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Zweites Kapitel.
Der Käfig

Keine Person des Hofes, selbst der König nicht, konnte in dem Verhalten Olivers zu Anne eine Veränderung wahrnehmen, obwohl die schöne Neckerin sehr bald nicht mehr den verschwiegenen Gevattern allein als Ludwigs Favoritin bekannt war. Man sah den Meister, der in jener Zeit nobilitiert und zum Rat des Königs ernannt wurde, mit immer gleicher Freundlichkeit die Frau behandeln und eine scheinbare Toleranz üben, die nicht unbelächelt blieb, sosehr man damals die Motive zu würdigen verstand. Nur Daniel Bart wußte, daß sein Herr in den seltenen Nächten, die er in seiner Wohnung verbrachte, getrennt von Anne schlief. Und nur Daniel Bart sah, daß das harte Gesicht des Neckers nicht mehr weich wurde und wie besonnt, wenn er die Frau erblickte, und daß Anne nicht mehr ihr zauberisches Lächeln hatte. Wie sie gemach erkaltete und auslosch, immer fremder sich selbst und dem Leben, sah er nicht.

Und doch war nach jener trunkenen, schlimmen Nacht zwischen beiden nichts gesprochen worden, kein Vorwurf, keine Drohung gefallen, die grausame Nüchternheit des Morgens durch keine Frage und keine Antwort gemildert oder gesteigert. Für Oliver wurde die nächtliche Eruption des Gefühls die letzte, und er wußte schon nicht einmal mehr, wie weit sie als Wirkung auf den König beabsichtigt war. Wie er wachen Geistes – noch auf der Landstraße nach Amboise, bereits in den Pausen seiner Pariser Ausschweifungen – das einzige Mittel erkannt hatte, seine körperliche Existenz nach der endgültigen geistigen Hingabe an den König zu erhalten, ohne durch den Ekel vor dem eigenen Torso erstickt zu werden: so war er nach dem Erwachen aus jener Nacht schon in den neuen Zustand hineingewachsen. Er wurde zu Stein. Und so erschütterte ihn das eigene Schicksal nicht mehr – auch nicht das furchtbare Urteil über Anne, das er durch den Verzicht auf seinen menschlichen Inhalt ausgesprochen hatte und brutal exekutierte. Die dunkel göttliche und unbesiegbar menschliche Kraft seines Gewissens gehörte schon dem König, mit solcher Macht bereits, daß Ludwig die dämonische Verworrenheit der nächtlichen Szene nicht mit dem Rausch ausschlief. Er wagte viele Tage hindurch nicht einmal den Namen der Frau auszusprechen, bis er sie an einem Abend in seinem Lustzelt vorfand, unzüchtig und mit irren Augen von Liebe lallend.

Ob die tiefe Neigung, die allmählich den alternden Monarchen über die Gier der Sinne hinaus ergriff und ihn mit dieser Frau verkettete, aus dem fremden und ihn fortan bestimmenden Gewissen oder aus erster Greisensehnsucht kam, mochte selbst Oliver nicht entscheiden und kaum bedenken, aus einer unbestimmten Furcht, die klare Antwort könnte auch ihn bewegen und in das persönliche Gefühl zurücktreiben. Da ihrer beider gemeinsame Entwicklung ein Benutzen der Anne als Mittlerin oder gar als Mittel zu irgendeinem Ziel des privaten Ehrgeizes oder der Politik von selber auszuschließen schien, da der König den tragischen Weg zu seiner Liebe bald um seiner Liebe willen vergaß und der Necker schon weit genug war, nichts mehr vergessen zu müssen, konnte er dem neuen lebendigen Gefühl seines Herrn mit der gleichen harten Taubheit gegenüberstehen wie seinem abgetöteten. Für die Umwelt war es eine höfische Diskretion, die man zu gleichen Teilen heroisch, teuflisch und lächelnswert befand.

Doch in dem Lärm des politischen Spiels und in dem Beifall, den der König gerne vor allen Augen der Geschicklichkeit des Neckers zollte, ging das Geflüster um die Dinge des Alkovens bald unter. Man fühlte wohl, daß hinter Ludwigs lautem Lob und den augenscheinlichen Beweisen seiner Huld eine viel tiefere und begründetere Anteilnahme sich verbarg, als es das Interesse für einen brauchbaren Intriganten und duldsamen Gatten verlangte. Die Gerüchte von Péronne, vertieft durch den Sturz des mächtigen Kardinals, verstärkten den Respekt vor der Allmacht des Königs und der Dämonie des Neckers. Man fürchtete den einen, weil man ihn kannte, und den anderen, weil er nicht zu erkennen war. Das furchtbar rasche und heimliche Gericht über Balue, das unter dem Vorsitz Tristans aus zwei weltlichen und zwei geistlichen Standesheeren, dem Parlamentspräsidenten und drei Parlamentsräten bestand und in einem abgesperrten und scharf bewachten Saal des Schlosses tagte, steigerte mit seinem Urteil die Scheu des Hofes vor Oliver bis zum Aberglauben. Wenn man ihn früher den Teufel nannte, mit leiser Skepsis dem Beispiel des Königs folgend, so bekreuzigte man sich jetzt gerne, sprach man von ihm. Und da diese Wirkung seiner Person zusammen mit seiner glatten Art und seiner Verbundenheit mit dem König, die ihn zur unumgänglichen Instanz in allen politischen und administrativen Geschäften machte, jede Reibung, jeden Versuch privater Insinuation vereitelte, sah er in merkwürdig zu spürender und doch gar nicht gezeigter Unnahbarkeit – freundlich doch und zu hören und zu antworten stets willig – jeden Tag die Verbeugung der Höflinge, ihre Devotion und den Abstand, den sie sorglich einhielten. –

An dem Tag, an dem Tristan L'Hermite den Spruch des Gerichts verkündete – der Kardinal sei auf Lebensdauer an festem Ort einzuschließen, ohne daß Ketten oder Fesseln seine geweihte Person berührten – wurde der Gefangene vom Gerichtssaal nicht mehr in die Zelle der Oubliette zurückgeführt, sondern in ein etwas höher gelegenes, ein wenig helleres Gewölbe gebracht, in dessen Mitte ein Käfig stand, kaum mannshoch, fünf Schritt lang und fünf Schritt breit, der karge Raum noch eingeengt durch eine Pritsche, einen Tisch und einen Stuhl. Die Begleitmannschaft meldete, der Prälat habe bei diesem Anblick aufgeschrien, daß die Wände bebten, und sei laut betend in die Knie gesunken; dann aber habe er sich aufgerafft und festen Schrittes den Käfig betreten. Der Befehlshaber meldete auch noch, daß der hochgewachsene Mann mit dem Kopf gegen die Deckstangen anstieß und wohl gezwungen sei, stehend immer den Körper zu bücken. Der König, der nicht zum erstenmal diese Dauerfolter verhängte, zuckte mit den Achseln und sagte roh:

»So muß er kleiner werden.«

Doch er sah den Necker, dessen Blick er auf sich fühlte, nicht an. Und er befahl den Handwerkern, die noch am selben Abend die Tür des Käfigs zuschmiedeten und nur eine kleine verschließbare Speiseluke scharnierten, die Deckstangen aufzubiegen.

