Christoph Friedrich Nicolai
Vertraute Briefe von Adelheid B. an ihre Freundin Julie S.
Christoph Friedrich Nicolai

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Briefe der Adelheid B. an Julie S.

1.

Was sind wir für arme Leute, wir, die kein anderes bestimmtes und dringendes Geschäft haben, als unser Leben zu genießen! Wieviel schwerer wird es uns als andern, vernünftig zu bleiben; und das müssen wir doch schon, wäre es auch nur, damit wir auf die Dauer genießen können. Da möchte man beinahe auf die Vernunft ungehalten werden, daß sie oft unsern Genuß erstickt, wenn er die ganze Seele einnehmen wollte; doch überlegen wir's recht und sehen auf die Folgen, so finden wir, daß aus dem Genusse bald würde Ungenuß geworden sein und daß die beschwerliche Vernunft am Ende doch recht hat. Ich fühle es immer mehr: es ist keine geringe Last, bloß von sich selbst und von seiner Muße abhängig zu sein, ohne bestimmten Zweck. Wie viel glücklicher bist Du, liebe Julie! Du wirst am Bande Deines Hauswesens, Deiner Kinder, sogar Deiner Sorgen leicht und froh durchs Leben geführt. Ich selbst erinnere mich auch noch wohl, wieviel glücklicher ich war, als ich beständig bemüht sein konnte, meinen Mann glücklich zu sehen, als ich Sorge für meine Kinder, Angst wegen ihrer Krankheiten, aber auch Freude über ihre Gesundheit und über die Entwicklung ihrer kleinen Geisteskräfte hatte. Genug davon! Die Zeiten sind vorbei! Ich fühle, ich darf Gedanken dieser Art nicht denken.

Wir Müßiggänger sehen Weg auf Weg zum Vergnügen vor uns, wir haben die Wahl, welchen wir einschlagen wollen, und nicht selten die Qual, uns verirrt zu haben. Nichts sieht der großen Straße zum Vergnügen oft ähnlicher als der Pfad zur Reue. Ich habe dies nicht aus eigener Erfahrung, liebe Julie; denn meine gesunde Vernunft oder vielleicht nur ein bißchen Bedächtigkeit, welche man lernt, wenn's einem nicht immer nach Willen geht, haben mich vor Reue bewahrt. Aber an andern sehe ich täglich, wohin Hang zum Vergnügen führen kann, wenn man nichts als Vergnügen sucht. Ich mag daher den Müßiggang an andern nicht leiden, am wenigsten an denen, welche ich schätze, und ich selbst schaffe mir Arbeit, so gut ich kann. Das ist gewaltig philosophisch, sagst Du? Nein, Weibchen, gewaltig sinnlich, sollst Du wissen! Denn nichts führt mehr zum feinern Genusse und läßt ihn sicherer fortdauern als der Trieb zur Beschäftigung und der Sinn, daß unsere Beschäftigung andern zum Nutzen gereichen soll.

Deshalb gewinne ich meinen alten Obersten alle Tage lieber. Der Mann ist blessiert und kann nicht dienen. Er hat nichts zu tun und ist doch nie müßig. Er fährt fort, unseres Freundes W. Garten neu anzulegen, pflanzt und okuliert selbst. Er hat jetzt junge fähige Offiziere um sich versammelt, läßt sie unter seinen Augen zeichnen und gibt ihnen Unterricht in allen Teilen der Kriegskunst, welche er durch seine Belesenheit und aus der Erfahrung seiner eigenen Feldzüge erläutert.

Und mit welcher vollen Seele kann nun dieser Alte das Vergnügen genießen! Du kennst meinen kleinen gesellschaftlichen Zirkel. Er soll weder gelehrt noch witzig sein, und wenn Du willst, ist er doch beides, nur wird weder vom Witze noch von Gelehrsamkeit Profession gemacht. Er besteht aus Menschen von den verschiedensten Charakteren. An alle diese weiß sich unser fröhlicher Alter anzuschmiegen; denn er hat eine ganz eigne Art, nicht sich selbst zu zeigen, sondern andere in der Gesellschaft geltend zu machen, damit sie zur allgemeinen Unterhaltung beitragen. Er hat recht. Für sich und für die Gesellschaft ist es viel angenehmer zu genießen, als gelobt zu werden. Darum mag ich auch die vielen gelehrten und witzigen Zirkel nicht suchen, denen jetzt alles hier nachläuft. Da ist jeder besorgt, seine besten guten Einfälle, besonders aber seine besten erhabenen Gedanken, anzuziehen wie wir ehemals in großen Gesellschaften unsere bunten Lätze und breiten Fischbeinröcke. Das jetzige feierliche Wesen der neuesten deutschen Schöngeister soll genialisch sein und, Gott weiß es, ist mehrenteils so steif wie vor zehn oder zwanzig Jahren unsere Modetorheiten. So wird jetzt in solchen Gesellschaften das Exzentrische angezogen, als wäre es das Festkleid eines großen Genies. Einer lobt den andern, daß es ihn so original kleidet, und wenn er fertig ist, so stellt er sich hin, um wieder gepriesen zu werden. Das einmal oder zweimal anzusehen ist ganz lustig, öfter wird's herzlich langweilig.

 

2.

Mein Schwager Gustav ist seit vorgestern zurückgekommen. Mein Gott, wie hat sich der Mensch geändert in den sechs Jahren, da er abwesend war. Er brachte drei Jahre auf Universitäten zu, um Weisheit einzunehmen. Drei andere Jahre lang übte er seine Weisheit aus, wie ich höre; das heißt, er studierte darauf, wie die Welt durch ihn besser werden sollte; er schrieb an der gelehrten Zeitung des Ortes; er machte in dem Musenalmanache des Ortes seine Gedichte bekannt, worauf er nicht wenig hält, wie ich merke. Das alles mag ihn berühmt machen; liebenswürdiger ist er dadurch nicht geworden. Gustav war ein so guter Knabe, als ich meinen Mann heiratete, war auch ein so hübscher Junge, als er vor sechs Jahren die Schule verließ; nun ist er ein großer Philosoph, ein großer Dichter, ein großer Ich-weiß-nicht-was geworden. Das ging geschwind zu! Auch hast Du keinen Begriff, wie gelehrt der Mensch aussieht. Er hat noch dazu einen Freund mitgebracht, den Herrn von X., einen reichen Edelmann, der macht wieder auf andere Art eine verzweifelt gründliche Gestalt aus. Ich denke, gelehrt muß das Aussehen sein; wenigstens wie andere Menschen sehen beide Herren nicht aus.

Der Herr von X. ist hochblond und hat dabei ein ganz karmesinrotes Pausbackengesicht. Mein Schwager ist, wie Du weißt, brünett und ist wirklich blaß geworden vor lauter Gelehrsamkeit. Jener trägt seine Flachshaare gescheitelt bis auf seine sehr kurze Stirn, so daß sie ihm über die flachen, geschlitzten, grauen Augen hängen. An beiden Seiten liegen sie auf den Schultern, wo die Spießhaare gerade in die Quere abgeschnitten sind. Wenn er sich nun neigt (und das tut er zuweilen mit einer halb spöttischen, halb gnädigen Höflichkeit), so sieht man ein paar Millionen lange weiße Haare, aber kein Gesicht, wobei freilich eben nicht viel verlorengeht. Meinem trauten Herrn Schwager hingegen ist sein Gesicht mehr wert, denn der hat es von allen Hindernissen befreit, damit man es bar sehe. Er hat sein schönes kastanienbraunes Haar bis auf anderthalb Zoll rundherum vom Kopfe abgeschnitten. Es sträuben sich also die dichten Stoppeln aufwärts auf dem ganzen Scheitel in die Höhe, und so sieht er mit seinem blassen Gesichte und mit dem stieren gelehrten Blicke ungefähr aus wie Hamlet, da er den Geist erblickt. Kein Haar seines Antlitzes wächst unbeschnitten, außer von beiden Seiten ein fürchterlich langer Backenbart. Der wird wohl die Philosophie anzeigen, denn die soll sonst in den Bärten gesessen haben.

So sehr verschieden der Haarputz der beiden Herren ist, so kommen sie in ihrem übrigen Anzuge ganz überein. Ihre Kinne sind in ungeheuer dicke Halstücher bis an die Unterlefzen eingepackt. Beide tragen lange, weite Beinkleider bis auf die Knöchel, womit sie in allen Gesellschaften erscheinen, und beide sind in lange, schlotternde Röcke gehüllt, ohne allen Schnitt und mit fünf oder sechs metallenen Knöpfen beständig zugeknöpft, über welche der Saum des Tuchs ein paar Zoll breit überstehet. Alles das kömmt schnurgerade aus Paris.

Wie doch die Dinge in der Welt zusammenhängen! Die französischen Freiheitsheere kamen neulich nach Brabant und Holland, zerlumpt und barfuß. Sie machten also sogleich Requisitionen von mehreren tausend Röcken und Beinkleidern. Die wurden in der Eil ohne sonderlichen Schnitt und fein weit gemacht, und weil man nicht wußte, ob der Requisitionsrock über einen dünnen oder dicken Bauch passen sollte, so setzte man die Knöpfe um ein paar Zoll zurück, damit sie allenfalls nach vorwärts konnten gerückt werden, und machte so wenig Knöpfe als möglich, weil die ganze Requisition um Gottes Willen gegeben werden mußte. Den französischen Soldaten kamen die langen Beinkleider trefflich zustatten, als sie im Winter Holland einnahmen; und wer ein Schnupftuch hatte, band es sich ums Kinn, zum Schutze vor dem schneidenden Winde. Die Pariser Modenarren, welche mit weniger Mühe in der Komödie und auf dem Boulevard bravtun wollten, kleideten sich ebenso wie die halbgefrornen Helden, welche scharf wie der Nordwind, der sie über das Eis trug, den armen Holländern Freiheit und Gleichheit ins Gesicht bliesen. Vom Pariser Boulevard kamen diese Kleidungen als Mode nach Deutschland. Wir Deutschen machen alles nach und meist schief. Es sieht possierlich genug aus, wenn man Domherren aus deutschen hohen Stiften des Morgens herumlaufen sieht, gekleidet, als wäre ihnen ihr Anzug durch Requisition ihrer Feinde, der Franzosen, geliefert worden. Und daß junge deutsche Gelehrte sich sogar in Gesellschaft hinstellen, angeputzt, als wären sie französische Schildwachen, sieht wahrlich nicht weise aus. Doch scheint es mir beinahe, die Herren brauchen die fremde Kleidung ebenso wie ihre fremde Weisheit, um bemerkt zu werden; und das möchte ihnen wohl gelingen, ob eben mit Beifalle, weiß ich nicht.

Wenigstens ihre Gespräche bei ihrem kurzen Besuche haben mich nicht sehr erbauet. Die Menschen gehaben sich, als kämen sie aus einer andern Welt. Sonderlich der allerliebste gnädige Herr mit den fallenden weißen Haarbüschen läßt fast bei jedem Worte seine Verwunderung blicken, daß D. so ist, wie es ist. Es verdrießt mich nur um meinen Schwager. Er war sonst ein so natürlicher, guter Mensch, der andern gern Freude machte, und jetzt ist er so voll Dünkel! Irre ich mich? Haben mich der Schwedenkopf und das dicke Halstuch gegen seine guten Eigenschaften gleichgültig gemacht? Adelheid, das wäre albern, wenn du so urteilen könntest!

Und doch wollte ich lieber ein paar Tage lang albern gewesen sein und mich in Gustav geirrt haben.

 

3.

Nun habe ich unsere beiden Ankömmlinge auch in Gesellschaft gesehen. Noch kann ich mein Urteil nicht ändern, liebe Julie! Wahrlich, sie sehen noch aus wie gelehrte Wundertiere. Du kennst den angenehmen Zirkel der Teegesellschaften im K.schen Hause. Man findet da eine Versammlung von kultivierten Menschen beiderlei Geschlechts aus allen Ständen. Man kommt, man geht, wenn man will, man geht auf und ab, man musizieret, die Jugend tanzt zuweilen eine Stunde lang, man lieset auch wohl und setzt sich in einen vertrauten Zirkel, um über das Gelesene zu schwatzen. Die Unterhaltung ist so interessant als mannigfaltig, unter Personen, die Weltkenntnis haben und denen weder Witz noch Empfindung fremd sind. Die beiden Ankömmlinge wurden von der Hausfrau und ihrer angenehmen Schwester mit der ungezwungenen Höflichkeit empfangen, welche einen Fremden so bald einheimisch in diesem Hause machen kann. Du glaubst nicht, wie links sich die beiden Herren in Rocksäcken und Schifferhosen zu allem anstellten, besonders der Flachskopf, der sich, wie ich merke, für besonders wichtig hält. Verschiedene Herren und Damen suchten die Konversation auf verschiedene Weise anzuknüpfen, aber sie fiel immer wieder nieder. Gedanken zu wechseln muß wohl nicht können gelernt werden, wo sie ihre Weisheit geholt haben. Sie wurden bald stumm und ließen nur zuweilen ein bedeutendes Lächeln spüren, wenn jemand etwas sagte, was ihnen nicht gefiel. Endlich kam es, ich weiß nicht, wie, daß die Herren selbst zu reden anfingen, um die Gesellschaft zu belehren. Da entwickelte sich die Schulweisheit; die Seltsamkeiten und schneidenden Urteile kamen Schlag auf Schlag. Der Herr von X. sprach am meisten, mein Schwager half ihm nur zuweilen ein. Sein Sermon ging darauf hinaus, daß nichts in der Welt so wäre, wie es sein sollte, daß er alles besser wüßte, daß er die verständigsten Leute übersähe, daß niemand wahre Weisheit so kennte und einen solchen Sinn für hohe Geistesschönheit hätte wie er und daß er das arme Deutschland bedauerte, welches das nicht werden will, wozu es sein tiefes Nachdenken machen könnte und wollte. Und das sagte er alles mit einer Zuversicht, als wäre er allein da.

