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20.

Mit meiner Verurtheilung des Christenthums möchte ich kein Unrecht gegen eine verwandte Religion begangen haben, die der Zahl der Bekenner nach sogar überwiegt: gegen den Buddhismus. Beide gehören als nihilistische Religionen zusammen – sie sind décadence-Religionen –, beide sind von einander in der merkwürdigsten Weise getrennt. Daß man sie jetzt vergleichen kann, dafür ist der Kritiker des Christenthums den indischen Gelehrten tief dankbar. – Der Buddhismus ist hundertmal realistischer als das Christenthum, – er hat die Erbschaft des objektiven und kühlen Probleme-Stellens im Leibe, er kommt nach einer hunderte von Jahren dauernden philosophischen Bewegung; der Begriff »Gott« ist bereits abgethan, als er kommt. Der Buddhismus ist die einzige eigentlich positivistische Religion, die uns die Geschichte zeigt, auch noch in seiner Erkenntnißtheorie (einem strengen Phänomenalismus –), er sagt nicht mehr »Kampf gegen die Sünde«, sondern, ganz der Wirklichkeit das Recht gebend, »Kampf gegen das Leiden«. Er hat – dies unterscheidet ihn tief vom Christenthum – die Selbst-Betrügerei der Moral-Begriffe bereits hinter sich, – er steht, in meiner Sprache geredet, jenseits von Gut und Böse. – Die zwei physiologischen Thatsachen, auf denen er ruht und die er in's Auge faßt, sind: einmal eine übergroße Reizbarkeit der Sensibilität, welche sich als raffinirte Schmerzfähigkeit ausdrückt, sodann eine Übergeistigung, ein allzulanges Leben in Begriffen und logischen Proceduren, unter dem der Person-Instinkt zum Vortheil des »Unpersönlichen« Schaden genommen hat (– Neides Zustände, die wenigstens Einige meiner Leser, die »Objektiven«, gleich mir selbst, aus Erfahrung kennen werden). Auf Grund dieser physiologischen Bedingungen ist eine Depression entstanden: gegen diese geht Buddha hygienisch vor. Er wendet dagegen das Leben im Freien an, das Wanderleben; die Mäßigung und die Wahl in der Kost; die Vorsicht gegen alle Spirituosa; die Vorsicht insgleichen gegen alle Affekte, die Galle machen, die das Blut erhitzen; keine Sorge, weder für sich, noch für Andre. Er fordert Vorstellungen, die entweder Ruhe geben oder erheitern – er erfindet Mittel, die anderen sich abzugewöhnen. Er versteht die Güte, das Gütig-sein als gesundheitsfördernd. Gebet ist ausgeschlossen, ebenso wie die Askese; kein kategorischer Imperativ, kein Zwang überhaupt, selbst nicht innerhalb der Klostergemeinschaft (– man kann wieder hinaus –). Das Alles wären Mittel, um jene übergroße Reizbarkeit zu verstärken. Eben darum fordert er auch keinen Kampf gegen Andersdenkende; seine Lehre wehrt sich gegen nichts mehr als gegen das Gefühl der Rache, der Abneigung, des ressentiment(– »nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft zu Ende«: der rührende Refrain des ganzen Buddhismus ...). Und das mit Recht: gerade diese Affekte waren vollkommen ungesund in Hinsicht auf die diätetische Hauptabsicht. Die geistige Ermüdung, die er vorfindet und die sich in einer allzugroßen »Objektivität« (das heißt Schwächung des Individualinteresses, Verlust an Schwergewicht, an »Egoismus«) ausdrückt, bekämpft er mit einer strengen Zurückführung auch der geistigsten Interessen auf die Person. In der Lehre Buddha's wird der Egoismus Pflicht: das »Eins ist noth«, das »wie kommst du vom Leiden los« regulirt und begrenzt die ganze geistige Diät (– man darf sich vielleicht an jenen Athener erinnern, der der reinen »Wissenschaftlichkeit« gleichfalls den Krieg machte, an Sokrates, der den Personal-Egoismus auch im Reich der Probleme zur Moral erhob).

 

21.

