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Charlotte Niese! Dieser Name gehört heut zu den klangvollsten auf dem weiten Gebiet der Frauenliteratur. Durch Einfachheit und Natürlichkeit, jene beiden obersten Vorzüge aller Kunst, hat sich die Dichterin die Herzen einer großen Lesergemeinde erschlossen. In stiller Zurückgezogenheit, abseits von der Heerstraße der Modegrößen, pflegt Charlotte Niese die friedvollsten und geheimsten Schätze des Gemüts. Hypermoderne Geschraubtheit ist ihr fremd. Behaglich und gemütvoll weiß sie zu erzählen. Liebevoll wendet sie sich der Miniaturkunst zu. Und immer wieder spricht aus ihrer Kunst Lebensfrische, großzügige Kraft und Ehrfurcht vor dem Großen und Schönen in der Welt. Und dann lebt in allen ihren Werken in wundervoller, scharf ausgeprägter Klangfarbe das niederdeutsche Element. Charlotte Niese besitzt ein reifes Weltempfinden, das wie ein belebender Hauch die Gebilde ihrer Phantasie durchdringt und alle ihre Menschen in die unsichtbare Atmosphäre ihrer Ethik hüllt. Sie verschmäht physiologisch-philosophische Probleme. An Stelle zerfasernder Seelenforschung gibt sie uns schlichte Menschenbildnerkunst. Und damit erfüllt sie Gottfried Kellers Forderung von der Erzählungskunst: »Schlichtheit und Ehrlichkeit müssen mitten in Glanz und Gestalten herrschen, um etwas Poetisches oder, was gleichbedeutend ist, etwas Lebendiges und Vernünftiges hervorzubringen.«
Charlotte Niese ist eine Pastorentochter. Sie wurde am 7. Juni 1854 in Burg auf der damals dänischen Ostseeinsel Fehmarn geboren. Über ihre Jugend soll uns die Dichterin selbst erzählen:
»Ich bin wohl anders aufgewachsen wie viele andere Mädchen. Zunächst wurde ich im Hause von einer sehr alten, sehr klugen Dame unterrichtet, und spielte bis zu meinem neunten Jahr ausschließlich mit meinen Brüdern und deren Freunden. Mädchen galten bei ihnen wie bei mir für »falsch«. Als mein Vater versetzt wurde und seine Söhne mit ihm gingen, wurde es für mich sehr einsam. Ich blieb bei meinem Großvater, dem Justizrat Matthießen, zurück. Eine tägliche sogenannte Privatstunde brachte mich zwar mit anderen Kindern in Berührung, aber ich ging doch meine eigenen Wege. Konfirmiert wurde ich dann bei meinem Vater, der inzwischen Seminardirektor in Eckernförde geworden war.
Hernach trat dann bald an mich die Frage heran, wie es mit der Selbständigkeit werden sollte. Die Verhältnisse zwangen zu Erwägungen solcher Art. Mein Vater wurde nämlich plötzlich kränklich und starb im Alter von zweiundfünfzig Jahren. Ich kam danach sehr früh zum Lehrerinnenberuf – vor dreißig Jahren der einzige Frauenerwerb, von dem die Rede sein konnte. Schon in sehr jungen Jahren machte ich das Examen für den Unterricht an höheren Töchterschulen, und ich kann wohl sagen, daß ich danach gern und freudig unterrichtet habe.
Später hatte meine Mutter mich dann wieder nötig, und ich bin zu ihr gegangen, die damals in Plön wohnte. Und dann habe ich angefangen zu schreiben: erst kleinere, dann größere Sachen. Mit Erfolg auf der einen, mit mancherlei Enttäuschungen auf der anderen Seite.