Kein Mädchen, das noch in den Zehnen ist, DieEngländer nennen ein munteres Mädchen vom zehnten bis neunzehnten Jahre Miss in her teens. sieht die Welt so weit um sich liegen, ist so sehr über alles weg als ein solches deutsches gelehrtes Fohlen in den Zwanzigern. Ich habe doch auch junge Franzosen und Engländer gesehen, die eben von der Universität kamen; aber sie waren nicht so weise und so hölzern zugleich wie dies junge deutsche Volk, wenn es in Gesellschaft rechtlicher Leute litt. Es scheint wohl, es müssen in Deutschland einige Weisheitslehrer ihren Zöglingen den Menschenverstand verschneiden, wie wir unsern Möpschen die Ohren. – Ich habe schon manchmal gefragt, warum man den Möpsen die Ohren verschneidet. Man wußte nichts zu antworten als: damit sie wie Möpse aussähen!

 

4.

Mein Schwager hat sich nun ein paarmal mit mir allein unterhalten; ohne seiner gelehrten Freund. Da kam er mir viel leidlicher vor in Betragen und Konversation. Seine vorigen guten Eigenschaften haben sich nicht verloren, sondern in den sechs Jahren noch mehr entwickelt. Er weiss viel, das sehe ich wohl, denn er lässt es merken; nur weiß er freilich noch nicht, wie er sein Wissen anwenden soll. Wenn er das lernen könnte!

Er besitzt viel Scharfsinn, hat eine lebhafte Imagination und feines Gefühl für schöne Literatur und auch für das Wohl anderer Menschen. Wer dafür noch Sinn hat, an dem ist nicht alle Hoffnung verloren. Gustavs gute Eigenschaften sind nur durch seine Schulweisheit in Schatten gesetzt. Durch nichts als dadurch kann er in den entscheidenden Ton geraten sein und in den Dünkel, als wisse er im voraus schon alles ganz sicher.

Weil nun die jungen Leute glauben, alles besser zu wissen als andere Leute, so verachten sie alles neben sich, ehe sie es kennenlernen, und werdet dadurch in Gesellschaft unerträglich. Sie nehmen Extravaganz und Exzentrizität für Größe; die zeigt sich besonders an dem lieben Herrn von X. Jene zu erlangen ward ihm freilich leichter als dies. Er gibt sich das Ansehen, als wäre er ein außerordentlicher Mensch, den die Welt nicht mit gemeinen Augen ansehn und der auch nach nicht gemeinen Regeln müsse beurteilt werden; und diese Regeln macht er selbst. Bei solchen gelehrten Herren ist aber der Sinn für ihre hohe Weisheit und ihr Sinn für das überschwengliche Schöne schwerlich etwas anders als barer, klarer Egoismus. Sie betrachten sich im Spiegel ihres eigenen Dünkels und sagen zu sich selbst: Wie weise, wie hochgelehrt, wie schön bist du! Auch Gustav stimmt ziemlich in diesen Ton, welcher wohl auf der hohen Schule, woher sie kommen, der Modeton sein mag. Aber sein Charakter ist nicht geschminkt, und er ist nicht ein determinierter Egoist wie X. Daher habe ich von ihm gute Hoffnung; laß ihn nur erst den Wert des Gedankenwechsels recht begreifen Er ist nicht unfähig, wie ich merke, anderer Gedanken aufzunehmen, aber er weiß noch nicht, wie, und mag noch nicht. Das junge gelehrte Volk kennt nur solche Menschen, die so sind wie sie selbst, und sieht nur sich selbst, wenn es auch andere Menschen sieht. Der Umgang ist vergeblich für sie; denn sie stehen in der besten Gesellschaft ganz allein und lernen also nichts darin, wenn sie auch noch so lehrreich wäre.

Gustav geht mich so nahe an, daß ich ihm gern zu verstehen geben möchte, wo es seiner Weisheit fehlt, die er immer vor sich trägt wie eine Fackel, gerade als schiene die Sonne nicht. Aber da weiß ich nicht, wie es ihm auf eine gute Art deutlich zu machen wäre. Unsere deutsche Sprache ist so reich an eigenen Wörtern, wenn sie philosophische Spitzfindigkeiten abzirkeln soll. Woher ich das weiß? Meinst Du, es sei was Geringes, einen Philosophen in der Familie zu haben? Gustav ist dreimal ein paar Stunden bei mir gewesen. Das waren ebensoviel Lehrstunden. Da habe ich eine Menge neue Wörter begriffen, von einer Weisheit, deren Verdienst zum Teile in neuen Wörtern besteht. Denn wenn ich etwas nicht recht fasse, so bringt Gustav ein neues recht krauses Wort hervor, sieht mir mit seinen großen schwarzen Augen recht ins Antlitz und legt den Finger an die Stirn; und dann sieht er so weise aus, daß sein ganzes hübsches Gesicht dadurch entstellt wird. Nun wollte ich ihm gern höflich zu verstehen geben, daß man sich dumm behaben und ausdrücken kann, ohne dumm zu sein oder etwas Dummes zu sagen. Aber da ist unsere deutsche Sprache zu arm, um die Nuancen der Sitten und des Umganges und der Konversation zu verstehn zu geben. Doch er gab mir selbst Gelegenheit, es zu sagen; denn er belehrte mich, daß die Menschheit perfectible wäre, wie er's nannte; und daß man daher sogar die Menschen zwingen dürfte, in die bürgerliche Gesellschaft zu treten, weil sie nur darin sich entwickeln könnten. Ich sagte ihm lächelnd: die Entwickelung der Geisteskräfte und guten Eigenschaften ginge viel langsamer vonstatten, wenn jemand avantageux würde. Stelle Dir vor, der Mensch verstand nicht, was ich mit avantageux sagen wollte, und hat doch große Bücher aus dem Französischen übersetzt, und ich hatte doch sein perfectible verstanden. Ich wußte nicht, wie ich mich erklären sollte; denn ich wollte doch nicht unhöflich werden. Die Franzosen wissen mit diesem einzigen Worte einen beschwerlichen eingebildeten Toren so fein zu bezeichnen. Aber »eingebildeter Tor« ist wenigstens in Worten zu stark, wenn auch nicht in der Sache; und ebenso ist's mit »ruhmredig« und »sich wichtigmachend«. Und doch muß man alles das von unsern unausgekrochenen gelehrten Püppchen denken, die sich in ihrer Larvenhaut krümmen und weder ihre Augen noch ihre Flügel schon brauchen können. Sie nehmen sich viel heraus und wissen nur zu nehmen, nicht zu geben, wenn sie uns ihre Weisheit ausspenden wollen.

Am Ende mußte ich mich doch erklären, so gelinde als möglich. Er ward rot und meinte: beschwerlich wollte er nicht werden. »Verzeihen Sie«, sagte ich ganz offenherzig, »das Beschwerliche ist so schlimm noch nicht. Dies bezieht sich nur auf andere; aber das Anmaßende ist schlimmer. Es kommt aus allzuviel Einbildung und diese wieder aus Mangel der Selbstkenntnis und wird Sie und Ihren langhaarigen Freund hindern, Ihre guten Eigenschaften zu entwickeln und neue zu erwerben. Die Welt ist so groß, und die Menschheit ist so perfectible; Sie haben es ja selbst gesagt; um so mehr muß es jedes kleine einzelne Ich sein. Es ist sehr leicht auszusprechen, wie Welt und Menschen sein sollen. Das kostet mehr nichts als irgendeinen allgemeinen Satz; der ist bald auswendig gelernt. Aber der Wortweise, der mit dem allgemeinen Satze, den er sich eingeprägt hat, glaubt, alles ausrichten zu können, vergißt oft nachzudenken, wie er selbst unter Menschen sein sollte; denn die menschliche Gesellschaft kann nicht gerade auf ebendem Flecke stehen, wohin sie das kleine Ich irgendeines Schulweisen setzen will.«

Es ward noch mehr darüber gesprochen, und vielleicht nicht ganz ohne Nutzen. Könnte Gustav nur ein halbes Jahr lang sich den festsetzenden, absprechenden Ton abgewöhnen; könnte er nur erst den Sinn anderer fassen und Gedanken wechseln: so würde er ein ganz anderer Mensch werden. Gute Konversation ist wie ein Konzert, wo jede Stimme die andere unterstützt zur gemeinsamen Wirkung; die belehrende Schulweisheit aber ist wie ein Hifthorn, das allein tönet, etwa, um ein Signal zu geben, daß der Raub in der Falle ist; denn jeden durch Argumente herunterzudisputieren, ist bei der Schulweisheit die Hauptsache. Meinst Du nicht, daß man die schulgelehrten Doktoren in ihre Schulen einschließen sollte, damit sie Argumente für uns machten, so wie man die Mönche in den Klöstern füttert, damit sie für uns beten? Wenn aber die Doktoren aus der Schule und die Mönche aus dem Kloster gehen wollen, um das menschliche Leben nach ihrem Sinne zu formen, machen sie sich lächerlich, wenn's nicht gelingt. Wir brauchen im menschlichen Leben Weltkenntnis und Menschenverstand und gesunde Vernunft und Fleiß und Geduld und Ausdauer und Wohlwollen und sittliche Neigungen; ohne dieses alles helfen uns die Schulargumente so wenig als das Gebet.

Gustav interessiert mich, sonst würde ich nicht so viel an Schulweisheit denken. Er erinnert mich an einen Mann, der mir so nahe war, der mir anfänglich so manche Träne kostete und zuletzt für mich so vielen Wert hatte. Gustav zeigte von seiner Jugend an so viel Gutherzigkeit und feinen Sinn, so viel Aufrichtigkeit und Festigkeit im Charakter, daß ich gewiß glaube, er wird noch vom Dünkel seiner Schulweisheit zurückkommen und wird sich selbst und andere kennenlernen. Weißt Du, was? Ich denke, er wird sich zu seiner Zeit noch wohl verlieben. Geschieht dieses, so wird er werden, was er werden kann.

 

5.

Sobald wird Gustavs Selbstkenntnis noch nicht kommen, wie ich neulich hoffte. Durch die Festigkeit seines Charakters wird schnelle Änderung gehindert. Auch die Liebe wird ihn wenig bessern.

Die beiden jungen Herren sind unzertrennlich. Sie wohnen zusammen, sie philosophieren zusammen. Ich habe schon oft gemerkt: wer sich unter den Männern recht derb unterscheidet, findet Nachfolger. Die beiden gelehrten Sonderlinge fangen an, Aufsehen zu machen, freilich nur unter solchen, welche selbst gern Sonderlinge sein möchten. Unsere Pflastertreter lassen sich schon die Haare stutzen oder lassen sie über die Schultern hängen, und das gelehrte Entscheiden ist seit einigen Monaten Ton geworden.

Auch unsere gelehrten Koketten merken auf die Ankömmlinge. Unter diesen steht obenan die Frau von C. Ich muß sie Dir beschreiben. Sie ist jung, schön, reich, lieset viel, tanzt wie ein Engel, hat auch Witz und viel Talente, aber doch hat sie noch mehr Koketterie.