Die Voraussetzung für den Buddhismus ist ein sehr mildes Klima, eine große Sanftmuth und Liberalität in den Sitten, kein Militarismus: und daß es die höheren und selbst gelehrten Stände sind, in denen die Bewegung ihren Herd hat. Man will die Heiterkeit, die Stille, die Wunschlosigkeit als höchstes Ziel, und man erreicht sein Ziel. Der Buddhismus ist keine Religion, in der man bloß auf Vollkommenheit aspirirt: das Vollkommne ist der normale Fall. – Im Christenthume kommen die Instinkte Unterworfner und Unterdrückter in den Vordergrund: es sind die niedersten Stände, die in ihm ihr Heil suchen. Hier wird als Beschäftigung, als Mittel gegen die Langeweile die Casuistik der Sünde, die Selbstkritik, die Gewissens-Inquisition geübt; hier wird der Affekt gegen einen Mächtigen, »Gott« genannt, beständig aufrecht erhalten (durch das Gebet); hier gilt das Höchste als unerreichbar, als Geschenk, als »Gnade«. Hier fehlt auch die Öffentlichkeit: der Versteck, der dunkle Raum ist christlich. Hier wird der Leib verachtet, die Hygiene als Sinnlichkeit abgelehnt; die Kirche wehrt sich selbst gegen die Reinlichkeit (– die erste christliche Maaßregel nach Vertreibung der Mauren war die Schließung der öffentlichen Bäder, von denen Cordova allein 270 besaß). Christlich ist ein gewisser Sinn der Grausamkeit, gegen sich und Andre; der Haß gegen die Andersdenkenden; der Wille, zu verfolgen. Düstere und aufregende Vorstellungen sind im Vordergrunde; die höchstbegehrten, mit den höchsten Namen bezeichneten Zustände sind Epilepsoiden; die Diät wird so gewählt, daß sie morbide Erscheinungen begünstigt und die Nerven überreizt. Christlich ist die Todfeindschaft gegen die Herren der Erde, gegen die »Vornehmen« – und zugleich ein versteckter heimlicher Wettbewerb (– man läßt ihnen den »Leib«, man will nur die »Seele« ...). Christlich ist der Haß gegen den Geist, gegen Stolz, Muth, Freiheit, libertinage des Geistes; christlich ist der Haß gegen die Sinne, gegen die Freuden der Sinne, gegen die Freude überhaupt ...

 

22.

Das Christenthum, als es seinen ersten Boden verließ, die niedrigsten Stände, die Unterwelt der antiken Welt, als es unter Barbaren-Völkern nach Macht ausgieng, hatte hier nicht mehr müde Menschen zur Voraussetzung, sondern innerlich verwilderte und sich zerreißende, – den starken Menschen, aber den mißrathnen. Die Unzufriedenheit mit sich, das Leiden an sich ist hier nicht wie bei dem Buddhisten eine übermäßige Reizbarkeit und Schmerzfähigkeit, vielmehr umgekehrt ein übermächtiges Verlangen nach Wehe–thun, nach Auslassung der inneren Spannung in feindseligen Handlungen und Vorstellungen. Das Christenthum hatte barbarische Begriffe und Werthe nöthig, um über Barbaren Herr zu werden: solche sind das Erstlingsopfer, das Bluttrinken im Abendmahl, die Verachtung des Geistes und der Cultur; die Folterung in allen Formen, sinnlich und unsinnlich; der große Pomp des Cultus. Der Buddhismus ist eine Religion für späte Menschen, für gütige, sanfte, übergeistig gewordne Rassen, die zu leicht Schmerz empfinden (– Europa ist noch lange nicht reif für ihn –): er ist eine Rückführung derselben zu Frieden und Heiterkeit, zur Diät im Geistigen, zu einer gewissen Abhärtung im Leiblichen. Das Christenthum will über Raubthiere Herr werden; sein Mittel ist, sie krank zu machen, – die Schwächung ist das christliche Recept zur Zähmung, zur »Civilisation«. Der Buddhismus ist eine Religion für den Schluß und die Müdigkeit der Civilisation, das Christentum findet sie noch nicht einmal vor, – es begründet sie unter Umständen.

 

23.

