des Sokrates selbst zu der Frage, ob denn zwischen dem Sokratismus und der Kunst nothwendig nur ein antipodisches Verhältniss bestehe und ob die Geburt eines »künstlerischen Sokrates« überhaupt etwas in sich Widerspruchsvolles sei.

Jener despotische Logiker hatte nämlich hier und da der Kunst gegenüber das Gefühl einer Lücke, einer Leere, eines halben Vorwurfs, einer vielleicht versäumten Pflicht. Oefters kam ihm, wie er im Gefängniss seinen Freunden erzählt, ein und dieselbe Traumerscheinung, die immer dasselbe sagte: »Sokrates, treibe Musik!« Er beruhigt sich bis zu seinen letzten Tagen mit der Meinung, sein Philosophieren sei die höchste Musenkunst, und glaubt nicht recht, dass eine Gottheit ihn an jene »gemeine, populäre Musik« erinnern werde. Endlich im Gefängniss versteht er sich, um sein Gewissen gänzlich zu entlasten, auch dazu, jene von ihm gering geachtete Musik zu treiben. Und in dieser Gesinnung dichtet er ein Proömium auf Apollo und bringt einige aesopische Fabeln in Verse. Das war etwas der dämonischen warnenden Stimme Aehnliches, was ihn zu diesen Uebungen drängte, es war seine apollinische Einsicht, dass er wie ein Barbarenkönig ein edles Götterbild nicht verstehe und in der Gefahr sei, sich an einer Gottheit zu versündigen – durch sein Nichtsverstehn. Jenes Wort der sokratischen Traumerscheinung ist das einzige Zeichen einer Bedenklichkeit über die Grenzen der logischen Natur: vielleicht – so musste er sich fragen – ist das mir Nichtverständliche doch nicht auch sofort das Unverständige? Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist? Vielleicht ist die Kunst sogar ein nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft?


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