Ich habe irgendwo gelesen, daß Koketterie durch Gefallsucht ist übersetzt worden. Das Wort ist mir lieber als das französische, auch darum, weil es so nahe an Fallsucht grenzt: denn wenn den Weibern, welche die Sucht haben, jedermann gefallen zu wollen, ihr Zweck bei einem nicht gelingt, geht die Erschütterung nahe bei Epilepsie her. Die ganze Seele der Frau von C. ist also voll Gefallsucht. Gefallen ist ihr Zweck, die Liebe ist ihr nur Mittel. Sie macht ihr Haus zu einem Sammelplatze feiner Gesellschaft, damit sie darin glänzen kann. Sie hat immer die Anbeter zu halben Dutzenden um sich, die sich vertragen mögen, so gut sie können. Sieht sie einen jungen Mann, der sich auf irgendeine Art auszeichnet, so ruht sie nicht eher, bis er an ihrem Triumphwagen zieht. Sie bietet alles auf, um ihn sich eigen zu machen: Schönheit, Talente, unschuldige Gefälligkeiten; und so führt sie den unerfahrnen Jüngling bis dahin, daß er sterblich verliebt wird und ohne sie nicht leben kann. Sie aber bleibt kalt; oder wird sie ja von einer Empfindung hingerissen, so ist's nie Herzensliebe, sondern eine, die eine hübsche Frau ablegen kann wie einen Rock, der ihr nicht mehr gefällt. Ihre Liebesbezeugungen bestehen in Phrasen. Sie ist immer in der großen Liebe, in der großen Empfindung, in der großen Entzückung. Das trifft auf die Jünglinge, welche noch nicht wissen, daß die größten Bewegungen des menschlichen Herzens tief liegen und geringscheinende äußerliche Zeichen haben, nur den Mitempfindenden merkbar. Die guten Jungen glauben, innig geliebt zu sein. Von Liebe ist aber gar nicht die Rede, sondern von Eitelkeit; denn Frau von C. liebt nur sich. Was sie Liebe nennt, besteht nur in einem Wechsel von zärtlichen Worten, von feinen Schmeicheleien.

In diese Frau hat sich Gustav nun vergafft. Er ist fast täglich bei ihr; er hängt an ihren Blicken, wenn er mit ihr in Gesellschaft ist. Sie hingegen unterscheidet ihn von allen ihren Anbetern, sogar von dem langhaarigen Herrn von X. Darüber mache ich ihrer Unterscheidungskraft ein Kompliment, aber auch der Frauenkenntnis des Herrn von X. Er ward gefangen wie die andern – aber es scheint, er übersah das Ding und trat schnell ab. Das mag sie insgeheim gedemütigt haben, denn auch ein unbedeutender Liebhaber ist ihr nicht zu missen, noch weniger, wenn er einiges Aufsehen in der Stadt macht.

Ob mir's lieb ist, daß Gustav in das Netz dieser schönen Jünglingsfängerin geht? Alles wohl überlegt: ja. Wechselt er auch nur witzige Schmeicheleien, so ist's doch ein Anfang vom Gedankenwechsel. Er muß doch aus seinem Ich herausgehen, worin er so fest steckt. Will er gefallen, so muß er von seiner unweisen Weisheit nachlassen. Meinst Du nicht? Es ist ein stolzes Geschlecht, das Männergeschlecht! Das fühlt sich so erhaben, so weise, so übermächtig, so sich selbst genug. Wir Weiber haben unser ganzes gutes Herz nötig, um die Männer so zu lenken, daß sie erträglich werden. Aber wenn vollends das Männerwesen in solche Kreaturen kommt, die noch nicht Männer sind, so werden sie verzweifelte Mißgeschöpfe, herrisch, ohne Herren zu sein, weise ohne Weisheit; und das bißchen, was sie davon haben, sitzt ihnen wie unsern beiden Jünglingen der Haarschnitt: es ist immer etwas zu kurz oder zu lang daran. Die Frau von C. soll unsern Gustav schon zu Paaren treiben. Seine Zeit wird kommen. Sie findet bald wieder einen neuen Liebhaber, der herangezogen werden muß, und mein guter Gustav wird sich wundern, unter den großen Haufen verstoßen zu sein, und wird mit offenen Augen nicht wissen, was er sieht. Oder fast hoffe ich noch etwas Besseres. Die Wahrheit seines eigenen Charakters wird machen, daß er das Geschminkte des ihrigen einsieht, und das wird für ihn ein wichtiges Notabene sein. Aber wenn es ihn nicht zur Selbstkenntnis führte? Wenn er nicht endlich merkte, daß alles seiner eigenen Unkunde zuzuschreiben war? Wenn er auch zuletzt noch glaubte, er wäre ein verständiger Mensch, weil er immer so viel von Verstand und Vernunft spricht? Das wäre schlimm für ihn. Wir wollen das Beste hoffen.

 

6.

Ich glaube fast, die Frau von C. verdirbt unsern Gustav noch mehr. Sie hört sehr geduldig seine Philosophie an und besonders seine hohe Ästhetik – so nennt er das Ding, womit er über den Wert der Maler und Dichter entscheidet und uns belehrt, was uns ausschließend gefallen soll und sonst nichts – bei Strafe, ihm zu mißfallen. Er ist nämlich sehr emsig dabei zu beweisen: das, was uns immer gefallen hat und noch gefällt, solle uns nicht gefallen, und was uns nicht gefällt (nämlich neue, recht krause Gedichte, die er von seiner hohen Schule mitgebracht hat und die nun so so sind), das solle uns gefallen. Mich erinnert das an Thomas Diaforius (auch so ein Schulgelehrter), der sagte: »Die Leber war sonst rechts und das Herz links, aber wir haben das geändert.« Mit solchen Änderungen haben sie an Universitäten immer ihr Wesen getrieben.

Das Weibchen hat bei ihrer Schmeichelei doppelte Absicht, das merkt man wohl. Denn sie erfährt ganz bequem, womit man auf neue, gelehrte Art jetzt glänzen kann, und macht sich durch ihre Gefälligkeit den armen Gustav ganz zu eigen. Er betet sie an wie eine Göttin in leiblicher Gestalt. Du glaubst auch nicht, wie schön dem niedlichen Gesichtchen die hohe Philosophie steht, worin sie sich wirft. Sie spricht vom Wissen, Meinen und Dafürhalten und vom Sollen und Dürfen und von Achtung fürs Gesetz, als wären's kleine Pastetchen.

Ich war neulich in der Konversation bei der Frau von Q. Die ganze Welt war da, auch der Herr von X. in langen Haaren und langen Hosen, und Gustav führte die Frau v. C., das versteht sich. Wahrhaftig, das Gesichtchen ist niedlich! Sie hatte einen Kaftan an und darunter einen blaßgelben Rock, einen Pouff à la Bertin und dazu einen hohen Esprit.Ein Kaftan ist ein offenes Kleid, ein Pouff eine Art von Busenkragen, Esprit eine Kopffeder von Reiher- oder andern feinen Federn. Dies zusammen sah mir aus wie Prätension zur Philosophie. Auch blickten alle auf das Weibchen. Kaum hatte man sich gesetzt, so wußten sich die beiden Herren bald der Rede zu bemächtigen, und alles war lauter Ohr; denn was konnte man anders als hören, wo so geläufig gesprochen wurde! Da kam recht vieles vor vom Schönen und von Dichtern und von der Griechheit und daß unsere Dichter griechisch sein sollten und daß kaum ein paar recht griechisch wären, und die andern alle wären soviel als nichts. Das war preislich anzuhören. Die kleine C. sprach wenig dazu. Es mochte ihr leid tun, daß sie kein griechisches Kleid angezogen hatte. Darauf kamen die Herren immer höher und bis zur Philosophie. Da ging's denn auf die reine Moral und wie es mit der Pflicht beschaffen wäre. Da fächerte sich Frau von C. und sprach fleißig mit, so gründlich, daß ich oft kein Wort verstand; aber hübsch war es. Es wollten einige etwas einwenden, und es war die Rede davon, daß edle Herzen durch moralische Gesinnungen beglückt würden. Da fuhren alle drei auf: dies wäre nichts, und kein Mensch verstände den Sinn der Moral als sie drei. Es tat mir recht weh, daß Gustav immer die Achsel zuckte und die ausgebreitete Hand aufhob, sobald jemand ein Wort dazwischensprach, als wäre etwas sehr Einfältiges gesagt worden; und was er vorbrachte, war doch nicht sehr gescheit: wenigstens deutlich war es nicht. Endlich ward mir's zu lang, und ich sah auch, daß einige gähnten; so wollte ich mein Wort dazugeben, um die Leutchen zu erinnern, daß sie nicht bloß allein unter sich reden möchten, andern zur Langenweile. Ich sagte also, ich hielte für die erste Pflicht in der Gesellschaft, darauf zu achten, wie andern zumute wäre, und Freude um sich zu verbreiten, damit man sich an der Zufriedenheit anderer ergötzen könnte, und das schiene mir die beste gesellschaftliche Moral zu sein. Ich dachte wunder, wie ich das zur rechten Stunde gesagt hatte; aber ein böser Geist mußte mir es eingegeben haben. Denn alle drei redeten auf mich ein, um mich zu widerlegen, und der Herr von X., der die vernehmlichste Stimme hat, pflanzte sich gerade vor mir hin und sagte mit einem so tiefen Bücklinge, daß ihm seine Haare über den Mund hingen: »Ich bitte sehr um Vergebung! Dergleichen Handlung, so pflichtmäßig, so liebenswürdig sie auch ist, hat dennoch keinen wahren sittlichen Wert. Sie ist nicht mehr wert als z.B. die Neigung nach Ehre. Diese, wenn sie glücklicherweise gemeinnützig und pflichtmäßig, mithin ehrenwert ist, verdient Lob und Aufmunterung, aber nicht Hochschätzung.«

Du merkst, er sprach wie ein Buch.Der Herr von X. muß wirklich ein so gutes Gedächtnis haben, daß er Lob und Aufmunterung verdient hätte; denn es findet sich, daß er die Stelle aus des berühmten Kants »Methaphysik der Sitten« wörtlich behalten und hergesaget hat. Sie steht daselbst S. 10. Es wäre besser gewesen, ich hätte ihn nicht gereizt. Indes faßte ich Mut, da ich mich einmal eingelassen hatte, und sagte: »Diese Philosophie ist mir zu hoch. Kann etwas Lob und Aufmunterung verdienen, was nicht verdient, hochgeschätzt zu werden? Kann etwas gemeinnützig und pflichtmäßig und ehrenwert sein und nicht einmal Hochschätzung verdienen? Kann etwas pflichtmäßig sein, ohne wahren sittlichen Wert? Ich danke Gott, wenn ich zeitlebens pflichtmäßig handele, sonderlich wenn noch dazu andern Freude dadurch erweckt wird.«

»Das ist nicht genug«, rief Herr von X. aus und setzte den Finger auf die Nasenspitze; und nun bewies er mir ich weiß nicht was. Frau von C. spiegelte sich in ihrem Zahnstocherbüchschen, Gustav wischte sich den Schweiß von der Stirn; ich, um der Sache ein Ende zu machen, sagte: »Daran habe ich nicht gedacht; Sie haben recht.« Damit schien die ganze Gesellschaft wohl zufrieden, denn alles stand auf, und die gelehrte Unterhaltung war zu Ende.

Es ist doch erstaunlich, daß Leute, die weise sein wollen, immer nur an sich selbst denken; darüber werden sie einseitig und rechthaberisch! Sie stehen immer im Unverhältnisse mit allen andern Sterblichen, einsam in allen Gesellschaften, ausgenommen, wo sie die Gesellschaft ausmachen. Da ist sodann des Perorierens kein Ende; denn konversieren können sie nicht, höchstens disputieren. Wehe allen Zuhörern, wenn das einmal losbricht! Und worüber disputiert das Völkchen? Über ihre spekulative Philosophie! – sprich das Wort recht langsam aus und sonor! Ein großes Wort, als spräche man ein Todesurteil, wogegen nichts gilt. Es ist auch mit der Spekulation wie mit dem Tode: unendlich viel Wege gehen dahin. Zum Leben führt nur ein Weg und zur echten Lebensweisheit nur gesunde Vernunft und Erfahrung, zwei Wege, die sich vereinigen. Freude, Schmerzen und wieder Freude bringt uns ins Leben; durch Dulden, Entsagen, Frohsinn, Wohlwollen und Genuß führt uns die gesunde Vernunft an einem seidenen Faden auf dem Lebenswege. Die Spekulation will uns das Warum des Darums lehren und zeigt uns immer ein neues Warum unseres Darums, das nicht das rechte Darum ist; aber mit alledem wird unser Geist weder weise noch lebendig. Ich prüfe einen Menschen, der sich seiner Weisheit rühmt, ob er für seine Nebenmenschen etwas empfindet, oder vielmehr, ob er etwas für sie tut. Ist dies nicht, so besteht seine Weisheit bloß aus schönen, dunkeln Worten, und wenn sie auch noch so zierlich zusammengeschnürt wäre. Denn das Systemwesen unserer deutschen Jünglinge, womit sie sich so überweise dünken, kommt mir vor wie die Schnüre, die wir um unsere Kartons legen, daß sie nicht aufgehen sollen. Ob etwas und was im Karton ist, kümmert die deutschen Schnürer nicht; sie sind selig, wenn sie nur recht fest zusammenzuschnüren wissen.

