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Auf die Gefahr hin, dass Moralisiren sich auch hier als Das herausstellt, was es immer war – nämlich als ein unverzagtes montrer ses plaies, nach Balzac –, möchte ich wagen, einer ungebührlichen und schädlichen Rangverschiebung entgegenzutreten, welche sich heute, ganz unvermerkt und wie mit dem besten Gewissen, zwischen Wissenschaft und Philosophie herzustellen droht. Ich meine, man muss von seiner Erfahrung aus – Erfahrung bedeutet, wie mich dünkt, immer schlimme Erfahrung? – ein Recht haben, über eine solche höhere Frage des Rangs mitzureden: um nicht wie die Blinden von der Farbe oder wie Frauen und Künstler gegen die Wissenschaft zu reden (»ach, diese schlimme Wissenschaft! seufzt deren Instinkt und Scham, sie kommt immer dahinter!« –). Die Unabhängigkeits-Erklärung des wissenschaftlichen Menschen, seine Emancipation von der Philosophie, ist eine der feineren Nachwirkungen des demokratischen Wesens und Unwesens: die Selbstverherrlichung und Selbstüberhebung des Gelehrten steht heute überall in voller Blüthe und in ihrem besten Frühlinge, – womit noch nicht gesagt sein soll, dass in diesem Falle Eigenlob lieblich röche. Los von allen Herren!« – so will es auch hier der pöbelmännische Instinkt; und nachdem sich die Wissenschaft mit glücklichstem Erfolge der Theologie erwehrt hat, deren »Magd« sie zu lange war, ist sie nun in vollem Übermuthe und Unverstande darauf hin aus, der Philosophie Gesetze zu machen und ihrerseits einmal den »Herrn« – was sage ich! den Philosophen zu spielen. Mein Gedächtniss – das Gedächtniss eines wissenschaftlichen Menschen, mit Verlaub! – strotzt von Naivetäten des Hochmuths, die ich seitens junger Naturforscher und alter Ärzte über Philosophie und Philosophen gehört habe (nicht zu reden von den gebildetsten und eingebildetsten aller Gelehrten, den Philologen und Schulmännern, welche Beides von Berufs wegen sind –). Bald war es der Spezialist und Eckensteher, der sich instinktiv überhaupt gegen alle synthetischen Aufgaben und Fähigkeiten zur Wehre setzte; bald der fleissige Arbeiter, der einen Geruch von otium und der vornehmen Üppigkeit im Seelen-Haushalte des Philosophen bekommen hatte und sich dabei beeinträchtigt und verkleinert fühlte. Bald war es jene Farben-Blindheit des Nützlichkeits-Menschen, der in der Philosophie Nichts sieht, als eine Reihe widerlegter Systeme und einen verschwenderischen Aufwand, der Niemandem »zu Gute kommt«. Bald sprang die Furcht vor verkappter Mystik und Grenzberichtigung des Erkennens hervor; bald die Missachtung einzelner Philosophen, welche sich unwillkürlich zur Missachtung der Philosophie verallgemeinert hatte. Am häufigsten endlich fand ich bei jungen Gelehrten hinter der hochmüthigen Geringschätzung der Philosophie die schlimme Nachwirkung eines Philosophen selbst, dem man zwar im Ganzen den Gehorsam gekündigt hatte, ohne doch aus dem Banne seiner wegwerfenden Werthschätzungen anderer Philosophen herausgetreten zu sein: – mit dem Ergebniss einer Gesammt-Verstimmung gegen alle Philosophie. (Dergestalt scheint mir zum Beispiel die Nachwirkung Schopenhauer's auf das neueste Deutschland zu sein: – er hat es mit seiner unintelligenten Wuth auf Hegel dahin gebracht, die ganze letzte Generation von Deutschen aus dem Zusammenhang mit der deutschen Cultur herauszubrechen, welche Cultur, Alles wohl erwogen, eine Höhe und divinatorische Feinheit des historischen Sinns gewesen ist: aber Schopenhauer selbst war gerade an dieser Stelle bis zur Genialität arm, unempfänglich, undeutsch.) Überhaupt in's Grosse gerechnet, mag es vor Allem das Menschliche, Allzumenschliche, kurz die Armseligkeit der neueren Philosophen selbst gewesen sein, was am gründlichsten der Ehrfurcht vor der Philosophie Abbruch gethan und dem pöbelmännischen Instinkte die Thore aufgemacht hat. Man gestehe es sich doch ein, bis zu welchem Grade unsrer modernen Welt die ganze Art der Heraklite, Plato's, Empedokles', und wie alle diese königlichen und prachtvollen Einsiedler des Geistes geheissen haben, abgeht; und mit wie gutem Rechte Angesichts solcher Vertreter der Philosophie, die heute Dank der Mode ebenso oben-auf als unten-durch sind – in Deutschland zum Beispiel die beiden Löwen von Berlin, der Anarchist Eugen Dühring und der Amalgamist Eduard von Hartmann – ein braver Mensch der Wissenschaft sich besserer Art und Abkunft fühlen darf. Es ist in Sonderheit der Anblick jener Mischmasch-Philosophen, die sich Wirklichkeits-Philosophen« oder »Positivisten« nennen, welcher ein gefährliches Misstrauen in die Seele eines jungen, ehrgeizigen Gelehrten zu werfen im Stande ist: das sind ja besten Falls selbst Gelehrte und Spezialisten, man greift es mit Händen! – das sind ja allesammt überwundene und unter die Botmässigkeit der Wissenschaft Zurückgebrachte, welche irgendwann einmal mehr von sich gewollt haben, ohne ein Recht zu diesem »mehr« und seiner Verantwortlichkeit zu haben – und die jetzt, ehrsam, ingrimmig, rachsüchtig, den Unglauben an die Herren-Aufgabe und Herrschaftlichkeit der Philosophie mit Wort und That repräsentiren. Zuletzt: wie könnte es auch anders sein! Die Wissenschaft blüht heute und hat das gute Gewissen reichlich im Gesichte, während Das, wozu die ganze neuere Philosophie allmählich gesunken ist, dieser Rest Philosophie von heute, Misstrauen und Missmuth, wenn nicht Spott und Mitleiden gegen sich rege macht. Philosophie auf »Erkenntnisstheorie« reduzirt, thatsächlich nicht mehr als eine schüchterne Epochistik und Enthaltsamkeitslehre: eine Philosophie, die gar nicht über die Schwelle hinweg kommt und sich peinlich das Recht zum Eintritt verweigert – das ist Philosophie in den letzten Zügen, ein Ende, eine Agonie, Etwas das Mitleiden macht. Wie könnte eine solche Philosophie – herrschen!