Der Buddhismus, nochmals gesagt, ist hundertmal kälter, wahrhafter, objektiver. Er hat nicht mehr nöthig, sich sein Leiden, seine Schmerzfähigkeit anständig zu machen durch die Interpretation der Sünde, – er sagt bloß, was er denkt, »ich leide«. Dem Barbaren dagegen ist Leiden an sich nichts Anständiges: er braucht erst eine Auslegung, um es sich einzugestehn, daß er leidet (sein Instinkt weist ihn eher auf Verleugnung des Leidens, auf stilles Ertragen hin). Hier war das Wort »Teufel« eine Wohlthat: man hatte einen übermächtigen und furchtbaren Feind, – man brauchte sich nicht zu schämen, an einem solchen Feind zu leiden. –

Das Christenthum hat einige Feinheiten auf dem Grunde, die zum Orient gehören. Vor Allem weiß es, daß es an sich ganz gleichgültig ist, ob Etwas wahr ist, aber von höchster Wichtigkeit, sofern es als wahr geglaubt wird. Die Wahrheit und der Glaube, daß Etwas wahr sei: zwei ganz auseinanderliegende Interessen» Welten, fast Gegensatz-Welten, – man kommt zum Einen und zum Andern auf grundverschienen Wegen. Hierüber wissend zu sein – das macht im Orient beinahe den Weisen: so verstehn es die Brahmanen, so versteht es Plato, so jeder Schüler esoterischer Weisheit. Wenn zum Beispiel ein Glück darin liegt, sich von der Sünde erlöst zu glauben, so thut als Voraussetzung dazu nicht noth, daß der Mensch sündig sei, sondern daß er sich sündig fühlt. Wenn aber überhaupt vor Allem Glaube noth thut, so muß man die Vernunft, die Erkenntniß, die Forschung in Mißcredit bringen: der Weg zur Wahrheit wird zum verbotnen Weg. – Die starke Hoffnung ist ein viel größeres Stimulans des Lebens, als irgend ein einzelnes wirklich eintretendes Glück. Man muß Leidende durch eine Hoffnung aufrecht erhalten, welcher durch keine Wirklichkeit widersprochen werden kann, – welche nicht durch eine Erfüllung abgethan wird: eine Jenseits-Hoffnung. (Gerade wegen dieser Fähigkeit, den Unglücklichen hinzuhalten, galt die Hoffnung bei den Griechen als Übel der Übel, als das eigentlich tückische Übel: es blieb im Faß des Übels zurück). – Damit Liebe möglich ist, muß Gott Person sein; damit die untersten Instinkte mitreden können, muß Gott jung sein. Man hat für die Inbrunst der Weiber einen schönen Heiligen, für die der Männer eine Maria in den Vordergrund zu rücken. Dies unter der Voraussetzung, daß das Christenthum auf einem Boden Herr werden will. wo aphrodisische oder Adonis-Culte den Begriff des Cultus bereits bestimmt haben. Die Forderung der Keuschheit verstärkt die Vehemenz und Innerlichkeit des religiösen Instinkts – sie macht den Cultus wärmer, schwärmerischer, seelenvoller. – Die Liebe ist der Zustand, wo der Mensch die Dinge am meisten so sieht, wie sie nicht sind. Die illusorische Kraft ist da auf ihrer Höhe, ebenso die versüßende, die verklärende Kraft. Man erträgt in der Liebe mehr als sonst, man duldet Alles. Es galt eine Religion zu erfinden, in der geliebt werden kann: damit ist man über das Schlimmste am Leben hinaus, – man sieht es gar nicht mehr. – So viel über die drei christlichen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung: ich nenne sie die drei christlichen Klugheiten. – Der Buddhismus ist zu spät, zu positivistisch dazu, um noch auf diese Weise klug zu sein. –

 

24.