Das habe ich gemerkt, als mich Gustav den Tag nach der Konversation besuchte und ich ihm halb im Scherze etwas darüber sagte, daß Meinungen Meinungen wären und daß ein junger Mensch nicht sollte belehren wollen, sonderlich in vermischter Gesellschaft. Da erfuhr ich, daß er nichts meinte, sondern daß er alles wisse, und allerhand schöne Sachen mehr. Zwei Glockenstunden lang hörte ich zu, und er sagte das alles so wohlzufrieden mit sich selbst, so unbefangen und sicher, daß ich schloß, Schwager Gustav könnte wohl ein tüchtiger Tor werden, wenn er bei dieser Weisheit bleibt. Aber abgesehen davon, liebe ich den Jungen; denn er ist bei all seinem Starrsinne so gut, so herzlich, so natürlich. Er ist dabei so ganz in sich vertieft, ist mit seinem Wissen so ganz vollkommen zufrieden, glaubt so naiv, daß er und die so denken wie er ganz allein klug sind! Wenn er's mir einmal wieder so bunt macht, wird mir die Geduld vergehen, und dann werfe ich ihm die Wahrheit ganz trocken ins Gesicht.– Weißt Du wohl, daß ich auch böse werden kann?

 

7.

Frau von C. hat seit einem Monate in ihrem Hause jeden Freitag einen wöchentlichen Witzmarkt angesetzt, wo Schöngeisterei verhandelt und eingetauscht wird. Gustav ist mir immer noch gut, und so hat er mich bei der Frau von C. am vorigen Freitage eingeführt; denn er möchte mich gern eingeweihet sehen in die geheiligten Gebräuche der Göttin Eitelkeit. Wer da war? Zählt man im Augustmonate die Fliegen, die um eine Mustorte schwärmen?

Die Frauen waren der unbedeutendere Teil der Gesellschaft. Die kleine Hexe, die C., kennt sich nicht genug. Sie will bei sich nur weibliche Gesichter haben, welche an Schönheit und an Witz weit unter ihr stehen. Mag sein! Aber sie hätte noch viel bessere Weiber zu Mitgliedern ihres bureau d'esprit machen können als die Originale, die sie zu Schatten gewählt hat, um im höhern Lichte zu erscheinen. Sie hat ja nun sogar Deine ergebenste Dienerin gebeten, ohne daß sie verloren hat. Ich tue ihr keinen Eintrag, weder durch Schönheit noch durch Witz. Ich bin nur glatt, nicht glänzend.

Um ein paar der merkwürdigsten zu nennen, so daß obenan die Frau N., von etwas mehr als Weibergröße, mit ihrem braunen, knochenreichen Gesichte und einer langen Nase. Sie blickt mit ihren schwarzen Augen männlich herum, und die Stimme ist tief und etwas rauh; sonst aber ist die Frau so süß, so zart, so eingenommen von den Empfindungen des Herzens, daß sie alle Elegien aus den »Horen« auswendig gelernt hat. Als am letzten Freitage bei der Frau von C. der zweite Band von »Wilhelm Meister« vorgelesen ward, hatte sie die Rolle der Mignon. Die Frau A., ein munteres, sehr hageres Blondinchen, ist eine Gönnerin des Erhabenen und Schrecklichen; die Rolle der Amalia in den »Räubern« soll sie, wie alle versicherten, trefflich vorlesen, nur lispelt sie ein wenig. Die Frau G. ist ein junges Ding, erst kürzlich verheiratet an einen Schöngeist, dessen Verse in dem engen Zirkel der Auserwählten viel Aufsehen machen, noch mehr aber seine Theorie über die Verse anderer, denn die ist höchst erhaben. Schade, daß er nicht zugegen war, ich hätte solch ein Wesen nebenher wohl mögen kennenlernen. Seine junge Frau würde schön sein, wenn sie klug genug wäre, sich allein auf ihre Schönheit zu verlassen. Da hatte sie aber wer weiß alles auf sich geladen, hatte sich so verputzt, daß sie Mittel gefunden hatte, häßlich auszusehn. Das ist doch gar zuviel Gefälligkeit gegen die C.! Ebenso ist auch der Geist der Frau G. Sie hat Verstand und Empfindung, sehr viel Sanftes und Einnehmendes; aber alles ist so manieriert, daß darunter Verstand und Empfindung verlorengeht wie ihre Schönheit unter ihrem Putze. Die Mademoiselle Z. ist prüde und zärtlich, hat ein langes Gesicht mit rundlichem Kinne, das etwas vorsteht, flache geschlitzte Augen, ist kränklich und liebt alles, was edel und holdselig ist. Vor vierzehn Tagen hatte sie den Auftrag, im dritten Teile des »Meisters« die »Bekenntnisse einer schönen Seele« vorzulesen; denn sie lesen hier den »Wilhelm Meister« rückwärts, wo er viel größere Wirkung tun soll; künftigen Freitag kommen sie an den ersten Teil.

Dies wären denn die Merkwürdigsten von unserm Geschlechte, die andern magst Du Dir vorstellen. Mit den Männern war's viel besser bestellt. Da sah man alle Liebhaber der Frau von C., viel blühende Jugend, charmante Blonde und bärtige Gelehrte. Sie sahen sehr verschieden aus, aber die Selbstzufriedenheit saß in jedem Antlitze wie ein allgemeiner Zug in einem Familiengemälde.

Vor allem zeigte sich Herr R., ein Geistlicher und schöner Geist, kurz, rund, wohlbeleibt und schnellfüßig, immer auf vier Nadeln gezogen, im schwarzen seidenen Klappenrock mit Gilet, mit krausem Jabot, einen hohen Hut unterm Arme, schwarze seidene Strümpfe und spitze Schuhe mit runden silbernen Schnallen. Und dann die Haare! So frisiert, als wären sie eine Perücke! Wie soll ich Dir das beschreiben! Ein hohes Toupet, jedes Haar ganz gleich und fein und sorgfältig gepudert; und die Locken fallen herab über die Schultern, eine nach der andern und eine über der andern. Hast Du Kosegartens »Ritogar« gelesen? Wie da die Hexameter, so liegen hier die Locken, fallend und doch steif. Mit dieser Frisur, mit den spitzen Schuhen und mit der Schöngeisterei ist Herr R. ein tiefsinniger Philosoph, weiß überhaupt sehr viel, besonders weiß er, daß er viel weiß, und hört selten auf zu reden. Wenn er so predigt, wie er spricht, muß er viel Worte machen können, ehe die Sanduhr abläuft. Er saß dicht neben der Frau von C. als einer ihrer ältesten Anbeter; und wollte sie ihn auch abschaffen, so schafft er sich doch nicht ab: denn bei ihr gibt's immer etwas, um seine Zunge geläufig zu erhalten.

An der andern Seite saß ein Dichter und Kunstkenner, ein hagerer, blasser, abgehärmter Jüngling, der sprach desto weniger. Er hing nur immer an den schönen Augen seiner Nachbarin, und da hatte er auch sehr recht. Denn er ist ein enthusiastischer Liebhaber des Schönen und ist tief vertieft in die Schönheiten Raffaels. Nun hat der arme Mensch aber vom Raffael nichts gesehen als Kupferstiche und schlechte Kopien, und die schöne C. sieht er täglich von Antlitz zu Antlitz. Wie muß das in der magern Seele wirken! Seine Gedichte sollen voll Feuer sein. Ich sah vor ein paar Tagen eins, das kam mir gemein vor. Aber gestern sagte mir Herr O., es sei voll hoher shakespearischer Phantasie. Meinethalben! Dieser Herr O. ist ein winzig kleines Männchen mit runden, steifgepuderten Haaren, ein Schöngeist und ein Philosoph für die Welt nach neuester Art. Weltkenntnis hat er eben nicht viel; aber er soll viel Tiefsinn in seiner Empfindung und in seiner Ideenphilosophie hohe Dichtung haben. Er studiert fleißig, schien auch sehr aufmerksam auf alles zu sein, und sobald unsere gnädige Frau etwas Artiges sagte, sprang er auf, um ihr die Hand zu küssen. Das lag bei seiner Statur gerade in seinem Bereich.

Unzählige andere waren da, worüber kein Wort weiter. Was aber den Tag hauptsächlich glänzend machte und worauf jeder seine Aufmerksamkeit richtete, war ein Fremder, ein Professor von einer benachbarten Universität, den der Ruf dieser Gesellschaft herbeigezogen hatte. Sie nannten ihn den Doktor Pandolfo und bezeugten ihm sehr große Ehrfurcht; auch war er ein außerordentlich außerordentlicher Mann. Den soll ich Dir also beschreiben, nicht wahr? Liebes Kind, das ist so leicht nicht. Du mußt ihn aus seinen Taten kennenlernen, das heißt aus seinen Worten; denn nur Worte sind die Handlungen solcher gelehrter Philosophen. Seine Worte also soll ich Dir sagen? Aber das ist lang und ist neu und ist drückend, und ich bin müde. Also bezähme Deine Neugierde, wofern Du neugierig bist, bis nächstens, und schlaf heute wohl!

 

8.

Doktor Pandolfo also, bei dem ich neulich stehenblieb, ist nicht groß, nicht klein, nicht blond, nicht braun, nicht mager, nicht fett, sprach nicht geschwind, nicht langsam, nicht stark, nicht sachte, nicht hoch, nicht tief, setzte die Füße nicht auswärts, nicht einwärts, war nicht kleidsam gekleidet, nicht unkleidsam. Wie war er denn? Wisse, liebes Kind, bei einem Professor wie Doktor Pandolfo ist gar nichts äußerlich, alles sitzt inwendig im innern Ich. Es ist noch guter Wille, daß ein solcher Pandolfo eine Gestalt annimmt, daß wir ihn sehen können; denn eigentlich ist an ihm alles unsichtbar, der Geist sieht's nur, und sein Geist sieht sich selbst. Er war auch bei uns da und war nicht da. Er sagte von sich selbst: »Wer einen höhern Gesichtspunkt für sich gefunden hat als sein äußeres Dasein, kann auf einzelne Momente die Welt aus sich entfernen.« Nebenher fällt mir ein, daß er einen roten Rock anhatte und eine schwarze Weste, rot gestickt, und einen kleinen runden Haarbeutel nahe am Kopfe, sehr fest, dabei war der Oberleib kürzer als die Beine und die Waden etwas schief, doch das sind Nebensachen; ich hätte es gar nicht bemerken sollen.

Alle unsere Herren waren sehr mit sich zufrieden; das habe ich Dir, denke ich, neulich schon geschrieben. Aber wie süß die Selbstgenügsamkeit auf der Stirn und im Blicke des Doktor Pandolfo saß, wie sehr er selbst fühlte, daß er ein seltener und über uns alle erhabener Mensch sei, das hättest Du sehen müssen.

Was er sagte?

Alles und nichts; nur so viel war zu merken, daß er alles besser wußte, und zwar auf eine Art, wovon sonst niemand einen Begriff hatte als er; wie er aber dazu käme, sagte er nicht. Man hörte ihn eine Weile lang mit sehr wichtiger Miene eine Menge Worte vorbringen, wo man sich oft hätte wundern mögen, wie sie zusammenstehen könnten; dann schien es zuweilen, als käme ein heller Gedanke, aber es war wie ein Wetterleuchten, urplötzlich versank alles wieder in Dunkel. Sein Diskurs war mit einer Menge ungewöhnlicher Ausdrücke durchwebt, und die meisten brauchte er in ganz fremder Bedeutung, welche ihm wohl allein bekannt sein mochte, und er nickte sich selbst Beifall zu. Alle seine Rede war, als käme sie aus einer höhern Sphäre, nur in abgebrochenen Sentenzen. Zu antworten war ihm eben nicht; denn er ließ bald merken, daß nur wenige ihn verstehen könnten. Freilich, sein Reden war nicht zum Verstehen eingerichtet!

Doch sprach er von allem, was auf der Erde und über der Erde ist, und streifte sogar bis an die Theologie. Er sagte z.B. mit dem Tone großer Wichtigkeit: »Da alle Sachen, die recht eins sind, zugleich drei zu sein pflegen, so läßt sich nicht einsehen, warum es mit Gott gerade anders sein sollte. Gott ist aber nicht ein bloßer Gedanke, sondern zugleich auch eine Sache, wie alle Gedanken, die nicht bloße Einbildungen sind.« Und bald darauf setzte er mit noch kräftigerm Tone hinzu: »Jeder gute Mensch wird immer mehr und mehr Gott. Gott werden, Mensch sein, sich bilden sind Ausdrücke, die einerlei bedeuten.« Das schien allen sehr seltsam. Der redselige Herr R. faßte es auf, da es an seine theologischen Grenzen streifte; und weil er wirklich scheint auf dem philosophischen Schauplatze hinter die Kulissen geguckt zu haben, legte er dem Doktor diese Sentenzen deutlich auseinander, dergestalt, daß man fast hätte meinen sollen, Pandolfo wisse nicht recht, was er wolle. Dieser fertigte aber den geistlichen Herrn bald ab, indem er mit unbeschreiblicher Würde sagte: »Man soll nicht mit allen symphilosophieren wollen, sondern nur mit denen, die hochstehend sind.« Da hatte er wieder recht. Er und sein Wissen standen erstaunlich hoch, wie ein paar Mücken auf einem Kirchturme.