Inzwischen habe ich übrigens verschiedene Reisen gemacht, bin z. B. zweimal fast ein Jahr in den Vereinigten Staaten gewesen. Aber obgleich ich ein Buch, »Bilder und Skizzen aus Amerika«, herausgegeben habe, weiß ich doch, daß mein Können nicht in der Fremde, sondern in der Heimat liegt. In meinen Geschichten muß immer etwas Schleswig-Holsteinisches sein, sonst fühle ich mich selbst darin fremd.«
Jetzt lebt Charlotte Niese in Ottensen bei Hamburg. Sie hat lange um Anerkennung ringen müssen. Nur selten gelangten Ruhmesstrahlen in die beschauliche Stille ihres Poetenheims am Philosophenweg. Ein langer Weg ist es von ihren literarischen Erstlingen bis zu den Höhen des Erfolges. Langsam aber sicher ging der Weg hinauf. Und heute ist er noch nicht abgeschlossen. Die stille Ruhe ihres äußeren Lebens atmen auch Charlotte Nieses Dichtungen. Den behäbigen, nüchternen Realismus Thomas Manns und die plastische Kleinmalerei Gustav Frenssens vereinigte die Dichterin schon in sich, bevor die Buddenbrooks und Jörn Uhl gekrönte Bücher wurden. In der Heimat findet sie die stärksten Wurzeln ihrer Kraft. Sie hat frühzeitig erkannt, daß die bezwingende Darstellung des von reicher Phantasie Erschauten eben nur in den Grenzen einer Heimatkunst möglich ist, einer Wahrheitskunst, die in der Heimat nicht ein Ziel, sondern ein Mittel erblickt. Denn das Wesen echter Heimatdichtung besteht darin, daß sie hinausragt über die Bedingtheit der Heimat. Konsequent bleibt sich die Niese in der Behandlung ihres Lebensthemas: Los von der Weltstadt, liebt eure Heimat! Etwas echt Schleswig-Holsteinisches lebt immer in ihren Werken. Ursprünglich quillt hier das niederdeutsche Element: bald klingt es in hellem Jubel empor, bald tönt es in breiten, feierlichen Akkorden aus. Sehr schön hat Timm Kröger das Wesen der Niese gezeichnet: »Sie erhebt uns auf eine Höhe, auf der es nicht mehr lohnt dieses Lebens Widersprüche zu schelten, wo sie uns nur noch lachen machen. Je größer die Inkongruenz zwischen Idee und Wirklichkeit, um so lustiger unser Lachen. Solche Stimmung kann Pessimismus sein, kann aber auch auf einem Optimismus beruhen, der an eine jenseits unserer Erfahrung liegende gute, – – die eigentliche Welt glaubt.«
Zum ersten Male sah sich Charlotte Niese in dem von den Hamburgischen Pastoren Rinck und Fries redigierten Sonntagsblatt »Der Nachbar« gedruckt. Durch einen Preis für die kleine entzückende Erzählung »Philipp Reiffs Schicksale« ermutigt, schuf sie in Plön ihr erstes größeres Werk, den historischen Roman »Cajus Rungholt«. Dieser Roman, der als Erstlingswerk ganz hervorragende Qualitäten besitzt, erschien unter dem Pseudonym Lucian Bürger. Die Sammlung prächtiger Skizzen »Aus dänischer Zeit« führte der Verfasserin viele Verehrer zu. Hier mag sie manche persönliche Erinnerung aus frühen Kinderjahren dichterisch verwendet haben. Mit photographischer Treue und seltener Farbenpracht sind hier ungemein anziehende Bilder und Gestalten aus dem unmittelbaren Leben Schleswig-Holsteins gezeichnet worden. Nie fehlt den markigen Gestalten der innere Zusammenhang mit ihrem Lebensboden. Das wertvollste Stück des Bandes ist die mit besonderer Liebe gezeichnete Geschichte der Mamsell van Ehren. Überhaupt hat Charlotte Niese die in der Gegenwart etwas zurückgegangene Erzählungsform der Novelle mit bestem Erfolg gepflegt. Bei der Lektüre dieser kleinen Kunstwerke, von denen eine kleine Auswahl hier in diesem Bändchen folgt, überzeugt man sich leicht von der Tatsache, daß eine einzige vollgeglückte Menschengestalt künstlerisch oft wertvoller ist als ein dicker Band, den nur eine mittelmäßige Weltanschauung trägt. Überall ist die Dichterin hier die Schülerin ihres Lieblingsdichters Theodor Storm, den sie zwar nicht nachahmt, aber unter dessen starken Einfluß sie steht. Mit derselben Vollkraft frisch-fröhlichen Könnens wie Theodor Storm schmiedet sie Humor und tiefe Innigkeit zu der mächtig wirkenden Harmonie. Höchst originelle Gestalten treten uns in den »Geschichten aus Holstein« entgegen, die von einem echten nordisch-holsteinischen Lokal-Patriotismus belebt werden. Diese sechs Perlen edler Erzählungskunst reichen in