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Die Gefahren für die Entwicklung des Philosophen sind heute in Wahrheit so vielfach, dass man zweifeln möchte, ob diese Frucht überhaupt noch reif werden kann. Der Umfang und der Thurmbau der Wissenschaften ist in's Ungeheure gewachsen, und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass der Philosoph schon als Lernender müde wird oder sich irgendwo festhalten und »spezialisiren« lässt: so dass er gar nicht mehr auf seine Höhe, nämlich zum Überblick, Umblick, Niederblick kommt. Oder er gelangt zu spät hinauf, dann, wenn seine beste Zeit und Kraft schon vorüber ist; oder beschädigt, vergröbert, entartet, so dass sein Blick, sein Gesammt-Werthurtheil wenig mehr bedeutet. Gerade die Feinheit seines intellektuellen Gewissens lässt ihn vielleicht unterwegs zögern und sich verzögern; er fürchtet die Verführung zum Dilettanten, zum Tausendfuss und Tausend-Fühlhorn, er weiss es zu gut, dass Einer, der vor sich selbst die Ehrfurcht verloren hat, auch als Erkennender nicht mehr befiehlt, nicht mehr führt: er müsste denn schon zum grossen Schauspieler werden wollen, zum philosophischen Cagliostro und Rattenfänger der Geister, kurz zum Verführer. Dies ist zuletzt eine Frage des Geschmacks: wenn es selbst nicht eine Frage des Gewissens wäre. Es kommt hinzu, um die Schwierigkeit des Philosophen noch einmal zu verdoppeln, dass er von sich ein Urtheil, ein ja oder Nein, nicht über die Wissenschaften, sondern über das Leben und den Werth des Lebens verlangt, – dass er ungern daran glauben lernt, ein Recht oder gar eine Pflicht zu diesem Urtheile zu haben, und sich nur aus den umfänglichsten – vielleicht störendsten, zerstörendsten – Erlebnissen heraus und oft zögernd, zweifelnd, verstummend seinen Weg zu jenem Rechte und jenem Glauben suchen muss. In der That, die Menge hat den Philosophen lange Zeit verwechselt und verkannt, sei es mit dem wissenschaftlichen Menschen und idealen Gelehrten, sei es mit dem religiös-gehobenen entsinnlichten »entweltlichten« Schwärmer und Trunkenbold Gottes; und hört man gar heute jemanden loben, dafür, dass er »weise« lebe oder »als ein Philosoph«, so bedeutet es beinahe nicht mehr, als »klug und abseits«. Weisheit: das scheint dem Pöbel eine Art Flucht zu sein, ein Mittel und Kunststück, sich gut aus einem schlimmen Spiele herauszuziehn; aber der rechte Philosoph – so scheint es uns, meine Freunde? – lebt »unphilosophisch« und »unweise«, vor Allem unklug, und fühlt die Last und Pflicht zu hundert Versuchen und Versuchungen des Lebens: – er risquirt sich beständig, er spielt das schlimme Spiel ...
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Im Verhältnisse zu einem Genie, das heisst zu einem Wesen, welches entweder zeugt oder gebiert, beide Worte in ihrem höchsten Umfange genommen –, hat der Gelehrte, der wissenschaftliche Durchschnittsmensch immer etwas von der alten Jungfer: denn er versteht sich gleich dieser nicht auf die zwei werthvollsten Verrichtungen des Menschen. In der That, man gesteht ihnen Beiden, den Gelehrten und den alten Jungfern, gleichsam zur Entschädigung die Achtbarkeit zu – man unterstreicht in diesen Fällen die Achtbarkeit – und hat noch an dem Zwange dieses Zugeständnisses den gleichen Beisatz von Verdruss. Sehen wir genauer zu: was ist der wissenschaftliche Mensch? Zunächst eine unvornehme Art Mensch, mit den Tugenden einer unvornehmen, das heisst nicht herrschenden, nicht autoritativen und auch nicht selbstgenugsamen Art Mensch: er hat Arbeitsamkeit, geduldige Einordnung in Reih und Glied, Gleichmässigkeit und Maass im Können und Bedürfen, er hat den Instinkt für Seines gleichen und für Das, was Seinesgleichen nöthig hat, zum Beispiel jenes Stück Unabhängigkeit und grüner Weide, ohne welches es keine Ruhe der Arbeit giebt, jenen Anspruch auf Ehre und Anerkennung (die zuerst und zuoberst Erkennung, Erkennbarkeit voraussetzt –), jenen Sonnenschein des guten Namens, jene beständige Besiegelung seines Werthes und seiner Nützlichkeit, mit der das innerliche Misstrauen, der Grund im Herzen aller abhängigen Menschen und Heerdenthiere, immer wieder überwunden werden muss. Der Gelehrte hat, wie billig, auch die Krankheiten und Unarten einer unvornehmen Art: er ist reich am kleinen Neide und hat ein Luchsauge für das Niedrige solcher Naturen, zu deren Höhen er nicht hinauf kann. Er ist zutraulich, doch nur wie Einer, der sich gehen, aber nicht strömen lässt; und gerade vor dem Menschen des grossen Stroms steht er um so kälter und verschlossener da, – sein Auge ist dann wie ein glatter widerwilliger See, in dem sich kein Entzücken, kein Mitgefühl mehr kräuselt. Das Schlimmste und Gefährlichste, dessen ein Gelehrter fähig ist, kommt ihm vom Instinkte der Mittelmässigkeit seiner Art: von jenem Jesuitismus der Mittelmässigkeit, welcher an der Vernichtung des ungewöhnlichen Menschen instinktiv arbeitet und jeden gespannten Bogen zu brechen oder – noch lieber! – abzuspannen sucht. Abspannen nämlich, mit Rücksicht, mit schonender Hand natürlich –, mit zutraulichem Mitleiden abspannen: das ist die eigentliche Kunst des Jesuitismus, der es immer verstanden hat, sich als Religion des Mitleidens einzuführen. –