An einem der nächsten Tage betrat Oliver das Gewölbe. Es herrschte eine feuchte Kälte. Durch die hochgelegenen Fensterluken, die graues Licht in den Raum ließen, tropfte Schneewasser. Die Wände blinkten vor Nässe. Balue ging ruhelos im Käfig hin und her, in die wollene Bettdecke gewickelt, den Schulterkragen der Soutane über den Kopf gestülpt; er sah aus wie ein feistes altes Weib. Er beachtete den Meister nicht, der die Wände und den zerfallenen Kamin untersuchte und nach einem raschen Blick auf den Gefangenen wieder fortging. Handwerker kamen mit Kohlenpfannen, Brennholz, Maurer- und Glasergeräten. Der Wärter kam und drängte wortlos einen langen Schafpelzmantel durch die Eisenstäbe. Man begann, den Raum auszutrocknen, den Kamin in Ordnung zu bringen, dichtschließende Fenster einzusetzen, den Boden mit Strohmatten zu belegen und längs der Mauer hohe, tuchbespannte Wandschirme aufzustellen, die zur Nachtzeit näher an den Käfig gerückt wurden. Die Speisen, die noch in den ersten Tagen sich in nichts von der Kerkerkost der Untersuchungszeit unterschieden, wurden jetzt reichlich und kräftig. Jeden Abend erschien Daniel Bart mit einer Kanne köstlichen Weines.

Und Oliver kam wieder, den Bart und zwei Diener hinter sich, die mit Folianten, Pergamenten, Schreibzeug und Wachsstöcken beladen waren. Der Necker prüfte Wände, Fenster und den Kamin, in dem ein mächtiges Feuer brannte. Die Luft war warm und trocken. – Dann erst wandte er sich an den Kardinal, der ihn dieses Mal nicht aus den Augen ließ.

»Haben Sie sich über irgend etwas zu beklagen, Eminenz?« fragte er. Balue schüttelte den Kopf.

»Ich beklage mich nur, daß der König mich nicht sterben läßt.«

Der Necker schien die tiefe Resignation der Antwort zu überhören; er fuhr friedlich fort:

»Es ist der Wunsch des Königs, Ihre schwere Lage nach Möglichkeit zu erleichtern. Und da er nicht nur für die Bedürfnisse Ihres Körpers sorgen will, Monsignore, sondern auch für die Beschäftigung Ihres Geistes, hat er einen Vorschlag für Sie, der Ihrer Gelehrsamkeit und seiner humanen Gesinnung würdig ist. Er erinnert Sie an des Trapezuntios fehlerhafte Übersetzungen griechischer Klassiker ins Lateinische und bittet Sie, die Ausgaben zu revidieren; er bittet Sie ferner, die von Poggio gefundenen Fragmente unbekannter Werke von Cicero, Lucretius und Plautus und des Petronius ›Satyrikon‹ zu kopieren und schließlich Werke der von ihm geliebten Kirchenväter Tertullian, Lactantius, Augustin und des Gregor von Tours in einer von Ihnen zu treffenden Auswahl ins Französische zu übersetzen. Vielleicht sind auch eine Neuübertragung der Vulgata und exegetische Arbeiten in Betracht zu ziehen. Der König überweist Ihnen aus seiner Bibliothek das notwendige Material.«

Der Kardinal hörte ihm mit wachsendem Erstaunen zu, in einiger Entfernung von ihm gegen die Stangen der Rückwand gelehnt. Jetzt überflog eine schnelle Röte sein Gesicht, das in der Kellerhaft fahl geworden war.

»Das ist ein schöner Gedanke«, entgegnete er leise, »sagen Sie dem König meinen Dank.«

Auf einen Wink Olivers schloß der Wärter die Luke auf, durch die der Necker die schweinsledernen Bände, die Manuskripte, Schreibgeräte und Leuchtkörper dem Gefangenen reichte. Dann gingen die Leute hinaus. Oliver wollte ihnen folgen.

»Wir müssen noch ein paar Worte miteinander sprechen, Meister«, sagte Balue, der mit der Freude des Gelehrten die Bücher durchblätterte und das Material zu ordnen begann. Der Necker wandte sich verwundert um; der Prälat wartete, bis sich die Tür hinter Bart und den anderen geschlossen hatte. Dann trat er von dem Tisch fort, auf dem sich die Folianten häuften, und winkte den Meister an den Käfig. Oliver gehorchte. Balue preßte das Gesicht an die Stäbe und sprach leise:

»Sie sind kein Teufel, Necker, oder Sie sind es zum mindesten jetzt nicht. Sie waren es auch in Compiègne nicht, als mich der König verhörte. Ich habe Sie um Verzeihung zu bitten.«

Oliver wehrte ab, peinlich berührt:

»Lassen Sie das, Monsignore, Sie irren sich vielleicht. Ich handle auch jetzt im Auftrag des Königs.«

»Ich irre mich nicht, Necker«, sagte der Kardinal mit Bestimmtheit; »die Erleichterungen, die mir gewährt wurden – die Wärme, die Nahrung, der Wein, diese Bücher – kommen nicht aus der Gesinnung des Valois; das weiß ich wohl; von seinem Geist ist nur der Käfig.«

Der Necker sah ihn scharf an.

»Glauben Sie, Balue, mit solchen Worten dieses Käfigs Eisenstangen durchfeilen zu können?«

Der Gefangene schüttelte traurig den Kopf.

»Das glaube ich nicht, Meister, das bedachte ich auch nicht. Ich weiß ja nicht einmal, ob die Brutalität des Königs, die meinen furchtbaren Lebensrest verkürzt hätte, nicht Ihrer Menschlichkeit, die die Jahre meiner Qual gleichsam garantiert, vorzuziehen wäre.«

Oliver schwieg eine Zeitlang, die Stirn in Falten; dann fragte er flüsternd:

»Wollen Sie sterben, Balue?«

Der Kardinal wich einen Schritt zurück.