ihren innersten Gedankengängen zurück bis in früh erlebte Fehmarner Spuk- und Hofgeschichten. Trotzdem wir es hier mit persönlichsten Erlebnissen zu tun haben, lernen wir hier die Dichterin als objektive Schaffen« kennen, die ihre Persönlichkeit hinter das Kunstwerk stellt. Lebenswahre Charaktere, in ihrer äußeren und inneren Beschaffenheit für den ersten Eindruck vielleicht etwas befremdlich, lernen wir auch in den Büchern kennen: »Die braune Marenz und andere Geschichten« und »Revenstorfs Tochter und andere Erzählungen«. Aus alten Journalen Hamburgs und Altonas hat die Dichterin den Stoff zu einer größeren kulturhistorischen Erzählung geschöpft. Sie heißt »Vergangenheit« und gibt ein äußerst anschauliches Bild von dem Leben und Treiben der französischen Emigranten in Altona während der neunziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts. Mit großem Fleiß ist hier ein umfangreiches Material zusammengetragen und zu einem monumentalen Denkmal verarbeitet worden. Die Ausgestaltung der kleineren Episoden ist dichterische Filigranarbeit einer Meisterhand. Die Handlung der »Vergangenheit« ist reich gegliedert, aber die Hauptlinien ragen fest gefügt aus dem interessanten Kulturgemälde hervor. Äußerst gehaltvoll ist auch der im Sommer 1850 spielende Roman »Auf der Heide«, in dem alle Gestalten echte Holstein« sind vom Scheitel bis zur Sohle. Ergreifend wird in der fesselnden Erzählung »Der Erbe« das Motiv einer Kinderverwechselung und deren Folgen behandelt. Hier konnte sich unsere Dichterin nach Herzenslust in das Kindergemüt des kleinen Barons Josias vertiefen. Und wo sie das Denken, Tun und Treiben der Kleinen schildert, da erhebt sich ihre Kunst zu bedeutender Höhe. Als einzige gelungene dichterische Ausbeute des Hamburger Cholerajahres besitzen wir von Charlotte Niese die ergreifende Erzählung »Licht und Schatten«. Viel Schatten war in unserm schönen Hamburg, aber das Licht ist doch stärker gewesen: das ist das Motto des Romans, der über eins der traurigsten Kapitel hamburgischer Geschichte handelt. In den eindrucksvollen Farben des Selbsterlebnisses wird das damalige Elend in den Cholerabaracken und öffentlichen Krankenhäusern vor Augen geführt. Hamburg zum Schauplatz hat auch der Roman »Die Klabunkerstraße«. Die Frucht langjähriger Studien und Beobachtungen ist der Roman »Auf Sandberghof«. Er behandelt den Kampf zwischen Deutschen und Dänen, wie er sich in Nordschleswig auf Rangelrup und Sandberghof abgespielt hat. Mit behaglich-schöner Schilderungskunst werden Probleme aus jener Zeit entrollt, in der Schleswig-Holstein keine erquicklichen Verhältnisse kannte. »Dumpf gärte die Unzufriedenheit der Deutschen – wie es im Roman heißt – und die Dänen fühlten sich auch in ihrer Unterdrückerrolle nicht behaglich.« Eine Fülle reizvoller Gestalten wird mit trefflicher Charakteristik vorgeführt: die Kammerjunkerin Ulrike Krag aus der Familie derer von Laurentius, der Hardesvogt Gottfried Wilder und die Frau Etatsrätin, Hans Lauritzen aus Kopenhagen, der gute Glasog und die ehrliche Bothilde. Ferner der märkische Junker Kurt von Berkow, der als kommissarischer Landrat von Kragsminde sich bemüht, den Dänen sanft zu begegnen und gegen den zum Dank ein jütischer Bengel ein Attentat versucht. Auch das typische schleswig-holsteinische Pfarrhaus ist durch die Pastoren Brolund und Kleinert vertreten. Zwei prächtige Kindergestalten gehen durch den Roman: Dodo und Tina. In diesen Kreisen schafft der fanatische Preußenhaß der Dänen Zwist und Uneinigkeit. Aber auch den Vertretern des Dänentums läßt die Dichterin volle Gerechtigkeit widerfahren. Denn schließlich leuchtet auch in Nordschleswig über allen politischen Tagesfragen der Stern der Liebe. Das erfährt die liebe Kläre von Hagenthal. Als arme preußische Offizierstochter muß sie in dänischem Hause eine Stellung als Erzieherin von Dodo und Tina annehmen. Sie muß manche Demütigung über sich ergehen lassen. Aber ein alter dänischer Herr, der Kläre geliebt hat, vermacht ihr testamentarisch die Summe von 50 000 Kronen. Und auch ihren Lebensgefährten findet Kläre in Nordschleswig: den schlichten Predigtamtskandidaten David Rissom.