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Wie dankbar man auch immer dem objektiven Geiste entgegenkommen mag – und wer wäre nicht schon einmal alles Subjektiven und seiner verfluchten Ipsissimosität bis zum Sterben satt gewesen! – zuletzt muss man aber auch gegen seine Dankbarkeit Vorsicht lernen und der Übertreibung Einhalt thun, mit der die Entselbstung und Entpersönlichung des Geistes gleichsam als Ziel an sich, als Erlösung und Verklärung neuerdings gefeiert wird: wie es namentlich innerhalb der Pessimisten-Schule zu geschehn pflegt, die auch gute Gründe hat, dem »interesselosen Erkennen« ihrerseits die höchsten Ehren zu geben. Der objektive Mensch, der nicht mehr flucht und schimpft, gleich dem Pessimisten, der ideale Gelehrte, in dem der wissenschaftliche Instinkt nach tausendfachem Ganz- und Halb-Missrathen einmal zum Auf- und Ausblühen kommt, ist sicherlich eins der kostbarsten Werkzeuge, die es giebt: aber er gehört in die Hand eines Mächtigeren. Er ist nur ein Werkzeug, sagen wir: er ist ein Spiegel, – er ist kein »Selbstzweck«. Der objektive Mensch ist in der That ein Spiegel: vor Allem, was erkannt werden will, zur Unterwerfung gewohnt, ohne eine andre Lust, als wie sie das Erkennen, das »Abspiegeln« giebt, – er wartet, bis Etwas kommt, und breitet sich dann zart hin, dass auch leichte Fusstapfen und das Vorüberschlüpfen geisterhafter Wesen nicht auf seiner Fläche und Haut verloren gehen. Was von »Person« an ihm noch übrig ist, dünkt ihm zufällig, oft willkürlich, noch öfter störend: so sehr ist er sich selbst zum Durchgang und Wiederschein fremder Gestalten und Ereignisse geworden. Er besinnt sich auf »Sich« zurück, mit Anstrengung, nicht selten falsch; er verwechselt sich leicht, er vergreift sich in Bezug auf die eignen Nothdürfte und ist hier allein unfein und nachlässig. Vielleicht quält ihn die Gesundheit oder die Kleinlichkeit und Stubenluft von Weib und Freund, oder der Mangel an Gesellen und Gesellschaft, – ja, er zwingt sich, über seine Qual nachzudenken: umsonst! Schon schweift sein Gedanke weg, zum allgemeineren Falle, und morgen weiss er so wenig als er es gestern wusste, wie ihm zu helfen ist. Er hat den Ernst für sich verloren, auch die Zeit: er ist heiter, nicht aus Mangel an Noth, sondern aus Mangel an Fingern und Handhaben für seine Noth. Das gewohnte Entgegenkommen gegen jedes Ding und Erlebniss, die sonnige und unbefangene Gastfreundschaft, mit der er Alles annimmt, was auf ihn stösst, seine Art von rücksichtslosem Wohlwollen, von gefährlicher Unbekümmertheit um Ja und Nein: ach, es giebt genug Fälle, wo er diese seine Tugenden büssen muss! – und als Mensch überhaupt wird er gar zu leicht das caput mortuum dieser Tugenden. Will man Liebe und Hass von ihm, ich meine Liebe und Hass, wie Gott, Weib und Thier sie verstehn –: er wird thun, was er kann, und geben, was er kann. Aber man soll sich nicht wundern, wenn es nicht viel ist, – wenn er da gerade sich unächt, zerbrechlich, fragwürdig und morsch zeigt. Seine Liebe ist gewollt, sein Hass künstlich und mehr un tour de force, eine kleine Eitelkeit und Übertreibung. Er ist eben nur ächt, so weit er objektiv sein darf: allein in seinem heitern Totalismus ist er noch »Natur« und natürlich«. Seine spiegelnde und ewig sich glättende Seele weiss nicht mehr zu bejahen, nicht mehr zu verneinen; er befiehlt nicht; er zerstört auch nicht. »Je ne méprise presque rien« – sagt er mit Leibnitz: man überhöre und unterschätze das presque nicht! Er ist auch kein Mustermensch; er geht Niemandem voran, noch nach; er stellt sich überhaupt zu ferne, als dass er Grund hätte, zwischen Gut und Böse Partei zu ergreifen. Wenn man ihn so lange mit dem Philosophen verwechselt hat, mit dem cäsarischen Züchter und Gewaltmenschen der Cultur: so hat man ihm viel zu hohe Ehren gegeben und das Wesentlichste an ihm übersehen, – er ist ein Werkzeug, ein Stück Sklave, wenn gewiss auch die sublimste Art des Sklaven, an sich aber Nichts, – presque rien! Der objektive Mensch ist ein Werkzeug, ein kostbares, leicht verletzliches und getrübtes Mess-Werkzeug und Spiegel-Kunstwerk, das man schonen und ehren soll; aber er ist kein Ziel, kein Ausgang und Aufgang, kein complementärer Mensch, in dem das übrige Dasein sich rechtfertigt, kein Schluss – und noch weniger ein Anfang, eine Zeugung und erste Ursache, nichts Derbes, Mächtiges, Auf-sich-Gestelltes, das Herr sein will: vielmehr nur ein zarter ausgeblasener feiner beweglicher Formen-Topf, der auf irgend einen Inhalt und Gehalt erst warten muss, um sich nach ihm »zu gestalten«, – für gewöhnlich ein Mensch ohne Gehalt und Inhalt, ein »selbstloser« Mensch. Folglich auch Nichts für Weiber, in parenthesi. –