»Ich verstehe Sie nicht recht, Meister«, antwortete er unsicher. »Gewiß möchte ich nicht mehr lange leben.«

Oliver drängte Mund und Nase zwischen die Stäbe.

»Wollen Sie Gift, Monsignore? – Ich verstehe mich auf derlei.«

Balue hob die Arme.

»Ich bin Christ und Fürst der Römischen Kirche«, sagte er ernst und laut.

Der Necker, zwischen den Stäben, grinste.

» Apage Satana ...«, murmelte Balue, bis an die Rückwand des Käfigs weichend. Oliver ging lachend.

 

Aus Furcht, die ihm in den Schoß gefallenen, wenn auch noch nicht verkosteten Früchte des Péronner Vertrages durch eine Weigerung wieder zu verlieren, folgte der fünfundzwanzigjährige Karl von Frankreich, Ludwigs nachgeborener Bruder, der in herzlichen Worten gehaltenen Einladung des Königs. Von Burgund nicht mehr unterrichtet, als jener über die dunklen Vorgänge selber wußte – vielleicht weniger noch, da der Herzog seine fragwürdige und kaum rühmliche Rolle am wenigsten einem Valois in allen Einzelheiten publizieren mochte –, mit unbestimmten Worten nur gewarnt, seine für die Sache der Fronde wichtige Person zu hüten, ohne den König zu reizen oder ihm eine Blöße zu zeigen, entschloß sich der junge, schwächliche, ganz auf den Rat einiger vertrauter Männer angewiesene Fürst, der brüderlichen Geste Ludwigs zu vertrauen. Befremdlich zwar schien, daß des Königs Einladung die von Karl wiederholt erbetene Erfüllung des Vertrages – die Belehnung mit den beiden versprochenen Herzogtümern – nicht einmal erwähnte; aber vielleicht wollte der freundschaftliche Ton nur die Selbstverständlichkeit solcher Formalität andeuten. Der Herr d'Urfé, Karls Mentor und Motor, hoffte sogar, in einem günstigen Augenblick die immer versagte Genehmigung des Königs zur angestrebten Heirat Karls mit der jungen Tochter Burgunds, jene Zusage an den Herzog, von der er nicht durch den Fürsten selber, sondern durch Oliver auf dem Marsch gegen Lüttich vertraulich hörte, offiziell und bindend wiederholt zu bekommen. Der Minister glaubte, Ludwigs Haltung in Péronne und Lüttich als Beweise einer grundsätzlichen Änderung seiner burgundischen Politik ansehen und jetzt seinen ehrgeizigen Heiratsplan verwirklichen zu können, wenn er ihn dem König als dynastischen Gewinn darstellte und für den Fall der Kinderlosigkeit die Nachfolge der französischen Krone zusicherte. Ludwig aber, ohne Sohn und den Bruder Karl als Frondeur und präsumtiven Thronerben in gleicher Weise hassend, wußte wohl, warum er bisher einen solchen gefährlichen Machtzuwachs des jungen Fürsten zu seinen Lebzeiten hintertrieben hatte; denn er fürchtete nicht den mageren Schatten Karl Valois, sondern den Riesen Karl Burgund, der auf solche Weise nach Sankt Ludwigs Krone greifen konnte. Als seine Dämonie in Péronne die beiden für Burgund strategisch unschätzbaren Provinzen dem Frondeur Karl auszuhändigen und die Heirat zu sanktionieren schien, war das Urteil über das Schicksal des Bruders bereits in der vorangegangenen Nachtfeme gesprochen worden.

Am Vorabend von Karls Ankunft saßen der König, Tristan, Jean de Beaune und Oliver in heimlicher Beratung beisammen. Absonderlichen Moiren gleich besprachen sie die Lebensdauer des Gastes. Ludwig wollte einen für die Öffentlichkeit natürlichen Tod innerhalb weniger Wochen, um die Gefahren zu vermeiden, die bei einem späteren Zeitpunkt durch eine verwandtschaftliche und politische Verbindung mit Burgund entstehen könnten, und um andererseits den Herzog durch raschen Rückfall der erledigten Länder des Bruders an die Krone desto empfindlicher zu treffen. Dann sollte der Rest der Fronde, Armagnac, Nemours und Saint-Pol, beseitigt, die englische Gefahr durch Geld behoben und Burgund durch Deutschland und die ergebene Schweiz abgelenkt und aufgerieben werden. Das war das geniale politische Programm des Königs, das er mit Oliver – neben dem drohenden Schloßturm zu Péronne eingeschlossen – in jener Schicksalsnacht gewonnen hatte und das die Reichseinheit begründen sollte. An diesem gewaltigen gedanklichen Bau wagte keiner der Gevattern zu rühren oder zu rütteln; aber das Schicksal des königlichen Bruders gefiel weder Herrn Tristan noch Jean de Beaune; Oliver schwieg. Der Profos war für prozessuale Aburteilung, wie sie gegen Balue geübt wurde und wie sie auch gegen Nemours und Saint-Pol angewandt werden müsse. Als ein Mensch, der trotz aller Härte und trotz der unzähligen Vergewaltigungen des Rechts den Meuchelmord schon von Berufs wegen ablehnte, wollte er die europäische Entrüstung und auch politische Nachteile gerne tragen, zumal ein Kapitalverbrechen nicht erst zu konstruieren war, sondern feststand. Der König schüttelte den Kopf:

»Das ist unmöglich, Gevatter. Glaubst du, ich habe dies alles nicht selber bedacht? Karl ist mein Bruder und kann nicht wie ein korrupter Minister oder ein rebellischer Vasall behandelt werden. Er wäre wahrscheinlich auch der Thronerbe. Das Todesurteil gegen ihn – eine andere Strafe kommt nicht in Betracht, will ich das Ziel erreichen – würde nicht nur Burgunds Wut von neuem und in nie erreichter Stärke auf mich konzentrieren: es würde mich im Augenblick isolieren, eine neue und gewaltigere Liga gegen mich schmieden, selbst die Bourbonen, selbst Dammartin, Sforza, Anjou auf die Gegenseite bringen, Rom und die Eidgenossen verstimmen, England, Deutschland und Spanien auf den Plan rufen. – Es wäre nicht nur mein Tod und der eure, Compères, es wäre das Ende des Reiches.«

