Charlotte Niese
Mein Freund Kaspar und andere Erzählungen
Charlotte Niese

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Georg.

Er war ein solch kleiner, schwacher Junge! Sein Kopf war viel zu groß für den schwachen, magern Körper, und die spärlichen blonden Haare, welche auf dem Köpfchen wuchsen, standen borstenartig und häßlich ab, wie das ungepflegte Fell eines Waldtieres. Wer in das blasse, aufgedunsene Gesichtchen blickte, schüttelte unwillkürlich den Kopf. »Lieber Gott, daß solch ein elend Würmchen leben muß, während schöne, kräftige Kinder sterben!« Und dann der Schmutz! Georg war etwa drei Jahre alt und sah aus, als sei er in diesen drei Jahren weder gewaschen noch in ein anderes Kleidungsstück gesteckt! Lumpen und Schmutz bildeten im Sommer wie im Winter seine einzige Bedeckung. – Eigentlich war es eine Schande für das Städtchen, daß solch ein kleiner Haufen Elend dort lebte, daß seiner Mutter, einer wilden, frechen Person, erlaubt ward, in einer erbärmlichen Kate in der dunkelsten Straße zu wohnen. Die Leute schüttelten den Kopf über die Milde der Stadtobrigkeit, und der Bürgermeister seufzte jedesmal tief, wenn er Georg irgendwo erblickte. Aber solange Georgs Mutter höhnisch erklärte, niemals ins Armenhaus zu wollen, konnte man nicht viel mit ihrem Kinde anfangen, und der Kleine blieb, wo er war. Wo war er denn? Überall, wo es einen Rinnstein, wo es einen Schmutzhaufen gab, fand man Georg; heute nach dem Regen vor dem kleinen und alten Rathause, wo aus allen Gegenden die Rinnsteine zusammenliefen und das Wasser wie Tinte war. Dort saß Georg und beschmierte sich Gesicht und Haare mit schwarzem Schlamm. Und wenn die Stadtväter aus der Sitzung kamen und ihren kleinen Mitbürger in so angenehmer Beschäftigung sahen, blieben sie wohl stehen und sagten, das müsse anders werden. Aber es ward doch nicht anders. Man hatte anderes zu denken, als an zerlumpte Kinder, und jetzt, wo die neue Bahn über das Städtchen geführt ward, wo hunderterlei Fragen an den Magistrat herantraten, konnte man sich nicht wundern, wenn manche andere Sache liegen blieb.

Die neue Bahn nahm überhaupt die Aufmerksamkeit aller in Anspruch. Alle Stadtbewohner freuten sich natürlich, einen Bahnhof, eine Station zu bekommen, und jeder klügelte für sich in Gedanken einen ganz besonderen Vorteil dabei heraus. Auch Georgs Mutter meinte, sie müsse etwas mit der neuen Bahn zu tun haben, und da sie, wenn sie wollte, gut arbeiten konnte, so verdang sie sich als Scheuerfrau bei dem neuen Bahnhofsinspektor, der die tolle Christine, wie sie genannt ward, nicht kannte.

Obgleich Christine sich um ihren Jungen eigentlich niemals kümmerte und er auch nicht um sie, so kam es doch ganz von selbst, daß Georg nun manchmal nach der Bahn trottelte. Dort gab es bei dem Schienengeleise Sandhaufen, in denen die kleinen schwarzen Hände behaglich wühlten. Hier waren bunte Steine, an denen gesogen wurde; hier liefen große Männer umher, die dem Kleinen eine Brotrinde, ein Stückchen Fleisch zuwarfen; und so war es ganz natürlich, daß Georg nur gelegentlich die Stadt mit einem Besuch beehrte, und jetzt, wo es Sommer ward, eigentlich immer in der Nähe des Schienengeleises blieb. Die Arbeiter sagten, daß er auch nachts auf einem der Sandhaufen schliefe, aber niemand kümmerte sich darum, ob diese Angabe richtig sei. Der tollen Christine war ihr Kind einerlei, und einen Vater hatte Georg nicht. So konnte er tun und lassen, was er wollte, und er genoß seine Freiheit.

Jetzt wurde die Bahn eingefahren, und alle Tage sauste eine Lokomotive darüber, was alle Kinder entzückte. Scharenweis standen sie am Bahnhof und sahen dem großen Ungetüm zu, das der Hand eines einzelnen Menschen gehorchte; und Georg blickte auch der Maschine entgegen, wenn sie hart an ihm vorbeifuhr. Aber er freute sich nicht wie die andern Kinder, sondern sah ebenso schläfrig aus wie sonst. Er wunderte sich überhaupt niemals und verlor niemals seine Ruhe, auch wenn die Arbeiter ihn zu erschrecken versuchten und wie eine Lokomotive laut prustend auf ihn zuliefen. Dann wurden seine Augen wohl etwas größer, und man sah, daß sie eine braune, durchsichtige Farbe hatten, keinen Laut aber gab er von sich. Und da eigentlich kein Mensch jemals mit ihm sprach, so konnte er nur einige undeutliche Worte lallen.