Der geistliche Herr ließ sich indes von diesem Ausspruche nicht abschrecken und antwortete etwas spitzig. Die Frau von C. legte sich zum Besten der Gesellschaft dazwischen und brachte den Diskurs wieder vom Himmel auf die Erde, auf Poesie und Künste. Unglücklicherweise nannte einer Klopstocken einen großen Dichter. Pandolfo rümpfte die Nase und versetzte in entscheidenem Tone: »Klopstock ist ein grammatischer Poet und ein poetischer Grammatiker. Es gibt auch grammatische Mystiker. Moritz war einer.« Das schien doch zu arg, einen Riesen wie Klopstock und einen bucklichten Zwerg wie Moritz so nahe zusammenzusetzen, und es ward verschiedenes darüber gesprochen, besonders von dem kleinen Herrn O. Pandolfo aber zog die Augenbrauen und sagte mit verächtlichem Lächeln: nur einen Dichter unter allen Nationen in diesem Jahrhunderte könne man einen Riesen in der Dichtkunst nennen, das sei Goethe. »Goethes Werke«, sagte er mit höchst derber Stimme und sah mit funkelnden Augen seinem kleinen Gegner so ins Gesicht, daß dieser auf seinem Stuhle noch kleiner ward, »Goethens Werke sind überall scharf begrenzt, innerhalb der Grenzen aber grenzenlos und unerschöpflich; daher sind sie gebildet, denn sie sind sich selbst ganz treu, überall gleich und doch über sich selbst erhaben. Das Höchste und Letzte eines Werks ist wie bei der Erziehung eines jungen Engländers le grand tour. Es muß durch alle drei oder vier Weltteile der Menschheit gewandert sein, nicht um die Ecken seiner Individualität abzuschleifen, sondern um seinen Blick zu erweitern und seinem Geiste mehr Freiheit und innere Vielseitigkeit und dadurch mehr Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit zu geben.«

Darüber stand nun Herr R. wieder auf, der, wie nun bemerklich war, auch satirische Laune hat. Es ging auf le grand tour, auf die scharfbegrenzten grenzenlosen Grenzen und auf das Erhabensein über sich selbst. Es war hübsch anzuhören, wie Pandolfo seinen Galimathias durch Nonsense verteidigte. Andere Frauen und auch ich wollten etwas dareinreden, aber er nahm gleichfalls eine satirische Miene an und sagte: es gäbe Weiber, die von Goethe und einer Weinsuppe in gleichem Tone sprächen. Gehorsame Dienerin! Das ging allein auf mich; denn ich war da wohl die einzige, die eine Suppe kochen kann. Ich schwieg, aber nicht Pandolfo. Es kamen eine Menge baumstarker Worte zum Vorscheine, und wenn jemand fragte: wie das zu verstehen sei, so kam ein neues, noch vierschrötigeres Wort; und endlich, wie er immer mehr in die Enge geriet, tat er einen pathetischen Machtspruch: »Dantes prophetisches Gedicht«, sagte er, »ist das einzige System der transzendentalen Poesie. Shakespeares Universalität ist wie der Mittelpunkt der romantischen Kunst. Goethes reinpoetische Poesie ist die vollständigste Poesie der Poesie. Das ist der große Dreiklang der modernen Poesie, der innerste und allerheiligste Kreis der Klassiker der neuen Dichtkunst.«

»Ach ja!« rief die Mademoiselle Z. minaudierend. »Ich habe vorgestern einen Brief von Goethe bekommen; ich gehöre auch zum innern Kreise!« Das ward denn sehr wohl aufgenommen von uns allen; denn wirklich, das Gehirn war uns so angespannt worden, daß wir froh waren, ein wenig lächeln zu können. Gustav kam nun der Sache näher. Shakespeare ist sein Held, und er verehrt Goethen aufs innigste; mit dem Dante mag er's nun wohl so sachte angehn lassen. Er stimmte ein in Shakespeares und Goethens Lob, nur hatte er viel wider den Dreiklang von drei so sehr verschiedenen Dichtern einzuwenden und erklärte die reinpoetische Poesie und die Poesie der Poesie und die Vollständigkeit der Poesie für nicht viel weniger als Unsinn. Der Doktor versetzte aber sehr vornehm: man könne sich mit Leuten nicht aufs klare setzen, die nicht à la hauteur wären. Den Shakespeare verstände die ganze engländische Nation nicht, die Italiener nicht den Dante, und was Goethe anbetreffe, so verstehe er ihn nur allein und sonst kein Deutscher; daher sei es kein Wunder, daß niemand Goethens Poesie der Poesie finden könne. Es stehe noch dahin, ob Goethe sich selbst so verstehe wie er ihn.

Über diese erstaunenswürdigen Dinge ward nun verschiedenes hin und her geredet, und endlich ließ jemand das Wort »arrogant« hören. Der Doktor warf den Mund auf. »Hm!« sagte er, »arrogant ist, wer Sinn und Charakter zugleich hat und sich dann und wann merken läßt, daß diese Verbindung gut und nützlich sei. Wer beides auch von den Weibern fordert, ist ein Weiberfeind.«Doktor Pandolfo brachte nicht einmal seine eigenen Gedanken hervor. Es findet sich, daß alle mit »« bezeichneten Machtsprüche in der Zeitschrift der Herren Gebrüder Schlegel, »Athenäum«, im zweiten Stücke, S. 100, 63, 73, 34, 31, 68, 99, in den sogenannten »Fragmenten«, wörtlich abgedruckt sind.

Diese »Fragmente« dienen übrigens noch dazu, ein Zeugnis abzulegen, daß dergleichen Wesen, wie Frau Adelheid beschreibt, in der deutschen Welt wirklich existieren, und zwar mit noch größerer Anmaßung der alles zermalmenden Poesie der Poesie und mit noch frischerm Kolorite der sich selbst einbildenden Einbildung, hochtrabend und dunkelhell, als hätten sich Kaspar Lohenstein und Jakob Böhme zusammen auf den Dreifuß der Priesterin zu Delphi gesetzt.

»Wie verstehen Sie das?« war der Ausruf aller weiblichen Stimmen außer der meinigen. Du siehest wohl, das hölzerne Geschöpf wollte Ironie beweisen. Das fiel mir ins Lachen, und ich stand auf, als sich noch die Blondinen zu Ehren der Weiber mit dem arroganten Wehrwolf stritten, und fuhr nach Hause und lachte noch im Wagen und lachte noch im Bette über die Menschen, die sich ihre gesunde Vernunft verstudieren und sich dann einbilden, sie wären wichtige Männer, weil sie sich herausnehmen, mit orakelhaften Geistreicheleien über alles nach Gefallen abzusprechen.

 

9.

Ich lachte noch beim Frühstücke über meinen Pandolfo; nach und nach aber, sowie ich die ganze Szene weiter überdachte und mir mein armer Schwager Gustav dabei in Sinn kam, fiel ich auch auf ihre ernsthafte Seite. Die Torheiten der bureaux d'esprit und der bureaux de philosophie, welche die kleinen Weiber und die kleinen Männer halten, die gern witzig und gelehrt sein möchten, kann man mit gutem Herzen belachen; denn sie sind unschädlich und zuletzt doch besser als Kartenspielen oder Neuigkeitsschnack. Aber wenn ein Mensch, der so urteilt wie Doktor Pandolfo, zum Lehrer der Jugend verordnet wird, müssen da die Folgen nicht sehr traurig werden? Wehe der Jugend, wenn sie die Orakelsprüche solcher Lehrer als Weisheit aufnimmt! Sie wird dann sehr bald ihren Dünkel für Wissenschaft, ihre seichtesten Einfälle für große Gedanken halten. Nun begreife ich, wie Gustavs Geist bei so herrlichen Anlagen und bei so vieler erlangter Gelehrsamkeit so schief geworden ist und woher ihm und anderen Jünglingen der gravitätische, entscheidende Ton kommt, der jungen Leuten am schlechtesten ansteht, der auch erwachsene Gelehrte zu lästigen Pedanten macht und die besten Charaktere verdirbt. Die Zöglinge bilden sich nach ihrem Lehrer und so manche Leser nach ihrem Autor. Denke Dir, wenn solche arroganten Pandolfi Schriftsteller werden, die sich anmaßen, über alles wegzusehen und über alles in geschraubten und in dunkeln Machtsprüchen zu entscheiden! Was müssen dann vernünftige Leute von der deutschen Literatur urteilen?

Das wunderliche Geschwätz über Goethe, das ich oft auch in Zeitungen finde, ist mir ärgerlich, eben weil Goethe ein so vorzüglicher Dichter ist, der nicht nötig hat, so plump angepriesen zu werden. Kaum hat er ein paar Hexameter oder irgendein Büchlein ausgehen lassen, so ist's, wie wenn der Kaiser von Monomotapa genieset hätte. Da niesen sodann, wie Helvetius erzählt, aus untertäniger Ehrfurcht die Hofleute und darauf die Hauptstadt und zuletzt das ganze Monomotapa.

Bei Goethens Sklaven regiert ein beständiger Lobschnupfen. Sie nehmen die Miene an, als wäre Goethe allein da, und alle anderen Dichter und Schriftsteller aller Nationen (den guten Freund Schiller allenfalls ausgenommen) wären gar nicht der Mühe wert, auf sie zu achten. Die gemeinsten Dinge, die man von jedem guten Schriftsteller fordert und bei hundert guten Schriftstellern findet, z.B. wenn etwa zwei Charaktere kontrastiert sind oder wenn eine Situation vorbereitet und leidlich dargestellt ist, werden bei diesem einzigen Lieblinge für etwas ganz Außerordentliches ausgegeben, und man kann nicht neue Worte genug erdenken, um es zu preisen; sogar führt man seine Fehler und Nachlässigkeiten als Muster an. Ich dächte, Goethen selbst müßte dies kriechende Lobhudeln zuwider sein, nebst den beständigen verächtlichen Seitenblicken auf alle anderen großen und verdienten Männer; denn ein wahrer großer Mann ist bescheiden und ehret fremdes Verdienst. So stelle ich mir's wenigstens vor; denn es tut mir weh, wenn Leute, denen ich gut bin, sich kleinlich zeigen. Sollte aber Goethe wirklich so schwach sein, sich gern das Rauchfaß voll dicken Weihrauchs vor die Nase schwenken zu lassen, so könnte dies erklären, warum er sich vernachlässigt. Denn daß er schlechte Bücher schrieb, so wie den »Großkophta« und den »Reineke Fuchs«, und daß in seinen letzten Büchern und Gedichten viel Mittelmäßiges unterläuft, liegt doch am Tage und würde vielleicht nicht so scharf bemerkt werden ohne das beständige Lobpreisen, als wäre seine Poesie die über alles erhabene Poesie der Poesie.