Ludwig hatte mit schlichter, kaum lauter Stimme gesprochen. Doch der ungeheure Inhalt seiner Worte schwang im Raum wie Ton von Fanfaren. Die erbarmungslose Größe des Herrn bedrückte die Diener und machte sie stumm. Die Stille war tief. Der alte Tristan betrachtete den König mit einer Ehrfurcht in den Augen, die so ungewöhnlich war wie seine innerliche Erschütterung, welche ihm die Hände religiös faltete. Oliver, neben dem Fenster lehnend, sah ernst, aus verschränkten Armen die Hand zum Kinn führend, zu Boden. Beaune fuhr aus tiefer Verlegenheit auf, als ihn der Monarch, das Schweigen mit einer Handbewegung gleichsam fortschiebend, anredete:

»Und was ist dein Einwand, Freund Jean?«

Der Schatzmeister war von den vieren der gutmütigste und duldsamste, gemäß seiner körperlichen und seelischen Konstitution. Sein Phlegma und seine sybaritische Auffassung des Lebens schauderten vor jedem unmittelbaren Eingriff in das menschliche Dasein zurück. Persönlich gewiß nicht feige und beruflich von einem Rigorismus, der mit den unbedenklichsten Mitteln das Geld aus dem geschwächten und verarmten Volk sog, die zuweilen kostspieligen politischen Praktiken des Königs finanziert hatte und seine großen staatsmännischen Ideen realisierbar machte, war ihm dennoch eine gewisse Humanität geblieben, die gegen die Akte brutaler oder heimlicher Zerstörung des Menschen protestierte – ein zarter Sinn, der Anblick und Laut des gewaltsamen Todes nicht vertrug. Er schwieg vor den Argumenten des Königs, er begriff ihre harte Logik, die keine Angriffsfläche bot. Doch als Ludwig ihn fragte, zwang ihn seine ehrliche Natur zur gefühlsmäßigen Opposition.

»Ich begreife das eine nicht, Sire«, sagte er nach einem kleinen Zögern. »Warum kommt nur die Todesstrafe in Betracht?«

»Aus zwei Gründen«, entgegnete Ludwig sofort; »ich kann Karl Valois schwerlich in die Oubliette schicken, das heißt also: verschwinden lassen, ohne eine kaum abgeschwächte Empörung gegen mich zu riskieren; und ich könnte es in bestem Fall nur bis zu meinem Tod. So würde ich also nichts gewinnen und nichts vermeiden. – Und dann: ich darf keine Präzedenzfälle für Nemours und den Konnetabel schaffen, die sterben müssen.«

»Und Balue?« wagte Jean de Beaune einzuwerfen.

»Balue ist kein Dynast, hat kein Land und keine Soldaten. Er ist nur als Werkzeug gefährlich. Und Werkzeug kann in der Oubliette vergessen werden.«

Der Schatzmeister schwieg und ließ nicht erkennen, wie weit er überzeugt war und ob er resignierte. Ludwig wandte sich mit einer leichten Ungeduld im Ton an den Necker:

»Du warst bisher beharrlich stumm, Oliver. Ich erinnere mich gut, daß du auch in Péronne bei der Skizzierung dieser Idee keine klare Antwort gegeben hast. Es wäre aus bestimmten Gründen fatal, wenn auch du Hemmungen bei dieser gewiß traurigen Entscheidung hättest.«

Der Necker hob das Gesicht und lächelte ein wenig.

»Es genügt wohl, wenn der Entscheidende keine Hemmungen hat, Sire«, sagte er abgründig; »er übernimmt ja dann die Bedenken der Gehorchenden von selbst. Ich habe nichts zu widersprechen, sondern nur ein Wort Eurer Majestät zu wiederholen, ein wichtiges Wort, das mir auch von Ihnen nicht genügend gewürdigt scheint, gnädiger Herr.«

»Nun?« fragte Ludwig und hob die Schultern. Auch die beiden anderen sahen in Spannung den Meister an.

»Herr Karl wäre wahrscheinlich der Thronfolger. – Ich darf sogar präzisieren, Sire: Herr Karl ist der Thronfolger; denn er könnte dem Alter nach der Dauphin sein, der Ihnen versagt ist.«

»Gewiß, gewiß!« rief der König, leise erstaunt, »und ich würdige diesen Umstand so sehr, daß ich mich zur Erbarmungslosigkeit gegen mein eigenes Blut verurteile.«

Wieder lächelte Oliver flüchtig.

»Diese Verurteilung ist die mildeste, die heute abend besprochen wurde«, sprach er freimütig. »Sie würdigen das Negativum, Sire. Ich will nichts gegen die Verneinung seines Lebens sagen. Aber ich wage zu behaupten, daß Sie über die wohl notwendige Vernichtung den gleicherweise notwendigen Aufbau vergessen, Sire.«

Der König betrachtete seinen Vertrauten erwartungsvoll und auch mit einem leisen Angstgefühl. Er wußte, daß dieser ihm verbundene Mensch keine Warnung aussprach, die nicht in ihn einschlug wie der Blitz eigener Erkenntnis. Und er wurde unsicher.

»Was vergesse ich, Oliver?« fragte er fast demütig.

»Sie vergessen, Sire, daß Sie nach dem Tode Karls der letzte Valois sind. Sie haben nur zwei Töchter, die fremden Fürsten versprochen sind. Nach dem Tode Karls fehlt Ihnen der Thronerbe. Sie sind im Begriff, mit ihm die eigene Dynastie zu vernichten.«

Einen Augenblick war der König von solcher rauhen Beweisführung betroffen. Er faltete die Stirn und biß sich auf die Lippen. Dann rief er erregt:

»Ich habe keine dynastischen Ambitionen! Meine Sorge gilt dem Reich. Da seinen Bestand Karls Schwäche und Verräterei gefährdet, muß er beseitigt werden, ob er Valois ist oder nicht. Und da das Haus Bourbon, mit mir verschwägert und meine Politik vertretend, die nötigen Fähigkeiten zur Erhaltung des Erbes aufzuweisen scheint, möge es der Erbe sein.«

Oliver lächelte ein drittes Mal.

»Auch das Haus Savoyen ist mit Ihnen verschwägert, Sire«, meinte er, »und auch Bourbon gehörte der ersten Fürstenliga an und könnte nach Ihren eigenen Worten unter bestimmten Umständen wieder frondieren. Und Bourbon ist auch mit Burgund verschwägert. Man soll den Fürsten als Verwandten noch geringer einschätzen als den Fürsten, der Ihr Freund zu sein vorgibt. Sie sind alle Opportunisten. Und wenn Sie, was das Geschick verhüte, früher sterben sollten als Burgund, so weiß ich gewiß nicht, ob der Herzog mit Bourbon größere Schwierigkeiten haben wird als mit Herrn Karl.«

Der König starrte vor sich hin.