So lange, wie wir jetzt von ihm reden, hatte kein Mensch in der Stadt über Georg nachgedacht. Gerade jetzt im Juni kam die Eröffnung der neuen Bahn, und es war ein großes Fest. Der Bürgermeister hielt auf dem Bahnhof eine wunderhübsche und sehr lange Rede, das ganze Gebäude war mit Flaggen geschmückt, die Arbeiter hatten alle ihre besten Anzüge an und standen in langen Reihen aufgepflanzt. Nach der Rede gab es für die Behörden und für die, welche halbwegs dazu gehörten, ein Festessen im Wirtshause, und auch die Arbeiter durften feiern. Überall wurde viel gegessen und viel getrunken, und es gab wenig Leute in der Stadt, welche nicht am andern Tage mit schweren Köpfen erwachten. Aber die Bahn war eingeweiht; dreimal täglich fuhr ein Eisenbahnzug am Städtchen vorbei, und alle Welt versprach sich von dieser Neuerung Glück und Segen, mit welchem Ausdruck jeder für sich Geld, Geld und noch einmal Geld meinte.

Georg hatte das Einweihungsfest auch mitgemacht. Er hatte nicht fern vom Bürgermeister in einem Steinkohlenhaufen gesessen und mit ruhigen Blicken die Fahnen, die vielen Menschen und die blanken Instrumente der städtischen Musikkapelle betrachtet. Er hatte aber nicht »Hurra« geschrien, als eine bekränzte Lokomotive angefahren kam; er kannte die Dinger ja und fand die Kränze nicht besonders hübsch. Nachher war's still um ihn geworden: die Leute hatten sich verlaufen, und er war allmählich aus seinen Steinkohlen herausgekrochen, um seitwärts an dem Schienenwege entlangzuschlendern. Hier fand er an gewöhnlichen Tagen manchmal Brotreste, fortgeworfene Speckschwarten und ähnliche, von dem Frühstück der Arbeiter herstammende Eßwaren. Heute aber fand er gar nichts. Wahrscheinlich war hier glatt gefegt worden, und da die Arbeiter frei hatten, konnte heute nichts wieder herkommen. Georg ging langsam weiter. Er hatte schon an verschiedenen, besonders blanken Steinkohlen gesogen; aber sein Hunger war hierdurch nicht gestillt. Bedächtig nahm er hier und dort ein Steinchen, ein Stück Baumrinde auf und leckte daran, aber es schmeckte alles nicht besonders. So kam er allmählich weiter, an den Gärten verschiedener Häuser vorüber, dann durch ein kleines Gehölz und endlich an die erste Bahnwärterwohnung.

Bis hierher war Georg noch niemals gedrungen, und er betrachtete langsam das kleine weiße Haus, den eben angelegten Garten und ein schwarzes Huhn, welches auf dem neuen Gartenzaun sah. Es gackerte, als Georg plötzlich erschien, und dieser setzte sich, von seiner längeren Fußwanderung ermüdet, an das Gitter und betrachtete den Fluß, welcher, vom Städtchen kommend, hier eine große Biegung machte. Dann aber, von großem Hunger getrieben, stand er plötzlich wieder auf und drückte seine kleine, gebrechliche Gestalt fest an den Zaun, als wolle er denselben umwerfen. In diesem Augenblick erschien ein großer Mann in der Tür des Bahnwärterhäuschens. Er trug einen Rock mit blanken Knöpfen und sah erstaunt in das kohlschwarze Kindergesichtchen, aus dem ihn ein Paar Augen unverwandt anblickten.

»Du bist aber schmutzig!« sagte er halb erschrocken; dann rief er ins Haus: »Regina, sieh doch, wie hierzulande die Kinder aussehen!«

Eine junge, blühende Frau trat über die Schwelle, und als sie Georg erblickte, der sich noch immer nicht von der Stelle rührte, schlug sie die Hände zusammen. »Sollte man es für möglich halten! Junge, hast du denn keine Mutter?«

Auf diese Frage antwortete Georg natürlich nicht; aber er sah unverwandt die Semmel an, welche die Frau in der Hand hielt. Seine Augen mußten eine sehr verständliche Sprache reden, denn plötzlich reichte die gutherzige Frau das Brötchen durchs Gitter, und der Kleine griff gierig danach. Mit unendlicher Geschwindigkeit hatte er das Brot verzehrt, und wieder sah er die Frau an, welche, ohne ein Wort zu sagen, ins Haus ging und bald mit einem Becher Milch und Brot zurückkehrte. Schweigend sahen dann beide junge Eheleute zu, wie der Kleine aß, und der Bahnwärter lachte endlich.

»Der frißt wie ein Wolf, Regine!« Die junge Frau sah mitleidig auf das kümmerliche Kind.