Ich berühre hier nur das Problem der Entstehung des Christentums. Der erste Satz zu dessen Lösung heißt: das Christenthum ist einzig aus dem Boden zu verstehn, aus dem es gewachsen ist, – es ist nicht eine Gegenbewegung gegen den jüdischen Instinkt, es ist dessen Folgerichtigkeit selbst, ein Schluß weiter in dessen furchteinflößender Logik. In der Formel des Erlösers: »das Heil kommt von den Juden«. – Der zweite Satz heißt: der psychologische Typus des Galiläers ist noch erkennbar, aber erst in seiner vollständigen Entartung (die zugleich Verstümmlung und Überladung mit fremden Zügen ist –) hat er dazu dienen können, wozu er gebraucht worden ist, zum Typus eines Erlösers der Menschheit. – Die Juden sind das merkwürdigste Volk der Weltgeschichte, weil sie, vor die Frage von Sein und Nichtsein gestellt, mit einer vollkommen unheimlichen Bewußtheit das Sein um jeden Preis vorgezogen haben: dieser Preis war die radikale Fälschung aller Natur, aller Natürlichkeit, aller Realität, der ganzen inneren Welt so gut als der äußeren. Sie grenzten sich ab gegen alle Bedingungen, unter denen bisher ein Volk leben konnte, leben durfte; sie schufen aus sich einen Gegensatz-Begriff zu natürlichen Bedingungen, – sie haben, der Reihe nach, die Religion, den Cultus, die Moral, die Geschichte, die Psychologie auf eine Unheilbare Weise in den Widerspruch zu deren Natur-Werthen umgedreht. Wir begegnen demselben Phänomene noch einmal und in unsäglich vergrößerten Proportionen, trotzdem nur als Copie: – die christliche Kirche entbehrt, im Vergleich zum »Volk der Heiligen«, jedes Anspruchs auf Originalität. Die Juden sind, ebendamit, das verhängnißvollste Volk der Weltgeschichte: in ihrer Nachwirkung haben sie die Menschheit dermaaßen falsch gemacht, daß heute noch der Christ antijüdisch fühlen kann, ohne sich als die letzte jüdische Consequenz zu verstehn.

Ich habe in meiner »Genealogie der Moral« zum ersten Male den Gegensatz-Begriff einer vornehmen Moral und einer ressentiment-Moral psychologisch vorgeführt, letztere aus dem Nein gegen die erstere entsprungen: aber dies ist die jüdisch-christliche Moral ganz und gar. Um Nein sagen zu können zu Allem, was die aufsteigende Bewegung des Lebens, die Wohlgerathenheit, die Macht, die Schönheit, die Selbstbejahung auf Erden darstellt, mußte hier sich der Genie gewordne Instinkt des ressentiment eine andre Welt erfinden, von wo aus jene Lebens-Bejahung als das Böse, als das Verwerfliche an sich erschien. Psychologisch nachgerechnet, ist das jüdische Volk ein Volk der zähesten Lebenskraft, welches, unter unmögliche Bedingungen versetzt, freiwillig, aus der tiefsten Klugheit der Selbsterhaltung, die Partei aller décadence-Instinkte nimmt, – nicht als von ihnen beherrscht, sondern weil es in ihnen eine Macht errieth, mit der man sich gegen »die Welt« durchsetzen kann. Die Juden sind das Gegenstück aller décadents: sie haben sie darstellen müssen bis zur Illusion, sie haben sich, mit einem non plus ultra des schauspielerischen Genie's, an die Spitze aller décadence Bewegungen zu stellen gewußt (– als Christentum des Paulus –), um aus ihnen Etwas zu schaffen, das stärker ist als jede Ja-sagende Partei des Lebens. Die décadence ist, für die im Juden- und Christentum zur Macht verlangende Art von Mensch, eine priesterliche Art, nur Mittel: diese Art von Mensch hat ein Lebens-Interesse daran, die Menschheit krank zu machen und die Begriffe »gut« und »böse«, »wahr« und »falsch« in einen lebensgefährlichen und weltverleumderischen Sinn umzudrehn. –

 

25.