»Burgund wird nicht länger leben als ich«, sagte er, die Lippen kaum bewegend; »aber vielleicht hast du recht, Oliver. Und was rätst du mir nach alledem?«

Der Necker kam ein paar Schritte näher und sprach ernst und langsam:

»Wenn Sie einen Thronfolger vernichten, Majestät, müssen Sie einen anderen erzeugen.« –

Ludwig hob schnell den Blick zu ihm auf. Es verwunderte die ganz verblüfften Räte, daß des Neckers maßlos kühne Folgerung den König nicht auffahren oder lachen ließ. Doch der Fürst blieb sehr ruhig.

»Ich bin dreiundfünfzig ...«, sagte er nur und stockte schon, als er Oliver spöttisch die Brauen hochziehen sah. Er begriff gewiß den tiefen staatsmännischen Sinn der erstaunlichen Zumutung; aber das unruhige Gewissen suchte nach den dunklen Zusammenhängen des Warners mit sich selber. Wollte der Necker durch solches Mittel, das seines Genies würdig war, die Anne ihm entreißen? – Er fühlte mit einemmal seine große Liebe und die Gefahr, die ihr drohte; denn in diesem selben Augenblick, in dem er der Anne schönen Leib vor sich sah, wußte er auch, daß er den Gedanken Olivers nicht mehr werde abstreifen können.

»Ich habe seit fünfzehn Jahren Madame von Savoyen nicht mehr erkannt«, sagte er leise mit einer merkwürdigen Schamhaftigkeit des Ausdrucks. Oliver zuckte mit den Achseln und meinte kühl:

»Belieben Sie im Interesse des Reichs die eheliche Gemeinschaft wieder aufzunehmen, Sire – wenn auch nur für ganz kurze Zeit und ...«

Er stockte einen Augenblick und sah zu Boden.

»... und ohne die Gewohnheiten Ihres privaten Lebens viel zu ändern«, fügte er rasch hinzu.

Ludwig sah ihn mit einem unbestimmten Gefühl der Rührung an.

»Du machst also das Leben meines Bruders von der Geburt des Dauphin abhängig, Oliver?« fragte er schließlich. »Das bedeutet im besten Fall einen Aufschub von mindestens einem Jahr. – Das ist eine bedenkliche Spanne Zeit.«

Oliver schwieg. Jean de Beaune rief lebhaft:

»Warten Sie dieses Jahr ab, Sire! Erwarten Sie die Entscheidung des Schicksals!«

»Warten Sie, Sire«, sagte auch Tristan, »wenn das Schicksal nein sagt, mögen Sie es sein. Und Sie werden die Zeit bis dahin nicht ungenützt vergehen lassen.«

Der König sah fragend wieder den Necker an.

»Deine letzte Antwort fehlt noch, Oliver.«

Der Meister sagte mit einer entscheidenden Handbewegung:

»Behandeln Sie Herrn Karl schlecht, Sire, ängstigen Sie ihn, verzögern Sie die Belehnung mit den beiden Gebieten, die natürlich gefährlich wäre. Besser noch: drängen Sie ihm eine andere Landschaft auf in weniger gefährlicher Lage, so daß automatisch zwischen ihm und Burgund eine Verärgerung eintritt. Zwingen Sie ihn in eine hastige Opposition, die Nemours oder Saint-Pol oder beide kompromittiert und zugleich die Burgunder Heiratsfrage gänzlich unzeitgemäß macht. Verändern Sie die Reihenfolge der inkulpierten Namen in einer Weise, daß jenes Jahr gleich nützlich sich vollende. Ich sehe keine politische Notwendigkeit, den hochpeinlichen Reigen mit Herrn Karl zu eröffnen. Beginnen wir mit Nemours, der trotz der gewonnenen Landschaften mißtrauisch oder schlecht unterrichtet genug ist, im Süden gemeinsam mit seinem Vetter Armagnac Truppen zu mobilisieren. Saint-Pol ist im Augenblick noch als Gegenspieler des Burgunders verwertbar und zudem schlecht zu fassen. Setzen wir ihn an die zweite Stelle – und das Jahr wird reichlich beschäftigt und gut genutzt sein.«

Der König dachte nach, zwei harte Falten senkrecht zwischen den Brauen.

»Ihr seid der gleichen Meinung, Compères?« fragte er dann. Tristan und Jean de Beaune nickten. Ludwig stand auf.

»Ich kann mich nicht so schnell entscheiden, Freunde; es sind gewisse Überwindungen notwendig. Ich will heute nacht darüber nachdenken. – Und ich danke euch, Oliver, Tristan, Jean.«

 

Herr Karl, der von dem morschen Vater alles Häßliche des Gesichts, alles Schiefe des Charakters und den kraftlos mißtrauischen Geist des Greises geerbt hatte, ohne dem Genie des älteren Bruders auch nur im Ungefähren verwandt zu werden – ein hagerer Mensch mit enger Brust und schlechter Haltung, mit den Wulstlippen und dem Nasenkolben des Königs, fadendünne, aufgewundene, fast unsichtbare Brauen über kleinen, müden, fast immer leicht entzündeten, niemals ganz geöffneten Augen, mit schlaffen Backen und abstehenden Ohren –, Herr Karl wurde so freundlich und mit solchem Aufgebot an königlichem Prunk und brüderlicher Aufmerksamkeit empfangen, daß er sofort hinter der höfischen Bemühung die politische Falle vermuten zu müssen glaubte und eine fast lächerliche Vorsicht in Wort und Benehmen an den Tag legte. Auch der kluge Herr d'Urfé und auch Poncet de Rivière, der nach der augenscheinlichen Versöhnung des Königs mit Burgund und nach der großzügigen Rehabilitierung seines Freundes du Lau, jetzt wohlbestallten Gouverneurs von Perpignan, auf dem Umweg über den Bruder Karl an die königliche Krippe zurückzukehren trachtete, hielten Ludwigs breites Willkommenslächeln und die verwirrende Unsachlichkeit und Labilität seiner Sprache für die Vordergründe eines bestimmten und im Maße der aufgewandten Harmlosigkeit gewiß gefährlichen politischen Zieles. Die Gespräche hüben und drüben waren von einer Verlogenheit und einer umständlichen Hyperbolik, daß der König als Meister solcher Verhandlungskünste in immer bessere Laune kam und daß Oliver, dem Ludwig kein endgültiges Ja oder Nein zu seinem Plan gesagt hatte und der eine unzweideutige Einschüchterung des Gastes lieber gesehen haben würde, mit einigem Zweifel und nicht ohne Verstimmung die Entwicklung der Dinge verfolgte.