»Der hat's schlecht in der Welt. Sieh seine Lumpen, seine dürren Glieder; sollt's möglich sein, daß so arme Wesen auf der Welt sind?«

»Auf der Welt ist für vieles Platz!« sagte der Wärter lachend, dann winkte er Georg zu. »Nun fortgemacht, Kleiner! Dein schmutzig Gesichtchen hab ich lange genug gesehen!«

Georg hatte eigentlich Lust, bei den guten Leuten zu bleiben. Soviel hatte er noch nie auf einmal gegessen, und er empfand eine behagliche Fülle in seinem Magen, die ihm sehr angenehm vorkam. Aber als der Bahnwärter ihm noch einmal zurief, er solle gehen, gehorchte er. Freilich ging er nicht weit fort. Als er auf dem Rückwege durch das kleine Holz kam, sah er einen Haufen zusammengefegter dürrer Blätter von vorigem Jahr, und da er doch zu Hause nicht erwartet wurde, kroch er zwischen diese Blätter und schlief sanft und süß nach der ungewohnten Mahlzeit ein.

Als Georg aufwachte, war die Sonne gerade aufgegangen. Georg sah die Naturerscheinung öfter, als die meisten Bewohner im Städtchen, und sie machte auf ihn gar keinen Eindruck. Er saß einige Zeit still und sah den Vögeln zu, welche, mit Fliegen und Würmchen im Schnabel, ins Nest zu ihren Jungen flogen; dann spielte er etwas mit zwei leeren Schneckenhäusern, und dann fiel ihm ein, daß er wieder hungrig sei. Die gute Frau, welche ihm gestern Milch gegeben, kam ihm natürlich gleich wieder in den Sinn, denn solche Frau war ihm in seinem Leben noch nicht vorgekommen, und er beschloß, zu ihr zu gehen.

Langsam machte er sich auf den Weg. Das Schienengeleise lag ja vor ihm, und er ging, wie er so oft getan, gerade zwischen den blanken Eisenbändern, die er so gern leiden mochte. In der Ferne läuteten kleine Glocken; das bedeutete, daß bald ein Zug kommen sollte; aber dies Zeichen kannte Georg natürlich noch nicht. Behaglich schlenderte er weiter. Die Sonne schien warm, die Vögel sangen, und an einer Biegung des Weges lag plötzlich das Wärterhäuschen vor ihm. Hell glänzten die blanken Fensterscheiben; im Garten gackerte das schwarze Huhn, und in der Tür stand der große Mann mit einer Fahne in der Hand. Nachdenklich blieb Georg stehen, vor dem großen Mann hatte er eigentlich Angst; er wollte warten, bis derselbe fortgegangen, und so setzte er sich geduldig zwischen die Schienen. In der Ferne ertönte ein Pfiff, und Georg wandte den Kopf kaum zur Seite. So pfiffen die Lokomotiven, aber die kannte er, die taten ihm ja nichts. Vorsichtig sah er wieder nach dem Wärterhäuschen. Da kam der Mann, den Arm hebend zum Fahnenschwenken. Plötzlich stieß er einen Ruf aus und winkte Georg. – »Junge, komm her! weg von den Schienen!«

Aber Georg denkt an die Frau, welche ihm Milch gegeben, und achtet gar nicht auf das, was der Mann sagt. Er will warten, bis er weg ist, und so vertieft ist er in seine Gedanken, daß er gar nicht auf ein Pusten und Schnauben achtet, welches näher und immer näher kommt. Noch einmal schreit der Wärter. Seine Stimme klingt heiser, und als Georg wieder nicht hört, stürzt er auf den Knaben zu, schleudert ihn von den Schienen und will selbst zurückspringen. Es ist zu spät. Schon hat die Lokomotive ihn gefaßt – ein Schrei ertönt – dann ein knirschendes, entsetzliches Geräusch – dann pfeift die Maschine, stößt Dampf aus und steht endlich still. Der Bahnwärter aber liegt tot und verstümmelt auf den Schienen, während Georg nicht weit davon sitzt und erstaunt um sich blickt. –

Die ganze Stadt war in wildester Aufregung, und alle Leute strömten nach dem Wärterhause, um die Stelle zu sehen, wo der brave Mann sein Leben gelassen. Er, der kräftige, blühende Mensch, hatte sich in den Tod gestürzt für das elendeste Geschöpf unter der Sonne, für Georg – für Georg, dem der Tod auf dem Gesicht geschrieben stand, für den es am besten gewesen, wenn der liebe Gott ihn zu sich genommen hätte, der eine Schande der Stadt war! Jetzt sprach alle Welt von Georg – natürlich nichts Gutes, sondern nur das schlechteste, und wer die Leute reden hörte, mußte glauben, sie sprächen von einem Verbrecher und nicht von einem dreijährigen Kinde. Georgs Mutter, welche auch von dieser schrecklichen Geschichte hörte, machte sich eiligst auf und verschwand aus der Stadt. Sie mußte Angst haben, man würde sie zur Rechenschaft ziehen, daß sie ihren Jungen nicht besser beaufsichtigt hätte. Aber daran dachte eigentlich niemand; alle redeten nur ins Blaue hinein, beklagten den Wärter und seine arme Frau und fanden es höchst merkwürdig, daß der liebe Gott solches Schicksal zuließ. Weshalb konnte die Lokomotive nicht Georg zermalmen? Dann hätte kein Mensch geweint, und dem Kinde wäre ebenso wohl gewesen wie der Stadt, die sich nun um dasselbe bekümmern mußte.