Eine besonders wertvolle Schöpfung ist die Erzählung »Menschenfrühling«, die die Entwicklungsjahre der früh verwaisten Anneli Pankow behandelt. Die kleine Anneli wächst innerlich zu einem kindlich reinen Menschentum. Anscheinlich ist ihr Werden geschildert und tief ihre Psyche analysiert worden. Aber alte Schmerzen, alte Freuden und altes, längst beweintes Leid haben sich so tief in die Seele des Kindes eingegraben, daß auch die warme Frühlingssonne den feuchten Tränenschleier aus Annelis Augen nicht zu verjagen vermag. Was mau so oft an den Dichtungen der Niese bewundern muß, krönt auch diese Kindheitsgeschichte: Kraft, Schönheit, Geist und Gemüt in der wundervollen Harmonie schlichtester Natürlichkeit. Die weiteren Schicksale Annelis behandelt der Roman »Aus der Sommerzeit«.
Neben dem künstlerischen Genuß gewährt Charlotte Niese immer einen kostbaren Gewinn für Weltanschauung und Leben. Sie vermeidet jede hervortretende Tendenz. In dieser wohltuenden Art sind auch ihre übrigen Erzählungen gehalten, von denen hier noch »Erika«, »Eine von den Jüngsten« und »Die Allerjüngste« genannt sein sollen. Charlotte Niese vermag die grauen Tage des Lebens zu vergolden. Ihre Dichtungen sind eine gesunde Kost. Sie gehören ins Volk, dem sie neue Kräfte und neue Ideale zuführen können. Ihre bodenwüchsige, ideell getränkte Erzählungskunst hat sich als ein Verjüngungsquell erwiesen. Und wenn es bei ihren Werken nicht das Titelblatt verraten würde, konnte man kaum glauben, daß soviel Kraft aus einer Frauenhand fließen kann.
Das Bild Charlotte Nieses aber wäre unvollständig, wollte man nicht ihrer hervorragenden menschlichen Eigenschaften gedenken. Sie besitzt ein großes Herz. Stille Bescheidenheit ist eine ihrer vornehmsten Tugenden. Nichts ist ihr verhaßter als der Lärm moderner Reklametrommeln, mit denen heut so viel Dilettanten »berühmt« gemacht werden. In ihrer äußeren Erscheinung wie in ihrem ganzen Wesen ist sie der Typus einer echten Holsteinerin. »Vergiß dich selbst, dann läufst du keine Gefahr, andere zu vergessen.« Diese Worte, die die Dichterin einmal einer Freundin ins Stammbuch schrieb, gewähren einen tiefen Einblick in ihren Charakter.
Heute darf Charlotte Niese mit hoher Befriedigung auf die Früchte ihres Fleißes zurückblicken. Eine große Verehrergemeinde, die noch viel von der Dichterin erwarten darf, schaut liebend und bewundernd zu ihr empor.