Als endlich der Herr d'Urfé mit äußerster Behutsamkeit die Frage formulierte, wann die Majestät wohl die Erfüllung des Péronner Abkommens gegenüber Monseigneur von Frankreich zu ratifizieren beliebe, hob der König gleichsam versonnen den Kopf, lächelnd auch, die höfliche Stimme ein wenig dehnend:

»Péronne ... Péronne ... – Ich sagte einmal in einer Stunde, die das Gemüt beschattete, der Name läute wie ein Totenglöckchen. – Nicht wahr, Seigneur Le Mauvais?«

Oliver nickte mit entspanntem Gesicht; er glaubte jetzt, Ludwigs Worte zu kennen. – D'Urfé und Poncet de Rivière hatten verlegene Gesichter; Herr Karl wurde vor Ratlosigkeit offensiv. Mit wirren Gesten, die die stolpernden Worte anzutreiben schienen, brachte er hervor, alle Vorsichtsmaßnahmen vergessend:

»Mit Verlaub, Sire, möchten Sie in dem Geist der Freundschaft und der Brüderlichkeit, die Sie mir – stets ... stets zu zeigen geruhten, den Akt der Belehnung noch während meines Aufenthaltes bei Eurer Majestät vollziehen ... – ich gestehe, dann wäre ich Ihnen über die Maßen dankbar, zumal die Investitur auch die von Eurer Majestät zu genehmigende Eheschließung mit Maria von Burgund ...«

Er stockte. Ludwig sah ihn mit seinem Rätsellächeln an und fragte leise:

»Vermissen Sie hier niemanden im Kreise meiner Räte, Herr Bruder?«

Schweigen tödlicher Verlegenheit war die Antwort. Herr Karl sah hilfesuchend auf Urfé, der aber hatte bemerkt, wie Oliver und Tristan ihre Genugtuung und ihren Spott kaum noch versteckten und wie Jean de Beaune ein Gelächter mit Mühe nur in Husten verwandeln konnte, und die Torheit seines Herrn heimlich verwünschend, gereizt auch durch die drohende Niederlage, wagte er das Letzte: »Dürfen wir Eure Majestät um eine klare Antwort bitten, ob der zu Péronne beschworene Pakt in seiner Anwendung auf Monseigneur von Frankreich irgendwelchen Mißverständnissen oder nicht vermuteten Widerständen ausgesetzt ist?«

Aber der König ließ sich nicht stellen. Mit seiner Begabung, durch das Ungefähre, scheinbar Unaufmerksame und Versonnene, in Wirklichkeit doch tief Berechnende und Geschmeidige seiner Dialektik den Gegner zu verwirren, zu ängstigen, zu schlagen, fand er auch wie von ungefähr und mit folternder Hartnäckigkeit stets zur empfindlichen Stelle der feindlichen Psyche zurück.

»Péronne ...«, wiederholte er nachdenklich, als hätte er aus Urfés gedrängter Frage nur wieder die Allegorie dieses Namens gehört, »Péronne hat in der Tat allerlei zu Grabe geläutet: Feindschaften und Freundschaften, Hoffnungen und Verzweiflungen, Intriganten und Dummköpfe – mich dünkt, Seigneurs, der Ton macht die Musik für alle Ohren nicht gleich. Ich höre die Totenglocke. Sie, Seigneurs, wollen die Friedensglocke hören. Nun, es ist in der endlichen Wirkung kein großer Unterschied.«

Er ließ plötzlich den besinnlichen Ton fallen und rief scharf, mit der Handfläche auf den Tisch schlagend:

»Sie, Seigneurs, sprechen von dem Schwur, ich spreche von der Verschwörung zu Péronne. – Nun, es ist in der endlichen Wirkung kein großer Unterschied. – Kein größerer als zwischen der Champagne und Brie, die ich Ihnen, Herr Bruder, aus guten Gründen nicht geben kann, und zwischen dem Herzogtum Guienne mit La Rochelle, das Sie haben sollen.«

Er ließ herausfordernd den Blick kreisen. Er sah die Gesichter wie taub unter dem unerwarteten Schlag. Er ließ sie nicht zur Besinnung kommen.

»Sie scheinen überrascht, Seigneurs?« fragte er mit der alten Höflichkeit. »Sie sollten nicht die Hintergründe von Péronne kennen und meine Berechtigung zu kleinen Korrekturen des Vertrags wie die eben erwähnte? – Und Sie vermissen nicht den Kardinal Balue, der seinen Herrn und König dem Feind in die Hände spielen wollte und sich doch zu guter Letzt gezwungen sah, nicht nur sein Spiel aufzudecken, sondern auch das der Mitverschworenen? Es sind da Zusammenhänge belichtet worden, die wohl merkwürdig zu nennen sind, wenn sie mich auch nicht sonderlich überraschen konnten. Als erfahrener Mann machte ich zu dem bösen Spiel der Frondeurs jeweils eine gute und eine böse Miene, wie es meinem hohen Ziel, das nicht meiner Person, sondern dem Reich diente, angemessen war. So werden Sie, mein Herr Bruder, die gute Miene um dieser oder jener Landschaft willen auf keinen Fall verändern wollen.«

Der König hatte auch bei der letzten, kaum mehr verhüllten Drohung die Stimme nicht gehoben; aber seine Augen unter den strengen, geraden Brauen hatten den durchdringenden, aus Abgründen kommenden, mitleidslos wissenden Ausdruck, der nicht zu ertragen war. Herr Karl saß in gänzlicher Bestürzung mit flatternden Lidern, eine plötzliche häßliche Röte zu beiden Seiten der Nase, und schüttelte aus irgendwelchen Gründen den Kopf. Herr d'Urfé sprang, um das Letzte zu retten, in die Bresche.