Die Geschichte Israel's ist unschätzbar als typische Geschichte aller Entnatürlichung der Natur-Werthe: ich deute fünf Thatsachen derselben an. Ursprünglich, vor Allem in der Zeit des Königthums, stand auch Israel zu allen Dingen in der richtigen, das heißt der natürlichen Beziehung. Sein Javeh war der Ausdruck des Macht-Bewußtseins, der Freude an sich, der Hoffnung auf sich: in ihm erwartete man Sieg und Heil, mit ihm vertraute man der Natur, daß sie giebt, was das Volk nöthig hat – vor Allem Regen. Javeh ist der Gott Israel's und folglich Gott der Gerechtigkeit: die Logik jedes Volks, das in Macht ist und ein gutes Gewissen davon hat. Im Fest-Cultus drücken sich diese beiden Seiten der Selbstbejahung eines Volkes aus: es ist dankbar für die großen Schicksale, durch die es obenauf kam, es ist dankbar im Verhältniß zum Jahreskreislauf und allem Glück in Viehzucht und Ackerbau. – Dieser Zustand der Dinge blieb noch lange das Ideal, auch als er auf eine traurige Weise abgethan war: die Anarchie im Innern, der Assyrer von Außen. Aber das Volk hielt als höchste Wünschbarkeit jene Vision eines Königs fest, der ein guter Soldat und ein strenger Richter ist: vor Allem jener typische Prophet (das heißt Kritiker und Satiriker des Augenblicks) Jesaia. – Aber jede Hoffnung blieb unerfüllt. Der alte Gott konnte nichts mehr von dem, was er ehemals konnte. Man hätte ihn fahren lassen sollen. Was geschah? Man veränderte seinen Begriff, – man entnatürlichte seinen Begriff: um diesen Preis hielt man ihn fest. – Javeh der Gott der »Gerechtigkeit«, – nicht mehr eine Einheit mit Israel, ein Ausdruck des Volks-Selbstgefühls: nur noch ein Gott unter Bedingungen ... Sein Begriff wird ein Werkzeug in den Händen priesterlicher Agitatoren, welche alles Glück nunmehr als Lohn, alles Unglück als Strafe für Ungehorsam gegen Gott, für »Sünde« interpretiren: jene verlogenste Interpretations-Manier einer angeblich »sittlichen Weltordnung«, mit der, ein für alle Mal, der Naturbegriff »Ursache« und »Wirkung« auf den Kopf gestellt ist. Wenn man erst, mit Lohn und Strafe, die natürliche Causalität aus der Welt geschafft hat, bedarf man einer widernatürlichen Causalität: der ganze Rest von Unnatur folgt nunmehr. Ein Gott, der fordert, – an Stelle eines Gottes, der hilft, der Rath schafft, der im Grunde das Wort ist für jede glückliche Inspiration des Muths und des Selbstvertrauens ... Die Moral nicht mehr der Ausdruck der Lebens- und Wachsthumsbedingungen eines Volks, nicht mehr sein unterster Instinkt des Lebens, sondern abstrakt geworden, Gegensatz zum Leben geworden, – Moral als grundsätzliche Verschlechterung der Phantasie, als »böser Blick« für alle Dinge. Was ist jüdische, was ist christliche Moral? Der Zufall um seine Unschuld gebracht; das Unglück mit dem Begriff »Sünde« beschmutzt; das Wohlbefinden als Gefahr, als »Versuchung«; das physiologische Übelbefinden mit dem Gewissens-Wurm vergiftet ...

 

26.