Ich erinnere mich, Doktor Pandolfo sagte auch sehr pompös: »Die Französische Revolution, Fichtens Wissenschaftslehre und Goethens Meister sind die größesten Tendenzen des Zeitalters.«Auch diesen Anspruch hat Doktor Pandolfo mit den Herren Schlegel gemein. Man s. »Athenäum«, 2. Stück S. 56. Muß man nicht ein Pandolfo sein, um so zu reden? Tendenzen! Das ist auch so ein neu gebrauchtes Wort, wobei der Doktor immer mit der Zunge schnalzte, wenn er's vorbrachte, damit es wichtig klänge. Der arme »Meister« hat nun wohl jetzt eben nicht mehr sonderliche Tendenzen – merke Dir übrigens das Wort, denn wer es braucht, weiß, wie sehr viel es bedeutet –, er ist hochgepriesen worden und ist nun in Deutschland ziemlich zur Ruhe gegangen, außer bei denen, die zu Goethens Hofstaate gehören. In Frankreich, England und Ägypten wird er wohl nicht gelesen werden. Doch wer weiß! Kotzebue hat ja jetzt die Tendenz, ein Lieblingsschriftsteller fürs Theater in London zu werden, und Spieß und Hermann von Unna mit allen ihren german horrors werden von den engländischen Romanenschreiberinnen nachgeahmt. Sonst dächte ich: Friedrich der Große und die amerikanische Republik und – die Kartoffeln wären ganz andere Tendenzen des Zeitalters als der arme »Meister«, der in seinen Lehrjahren nichts gelernt hat, als sich von jedem Geschöpfe regieren zu lassen, das er antraf: von Marianen, von Philinen, von Frau Melina (welche ein paar Bände durch guter Hoffnung herumwatschelt), von dem unerklärlichen Jarno, von dem geheimnisvollen Abbé, von der possierlichen unbekannten Gesellschaft, die den Burschen soll haben erziehen wollen und mit der uns Goethe nur zum besten hat. Sogar Barbara und Felix sind klüger als der breiweiche Wilhelm. Willst Du etwa die Diskurse übern »Hamlet« ausnehmen? Die hat Goethe gemacht, nicht Meister. In dessen Charakter liegt nichts, woraus wir vermuten könnten, daß ein solcher Jünger so scharfsinnig wäre. Jetzt steht er gewiß unter dem Pantoffel seiner Frau, die ihm Goethe zuführt, weil er doch eine Frau haben mußte. Sie wird ihn nun wohl ein wenig schütteln, daß er sich besinne; denn aus sich selbst konnte der untätige Mensch nie etwas finden. So hat ihn uns Goethe selbst geschildert; und daß dieser seinen Hauptcharakter nicht besser in Tätigkeit zu setzen wußte, macht ihm eben nicht Ehre. Eigentlich ist Meister gar kein Charakter, sondern ein nicht handelndes Schlenterwesen, das nebenher mit jeder weißen Schürze liebelt. Pfui! Wäre der Harfner nicht da und Mignon, diese beiden so neuen und interessanten Charaktere, und allenfalls die zweideutige lustige Philine nebst den vortrefflichen Gedichten: was wären »Meisters Lehrjahre« an sich? Daß übrigens Goethe, auch wo er im »Meister« mittelmäßig und schlecht ist, nicht auf die Art mittelmäßig ist wie Spieß oder andere bloß mittelmäßige Köpfe, versteht sich von selbst. Goethe hat nun einmal die Laune gehabt, so ein Buch zu schreiben wie »Meisters Lehrjahre«. Das kann man ihm lassen. Ein guter Kopf kann auch zuweilen etwas bloß hinwerfen wollen. Aber es müssen uns Goethens Schmeichler nicht einbilden wollen, ein Werk der nachlässigen Laune wäre ein Werk des hohen Genies! Wenn sie es uns nur nicht wieder mit der neuen »Dorothea« ebenso machen, wovon jetzt den Auserwählten ein paar Seiten handschriftlich herumgegeben werden mit gewaltiger Lobpreiserei!

Apropos! Wer muß der Fichte sein? Pandolfo redete noch von einem andern, der auch ein großer Mann sein soll, »von einem ›Gestiefelten Kater‹, der auf dem Dache der dramatischen Kunst herumspaziert«.S. »Athenäum«, 2. Stück, S.84. Ist das wohl ebender Mann? Ich merke, es gibt jetzt in Deutschland neue Wissenschaften und Künste, die nirgend auf ebener Erde bleiben mögen, eine neue Poesie und Philosophie und Empfindung und Kritik und Lobhudelei, die immer auf den obersten Spitzen der Dachfirsten spazieren wie die Katzen und Störche.

Das Außerordentliche und Fremde ist jetzt bei den deutschen Wißlingen und Witzlingen an der Tagesordnung; was einfach und geordnet und natürlich ist, heißt gemein. Nun gibt es freilich natürliche Sachen, die sehr gemein sind, und außerordentliche zugleich aber ungemeine Sachen; aber, lieber Gott!, wenn nun das Außerordentliche unnatürlich und dabei doch sehr gemein ist! So scheinen mir aber die meisten neuen außerordentlich originalen Produkte.

Als ein kleines Mädchen sah ich noch den berühmten Basedow. Dieser verschmähte nicht, viel von sich zu sprechen. Er rühmte seinen wunderbaren Fleiß, seine Nachtwachen und daß er vieles nicht tun könne, was andere Leute sich gefallen ließen, und daß er manches Merkwürdige an sich habe, was sich sonst nicht finde. So erzählte er uns auch, daß seine Augen die ganz sonderbare Eigenschaft hätten, daß er, wenn er läse, nie geradezu sehen könne, sondern das Buch an der linken Seite der Stirn halten müsse. Das erzählte er sehr oft und las uns seitwärts vor, so daß jedermann nachsagte: Basedow habe Augen von ganz außerordentlicher Beschaffenheit; und dies ward allgemein geglaubt. Endlich kam er zusammen mit Lambert, dem Mathematiker, der sah ihm in die Augen, ließ ihn zur Probe lesen und rief ganz verwundert: »Ei! Herr Professor, Sie schielen!« Basedow wollte sich seine Außerordentlichkeit nicht nehmen lassen und rief: »Nein! Meine Augen haben die besondere außerordentliche Beschaffenheit, daß sie nicht geradezu sehen!« – »Das nennt man schielen«, war Lamberts Antwort, »und es ist nichts Besonderes!«

Lieber Himmel! Wieviel hochgepriesene neue Philosophie und Poesie und Kritik mag wohl keine andere außerordentliche Eigenschaft haben, als daß sie schielet! Indes was geht das mich an! Man läßt ja dergleichen Schriften doch ungelesen oder wirft sie weg, wenn man sechs Seiten gelesen hat; und einen Toren wie Pandolfo sieht man nicht zum zweiten Male, wenn man's ändern kann; den Herrn von X. bin ich ziemlich los, und es müssen ja auch Toren in der Welt sein, damit es was zu lachen gibt. Aber daß Gustavs Geist sich gewöhnt hat zu schielen, tut mir leid. Könnte ich ihm doch vor jedes Auge eine Nußschale mit einem kleinen Loche binden, damit er gerade sehen müßte. Aber das geht nicht. Er glaubt noch wie Basedow, er sehe alles auf eine ganz originale Art an. Wenn er nur erst begreifen lernen wollte, was ein natürliches gutes Auge ist, so lernte er wohl noch selbst gerade sehen ohne Nußschalen. Er ist jung, hat guten Sinn und guten Willen.

Ich glaube, mein Herz, ich habe Dir zwei oder drei sehr lange Briefe geschrieben. Aber sie handelten meist von langweiliger Gelehrsamkeit – und die steckt an.

 

10.

Der Herr von X. hat unsern Gustav sitzenlassen. Er wohnt nicht mehr mit ihm zusammen, er hat sich Equipage angeschafft, geht nach Hofe, ist Kammerjunker geworden, und so hat er noch eine Prätension mehr zu machen. Mag er doch!

Aber was viel schlimmer ist: Gustav läßt mich sitzen. Er ist wohl vierzehn Tage nicht bei mir gewesen. Ich arme Verlassene!

Die glückliche Frau von C. raubt ihn mir. Er liegt ganz in ihren Fesseln, welche sie mit Blumenketten durchflicht. Sie sind täglich beisammen; die Blondins mögen seufzen, ich Verlassene mag klagen; die Glücklichen leben nur für sich. Meinst Du, daß dies Liebe sei?

Mir fehlt was, seitdem ich den Gustav nicht sehe. Ich war nun seit einigen Monaten so an ihn gewöhnt. Das gelehrte Volk ist doch nicht einmal höflich! Er könnte doch wenigstens zuweilen eine Karte bei mir abwerfen oder sonst von sich hören lassen, damit man wüßte, daß er auch noch außer bei der kleinen C. existiert. Es ist unartig, daß sie ihn ganz allein haben will.

Ich möchte doch wohl sehen, wie sich die beiden Leutchen miteinander hätten, und besonders, wie sich Gustav benähme! Dazu dürfte ich nur freitags in die erlauchte Versammlung gehen. Aber so gern ich auch Gustaven sähe, so mag ich doch nicht den Witzmarkt der Frau von C. wieder besuchen. Ich bin noch ein paarmal da gewesen und komme nicht wieder, denn das Gesuchte, das Gezierte, die witzige Eitelkeit ist gar zu unausstehlich. Ich kann mich in dem erhabenen Wirbelwinde erdichteter Empfindungen nicht aufrechterhalten. Ich gehöre nicht dahin.

Wenn ich's recht bedenke, so ist's impertinent, daß Gustav nicht einmal zu mir kommt, wenn meine eigne Teegesellschaft bei mir ist. Das könnte ihm seine C. doch nicht übelnehmen; denn das sähe nicht einmal aus, als ob er besonders meinetwegen käme. Aber sie will ihn ganz allein beherrschen, und die Welt soll es wissen. Ich sage Dir, die C. ist ein unleidliches Wesen; ich habe mir's schon in meinem Notizbuch angemerkt: nächstens will ich sie hassen!

 

11.

Das Schicksal rächt mich an Gustavs Untreue! Ich erhebe mein Haupt über die Wolken!

Stelle Dir vor! Die Teegesellschaft ist bei mir in aller Unschuld. Wer fährt vor und läßt sich melden? Des Herrn Kammerjunkers von X. Hochwohlgeborne Gnaden. Wird angenommen. Das versteht sich von selbst.

Und wie erscheint der Herr Kammerjunker? So wie er vom Hofe kam, im schönsten gestickten Kleide, Degen an der Seite, die Haare noch so lang wie sonst, aber herrlich frisiert vom ersten Frisör der Stadt. Dabei war er äußerst holdselig, gesprächig, sagte jedem etwas Angenehmes, mir sechsmal soviel als den andern. So was erhebt das Herz! Wäre doch Gustav nur dagewesen und hätte gesehen, wie schön der Herr Kammerjunker mit mir tat. Ich hätte dem Burschen den Verdruß wohl gönnen mögen; er hat ihn um mich verdient.

Die bösen Mäuler sagen, der Herr von X. wäre eigentlich in die Gesellschaft gekommen, um sein neues gesticktes Kleid sehen zu lassen, und damit zeigte er freilich das Beste, was an ihm war. Aber das ist alles nur neidisches Geschwätz, und Du sollst dem geradezu widersprechen, wenn es auch bis zu Dir gelangt. Er kam meinetwegen, sollst Du wissen, und blieb auch bis zu Ende der Gesellschaft, bis alles wegging und er nicht mehr bleiben konnte. Die Leute können daraus sehen, was ich wert bin, und Gustav mag sich ärgern, daß er mich so verlassen hat. Wenn er nun wiederkommt, nehme ich den Kammerjunker in seiner Gegenwart an, und zwar soll er das gestickte Kleid dazu anziehen.

 

12.

Da sehen wir nun, daß der Herr von X. meinetwegen kommt und nicht seines Kleides wegen. Den Tag nach der Gesellschaft bekam ich einen Besuch von ihm en négligé, in glatten, lang hängenden Haaren, in den bekannten langen Beinkleidern und mit einem großen Knotenstocke. Das war ein Abfall gegen den vorigen Tag, und ich hätte das tiefe Negligé fast übelgenommen, aber ich hatte nicht Zeit dazu; denn ganz unvermutet erschien Gustav!

Das kitzelte meinen Ehrgeiz, kannst Du glauben. Ich empfing den Herrn Schwager mit einem tiefen, ganz förmlichen Knicks, wie sich's gehört, wenn man sich in fünf Wochen nicht gesehen hat und schmollen will.

Das will ich! Und daß Du mir nicht sagst, es wäre nicht wahr, wenn ich Dir erzähle, daß sich Gustav während der Zeit wirklich gebessert hat, daß er gesprächiger geworden ist, daß er die Schultern zurück- und die Brust heraushält, daß er ein hübscher Junge ist, sobald er natürlich bleibt, daß er und der Kammerjunker in drei Viertelstunden nicht ein gelehrtes Wort gesprochen haben, daß Gustav verlegen schien und daß ich das als Eifersucht auslegte und daß der Kammerjunker gar nichts wert ist gegen ihn und daß ich doch dem Kammerjunker gut bin und ihm seinen Knotenstock vergebe, weil durch ihn Gustav wieder zu mir geführt worden ist. Denn Gustav wäre noch nicht gekommen, hätte er nicht von dem prächtigen Besuche gehört. Zuletzt werde ich auch meiner Feindin C. danken müssen, daß sie ihm den Kopf aus den Schultern herausgebracht hat.

Was will ich denn?

Höre Julie! Du lachst, das sehe ich von hier. Ich nehme es übel; daß Du es nur weißt!

 

13.

Der Herr von X. kommt fleißig wieder und wird vertraulich, so daß er mir beschwerlich fällt. Im Ernste, ich weiß nicht recht, was ihn zu mir bringt. Er ist nicht um ein Haar klüger geworden als er anfangs war, selbst nun, da er nicht mehr gelehrt spricht. Er hat sich bei Hofe und in der Stadt lächerlich gemacht durch seine Prätensionen, niemand mag ihn, ich weiß also nicht, was ich mit ihm soll. Wahrhaftig! Wenn man mit einem alten Narren zu tun haben muß, ist einer genug; will man aber mit jungen Narren fertig werden, so müssen zwei oder drei zusammensein, sonst geht's nicht; doch freilich, hat man bei ein paar Narren noch einen klugen Menschen dabei, so geht's noch besser. Du meinst, ich ziele auf Gustav? Allerdings! Gustavs Gegenwart könnte allenfalls den Kammerjunker erträglich machen, doch ohne diesen sehe ich jenen noch lieber. Er besucht mich jetzt so wie sonst, und ich teile ihn mit der Frau von C.; aber es ist etwas Fremdes, etwas Verlegenes an ihm, das ich nicht recht ergründen kann.