»Es ist zu schrecklich!« seufzte der Bürgermeister, als er am andern Morgen mit seiner Frau Kaffee trank. »Die Geschichte geht durch alle Zeitungen, und es wird heißen, die Stadt hätte nicht für den Jungen gesorgt! Nun ist die Mutter fort, und die städtischen Behörden müssen für den Bengel sorgen. Als wenn wir nicht Ausgaben genug hätten!«

Die Bürgermeisterin stimmte ihrem Manne natürlich bei und wollte gerade erzählen, daß sie vor einigen Tagen etwas so Schreckliches geträumt habe, als es an die Tür klopfte. Auf das »Herein!« des Bürgermeisters trat eine große und starke Frau ein. Sie war sehr einfach gekleidet und grüßte ziemlich höflich.

»Guten Morgen, Herr Bürgermeister! Kann ich wohl den Jungen mal sehen?«

»Welchen Jungen?« Der Bürgermeister konnte sehr würdevoll sprechen; aber sein Besuch schien diese Würde nicht zu bemerken.

»Na, Sie wissen schon, welchen Jungen ich meine! Seinen Namen kenne ich nicht; aber ich hab gestern gerade genug von ihm gehört, um mich furchtbar zu schämen. Solch Kind haben wir hier in unserer kleinen guten Stadt gehabt, und kein Mensch hat nach ihm gesehen? Seine Mutter, die keine Mutter ist – eine Person voll Sünde und Schande – und wir, die wir uns einbilden, fromm zu sein, die wir alle Sonntage in die Kirche laufen und uns was vorpredigen lassen – wir wissen, daß der Herr Jesus gesagt hat: »Lasset die Kindlein zu mir kommen,« und wir lassen dies Kind wie ein Tier herumlaufen?« – Die Frau war sehr erregt geworden, und der Bürgermeister sehr rot im Gesicht.

»Liebe Frau,« begann er, sie aber unterbrach ihn.

»Entschuldigen Sie, Herr Bürgermeister; ich bin keine Frau, nur die alte Jungfer Rüsch. Und ich handle mit Eiern und Grünwaren und Brot hinter der Kirche. Sie sollten mich kennen, Herr Bürgermeister; denn neulich haben Sie mich höher gesetzt in der Klassensteuer, was ich sehr unrecht finde, und ich will auch reklamieren. Aber der Gerichtsdiener ist ja mein Schwager, und der mußte ja gestern den armen Wurm mit nach Hause nehmen, und seine Frau, meine Schwester, hat versucht, ihn zu waschen und zu reinigen. Mein Schwager aber sagt, der müsse ein Jahr in Seifenwasser liegen, bis er rein würde!«

»Weshalb wollen Sie denn das Kind sehen, wenn Sie wissen, wie es aussieht?« fragte der Bürgermeister spitzig, und Jungfer Rüsch sah ihn treuherzig an.

»Nichts für ungut, Herr Bürgermeister; aber ich wollte den Jungen gern zu mir nehmen.«

»Gegen Kostgeld?« fragte der vorsichtige Stadtvater, und Jungfer Rüsch lachte.

»Nein, Herr, seien Sie man nicht so ängstlich! Viel einbringen tut mein Geschäft gerade nicht, und zu hoch in die Steuer bin ich auch gesetzt; aber solch'n Kindermund kann ich noch satt machen. Liebe Zeit – wie viele alte Jungfern halten sich nicht 'nen Hund oder 'nen Papagei – warum soll ich mir nicht 'nen Kind halten? Geben Sie den Jungen nur mir!«

»Er wird Ihnen Kummer machen!« warnte der Bürgermeister. »Seinen Vater kennt man nicht, und Sie wissen ja, wie die Mutter ist!«

Jungfer Rüsch zuckte die Achseln. »Herr Bürgermeister, verzeihen Sie, wenn ich nicht ordentlich sagen kann, was ich meine, denn gelernt hab ich man wenig, und wenn ich lese, lese ich immer die Bibel, wo von neumodischem Kram nichts drin steht. Aber ich meine, aus dem Jungen kann doch noch etwas werden. Der liebe Gott hat ihn ja offenbarlich behütet, und das glauben Sie mir man ganz ruhig, der liebe Gott versteht seinen Kram! Wir können keine Minute vorausdenken, und der liebe Gott denkt tausend Jahre voraus. Also geben Sie mir nur den Jungen!«

Und so kam es denn. Von Stadt wegen ward Georg der Jungfer Rüsch anvertraut, und der Kleine wußte zuerst nicht, was mit ihm vorging. Er durfte weder im Sande noch in den Steinkohlen liegen, er ward gewaschen und gekämmt, er bekam ordentliche Kleider, er lag in einem Bett, in dem er zuerst nicht schlafen konnte, weil es so ungewohnt war, und er bekam satt zu essen. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er sich an alle diese Neuheiten gewöhnte, und eine Zeitlang war er ebenso still und gleichgültig wie früher. Dann trat allmählich ein anderer Ausdruck in seine großen Augen; er fing an, sich umzusehen, er lachte sogar hin und wieder, und dann begann er zu sprechen, erst vorsichtig und leise, dann immer mehr, und als der Bürgermeister, von einer längeren Reise zurückgekommen, bei Jungfer Rüsch vorsprach, sah er überrascht auf einen schlanken, kräftigen Knaben, der ihm ernsthaft die Hand gab. – »Das ist doch nicht –« begann er, und Jungfer Rüsch nickte.