»Gewiß wird Monseigneur, zumal wenn er die Gründe für diesen Gebietsaustausch kennt, alles versuchen, um für Eure Majestät der loyale Bruder zu bleiben, der er ist. Und er wird die persönlichen Momente, die vielleicht für die Champagne und Brie sprechen, Ihrer besseren Einsicht opfern, Sire.«

Wieder schüttelte Herr Karl den Kopf und murmelte, die Hand hilflos hebend:

»Ohne Befragung des Herzogs von Burgund ...«

Der König unterbrach lachend:

»Herr Bruder, ich will um der Loyalität willen, die mir von Ihnen gerühmt wird, die Gnade haben, Ihren Einwurf nicht zu Ende zu hören; sonst wäre die böse Miene nicht zu bannen. – Und die böse Miene, Seigneurs, belehnt mit kargeren Gebieten als der Guienne!«

Der verzweifelte Urfé versuchte zu sprechen, um noch einmal ein Gleichgewicht herzustellen. Aber der König, noch lachend, die Augen blank durch einen brutalen Gedanken, war schon aufgestanden.

»Es ist immer heilsam«, rief er, »und nützlich für die Erfahrung, die Wirklichkeit zu sehen! – Folgen Sie mir in die neue Residenz des Kardinals, Herr Bruder, Herr d'Urfé, Herr Le Mauvais! – Herr Poncet wird mit meinen Räten auf unsere Rückkehr warten.«

Ein Blick unterwies die beiden Gevattern, wie sie die Zwischenzeit zu nutzen hatten. –

Zehn Minuten später hörte Balue im Käfig, vergraben zwischen Folianten und Pergamenten, das Schloß rasseln und die schwere Tür des Gewölbes in den Angeln knarren. Er hob erst den Kopf zur Seite und blinzelte, vom hellen Licht neben sich geblendet, ins Dunkle, als niemand durch die geöffnete Tür eintrat und von außen nur zwei unterdrückte Rufe der Überraschung und des Entsetzens an sein Ohr drangen. Er stand auf, trat an die Stäbe und preßte das Gesicht zwischen die Eisen, rechts und links die Hände einkrallend. Von neuem hörte er ein gedämpftes »Jesus, Maria!« aus dem Dunkel. – Jetzt wurde die Tür wieder geschlossen und verriegelt. Kopfschüttelnd kehrte er zu seiner Arbeit zurück. –

Zehn Minuten später betraten die vier wieder das Beratungszimmer, der König höflich lächelnd, Herr Karl mit rotgeflecktem Gesicht und schwankend wie ein Betrunkener, Herr d'Urfé sehr blaß und sehr aufrecht, Oliver ernst. Inzwischen hatte Poncet de Rivière erfahren, wie nahe er einer fetten Statthalterschaft im Bourbonnais sei, und wartete heiter auf die Gelegenheit, sie sich zu sichern.

»Haben Sie noch Einwände, Herr Bruder?« fragte Ludwig freundlich. Karl schüttelte den Kopf. Poncet mußte sich eilen, um noch zu Wort zu kommen.

»Bedenken Sie, Monseigneur«, wandte er sich an Karl, »daß die Guienne mit der Regierung von La Rochelle ein größeres und schöneres Gebiet ist als die Champagne und Brie und daß die Freundschaft mit Burgund vor dem Wunsch des Königs zurückzutreten hat.«

Jean de Beaune grinste. Poncet hatte seine Statthalterschaft gewonnen.

»Ihre Räte sind als kluge und verantwortungsbewußte Männer meiner Meinung, Herr Bruder«, konstatierte der König. Herr d'Urfé sprach kühn für den Fassungslosen:

»Monseigneur nimmt die Guienne an.«

Herr Karl nickte.

»Gut«, meinte Ludwig liebenswürdig; »jetzt bleibt nur noch eine Kleinigkeit zu erledigen übrig: Sie, mein Herr Bruder, schreiben dem Herzog von Burgund, daß Sie freiwillig Ihre Ansprüche auf die Champagne und Brie gegen die Ihnen günstiger erscheinende Guienne mit La Rochelle ausgetauscht haben; und Sie schreiben es vielleicht noch heute.«

Wieder herrschte betretene Stille. – Endlich wagte Poncet die Äußerung:

»Ich finde diesen Brief nur loyal und folgerichtig, Monseigneur.«

Herr d'Urfé sprach für den Fassungslosen:

»Monseigneur wird den Brief noch heute schreiben und Ihnen zur Beförderung aushändigen, Sire.«

Herr Karl nickte.

»Gut«, sagte Ludwig zutunlich; »und dies noch, Herr Bruder: Sollte mein Vetter Burgund die Heirat der Maria mit Ihnen aufrichtig betreiben – ich möchte es fast bezweifeln –, so werden Sie von meiner Seite gewiß keine Schwierigkeiten erleben.«

Oliver, Herr Tristan, Jean de Beaune grinsten.

Anne ließ durch Daniel Bart den Meister in diesen von Geschäften angefüllten Tagen fragen, ob er ihr eine Viertelstunde schenken könne. Die demütige Form der Bitte, die Daniel beflissen wahrte, um den stummen Vorwurf hörbar zu machen, bewirkte auch, daß Oliver trotz seines kühlen Bescheides schon kurze Zeit später seine seit Wochenfrist nicht mehr betretene Wohnung aufsuchte. Es war übrigens, wie er sich selbst gestand, keine Gefühlsregung, der er nachgab, keine Besorgnis um Annes Person, sondern eine merkwürdige und nicht einmal eben erst entstandene Ahnung, daß das Anliegen der Frau mit jener dunklen Frage zusammenhänge, die ihn und den König beschäftigte und die Ludwig, durch ungewohnte Kämpfe der Leidenschaft mit der politischen Vernunft augenscheinlich belastet, immer noch nicht zu beantworten vermochte. Oliver hatte sehr bald bemerkt, daß des Königs Fügsamkeit während der Gebietsverhandlungen, die er im Sinne des Neckerschen Planes bis zur überlegenen Bezwingung des Bruders führte, nur ein Kompromiß mit sich selber war, eine leichte strategische Änderung, die nicht schaden konnte und seinem intriganten Geist zusagte. Doch daß er bereit sei, der großen Idee des Neckers in ihrem ganzen Ausmaß zu folgen, dem Bruder die notwendige Schonfrist zu gewähren und die Königin, eine fremd und alt gewordene Frau, in das eheliche Bett zu befehlen, hatte sein nachdenklich verschlossenes Gesicht mit keiner Bewegung und keinem Wort bisher zugegeben. – Und Oliver wußte, daß er in fast allen diesen Nächten mit Anne zusammen war. –

Die Frau saß über ihrem Stickrahmen und hob das weiße Gesicht, als er eintrat. Ihre Züge waren ein wenig scharf geworden und schmaler der Mund durch die vielen Gedanken, die er nicht aussprach. Wie oft bei einsam gewordenen Menschen, die das Lachen geliebt hatten, ließ die verscheuchte Freude feine, schmerzliche Linien zurück, die von den Lippenwinkeln aus zu den Nasenflügeln und zum Kinn liefen. Da sie zu den Frauen gehörte, die nicht viel weinen konnten, waren die Schatten unter den etwas trüben Augen nicht durch Tränenrinnen vertieft und machten sie nicht alt, sondern in erregendem Gegensatz zu dem keuschen Mund unzüchtig. Und die Bewegung ihres Körpers war müde und teilnahmslos, wie bei Kurtisanen, die den lässigen Leib vom heimlichen Gefühl zu trennen gelernt haben.