Der Gottesbegriff gefälscht; der Moralbegriff gefälscht: – die jüdische Priesterschaft blieb dabei nicht stehn. Man konnte die ganze Geschichte Israel's nicht brauchen: fort mit ihr! – Diese Priester haben jenes Wunderwerk von Fälschung zu Stande gebracht, als deren Dokument uns ein guter Theil der Bibel vorliegt: sie haben ihre eigne Volks-Vergangenheit mit einem Hohn ohne Gleichen gegen jede Überlieferung, gegen jede historische Realität, in's Religiöse übersetzt, das heißt, aus ihr einen stupiden Heils-Mechanismus von Schuld gegen Javeh und Strafe, von Frömmigkeit gegen Javeh und Lohn gemacht. Wir würden diesen schmachvollsten Akt der Geschichts-Fälschung viel schmerzhafter empfinden, wenn uns nicht die kirchliche Geschichts-Interpretation von Jahrtausenden fast stumpf für die Forderungen der Rechtschaffenheit in historicis gemacht hätte. Und der Kirche sekundirten die Philosophen: die Lüge der »sittlichen Weltordnung« geht durch die ganze Entwicklung selbst der neueren Philosophie. Was bedeutet »sittliche Weltordnung«? Daß es, ein für alle Mal, einen Willen Gottes giebt, was der Mensch zu thun, was er zu lassen habe; daß der Werth eines Volkes, eines Einzelnen sich darnach bemesse, wie sehr oder wie wenig dem Willen Gottes gehorcht wird; daß in den Schicksalen eines Volkes, eines Einzelnen sich der Wille Gottes als herrschend, das heißt als strafend und belohnend, je nach dem Grade des Gehorsams, beweist. – Die Realität an Stelle dieser erbarmungswürdigen Lüge heißt: eine parasitische Art Mensch, die nur auf Kosten aller gesunden Bildungen des Lebens gedeiht, der Priester, mißbraucht den Namen Gottes: er nennt einen Zustand der Gesellschaft, in dem der Priester den Werth der Dinge bestimmt, »das Reich Gottes«; er nennt die Mittel, vermöge deren ein solcher Zustand erreicht oder aufrecht erhalten wird, »den Willen Gottes«; er mißt, mit einem kaltblütigen Cynismus, die Völker, die Zeiten, die Einzelnen darnach ab, ob sie der Priester-Übermacht nützten oder widerstrebten. Man sehe sie am Werk: unter den Händen der jüdischen Priester wurde die große Zeit in der Geschichte Israel's eine Verfalls-Zeit, das Exil, das lange Unglück verwandelte sich in eine ewige Strafe für die große Zeit – eine Zeit, in der der Priester noch nichts war. Sie haben aus den mächtigen, sehr frei gerathenen Gestalten der Geschichte Israel's, je nach Bedürfniß, armselige Ducker und Mucker oder »Gottlose« gemacht, sie haben die Psychologie jedes großen Ereignisses auf die Idioten-Formel »Gehorsam oder Ungehorsam gegen Gott« vereinfacht. – Ein Schritt weiter: der »Wille Gottes« (das heißt die Erhaltungs-Bedingungen für die Macht des Priesters) muß bekannt sein, – zu diesem Zwecke bedarf es einer »Offenbarung«. Auf deutsch: eine große litterarische Fälschung wird nöthig, eine »heilige Schrift« wird entdeckt, – unter allem hieratischen Pomp, mit Bußtagen und Jammergeschrei über die lange »Sünde« wird sie öffentlich gemacht. Der »Wille Gottes« stand längst fest: das ganze Unheil liegt darin, daß man sich der »heiligen Schrift« entfremdet hat ... Moses schon war der »Wille Gottes« offenbart ... Was war geschehn? Der Priester hatte, mit Strenge, mit Pedanterie, bis auf die großen und kleinen Steuern, die man ihm zu zahlen hatte (– die schmackhaftesten Stücke vom Fleisch nicht zu vergessen: denn der Priester ist ein Beefsteak-Fresser), ein für alle Mal formulirt, was er haben will, »was der Wille Gottes ist« ... Von nun an sind alle Dinge des Lebens so geordnet, daß der Priester überall unentbehrlich ist; in allen natürlichen Vorkommnissen des Lebens, bei der Geburt, der Ehe, der Krankheit, dem Tode, gar nicht vom »Opfer« (der Mahlzeit) zu reden, erscheint der heilige Parasit, um sie zu entnatürlichen, – in seiner Sprache: zu »heiligen« ... Denn dies muß man begreifen: jede natürliche Sitte, jede natürliche Institution (Staat, Gerichtsordnung, Ehe, Kranken- und Armenpflege), jede vom Instinkt des Lebens eingegebne Forderung, kurz Alles, was seinen Werth in sich hat, wird durch den Parasitismus des Priesters (oder der »sittlichen Weltordnung«) grundsätzlich werthlos, werth- widrig gemacht: es bedarf nachträglich einer Sanktion, – eine werthverleihende Macht thut noth, welche die Natur darin verneint, welche eben damit erst einen Werth schafft ... Der Priester entwerthet, entheiligt die Natur: um diesen Preis besteht er überhaupt. – Der Ungehorsam gegen Gott, das heißt gegen den Priester, gegen »das Gesetz«, bekommt nun den Namen »Sünde«; die Mittel, sich wieder »mit Gott zu versöhnen«, sind, wie billig, Mittel, mit denen die Unterwerfung unter den Priester nur noch gründlicher gewährleistet ist: der Priester allein »erlöst« ... Psychologisch nachgerechnet, werden in jeder priesterlich organisirten Gesellschaft die »Sünden« unentbehrlich: sie sind die eigentlichen Handhaben der Macht, der Priester lebt von den Sünden, er hat nöthig, daß »gesündigt« wird ... Oberster Satz: »Gott vergiebt Dem, der Buße thut« – auf deutsch: der sich dem Priester unterwirft. –