»Das ist er doch, Herr! Na, wir wollen den Tag nicht vorm Abend loben, aber ich meine, der Junge sieht besser aus!«

»Besser aus? Ich hätte ihn nicht wiedererkannt!« Und der Bürgermeister legte unwillkürlich seine Hand auf das blonde Haar des Knaben. Vor einem halben Jahr hätte er sich kaum träumen lassen, daß er freundlich mit dem verwahrlosesten Kinde der Stadt sprechen könnte; jetzt kam es ihm ganz natürlich vor, daß er ihn fragte: »Was willst du werden, Georg?«

»Ein guter Mann!« sagte das Kind schnell und deutlich, voll dem Herrn ins Gesicht sehend. Auf andere Fragen antwortete Georg noch nicht; seine Gedanken bewegten sich schwer von einem Gegenstand zum andern, und noch war es manchmal, als könne er nicht begreifen, daß es ihm jetzt gut gehe. Jungfer Rüsch ließ ihren Pflegling gewähren. Sie hatte mit ihrem kleinen Laden, mit ihrem Hause und Gärtchen zu tun und konnte nicht allzuviel Zeit sich mit Georg beschäftigen. Einmal am Tage erzählte sie ihm was vom lieben Gott, und der Junge hörte andächtig zu. Spielkameraden hatte er nicht; zuerst war er bange vor andern Kindern gewesen, nun machte er sich nichts aus ihnen und saß lieber mit einem Kätzchen im Arm, das er leise streichelte, oder er schnitt vorsichtig Figuren. Alles tat er langsam mit einem gewissen Ernst, und als er in die Schule kam, lernte er auch langsam. Aber der Lehrer lernte doch, sich auf den kleinen, ernsthaften Schüler verlassen, und er war schließlich immer ebensoweit wie die andern, welche wild und lustig in den Pausen spielten.

Jungfer Rüsch hatte Georg allmählich sehr liebgewonnen. Er war ihr nie eine Last, immer eine Freude gewesen, und wenn der große, kräftige Junge aus der Schule kam und ihr erzählte, was er nun alles lernen müsse, dann rieb sie sich die Hände.

»Nun, lieber Gott,« pflegte sie halblaut zu sagen, »ich weiß zwar, daß deine Wege ein bißchen anders gehen als meine, und daß alles noch anders kommen kann, als es jetzt ist; aber bis zum heutigen Tage ist es gut gewesen, daß ich mir damals den Jungen holte. Wenn er groß ist, kann er das Geschäft übernehmen – so wie es ist, wird's ihm wohl zu klein sein. – Na, ich will mal gefälligst lassen, immer in die Zukunft zu denken. Es kommt doch anders!«

Aber wir Menschen können einmal das Plänemachen nicht lassen, und als eines Tages Georgs Lehrer kam und die Jungfer Rüsch fragte, ob der Junge nicht Mathematik lernen sollte, klopfte das Herz der alten Jungfer in stolzer Freude.

»Ich will nicht sagen, daß Georg studieren soll!« bemerkte der Lehrer. »Aber er hat ein merkwürdiges Talent zum Rechnen, mag auch so gern mit Maschinen umgehen. Vielleicht kann er Maschinenbauer oder derartiges werden. Die beiden Jungen vom Bürgermeister und vom Pastor unterrichte ich auch privatim; mir wär's lieb, wenn Georg mitkäme!«

So kam Georg mit in die Privatstunde des Lehrers, und nicht lange, so liefen die Bürgermeisterssöhne Jungfer Rüsch das Haus ein, weil ihr Pflegesohn ihnen bei den Arbeiten helfen sollte, und bald ward Georg von den Eltern eingeladen und benahm sich so vernünftig und anständig, daß der Bürgermeister seinen Söhnen sagte, sie sollten sich ein Beispiel an Georg nehmen.

Eines Tages aber kam der Junge so verstört nach Hause, wie Jungfer Rüsch ihn noch nie so gesehen, und kaum setzte sie sich mit ihm zur Mittagsmahlzeit nieder, als er, das Tischgebet vergessend, sie anredete: »Tante, sage, ist es wahr? habe ich einen Menschen umgebracht?«

»Bete nur erst einmal!« sagte Jungfer Rüsch strenge, und gehorsam neigte der blonde Kopf sich über die gefalteten Hände, während die Lippen leise beteten.

»Wer hat dir das erzählt?« fragte Jungfer Rüsch möglichst ruhig, und Georg antwortete hastig:

»Sie sagen's alle. Die Jungens vom Bürgermeister, die vom Postdirektor – alle wissen's. Ein Bettelkind bin ich gewesen, ein Schmutzfinke; kein Mensch konnte mich anfassen. Gebettelt habe ich beim Bahnwärter, und auf den Schienen habe ich gesessen, als der Zug kam. Da hat der Mann mich fortgerissen, und die Lokomotive packte ihn. Ich aber, das elende Geschöpf, blieb am Leben!«

Es war selten, daß Georg so lange sprach! Jetzt atmete er tief auf: »Tante, nicht wahr, es ist gelogen?« Er sah so bittend zu der alten Jungfer herüber, daß dieser die Tränen in die Augen traten.