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Wenn heute ein Philosoph zu verstehen giebt, er sei kein Skeptiker, – ich hoffe, man hat Das aus der eben gegebenen Abschilderung des objektiven Geistes herausgehört? – so hört alle Welt das ungern; man sieht ihn darauf an, mit einiger Scheu, man möchte so Vieles fragen, fragen ... ja, unter furchtsamen Horchern, wie es deren jetzt in Menge giebt, heisst er von da an gefährlich. Es ist ihnen, als ob sie, bei seiner Ablehnung der Skepsis, von Ferne her irgend ein böses bedrohliches Geräusch hörten, als ob irgendwo ein neuer Sprengstoff versucht werde, ein Dynamit des Geistes, vielleicht ein neuentdecktes Russisches Nihilin, ein Pessimismus bonae voluntatis, der nicht bloss Nein sagt, Nein will, sondern – schrecklich zu denken! Nein thut. Gegen diese Art von »gutem Willen« – einem Willen zur wirklichen thätlichen Verneinung des Lebens – giebt es anerkanntermaassen heute kein besseres Schlaf- und Beruhigungsmittel, als Skepsis, den sanften holden einlullenden Mohn Skepsis; und Hamlet selbst wird heute von den Ärzten der Zeit gegen den »Geist« und sein Rumoren unter dem Boden verordnet. »Hat man denn nicht alle Ohren schon voll von schlimmen Geräuschen? sagt der Skeptiker, als ein Freund der Ruhe und beinahe als eine Art von Sicherheits-Polizei: dies unterirdische Nein ist fürchterlich! Stille endlich, ihr pessimistischen Maulwürfe!« Der Skeptiker nämlich, dieses zärtliche Geschöpf, erschrickt allzuleicht; sein Gewissen ist darauf eingeschult, bei jedem Nein, ja schon bei einem entschlossenen harten Ja zu zucken und etwas wie einen Biss zu spüren. Ja! und Nein! – das geht ihm wider die Moral; umgekehrt liebt er es, seiner Tugend mit der edlen Enthaltung ein Fest zu machen, etwa indem er mit Montaigne spricht: »was weiss ich?« Oder mit Sokrates: »ich weiss, dass ich Nichts weiss«. Oder: »hier traue ich mir nicht, hier steht mir keine Thür offen.« Oder: »gesetzt, sie stünde offen, wozu gleich eintreten!« Oder: »wozu nützen alle vorschnellen Hypothesen? Gar keine Hypothesen machen könnte leicht zum guten Geschmack gehören. Müsst ihr denn durchaus etwas Krummes gleich gerade biegen? Durchaus jedes Loch mit irgend welchem Werge ausstopfen? Hat das nicht Zeit? Hat die Zeit nicht Zeit? Oh ihr Teufelskerle, könnt ihr denn gar nicht warten? Auch das Ungewisse hat seine Reize, auch die Sphinx ist eine Circe, auch die Circe war eine Philosophin.« – Also tröstet sich ein Skeptiker; und es ist wahr, dass er einigen Trost nöthig hat. Skepsis nämlich ist der geistigste Ausdruck einer gewissen vielfachen physiologischen Beschaffenheit, welche man in gemeiner Sprache Nervenschwäche und Kränklichkeit nennt; sie entsteht jedes Mal, wenn sich in entscheidender und plötzlicher Weise lang von einander abgetrennte Rassen oder Stände kreuzen. In dem neuen Geschlechte, das gleichsam verschiedene Maasse und Werthe in's Blut vererbt bekommt, ist Alles Unruhe, Störung, Zweifel, Versuch; die besten Kräfte wirken hemmend, die Tugenden selbst lassen einander nicht wachsen und stark werden, in Leib und Seele fehlt Gleichgewicht, Schwergewicht, perpendikuläre Sicherheit. Was aber in solchen Mischlingen am tiefsten krank wird und entartet, das ist der Wille: sie kennen das Unabhängige im Entschlusse, das tapfere Lustgefühl im Wollen gar nicht mehr, – sie zweifeln an der »Freiheit des Willens« auch noch in ihren Träumen. Unser Europa von heute, der Schauplatz eines unsinnig plötzlichen Versuchs von radikaler Stände- und folglich Rassenmischung, ist deshalb skeptisch in allen Höhen und Tiefen, bald mit jener beweglichen Skepsis, welche ungeduldig und lüstern von einem Ast zum andern springt, bald trübe wie eine mit Fragezeichen überladene Wolke, – und seines Willens oft bis zum Sterben satt! Willenslähmung: wo findet man nicht heute diesen Krüppel sitzen! Und oft noch wie geputzt! Wie verführerisch herausgeputzt! Es giebt die schönsten Prunk- und Lügenkleider für diese Krankheit; und dass zum Beispiel das Meiste von dem, was sich heute als »Objektivität«, »Wissenschaftlichkeit«, »l'art pour l'art«, »reines willensfreies Erkennen« in die Schauläden stellt, nur aufgeputzte Skepsis und Willenslähmung ist, – für diese Diagnose der europäischen Krankheit will ich einstehn. – Die Krankheit des Willens ist ungleichmässig über Europa verbreitet: sie zeigt sich dort am grössten und vielfältigsten, wo die Cultur schon am längsten heimisch ist, sie verschwindet im dem Maasse, als »der Barbar« noch – oder wieder – unter dem schlotterichten Gewande von westländischer Bildung sein Recht geltend macht. Im jetzigen Frankreich ist demnach, wie man es ebenso leicht erschliessen als mit Händen greifen kann, der