 

27.

Auf einem dergestalt falschen Boden, wo jede Natur, jeder Naturwerth, jede Realität die tiefsten Instinkte der herrschenden Klasse wider sich hatte, wuchs das Christenthum auf, eine Todfeindschafts-Form gegen die Realität, die bisher nicht übertroffen worden ist. Das »heilige Volk«, das für alle Dinge nur Priester-Werthe, nur Priester-Worte übrig behalten hatte und mit einer Schluß-Folgerichtigkeit, die Furcht einflößen kann, Alles, was sonst noch an Macht auf Erden bestand, als »unheilig«, als »Welt«, als »Sünde« von sich abgetrennt hatte, – dies Volk brachte für seinen Instinkt eine letzte Formel hervor, die logisch war bis zur Selbstverneinung: es verneinte, als Christenthum, noch die letzte Form der Realität, das »heilige Volk«, das »Volk der Ausgewählten«, die jüdische Realität selbst. Der Fall ist ersten Rangs: die kleine aufständische Bewegung, die auf den Namen des Jesus von Nazareth getauft wird, ist der jüdische Instinkt noch einmal, – anders gesagt, der Priester-Instinkt, der den Priester als Realität nicht mehr verträgt, die Erfindung einer noch abgezogneren Daseinsform, einer noch unrealeren Vision der Welt, als sie die Organisation einer Kirche bedingt. Das Christenthum verneint die Kirche ...

Ich sehe nicht ab, wogegen der Aufstand gerichtet war, als dessen Urheber Jesus verstanden oder mißverstanden worden ist, wenn es nicht der Aufstand gegen die jüdische Kirche war, – »Kirche« genau in dem Sinn genommen, in dem wir heute das Wort nehmen. Es war ein Aufstand gegen »die Guten und Gerechten«, gegen »die Heiligen Israel's«, gegen die Hierarchie der Gesellschaft – nicht gegen deren Verderbniß, sondern gegen die Kaste, das Privilegium, die Ordnung, die Formel; es war der Unglaube an die »höheren Menschen«, das Nein gesprochen gegen Alles, was Priester und Theologe war. Aber die Hierarchie, die damit, wenn auch nur für einen Augenblick, in Frage gestellt wurde, war der Pfahlbau, auf dem das jüdische Volk, mitten im »Wasser«, überhaupt noch fortbestand, – die mühsam errungene letzte Möglichkeit, übrig zu bleiben, das Residuum seiner politischen Sonder-Existenz: ein Angriff auf sie war ein Angriff auf den tiefsten Volks-Instinkt, auf den zähesten Volks-Lebenswillen, der je auf Erden dagewesen ist. Dieser heilige Anarchist, der das niedere Volk, die Ausgestoßnen und »Sünder«, die Tschandala innerhalb des Judenthums zum Widerspruch gegen die herrschende Ordnung aufrief – mit einer Sprache, falls den Evangelien zu trauen wäre, die auch heute noch nach Sibirien führen würde, war ein politischer Verbrecher, so weit eben politische Verbrecher in einer absurd-unpolitischen Gemeinschaft möglich waren. Dies brachte ihn an's Kreuz: der Beweis dafür ist die Aufschrift des Kreuzes. Er starb für seine Schuld, – es fehlt jeder Grund dafür, so oft es auch behauptet worden ist, daß er für die Schuld Andrer starb. –

 

28.