»Armer Kerl, die Geschichte ist wahr genug; aber was konntest du dafür? Du warst ein Kind von drei Jahren; jetzt bist du zwölf! Hast du denn nicht auch gelernt, daß ohne Gottes Willen kein Sperling vom Dache fällt?«

Er sah starr vor sich hin. »Meine Schuld war es, daß der Mann starb! Wo ist seine Frau?«

»Sie ist bald von hier fortgezogen. Damals ward für sie gesammelt, und sie hat sich später wieder verheiratet!« »Habe ich denn eigentlich gar keinen Vater und keine Mutter gehabt, die auf mich achtgaben?« fragte Georg plötzlich, und Jungfer Rüsch räusperte sich.

»Mein Junge, du mußt nicht nach allem fragen! Gib dich mit deiner Tante Rüsch zufrieden, und wenn du groß geworden bist, erzähle ich dir mal die ganze Geschichte!«

Aber Georg war von dem einmal gefaßten Entschluß nicht so schnell abzubringen.

»Bin ich denn niemandes Kind? Hat sich kein Mensch um mich bekümmert, als ich klein war?«

Jetzt ward Jungfer Rüsch böse. »Ei, so höre einer den Jungen an! Bin ich niemandes Kind? fragst du, und dabei hat der liebe Gott seine Augen über dir offengehalten Tag und Nacht! Dabei hat er dich vor aller Gefahr behütet und bewahrt, daß du ein großer, starker Junge geworden bist, der seiner alten Tante einmal Freude machen und nicht nach Sachen fragen soll, die er gar nicht versteht. Ob du niemandes Kind bist? Na, wenn wir jetzt beide nach oben in den Himmel hineinblicken könnten, würden wir den lieben Gott sehen, der den Kopf über dich schüttelt und denkt: Nun höre einer den Georg an! Den hab ich sein ganzes Leben lang nicht aus den Augen gelassen, und dann vergißt er mich so ohne weiteres!«

Jungfer Rüsch hatte sich in Hitze geredet, während Georg ihr aufmerksam zuhörte. Als die Alte nun noch etwas murmelte, daß Undank der Welt und auch des lieben Gottes Lohn sei, stand er auf und faßte Jungfer Rüsch um.

»Sei nicht böse, Tante; ich will niemals wieder undankbar gegen den lieben Gott sein! Wenn nur nicht« – er stockte; »wenn nur nicht der Mann meinetwegen hätte sterben müssen!«

Jungfer Rüsch war noch etwas aufgeregt. »Ja, liebes Kind; über den Mann denkst du nun nach, und dem Herrn Christo, der für uns alle gestorben, gönnst du keinen Gedanken! Wenn der Bahnwärter aber nichts von Jesu und von seinem Tod für uns gewußt hätte, würde er wohl kaum daran gedacht haben, sein Leben für dich hinzugeben. Und lernen sollst du daraus, daß auch du dein Leben hingibst für deine Freunde, wenn die Gelegenheit sich mal macht!«

Georg sah nachdenklich die eifrige alte Tante an; aber er sagte nichts. Erst allmählich mußte er ihre Worte überlegen und allmählich sich wieder beruhigen. Als er aber am andern Tage mit seinen Büchern in die Schule ging, blieb er unwillkürlich stehen und sah auf eine Gruppe von Bettelkindern, die im Rinnstein spielten; denn trotz der Eisenbahn und trotz des guten Bürgermeisters gab es immer noch Bettelkinder in der Stadt, und es schien, als wenn immer noch mehr auftauchten. Da waren z. B. die Kinder eines trunksüchtigen Arbeiters, welche allen Leuten lästig fielen, nur ihrem Vater nicht, der sich um sie nicht bekümmerte. Die Mutter war tot, und ihre drei kleinen Kinder wurden nur selten gewaschen und gekämmt, nur selten von ihrem Vater satt gemacht. Gewöhnlich bettelten sie hier und dort herum, und weil es drei possierliche kleine Dinger waren, bettelten sie selten vergeblich. Der älteste Junge hieß August, dann kamen Lise und Lene – alles schmutzige, kleine Geschöpfe von drei bis fünf Jahren, die mit ihrem Lose zufrieden schienen.