Wille am schlimmsten erkrankt; und Frankreich, welches immer eine meisterhafte Geschicklichkeit gehabt hat, auch die verhängnisvollen Wendungen seines Geistes in's Reizende und Verführerische umzukehren, zeigt heute recht eigentlich als Schule und Schaustellung aller Zauber der Skepsis sein Cultur-Übergewicht über Europa. Die Kraft zu wollen, und zwar einen Willen lang zu wollen, ist etwas stärker schon in Deutschland, und im deutschen Norden wiederum stärker als in der deutschen Mitte; erheblich stärker in England, Spanien und Corsika, dort an das Phlegma, hier an harte Schädel gebunden, – um nicht von Italien zu reden, welches zu jung ist, als dass es schon wüsste, was es wollte, und das erst beweisen muss, ob es wollen kann –, aber am allerstärksten und erstaunlichsten in jenem ungeheuren Zwischenreiche, wo Europa gleichsam nach Asien zurückfliesst, in Russland. Da ist die Kraft zu wollen seit langem zurückgelegt und aufgespeichert, da wartet der Wille – ungewiss, ob als Wille der Verneinung oder der Bejahung – in bedrohlicher Weise darauf, ausgelöst zu werden, um den Physikern von heute ihr Leibwort abzuborgen. Es dürften nicht nur indische Kriege und Verwicklungen in Asien dazu nöthig sein, damit Europa von seiner grössten Gefahr entlastet werde, sondern innere Umstürze, die Zersprengung des Reichs in kleine Körper und vor Allem die Einführung des parlamentarischen Blödsinns, hinzugerechnet die Verpflichtung für Jedermann, zum Frühstück seine Zeitung zu lesen. Ich sage dies nicht als Wünschender: mir würde das Entgegengesetzte eher nach dem Herzen sein, – ich meine eine solche Zunahme der Bedrohlichkeit Russlands, dass Europa sich entschliessen müsste, gleichermaassen bedrohlich zu werden, nämlich Einen Willen zu bekommen, durch das Mittel einer neuen über Europa herrschenden Kaste, einen langen furchtbaren eigenen Willen, der sich über Jahrtausende hin Ziele setzen könnte: – damit endlich die langgesponnene Komödie seiner Kleinstaaterei und ebenso seine dynastische wie demokratische Vielwollerei zu einem Abschluss käme. Die Zeit für kleine Politik ist vorbei: schon das nächste Jahrhundert bringt den Kampf um die Erd-Herrschaft, – den Zwang zur grossen Politik.
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Inwiefern das neue kriegerische Zeitalter, in welches wir Europäer ersichtlich eingetreten sind, vielleicht auch der Entwicklung einer anderen und stärkeren Art von Skepsis günstig sein mag, darüber möchte ich mich vorläufig nur durch ein Gleichniss ausdrücken, welches die Freunde der deutschen Geschichte schon verstehen werden. Jener unbedenkliche Enthusiast für schöne grossgewachsene Grenadiere, welcher, als König von Preussen, einem militärischen und skeptischen Genie – und damit im Grunde jenem neuen, jetzt eben siegreich heraufgekommenen Typus des Deutschen – das Dasein gab, der fragwürdige tolle Vater Friedrichs des Grossen, hatte in Einem Punkte selbst den Griff und die Glücks-Kralle des Genies: er wusste, woran es damals in Deutschland fehlte, und welcher Mangel hundert Mal ängstlicher und dringender war, als etwa der Mangel an Bildung und gesellschaftlicher Form, – sein Widerwille gegen den jungen Friedrich kam aus der Angst eines tiefen Instinktes. Männer fehlten; und er argwöhnte zu seinem bittersten Verdrusse, dass sein eigner Sohn nicht Manns genug sei. Darin betrog er sich: aber wer hätte an seiner Stelle sich nicht betrogen? Er sah seinen Sohn dem Atheismus, dem esprit, der genüsslichen Leichtlebigkeit geistreicher Franzosen verfallen: – er sah im Hintergrunde die grosse Blutaussaugerin, die Spinne Skepsis, er argwöhnte das unheilbare Elend eines Herzens, das zum Bösen wie zum Guten nicht mehr hart genug ist, eines zerbrochnen Willens, der nicht mehr befiehlt, nicht mehr befehlen kann. Aber inzwischen wuchs in seinem Sohne jene gefährlichere und härtere neue Art der Skepsis empor – wer weiss, wie sehr gerade durch den Hass des Vaters und durch die eisige Melancholie eines einsam gemachten Willens begünstigt? – die Skepsis der verwegenen Männlichkeit, welche dem Genie zum Kriege und zur Eroberung nächst verwandt ist und in der Gestalt des grossen Friedrich ihren ersten Einzug in Deutschland hielt. Diese Skepsis verachtet und reisst trotzdem an sich; sie untergräbt und nimmt in Besitz; sie glaubt nicht, aber sie verliert sich nicht dabei; sie giebt dem Geiste gefährliche Freiheit, aber sie hält das Herz streng; es ist die deutsche Form der Skepsis, welche, als ein fortgesetzter und in's Geistigste gesteigerter Fridericianismus, Europa eine gute Zeit unter die Botmässigkeit des deutschen Geistes und seines kritischen und historischen Misstrauens gebracht hat. Dank dem unbezwinglich starken und zähen Manns-Charakter der grossen deutschen Philologen und Geschichts-Kritiker (welche, richtig angesehn, allesammt auch Artisten der Zerstörung und