 

14.

Ich weiß nun, warum Gustav so trostlos aussieht. Die Frau von C. hat ihn abgesetzt, und er hat ihr entsagt; den Verlust kann nun der arme Junge noch nicht verschmerzen. Sie machte es mit ihm wie mit allen. Er sollte der Ihrige bleiben, aber vereint mit den andern Sklaven an ihrem Triumphwagen ziehen; er will aber der einzige sein, und ihre Eitelkeit braucht doch viele und hascht immer nach mehreren. Lange genug hat er sich noch gehalten. Aber ein neuer Schöngeist ist angelangt, der sich geschwind auch sterblich in sie verliebte und ihr ein paar neue Blättchen aus Goethens »Herrmann und Dorothea« mitteilte, einem Gedichte, das noch nicht gedruckt ist, wovon aber jetzt einzelne Blättchen – versteht sich: nur an die Auserwählten – geschickt und von den Auserwählten der zweiten Ordnung abgeschrieben werden. Dies Gedicht, sagt man im voraus, soll alles übertreffen, was je im Himmel, auf der Erde, unter der Erde und in Auerstedt Gedicht ist, gewesen ist und sein wird, und wer ein Fragment davon erhält, erkennet daraus, daß er zu den Auserwählten gehört. Du kannst Dir also vorstellen, welches Glückes für die Frau von C. war, solch ein neues Stückchen Abschrift zu besitzen, und so wurde der schöne Herr der einzig geliebte Seladon. Gustav ist vernachlässigt. Das kann der Starrkopf nicht ertragen und schmollt mit ihr. Das läßt sie gut sein und denkt ihn zur rechten Zeit schon wieder zu holen. Bin ich selbst nicht sehr gut, daß ich ganz geduldig die zweite Stelle einnehme und sogar nicht einmal mit ihm darüber schmolle, daß er mich so lange vernachlässigte?

 

15.

Ich bin den beschwerlichen Kammerjunker ganz los; ich hoffe es wenigstens. Er hat selbst dazu Gelegenheit gegeben, welches ihm der liebe Gott belohnen möge.

Der Mensch ward mir überlästig mit seinen öftern Besuchen. Ich ließ mich ein paarmal verleugnen, er war aber unverdrossen und kam immer wieder, wie eine Fliege. In der Teegesellschaft war er nicht abzuweisen; er war da vorlaut und tat, als wären wir die besten Freunde. Seine Vertraulichkeit mißfiel mir; ich lobte seine langen Beinkleider und seinen Knotenstock so deutlich, daß er's merkte, und nun glaubst Du nicht, wie dezent gekleidet er erschien. Aber er war immer noch zudringlich, versteht sich, mit der vornehmen Höflichkeit, welche mir oft wie Beleidigung klingt, und dabei war er so folgsam; man hätte ihn um einen Finger winden können; und doch vergaß er nie seine Wichtigkeit und erzählte uns viel vom Hofe und vom Fürsten und von den kleinen, feinen Soupers. Und die einzelnen Besuche fingen wieder an und waren nicht immer abzuwenden. Ich merkte bald, daß ich eine Eroberung gemacht hatte, worüber meine Bescheidenheit gar nicht stolz war. Er sagte mir, ich wäre schön; das war recht hübsch, es tat mir nur leid, daß ich's ihm nicht erwidern konnte, und ich wußte nichts für ihn zu tun, als daß ich mich verleugnen ließ, wenn er kam. Da ergab sich nun mein trauter Seladon dem Briefschreiben. Keine Antwort. Und dennoch kamen die Briefe mehrmals; und heute bekomme ich eine ausführliche Botschaft, worin er die Schlauheit hat, auch von sich zu reden, was er wäre und wie er's wäre. Ich ließ dahingestellt, was er wäre und wie er's wäre, ohne ihm schriftlich zu melden, was ich wäre. Ich gehe gleich darauf ganz in Unschuld ans Fenster und öffne es; denn es mag sein, daß mich die Schreiberei verdrossen hatte, und so wollte ich Luft schöpfen. Wen erblicke ich? Den leibhaften Herrn Kammerjunker in seinem besten Staatswagen; und er machte mir über den Schlag hinaus den zierlichsten Bückling, worauf ich nachlässig knickste. Er fährt vor. Ich schlage das Fenster zu. Mich verleugnen zu lassen ging nicht, das hätte ausgesehen, als hielte ich ihn wert, seinetwegen in Verlegenheit zu sein. Ich mußte ihn also annehmen, sein holdseliges Gesicht kam voran in die Tür, denn er bückte sich ebensotief wie aus dem Wagen. Nun setzen wir uns, und er sagt mir allerlei schöne Sachen; die nehme ich an, wie man ein Guten Morgen! annimmt; und dann spricht er allerlei von seinen Gesinnungen gegen mich; ich hatte aber gegen ihn gar keine Gesinnungen, die sich sagen ließen; also schwieg ich still. Da es nun so nicht ging, präsentierte er mir eine zierliche Prise Tabak und rühmte seinen Stand, seinen Reichtum, seine Konnexionen bei Hofe und sogar seinen neuen Engländerzug mit sechsen. Ich hatte Mühe, mich zu halten, doch zwang ich mich und sagte ziemlich kalt: »Stand und Reichtum sind bei mir kein Verdienst, sowenig wie Pferde.« Da versicherte er mir, er hoffe auch eigene Verdienste zu haben. »Sie sind eine Gelehrte!« rief er – »Daß ich nicht wüßte«, versetzte ich. – »Ich habe Ihnen schon Beweise gegeben, daß ich die neue Philosophie gründlich studiert habe so wie wenige, und meine Kenntnis des Schönen wird einer so schönen Kennerin wohl auch verdienstlich sein.« Das fiel mir ins Lachen; ich konnte mich nicht halten, es war nicht möglich. Aber siehe da: schnell knieet er vor mir, küßt meine Hand und predigt mir eine förmliche Liebeserklärung gerade ins Gesicht, mit der Inbrunst eines Kammerjunkers, der mit einem Sprunge Hofmarschall werden will. Ich glaube, ich bin blaß geworden, so übernahm mich das. Doch fasse ich mich, hebe ihn auf, führe ihn zur Tür und sage: »Sie werden sich vermutlich zum Diner ankleiden wollen; ich muß mich auch ankleiden. Ich empfehle mich bestens.« Dabei machte ich ihm den tiefsten Knicks, der zu machen ist, und noch einen, und er ward blaß und rot. Er wollte etwas stammeln, aber noch ein tiefer Knicks und noch ein tieferer Knicks, und so knickste ich ihn zur Tür hinaus, ehe er zum Worte kommen konnte. Ich wollte wahrlich auch kein Wort von ihm hören, und ich denke, er wird auch meine Tür nicht wieder betreten. Es tat mir wohl, daß ich ihn so abzufertigen wußte; ich hätte es nicht gekonnt, wäre mir nicht sein überlästiger Brief so frisch im Gedächtnisse gewesen.

Dieser Mensch war mir äußerst zuwider, sobald ich ihn sah. Wer mir erträglich werden soll, bei dem muß ich einige Berührungspunkte finden, wären sie auch noch so gering. Dieser Kammerjunker aber stimmt mit mir in nichts zusammen. Er ist ein Tropf mit aller seiner erlernten Weisheit, mit sechzehn Ahnen doch nichts wert, mit seinem großen Reichtume und mit seinen hohen Aussichten in der großen Welt ein armer Schelm; denn er hat keinen Verstand und kennt weder Freundschaft noch Liebe. Die kennt keiner, der nur in seinem Ich lebt. Was sollte denn der Mensch von mir? Mit mir eine Komödie spielen? Die Herren, welche sich ein Fest machen, uns wie Schauspielerinnen anzusehen, verdienen nicht, daß man mit ihnen eine Rolle übernehme.

Es tut mir wohl, liebe Julie, daß ich mich gleich niedersetzen konnte, gegen Dich mein Herz auszugießen. Ich war doch in Bewegung, wie ich jetzt merke, und meinte, ich wäre so ruhig. Nun ist mir leicht. Lebe wohl, liebes Herz!

 

16.

Du bist also nicht zufrieden mit der Art, wie ich mir den Kammerjunker vom Halse geschafft habe? Du sagst, ich hätte ihn allzu spöttisch behandelt. Kann sein! Aber, lieber Gott!, wie soll man's machen, wenn man einen überlästigen Menschen gewiß loswerden will? Und bedenke nur, liebe Julie, er hatte die ehrbarsten Absichten, die sich denken lassen; es war ihm ganzer völliger Ernst mit dem Bande des heiligen Ehestandes. Wenn man nun solche schrecklichen Aussichten vor sich sieht, so verliert man die Besinnung und denkt nicht so ganz genau auf etwas zuviel oder zuwenig.

Alles recht überlegt, muß ich wohl noch zuwenig getan haben; denn, stelle Dir vor: die Unverschämtheit! Er erschien gestern in der K.schen Teegesellschaft und war wieder so vorlaut und spöttisch gegen jedermann und so süß und wortreich gegen mich wie jemals. Es ist doch seltsam, daß der Mensch sich mir noch weiter aufdringt. Ich hätte gedacht, er müßte verlegen sein; das war er aber nicht; er tat so unbefangen, als wäre gar nichts vorgefallen, und beehrte mich beständig mit seinem Diskurse, vermutlich, um zu sehen, ob ich verlegen sein würde.

Bin ich ihm nicht recht begegnet, so bin ich doppelt gestraft; denn ich bin den überlästigen Menschen nicht einmal losgeworden.

 

17.

Ich setze mich spät nieder, Dir zu schreiben. Es ist klar, der Kammerjunker will sich rächen und meine friedlichen Gesellschaften stören. Er fand sich vor acht Tagen sogar in meiner eigenen Teegesellschaft ein und führte da allerlei spöttische Reden, welche mir und andern, auch dem alten Obersten, auffielen. Dieser fragte mich, als die übrige Gesellschaft weg war, und ich erzählte ihm alles, was vorgefallen war. Er schüttelte den Kopf und kam überein, wenigstens in meinem Hause müßte ich Herr sein, zu sehen, wen ich wollte.

Heute erschien mein Herr von X. richtig wieder in meiner Teegesellschaft, und seine Spöttereien wurden so arg, daß ich mich zurückzog. Der Oberst aber trat vor und sagte ihm erst einige ernsthafte und nachher einige starke Worte über seine Ungezogenheit. Die Gesellschaft war einmal gestört, und so bedeutete der Oberst ihm zuletzt: seine Gegenwart sei hier unnötig, und wenn er außerdem wieder vergessen würde, was er mir schuldig wäre, sollte er es mit ihm zu tun haben. Herr von X. sagte dem Obersten etwas ins Ohr, dieser dankte freundlich, und X. ging ernsthaft fort. Es ist mir sehr unangenehm, daß die Sache so gekommen ist. Mein Trost ist: mein Alter ist ein gesetzter Mann und wird ja wohl dem ungezogenen Kinde nichts als einen unbedeutenden Denkzettel mit auf den Weg geben.

Gustav war diesen Abend gerade nicht gegenwärtig; ich bin gewiß, auch er würde bei dem unartigen Benehmen des Kammerjunkers nicht ruhig geblieben sein.

Ich habe mein Betragen gegen diesen ernsthaft überlegt. Ich hätte mich durch seine stolzen Prätensionen nicht sollen verleiten lassen, ihm meine Verachtung ins Gesicht zu bezeugen. Ich hätte ihn trockner abfertigen können; aber seine Rache war unmännlich; und hätte mich mein Vetter nicht beschützt, so wäre ich unartigen Anfällen immer ausgesetzt gewesen, sogar in meinem eigenen Hause.

Ich werde unruhig schlafen und wünschte, die Sache wäre erst ganz zu Ende.

 

18.

Du liesest mir den Text darüber, daß wegen meines Mutwillens ein Zweikampf entstanden ist? Weißt Du nicht, daß man in der großen Welt eine ansehnliche Figur spielt, wenn man so glücklich ist, daß sich um unserer schönen Augen willen ein Paar die Hälse bricht? Und rechnest Du für nichts, daß ich einen beschwerlichen Liebhaber los bin?

Er ist doch wohl nicht tot? sagst Du?

Tot! sage ich.

Und darüber kannst Du Dich freuen?

Jawohl! sage ich Dir. Er ist tot für mich und für den Hof und für die Stadt und für uns alle. Das ist genug. – Höre die traurige Geschichte.

Es war vorher mancherlei Hin- und Herschreibens über das Duell gewesen. Der Kammerjunker hatte bemerkt, daß der Oberst wegen Kurzsichtigkeit die Brille braucht, und hatte ihn deshalb auf Pistolen gefordert, in der Meinung, er würde es nicht annehmen; aber es mußte dabei bleiben.