Eine vollkommen andre Frage ist es, ob er einen solchen Gegensatz überhaupt im Bewußtsein hatte, – ob er nicht bloß als dieser Gegensatz empfunden wurde. Und hier erst berühre ich das Problem der Psychologie des Erlösers. – Ich bekenne, daß ich wenige Bücher mit solchen Schwierigkeiten lese wie die Evangelien. Diese Schwierigkeiten sind andre als die, an deren Nachweis die gelehrte Neugierde des deutschen Geistes einen ihrer unvergeßlichsten Triumphe gefeiert hat. Die Zeit ist fern, wo auch ich, gleich jedem jungen Gelehrten, mit der klugen Langsamkeit eines raffinirten Philologen das Werk des unvergleichlichen Strauß auskostete. Damals war ich zwanzig Jahre alt: jetzt bin ich zu ernst dafür. Was gehen mich die Widersprüche der »Überlieferung« an? Wie kann man Heiligen-Legenden überhaupt »Überlieferung« nennen! Die Geschichten von Heiligen sind die zweideutigste Litteratur, die es überhaupt giebt: auf sie die wissenschaftliche Methode anwenden, wenn sonst keine Urkunden vorliegen, scheint mir von vornherein verurtheilt, – bloß gelehrter Müßiggang ...

 

29.

Was mich angeht, ist der psychologische Typus des Erlösers. Derselbe könnte ja in den Evangelien enthalten sein trotz den Evangelien, wie sehr auch immer verstümmelt oder mit fremden Zügen überladen: wie der des Franciscus von Assisi in seinen Legenden erhalten ist trotz seinen Legenden. Nicht die Wahrheit darüber, was er gethan, was er gesagt, wie er eigentlich gestorben ist: sondern die Frage, ob sein Typus überhaupt noch vorstellbar, ob er »überliefert« ist? – Die Versuche, die ich kenne, aus den Evangelien sogar die Geschichte einer »Seele« herauszulesen, scheinen mir Beweise einer verabscheuungswürdigen psychologischen Leichtfertigkeit. Herr Renan, dieser Hanswurst in psycho-logicis, hat die zwei ungehörigsten Begriffe zu seiner Erklärung des Typus Jesus hinzugebracht, die es hierfür geben kann: den Begriff Genie und den Begriff Held ( »héros«). Aber wenn irgend Etwas unevangelisch ist, so ist es der Begriff Held. Gerade der Gegensatz zu allem Ringen, zu allem Sich-in-Kampf-fühlen ist hier Instinkt geworden: die Unfähigkeit zum Widerstand wird hier Moral (»widerstehe nicht dem Bösen!« das tiefste Wort der Evangelien, ihr Schlüssel in gewissem Sinne), die Seligkeit im Frieden, in der Sanftmuth, im Nicht-feind-sein- können. Was heißt »frohe Botschaft«? Das wahre Leben, das ewige Leben ist gefunden, – es wird nicht verheißen, es ist da, es ist in euch: als Leben in der Liebe, in der Liebe ohne Abzug und Ausschluß, ohne Distanz. Jeder ist das Kind Gottes – Jesus nimmt durchaus nichts für sich allein in Anspruch –, als Kind Gottes ist Jeder mit Jedem gleich ... Aus Jesus einen Helden machen! – Und was für ein Mißverständniß ist gar das Wort »Genie«! Unser ganzer Begriff, unser Cultur-Begriff »Geist« hat in der Welt, in der Jesus lebt, gar keinen Sinn. Mit der Strenge des Physiologen gesprochen, wäre hier ein ganz andres Wort eher noch am Platz ... Wir kennen einen Zustand krankhafter Reizbarkeit des Tastsinns, der dann vor jeder Berührung, vor jedem Anfassen eines festen Gegenstandes zurückschaudert. Man übersetze sich einen solchen physiologischen habitus in seine letzte Logik – als Instinkt-Haß gegen jede Realität, als Flucht in's »Unfaßliche«, in's »Unbegreifliche«, als Widerwille gegen jede Formel, jeden Zeit- und Raumbegriff, gegen Alles, was fest, Sitte, Institution, Kirche ist, als Zu-Hause-sein in einer Welt, an die keine Art Realität mehr rührt, einer bloß noch »inneren« Welt, einer »wahren« Welt, einer »ewigen« Welt... »Das Reich Gottes ist in euch«...


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