Zersetzung waren) stellte sich allmählich und trotz aller Romantik in Musik und Philosophie ein neuer Begriff vom deutschen Geiste fest, in dem der Zug zur männlichen Skepsis entscheidend hervortrat: sei es zum Beispiel als Unerschrockenheit des Blicks, als Tapferkeit und Härte der zerlegenden Hand, als zäher Wille zu gefährlichen Entdeckungsreisen, zu vergeistigten Nordpol-Expeditionen unter öden und gefährlichen Himmeln. Es mag seine guten Gründe haben, wenn sich warmblütige und oberflächliche Menschlichkeits-Menschen gerade vor diesem Geiste bekreuzigen: cet esprit fataliste, ironique, méphistophélique nennt ihn, nicht ohne Schauder, Michelet. Aber will man nachfühlen, wie auszeichnend diese Furcht vor dem »Mann« im deutschen Geiste ist, durch den Europa aus seinem »dogmatischen Schlummer« geweckt wurde, so möge man sich des ehemaligen Begriffs erinnern, der mit ihm überwunden werden musste, – und wie es noch nicht zu lange her ist, dass ein vermännlichtes Weib es in zügelloser Anmaassung wagen durfte, die Deutschen als sanfte herzensgute willensschwache und dichterische Tölpel der Theilnahme Europa's zu empfehlen. Man verstehe doch endlich das Erstaunen Napoleon's tief genug, als er Goethen zu sehen bekam: es verräth, was man sich Jahrhunderte lang unter dem »deutschen Geiste« gedacht hatte. Voilà un homme!« – das wollte sagen: Das ist ja ein Mann! Und ich hatte nur einen Deutschen erwartet! –
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Gesetzt also, dass im Bilde der Philosophen der Zukunft irgend ein Zug zu rathen giebt, ob sie nicht vielleicht, in dem zuletzt angedeuteten Sinne, Skeptiker sein müssen, so wäre damit doch nur ein Etwas an ihnen bezeichnet – und nicht sie selbst. Mit dem gleichen Rechte dürften sie sich Kritiker nennen lassen; und sicherlich werden es Menschen der Experimente sein. Durch den Namen, auf welchen ich sie zu taufen wagte, habe ich das Versuchen und die Lust am Versuchen schon ausdrücklich unterstrichen: geschah dies deshalb, weil sie, als Kritiker an Leib und Seele, sich des Experiments in einem neuen, vielleicht weiteren, vielleicht gefährlicheren Sinne zu bedienen lieben? Müssen sie, in ihrer Leidenschaft der Erkenntniss, mit verwegenen und schmerzhaften Versuchen weiter gehn, als es der weichmüthige und verzärtelte Geschmack eines demokratischen Jahrhunderts gut heissen kann? – Es ist kein Zweifel: diese Kommenden werden am wenigsten jener ernsten und nicht unbedenklichen Eigenschaften entrathen dürfen, welche den Kritiker vom Skeptiker abheben, ich meine die Sicherheit der Werthmaasse, die bewusste Handhabung einer Einheit von Methode, den gewitzten Muth, das Alleinstehn und Sich-verantworten-können; ja, sie gestehen bei sich eine Lust am Neinsagen und Zergliedern und eine gewisse besonnene Grausamkeit zu, welche das Messer sicher und fein zu führen weiss, auch noch, wenn das Herz blutet. Sie werden härter sein (und vielleicht nicht immer nur gegen sich), als humane Menschen wünschen mögen, sie werden sich nicht mit der »Wahrheit« einlassen, damit sie ihnen »gefalle« oder sie »erhebe« und »begeistere«: – ihr Glaube wird vielmehr gering sein, dass gerade die Wahrheit solche Lustbarkeiten für das Gefühl mit sich bringe. Sie werden lächeln, diese strengen Geister, wenn Einer vor ihnen sagte »jener Gedanke erhebt mich: wie sollte er nicht wahr sein?« Oder: »jenes Werk entzückt mich: wie sollte es nicht schön sein?« Oder: »jener Künstler vergrössert mich: wie sollte er nicht gross sein?« – sie haben vielleicht nicht nur ein Lächeln, sondern einen ächten Ekel vor allem derartig Schwärmerischen, Idealistischen, Femininischen, Hermaphroditischen bereit, und wer ihnen bis in ihre geheimen Herzenskammern zu folgen wüsste, würde schwerlich dort die Absicht vorfinden, »christliche Gefühle« mit dem »antiken Geschmacke« und etwa gar noch mit dem »modernen Parlamentarismus« zu versöhnen (wie dergleichen Versöhnlichkeit in unserm sehr unsicheren, folglich sehr versöhnlichen Jahrhundert sogar bei Philosophen vorkommen soll). Kritische Zucht und jede Gewöhnung, welche zur Reinlichkeit und Strenge in Dingen des Geistes führt, werden diese Philosophen der Zukunft nicht nur von sich verlangen: sie dürften sie wie ihre Art Schmuck selbst zur Schau tragen, – trotzdem wollen sie deshalb noch nicht Kritiker heissen. Es scheint ihnen keine kleine Schmach, die der Philosophie angethan wird, wenn man dekretirt, wie es heute so gern geschieht: »Philosophie selbst ist Kritik und kritische Wissenschaft – und gar nichts ausserdem!« Mag diese Werthschätzung der Philosophie sich des Beifalls aller Positivisten Frankreichs und Deutschlands erfreuen (– und es wäre möglich, dass sie sogar dem Herzen und Geschmacke Kant's geschmeichelt hätte: man erinnere sich der Titel seiner Hauptwerke –): unsre neuen Philosophen werden trotzdem sagen: Kritiker sind Werkzeuge des Philosophen und eben darum, als Werkzeuge, noch lange nicht selbst Philosophen! Auch der grosse Chinese von Königsberg war nur ein grosser Kritiker. –