Sie ritten bis auf die Grenze. Der Oberst sagte dem Sekundanten des Herrn von X.: »Sie wissen, daß ich kurzsichtig bin, und also verlange ich die Distanz von zwölf kurzen Schritten.« Der Herr von X. erblaßte und verlangte eine weitere Entfernung, ließ endlich im Diskurse fallen: die Sache wäre nicht von der Bedeutung, daß sie nicht auch mit dem Degen könnte ausgemacht werden. Der Alte aber setzte einen derben Trumpf darauf, daß es so bleiben müsse, wie jener es selbst verlangt hätte. Die zwölf Schritte wurden abgemessen.

»Schießen Sie zuerst!« rief der Oberst. X. schoß und fehlte. Der Oberst schoß vier Schritte links einen kleinen schwankenden Zweig eines Baumes entzwei.

Der Herr von X. rief: er sei zufrieden mit der Satisfaktion. Der Sekundant versuchte die Sache beizulegen. Der Oberst rief: »Sind Sie zufrieden, so bin ich es nicht. Schießen Sie!« Herr von X. schoß zitternd und fehlte weit. Der Oberst setzte sein Pferd in Ruhe und zielte beinahe eine Minute lang: »Ich ziele auf Ihre Brust!« – X. ward totenblaß.

»Apropos! Wollen Sie lieber leben als sterben? Sie wollten ja die Sache vorher beilegen.«

»Ich bin noch dazu bereit!« rief X.

»Sie müssen aber tun, was ich verlange; sonst schieße ich gerade ins Herz!«

Der Oberst rief den Wundarzt: »Sie haben doch eine Schere bei sich? Geben Sie sie dem Kammerdiener. Mein Freund, schneide Er seinem Herrn auf jeder Seite drei Zoll von den Seitenhaaren weg; ich kann die langen Schweife nicht leiden.«

Der Oberst zielte, X. hielt still, und der Kammerdiener schnitt.

»Und die langen Hosen, die bis an die kleinen Stiefel gehen, bis unters Knie abgeschnitten!« – Es geschah. – »Nun, junger Herr, sehen Sie aus wie andere Menschen. Leute, die so beschaffen sind wie Sie, müssen sich weder leiblich noch geistig von andern unterscheiden wollen.«

Der Oberst schoß in die Luft und rief: »Wenn Sie wollen, so schießen Sie noch einmal!« Aber X. rief zitternd: »Ich bin zufrieden.«

»Ich rate Ihnen, junger Herr, gegen jedermann artig zu sein, ohne Ausnahme. Verstehen Sie mich?« Und damit ritt er zurück.

Die Sache macht bei Hofe und in der Stadt viel Aufsehen. X. wurde den ersten Tag, da er ausging, so sehr ausgelacht, daß er wohl merkte, seines Bleibens würde hier nicht sein, und er hat schon die Stadt ganz verlassen.

Ich werde diese Nacht ruhiger schlafen als vorgestern. Diese Begebenheit hat sich lächerlich geendigt; aber ich habe darüber recht ernsthaft nachgedacht; und ich verspreche Dir, wenn jemals wieder ein überlästiger Liebhaber kommt, so werde ich ihn gelinder abweisen: sonderlich wenn er einer von den neuen, tiefen Philosophen wäre, die alles wissen und sich einbilden, es stehe ihnen alles gut.

 

19.

Mein alter Vetter besuchte mich gestern, und Du kannst Dir vorstellen, daß ich ihm dankte. Gustav kam dazu. Der Oberst wollte keinen Dank annehmen; denn, sagte er, es ist sehr leichte Arbeit mit solchen Herren, deren Weisheit und Mut sich nur in Worten zeigt oder da, wo sich niemand wehren kann. Man tut ihnen noch zuviel Ehre, wenn man sie unter den gewöhnlichen Haufen von Menschen stößt, worunter Tausende besser sind als sie.

Der Alte sagte dies etwas trocken. Gustav mochte glauben, es sollte auch ihm gelten, und ihm gefiel die Rede nicht, wie sich zeigte, als der Oberst weggegangen war. Da entspann sich unvermutet ein langer Wortwechsel zwischen uns beiden.

»Diese Herren«, hob Gustav an, »schätzen nichts, als wozu Fäuste nötig sind. Zuschlagen können sie, das ist ihre ganze Stärke.«

»Nicht bloß zuschlagen. Zum Zielen gehört Besonnenheit und kaltes Blut; und wenn man jemand mit bloßem kaltem Zielen den Dünkel benehmen kann, so ist's ja menschenfreundlich!«

»Ja, kalt sind die Herren, das weiß Gott!«

»Der Oberst doch nicht immer. Sein Herz ist warm fürs Gute. Erinnern Sie sich, wie er die trefflichen Verbesserungen im Lande mit warmem Eifer lobte, welche wir dem Geheimen Rate zu danken haben?«

»Ha! Gemeine Geschäftsklugheit! Wenn ich ein Pferd in den Wagen spanne, muß es wohl ziehen.«

»Doch nicht, wenn es nicht gut regiert wird. Und dann bleibt das Geschäftspferd auf ebener Erde und nützt dem Menschen. Aber ihr Leutchen seid wie die Adler, ihr wollt immer zur Sonne fliegen ohne Nutzen und Zweck, bloß weil's hoch ist. Aber ihr bleibt in den dicken Wolken hangen, und eure Poesie wie eure Philosophie und Kritik ist naß und kalt zugleich.«

»Auch Sie plagen mich! Schlimm genug, daß einen niemand fassen kann, daß sich niemand für die Wissenschaft der Wissenschaft, für das reine Schöne und Erhabene will erwärmen lassen.«

»Ei, da haben Sie ja die ganze Gesellschaft der Frau von C., die ist so warm für alles Undeutliche, daß mir der Schweiß dort ausbrach und ich mich nicht traute wiederzukommen.«

»Spotten Sie nicht! Es kann sein, daß die Leute etwas verbildet sind; aber sie haben doch eine gewisse Reizbarkeit, ein gewisses Leben, woraus doch eher noch etwas zu machen ist als aus dem frostigen, unteilnehmenden Sinne, der alles Große und Schöne wegwirft.«

»Ich glaube, aus jenem weniger als aus diesem. Verbildete Männer und Weiber sind viel schlechter als gar nicht gebildete. Ich mag lieber einen Marmorklotz als eine verstümperte Statue haben. Der Wert eines jeden Menschen beruht auf seiner Wahrheit. Die Verbildeten haben gar keinen Charakter; denn ihre Bildung ist nur Schein, und ihr Zweck ist bloß Eitelkeit. Auf eurem Witzmarkte kauft und verkauft ihr mit falscher Münze. Pandolfo der Große gab euch neulich wirklich Ephraimiten anstatt Bankotaler.«

»Der Mann sagte manches Schielende und Falsche. Darin aber hatte er doch recht, daß es ärgerlich ist, unter Leuten zu leben, welche von Goethe und Shakespeare in ebendem Tone reden wie von einer Weinsuppe oder einem Kopfputze.«

»Das ist wenigstens mein Fehler nicht, denn mir ist eine Weinsuppe lieber als Goethens ›Venetianische Epigramme‹ und die ›Bekenntnisse einer schönen Seele‹ und ein Kopfputz lieber als Goethens ›Groß-kophta‹. Aber bei ›Iphigenie‹ und ›Werther‹ vergesse ich alle Suppen in der Welt. Shakespeare vollends, wenn man über ihn kommt, läßt einem nicht Zeit, an sonst etwas zu denken als an ihn. Liebe Herren, die ihr nichts als Goethe und Shakespeare im Munde habt, ihr wisset nicht recht, was ihr lobet und was ihr verachtet. Ihr meinet die menschliche Natur im Shakespeare studiert zu haben; daher legt ihr in seine Werke einen ganz falschen Sinn, und ebendiesen euren falschen Sinn wieder in Goethens Werke. Ihr müßtet Shakespearen aus der innersten Natur des Menschen kennenlernen; denn die studierte er, und zwar bloß zu dramatischer Absicht; aus der nahm er alles her, und die kennet eure Wortweisheit gar nicht.«

»Nein! Er nahm alles aus seinem göttlichen Geiste. Es müßte denn zu seiner Zeit die Natur der Menschen erhabener gewesen sein; denn jetzt kann man weit und breit um sich sehen und findet nichts als ganz gemeine Gesichter.«

»Schönen Dank für das Kompliment! Doch ihr lieben Philosophen habt ja Spiegel, darin könnt ihr euch selbst sehen; denn ihr haltet euch doch für ungemeine Wesen, nicht wahr? Seht euch also nur recht an; vielleicht lernt ihr euch kennen. Ihr sucht in der ganzen menschlichen Natur nach Shakespeares gigantischen Gestalten und haltet euch selbst für gigantisch, bloß weil ihr euch immer krampfhaft anstrengt. Liebe Leute, gigantisch seid ihr nicht und werdet ihr nicht, wenn ihr auch noch so lange auf den Zehen trippelt! Lernet erst wirkliche Menschen kennen, sonst werdet ihr über Shakespearen nichts als hochklingende Worte hervorbringen. Bloß in der Studierstube kann er gar nicht gefaßt werden, denn er las in Menschen, nicht in Büchern. Ihr möget sagen, was ihr wollt, ihr versteht ihn nicht, wenn ihr ihn als ein Buch leset, und am allerwenigsten, wenn ihr die gelbe Brille eurer Schulphilosophie dazu aufsetzt. Ihr könnt euch aus ihm ein Götzenbild machen, das ihr anbetet, aber ihr werdet nie den Gott erkennen, der in ihm lebet. Er machte durch seinen großen Geist natürliche Charaktere zu den großen dramatischen Bildern, fürs Drama. In diesen Bildern lebt ihr träumend und ohne die Natur, ihr großes Urbild, zu kennen. Weil ihr beständig eure wilden Ideen untereinanderwerfen könnt, meint ihr, es ruhe Shakespeares Geist auf euch, und haltet nun alles für gemein, was deutscher Geist hervorbrachte, sobald es nicht von euren paar Genossen herkommt; von denen aber preisen sie alles unbedingt, sogar bis auf den ›Gestiefelten Kater‹ oder ›Lovells Leben‹, als wäre der Geist der guten Literatur nur bei euren Freunden. Der wahre Kenner schätzt jedes Geisteswerk in seiner Art und verachtet nur das Verächtliche. Wenn man euch so schief urteilen hört, so möchte man fast glauben, ihr schätzet an Shakespearen wie die Kenner an antiken Münzen nur den Rost, nicht das Gold. Liebe Leute, hättet ihr Shakespeares Geist, wovon ihr mit so vielem Stolze sprecht, als kenntet ihr allein ihn nur, sonst niemand; warum bringt denn kein einziger von euch etwas echt Shakespearisches zum Vorscheine? Zwar möget ihr euch so etwas einbilden, aber ihr geht immer neben seinem gebahnten Wege ab, im Sumpfe und zwischen kleinen Steinen, und meint dem Ziele zuzueilen, wenn ihr stolpert!«

Gustav fand, ich wäre allzu hart, brach kurz ab und ging mißmutig weg.

Ich mußte aber einmal mein Herz ausschütten; denn der Dünkel ist gar zu lästig, den der junge Mann mitgebracht hat, nach welchem er alles für schlecht und gemein hält, was nicht so ist, wie ihm seine Grillen gesagt haben, daß es sein sollte. Er mußte einmal deutlich hören, daß man Menschen aller Art kennenlernen muß, ehe man über menschliche Charaktere urteilen kann. Ich bin ihm gut, darum sagte ich ihm die Wahrheit recht offenherzig. Warum sollte ich sie verschweigen?

Aber wäre ich etwa wieder allzu hart gewesen? Ich versprach Dir neulich, wenn mir ein neuer Philosoph in den Weg käme, wollte ich ihn gelinder abweisen. Ich sagte das mit der Bedingung: wenn es ein überlästiger Liebhaber wäre. Gustav ist mir weder überlästig noch mein Liebhaber, noch will ich ihn abweisen. Wäre er mein Liebhaber, würde er dann gleich weglaufen, wenn ich ihm sage, was ihm gehört? Ich will meine Liebhaber schelten dürfen, das kannst du nur jedem sagen, der mich zu lieben Lust hat – auch wenn der Ungetreue gleich zur Frau von C. wieder ginge. Denn wohin wäre er sonst gegangen, da er mich so schnell verließ?

Er ist tot für sie, sagst du? – Hm! Die zärtlichen Liebhaber sind wie die Fliegen; sie leben auf, wenn sie wieder in den Schein ihrer Sonne kommen. Höre an! Käme er wieder neu belebt zu mir, so hätte es seine Richtigkeit mit der Liebhaberschaft; wäre nur noch zu untersuchen, ob die mir überlästig sein soll.

 


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