Georg kannte die Kinder natürlich sehr gut. Bis jetzt hatte er sie mit einem gewissen Hochmut angesehen; heute stand er still und sah ihnen zu, worauf August ihn aufforderte, ihm einen Pfennig zu schenken. Jungfer Rüsch gab ihrem Pflegling ein kleines Taschengeld, und Georg warf dem Bettler fünf Pfennige hin, dann ging er hastig weiter. Als er wieder aus der Schule kam, fand er die drei Kleinen draußen auf ihn wartend. August hatte sich für die fünf Pfennige Lakritzen getauft, und er und seine Schwesterchen schwatzten und kauten noch behaglich, verlangten aber stürmisch mehr. Diesmal bekamen sie nichts; aber hin und wieder schenkte Georg den Kleinen etwas, und immer, wenn er ihnen begegnete, sah er sie nachdenklich an – solch ein schmutziges Bettelkind war auch er gewesen. Er nahm es auch nicht übel, wenn August ihm durch ein paar Straßen nachlief, immer wieder um einen Pfennig bettelnd, und wenn die andern Jungen den Kleinen mal schlagen oder fortjagen wollten, ergriff Georg seine Partei: »Laßt ihn, er tut euch ja nichts. Was wollt ihr ihn schlagen?«

So kam es, daß August und seine Schwestern in dem festen Glauben aufwuchsen, Georg sei ihr natürlicher Beschützer. Wo er sich aufhielt, da waren auch sie bald zu finden, und wenn sie vor Jungfer Rüsch ihrer Tür erschienen, nahm diese sie wohl gelegentlich herein, gab ihnen etwas zu essen und wusch sie zum Schluß – eine Handlung, welche die Kleinen nicht besonders liebten, aber sich doch gefallen lassen mußten. –

Es war Winter geworden, und der Fluß hatte sich mit dickem Eise bedeckt. An einigen Stellen war die Bahn prachtvoll, und die Jungens tummelten sich fröhlich auf der glatten Fläche. Auch Georg benutzte jeden freien Augenblick zum Schlittschuhlaufen, und niemals sah er besser aus, als wenn er mit roten Wangen und blitzenden Augen vom Eise kam. Er ward auch wieder etwas vergnügter, nachdem er vorigen Sommer still und einsilbig gewesen, und Jungfer Rüsch sah ihm glücklich nach, wenn er nach der Schule mit den blanken Schlittschuhen davonlief. »Aus dem wird noch mal etwas Rechtes!« dachte sie, und viele Leute hatten dieselbe Ansicht, ja die, welche einstmal den Kopf geschüttelt über das Ende des Bahnwärters, meinten jetzt, der liebe Gott müsse Georg doch zu großen Dingen bestimmt haben.

Es war ein Sonnabendnachmittag im Februar. Die Sonne schien hell auf das blanke Eis des Flusses und auf alle Menschen, welche dort Schlittschuh liefen oder herumstanden. Da gab es Zelte auf dem Eise, wo man trinken konnte, eine Drehorgel spielte Tänze, und selbst das Ufer war mit Menschen bedeckt. Auch August hatte sich mit seinen kleinen Schwestern aufs Eis begeben. Er fand es sehr vergnüglich, sich überall, wo es ihm einfiel, mit Lene und Lise hinzustellen, den Finger in den Mund zu stecken und allen Leuten im Wege zu sein. Aus ein paar Püffen machten diese drei sich gar nichts; hier und dort warf jemand ihnen ein Stück Butterbrot hin, und das wog alle Püffe auf. So kamen sie schließlich an die Trinkbude, vor deren einen Seite eine Anzahl geleerter Flaschen standen, und August nahm jede und versuchte, ob noch ein wenig darin sei. Drei oder vier waren wirklich leer; in der fünften befand sich ein großer Rest, der natürlich aus Versehen fortgekommen war. August probierte einen tüchtigen Schluck. Es schmecke süß, wenn auch ein wenig scharf; Lene und Lise wollten auch ihr Teil haben, und in wenig Augenblicken hatten die drei Kleinen den wohlschmeckenden, aber sehr starken Likör gänzlich ausgetrunken. Zuerst wurden sie sehr heiß, dann schwindelig und müde, und da niemand auf die drei Kinder achtgab, so bemerkte auch keiner, daß sie erst ein bißchen sonderbar herumliefen und dann zwischen Fischernetzen und Stangen sich an dem Fleck niederkauerten, wo Warnungstafeln besagten, daß an diesen Stellen Löcher im Eise für den Fischfang geschlagen waren. Kein Mensch lief hier, und es war so still und friedlich, daß die Kleinen bald einschliefen. Lene und Lise hätten wohl die ganze Nacht durchgeschlafen. August aber wachte auf, als die Sonne unterging. Er wußte nicht, wo er war, fing an zu weinen und weckte dadurch seine beiden Schwestern, die in das Geschrei einstimmten. Dann liefen sie auf das junge, keine Nacht alte Eis, das nach einer Seite hin sich weit erstreckte, und alle drei heulten in allen Tonarten.

Die Schlittschuhbahn, die ziemlich weit entfernt lag, war leerer geworden, die wenigen aber, die sich noch dort fanden, hörten das Geschrei. Unter ihnen war Georg, der in großen Schritten angefahren kam, und als er August und seine Schwestern erkannte, ihnen laut zurief, sie sollten umkehren und zu ihm kommen. August aber hörte nicht, oder er war von dem starken Getränk noch verwirrt – gerade in der entgegengesetzten Richtung lief er fort, bis er an eine Stelle des Eises kam, die auch ihn nicht mehr trug. Ein Krachen – ein Schrei nach Georg – dann versank August im Wasser. Lene und Lise folgten ihm in weniger als einer Sekunde, während von der andern Seite Georg mit Windeseile näher kam. – – –

Als August wieder die Augen aufschlug, sah er eine Menge fremde Gesichter um sich her. Er steckte in wollenen Tüchern, und jemand hielt ihm ein warmes Getränk vor die Lippen. Aber er schüttelte den Kopf.