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Ich bestehe darauf, dass man endlich aufhöre, die philosophischen Arbeiter und überhaupt die wissenschaftlichen Menschen mit den Philosophen zu verwechseln, – dass man gerade hier mit Strenge »Jedem das Seine« und Jenen nicht zu Viel, Diesen nicht viel zu Wenig gebe. Es mag zur Erziehung des wirklichen Philosophen nöthig sein, dass er selbst auch auf allen diesen Stufen einmal gestanden hat, auf welchen seine Diener, die wissenschaftlichen Arbeiter der Philosophie, stehen bleiben, – stehen bleiben müssen; er muss selbst vielleicht Kritiker und Skeptiker und Dogmatiker und Historiker und überdies Dichter und Sammler und Reisender und Räthselrather und Moralist und Seher und »freier Geist« und beinahe Alles gewesen sein, um den Umkreis menschlicher Werthe und Werth-Gefühle zu durchlaufen und mit vielerlei Augen und Gewissen, von der Höhe in jede Ferne, von der Tiefe in jede Höhe, von der Ecke in jede Weite, blicken zu können. Aber dies Alles sind nur Vorbedingungen seiner Aufgabe: diese Aufgabe selbst will etwas Anderes, – sie verlangt, dass er Werthe schaffe. Jene philosophischen Arbeiter nach dem edlen Muster Kant's und Hegel's haben irgend einen grossen Thatbestand von Werthschätzungen – das heisst ehemaliger Werthsetzungen, Werthschöpfungen, welche herrschend geworden sind und eine Zeit lang »Wahrheiten« genannt werden – festzustellen und in Formeln zu drängen, sei es im Reiche des Logischen oder des Politischen (Moralischen) oder des Künstlerischen. Diesen Forschern liegt es ob, alles bisher Geschehene und Geschätzte übersichtlich, überdenkbar, fasslich, handlich zu machen, alles Lange, ja »die Zeit« selbst, abzukürzen und die ganze Vergangenheit zu überwältigen: eine ungeheure und wundervolle Aufgabe, in deren Dienst sich sicherlich jeder feine Stolz, jeder zähe Wille befriedigen kann. Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber: sie sagen »so soll es sein!«, sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit, – sie greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft, und Alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr »Erkennen« ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – Wille zur Macht. – Giebt es heute solche Philosophen? Gab es schon solche Philosophen? Muss es nicht solche Philosophen geben? ...
212.
Es will mir immer mehr so scheinen, dass der Philosoph als ein nothwendiger Mensch des Morgens und Übermorgens sich jederzeit mit seinem Heute in Widerspruch befunden hat und befinden musste: sein Feind war jedes Mal das Ideal von Heute. Bisher haben alle diese ausserordentlichen Förderer des Menschen, welche man Philosophen nennt, und die sich selbst selten als Freunde der Weisheit, sondern eher als unangenehme Narren und gefährliche Fragezeichen fühlten –, ihre Aufgabe, ihre harte, ungewollte, unabweisliche Aufgabe, endlich aber die Grösse ihrer Aufgabe darin gefunden, das böse Gewissen ihrer Zeit zu sein. Indem sie gerade den Tugenden der Zeit das Messer vivisektorisch auf die Brust setzten, verriethen sie, was ihr eignes Geheimniss war: um eine neue Grösse des Menschen zu wissen, um einen neuen ungegangenen Weg zu seiner Vergrösserung. Jedes Mal deckten sie auf, wie viel Heuchelei, Bequemlichkeit, Sich-gehen-lassen und Sich-fallen lassen, wie viel Lüge unter dem bestgeehrten Typus ihrer zeitgenössischen Moralität versteckt, wie viel Tugend überlebt sei; jedes Mal sagten sie: »wir müssen dorthin, dorthinaus, wo ihr heute am wenigsten zu Hause seid.« Angesichts einer Welt der »modernen Ideen«, welche Jedermann in eine Ecke und »Spezialität« bannen möchte, würde ein Philosoph, falls es heute Philosophen geben könnte, gezwungen sein, die Grösse des Menschen, den Begriff »Grösse« gerade in seine Umfänglichkeit und Vielfältigkeit, in seine Ganzheit im Vielen zu setzen: er würde sogar den Werth und Rang darnach bestimmen, wie viel und vielerlei Einer tragen und auf sich nehmen, wie weit Einer seine Verantwortlichkeit spannen könnte. Heute schwächt und verdünnt der Zeitgeschmack und die Zeittugend den Willen, Nichts ist so sehr zeitgemäss als Willensschwäche: also muss, im Ideale des Philosophen, gerade Stärke des Willens, Härte und Fähigkeit zu langen Entschliessungen in den Begriff »Grösse« hineingehören; mit so gutem Rechte als die umgekehrte Lehre und das Ideal einer blöden entsagenden demüthigen selbstlosen Menschlichkeit einem umgekehrten Zeitalter angemessen war, einem solchen, das gleich dem sechszehnten Jahrhundert an seiner aufgestauten Energie des Willens und den wildesten Wässern und Sturmfluthen der Selbstsucht litt. Zur Zeit des Sokrates, unter lauter Menschen des ermüdeten Instinktes, unter conservativen Altathenern, welche sich gehen liessen – »zum Glück«, wie sie sagten, zum Vergnügen, wie sie thaten – und die dabei immer noch die alten prunkvollen Worte in den Mund nahmen, auf die ihnen ihr Leben längst kein Recht mehr gab, war vielleicht Ironie zur Grösse der Seele nöthig, jene sokratische boshafte Sicherheit des alten Arztes und Pöbelmanns, welcher schonungslos in's eigne Fleisch schnitt, wie in's Fleisch und Herz des »Vornehmen«, mit einem Blick, welcher verständlich genug sprach: »verstellt euch vor mir nicht! Hier – sind wir gleich!