»Wo ist Georg?« fragte er ängstlich. Da ging es wie ein großes Aufschluchzen durch die Menschenmenge, und als der Kleine nun jämmerlich schreiend nach seinem Retter verlangte, da weinten viele Augen, die das Weinen verlernt, denn – Georg war ertrunken. August und seine Schwester Lene hatte er aufs Eis werfen können, dann mußten die Kräfte ihn verlassen haben; und er und die kleine Lise kamen niemals wieder zum Vorschein – auch nicht, als es Frühling ward, und der Strom mit mächtigen Wellen gegen das Ufer schlug, und Jungfer Rüsch, die jetzt so oft am Ufer stand und hineinblickte, konnte ihren Jungen doch nicht wiederfinden. Aber jedesmal, wenn sie ihr einsames Haus wieder betrat, schüttelte sie den Kopf und murmelte: »Es tut auch nichts, wenn ich ihn hier nicht wiederfinde; eines Tages kriege ich ihn doch wieder zu sehen, und dann erzählt er mir, was er gedacht, als er in das kalte Wasser sprang. Ja, lieber Gott, deine Wege sind unerforschlich!« Und die tapfere alte Jungfer verbiß sich die bittern Tränen. Nur einmal, als der Bürgermeister ihr ein großes Bild von Georg brachte, weinte sie bitterlich.

»Ich bin so stolz auf ihn gewesen, und nun kann ich gar nicht recht dankbar gegen den lieben Gott sein, daß er ihn mir so lange gelassen! Und ich mag August gar nicht sehen, und seine Schwester auch nicht!«

»Das haben Sie auch nicht nötig!« tröstete der Bürgermeister. »Die Kinder sind schon im Armenhause!«

»Im Armenhause?« Jungfer Rüsch trocknete ihre Augen. »Na, da werden sie es auch schlecht genug haben!« – Sie dachte einen Augenblick nach. »Schicken Sie mir man die kleine Lene! Ich will's mit ihr versuchen. Lieber Gott, ich hab mich nun einmal an Kinder gewöhnt, und damals, als die ganze Stadt wütend auf Georg war, nahm ich mich seiner an. Nun bin ich geradeso wie die andern Leute und will nichts von den armen Dingern wissen, und sie konnten doch nichts dafür, daß ihr Vater nicht aus sie paßte. Und Georg würde auch nicht wollen, daß ich mich nicht um die Kinder kümmerte! »Tante,« sagte er noch in diesem Winter, »sie sind geradesoviel, wie ich gewesen bin.« Ja, Herr Bürgermeister, schicken Sie mir nur das kleine Mädchen, und der Junge soll sie jeden Sonntag besuchen!«

Neulich hatte der Bürgermeister Besuch von einem Freunde, der es in der Welt weiter als er gebracht. Der war Oberbürgermeister einer großen Stadt und erzählte viel von Wasserleitungen, öffentlichen Gebäuden und elektrischem Licht. Er war mit Recht stolz auf seine Stadt, und als beide Herren miteinander am Flußufer spazierengingen, von dem man das Städtchen bequem übersehen konnte, vermochte er die spöttische Frage nicht zu unterdrücken, ob denn sein Freund sich niemals aus diesem kleinen Neste fortgesehnt habe? In diesem Augenblick kam eine alte Frau an den Herren vorbei, zwei ordentlich gekleidete Kinder an der Hand haltend, und der Bürgermeister zog den Hut so tief vor ihr, daß der andere ihn erstaunt anblickte. »Nein,« sagte unser Bürgermeister jetzt lächelnd, »ich habe kein elektrisches Licht, keine großen Bauten, keine Wasserleitung; aber ich habe Jungfer Rüsch, und früher hatte ich auch noch Georg; und wenn ich dir die Geschichte von beiden erzählt haben werde, wirst du zugeben, daß mein kleines Nest manchen Schatz birgt, der beim lieben Gott mehr Anklang findet, als selbst die größten Bauten!«

Am andern Morgen brauste der Zug fort von der kleinen Stadt. An einem Fenster des Eisenbahnwagens stand der Oberbürgermeister und blickte hinaus, bis er an der Stelle vorüber war, wo der Bahnwärter bei Georgs Rettung verunglückte. Dann setzte er sich und blickte auf den Fluß, der im Sonnenschein friedlich erglänzte. Am Ufer stand ein kleines weißes Kreuz. Das hatte die Stadt errichtet, und die Sonne schien hell auf den Namen. »Georg« stand dort geschrieben, so deutlich, daß der Herr in der Eisenbahn den Namen lesen konnte.

Aber eines Tages wird das Kreuz umfallen und der Name verlöschen, und niemand wird wissen, wer Georg war. Nur einer wird ihn niemals vergessen, denn er hat ihn in seine Hände gezeichnet.


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