« Heute umgekehrt, wo in Europa das Heerdenthier allein zu Ehren kommt und Ehren vertheilt, wo die »Gleichheit der Rechte« allzuleicht sich in die Gleichheit im Unrechte umwandeln könnte: ich will sagen in gemeinsame Bekriegung alles Seltenen, Fremden, Bevorrechtigten, des höheren Menschen, der höheren Seele, der höheren Pflicht, der höheren Verantwortlichkeit, der schöpferischen Machtfülle und Herrschaftlichkeit – heute gehört das Vornehm-sein, das Für-sich-sein-wollen, das Anders-sein-können, das Allein-stehn und auf-eigne-Faust-leben-müssen zum Begriff »Grösse«; und der Philosoph wird Etwas von seinem eignen Ideal verrathen, wenn er aufstellt: »der soll der Grösste sein, der der Einsamste sein kann, der Verborgenste, der Abweichendste, der Mensch jenseits von Gut und Böse, er Herr seiner Tugenden, der überreiche des Willens; dies eben soll Grösse heissen: ebenso vielfach als ganz, ebenso weit als voll sein können.« Und nochmals gefragt: ist heute – Grösse möglich?
213.
Was ein Philosoph ist, das ist deshalb schlecht zu lernen, weil es nicht zu lehren ist: man muss es »wissen«, aus Erfahrung, – oder man soll den Stolz haben, es nicht zu wissen. Dass aber heutzutage alle Welt von Dingen redet, in Bezug auf welche sie keine Erfahrung haben kann, gilt am meisten und schlimmsten vom Philosophen und den philosophischen Zuständen: – die Wenigsten kennen sie, dürfen sie kennen, und alle populären Meinungen über sie sind falsch. So ist zum Beispiel jenes ächt philosophische Beieinander einer kühnen ausgelassenen Geistigkeit, welche presto läuft, und einer dialektischen Strenge und Nothwendigkeit, die keinen Fehltritt thut, den meisten Denkern und Gelehrten von ihrer Erfahrung her unbekannt und darum, falls jemand davon vor ihnen reden wollte, un glaubwürdig. Sie stellen sich jede Nothwendigkeit als Noth, als peinliches Folgen-müssen und Gezwungen-werden vor; und das Denken selbst gilt ihnen als etwas Langsames, Zögerndes, beinahe als eine Mühsal und oft genug als »des Schweisses der Edlen werth« – aber ganz und gar nicht als etwas Leichtes, Göttliches und dem Tanze, dem Übermuthe, Nächst-Verwandtes! »Denken« und eine Sache »ernst nehmen«, »schwer nehmen« – das gehört bei ihnen zu einander: so allein haben sie es »erlebt« –. Die Künstler mögen hier schon eine feinere Witterung haben – sie, die nur zu gut wissen, dass gerade dann, wo sie Nichts mehr »willkürlich« und Alles nothwendig machen, ihr Gefühl von Freiheit, Feinheit, Vollmacht, von schöpferischem Setzen, Verfügen, Gestalten auf seine Höhe kommt, – kurz, dass Nothwendigkeit und »Freiheit des Willens« dann bei ihnen Eins sind. Es giebt zuletzt eine Rangordnung seelischer Zustände, welcher die Rangordnung der Probleme gemäss ist; und die höchsten Probleme stossen ohne Gnade Jeden zurück, der ihnen zu nahen wagt, ohne durch Höhe und Macht seiner Geistigkeit zu ihrer Lösung vorherbestimmt zu sein. Was hilft es, wenn gelenkige Allerwelts-Köpfe oder ungelenke brave Mechaniker und Empiriker sich, wie es heute so vielfach geschieht, mit ihrem Plebejer-Ehrgeize in ihre Nähe und gleichsam an diesen »Hof der Höfe« drängen! Aber auf solche Teppiche dürfen grobe Füsse nimmermehr treten: dafür ist im Urgesetz der Dinge schon gesorgt; die Thüren bleiben diesen Zudringlichen geschlossen, mögen sie sich auch die Köpfe daran stossen und zerstossen! Für jede hohe Welt muss man geboren sein; deutlicher gesagt, man muss für sie gezüchtet sein: ein Recht auf Philosophie – das Wort im grossen Sinne genommen – hat man nur Dank seiner Abkunft, die Vorfahren, das »Geblüt« entscheidet auch hier. Viele Geschlechter müssen der Entstehung des Philosophen vorgearbeitet haben; jede seiner Tugenden muss einzeln erworben, gepflegt, fortgeerbt, einverleibt worden sein, und nicht nur der kühne leichte zarte Gang und Lauf seiner Gedanken, sondern vor Allem die Bereitwilligkeit zu grossen Verantwortungen, die Hoheit herrschender Blicke und Niederblicke, das Sich-Abgetrennt-Fühlen von der Menge und ihren Pflichten und Tugenden, das leutselige Beschützen und Vertheidigen dessen, was missverstanden und verleumdet wird, sei es Gott, sei es Teufel, die Lust und Übung in der grossen Gerechtigkeit, die Kunst des Befehlens, die Weite des Willens, das langsame Auge, welches selten bewundert, selten hinauf blickt, selten liebt ...