Oliver küßte ihr kalt und höflich die Hand. »Was wünschest du, Anne?« fragte er, sie flüchtig betrachtend.

»Ich danke dir«, sagte sie leise und ihn groß anblickend, »daß du so rasch gekommen bist, Oliver. – Ich wünsche eigentlich nichts. – Mich quält nur so etwas wie eine Hoffnung, Oliver.«

Der Necker verzog den Mund.

»Hoffst du auf deine Art auf den Dauphin?« fragte er brutal. Sie senkte die Augen und sagte traurig:

»Ja, Oliver, ich hoffte auf dich.«

Der Necker schüttelte den Kopf, ernst, ohne ein Wort, und wandte sich zur Tür. Anne beugte demütig den Nacken und faltete die Hände um die Knie. Und sie hob nicht den Kopf, als sie ihm jetzt gequält nachrief:

»Er fürchtet es!«

Oliver blieb stehen, erregt: Sagte Ludwig ihr selbst dies? Sagte Ludwig ihr die letzten Gedanken, die er ihm nicht zu gestehen wagte? Wurde diese Liebe gefährlich? –

»Was fürchtet er?« fragte er über die Schulter.

»Daß du bei alledem an mich gedacht hast, obwohl ...«

Sie stockte; sie fürchtete vielleicht in diesem Augenblick, zuviel zu gestehen.

»Obwohl ...?« fragte Oliver drängend. Sie fuhr fort, hastig flüsternd:

»... obwohl du ihm gesagt hattest, daß er die Gewohnheiten seines privaten Lebens nicht viel zu ändern brauche.« –

Wörtlich fast! dachte Oliver staunend, das sind fast die gleichen Worte, die ich ihm sagte! Er hat kein Geheimnis vor ihr; aber er schweigt zu mir! – Er wandte sein Gesicht wieder ihr zu.

»Seine Furcht ist so unbegründet wie deine Hoffnung; das weißt du jetzt, Anne«, sagte er hart. »Was ich ihm sagte, meinte ich ehrlich. – Wirst du ihn zurückhalten, Anne?«

Sie sah ihn nicht an.

»Ich habe wohl kein Recht dazu«, entgegnete sie schlicht und sprach immer langsamer, »aber sieh, Oliver, er liebt mich sehr, scheint mir, mein Körper gilt allein, fühle ich, und er schließt jeden anderen Körper aus. So wird er es vielleicht – nicht – können ...«

Oliver biß sich auf die Lippen; das war es, was er befürchtet hatte. – Er dachte zurück, gepeinigt. Hatte je der Zauberleib der Neckerin in seinen Sinnen einen anderen Körper aufkommen lassen? –

»Bist du heute nacht bei ihm?« fragte er nach einer Weile, abgewandt.

»Ja.«

»Ich werde mit ihm ins Turmzimmer kommen«, sprach er etwas zögernd; »richte es ein, daß du unser Gespräch mit anhören kannst. Das wird gut sein für deine endgültige Haltung, Anne.«

»Ja«, sagte sie und reichte ihm die Hand. Er küßte sie kalt und höflich. Er schritt zur Tür.

»Es wird gut sein«, sagte er noch auf der Schwelle, »daß du krank bist, wenn die Königin kommt, Anne.«

»Ich werde gerne krank, Oliver«, flüsterte sie.

 

Es war der Abend vor der Abreise des neuen Herzogs von Guienne. Das Bankett, das die Belehnungsfeierlichkeiten und zugleich Karls Amboiser Aufenthalt beschloß, hatte die pompöse Folge von Speisen, Getränken und Lustbarkeiten abgerollt und ging zu Ende. Herr Karl war durch die gleichbleibende Liebenswürdigkeit des königlichen Bruders, durch das gewichtige Ländergeschenk und durch die Preisreden auf sein neues Reich, die er in Menge zu hören bekam und die ihn sehr rasch den etwas zwangvollen Tausch verschmerzen ließen, allmählich in die glücklichste Stimmung gekommen. An diesem Abend sogar, belebt durch Wein, durch die Heiterkeit seiner gleichermaßen zufriedenen Räte, durch die freundlichen Zusprüche der fremden Herren und vor allem durch das nahe Morgen, das ihn aus den Armen des gefürchteten Bruders entließ, wurde der junge Fürst in einer Weise sorglos, daß er zu lachen wagte und gesprächig wurde. In erregtem Selbstgefühl absonderlich mit den Augen blinzelnd, mit bebenden Backen und zuckender Nase begann er auf verfängliche Stichworte Jean de Beaunes und Tristans zu antworten, wurde immer redseliger und war schon im Begriff, Zusammensetzung und Methode der gescheiterten Fürstenliga wie einen guten Witz zum besten zu geben, als ihn endlich ein desperates Gelächter und ein furchtbarer Blick des Herrn d'Urfé veranlaßte, das Gespräch ein wenig hastig zu ändern. So hatte er in seiner leichten Trunkenheit wenig gemerkt, daß der König im Laufe des Abends immer stiller wurde, in dem Maße auch zurückhaltender und unfreundlicher, als der Angeheiterte das Beobachtungsvermögen einbüßte. Oliver aber wußte wohl, welche Gedanken hinter Ludwigs gefalteter Stirn arbeiteten und ihm die Lider halb über die Augen zogen. Der kurze Blick, das kurze Wort, hin und wieder den Bruder treffend, verrieten dem Aufmerksamen Ludwigs dunklen Willen, die Entscheidung über des frohen Karls Schicksal erst dieser letzten Nacht zu überlassen. – Oliver rüstete sich zum Kampf.

Der König selber war es, der ihn um Mitternacht, nach dem Ende des Banketts, ins Turmzimmer zu folgen befahl. Während Oliver die Tür hinter sich ins Schloß zog, schob Ludwig nach einem Augenblick des Zögerns die Wandfüllung beiseite und stieg die Wendeltreppe hoch. Der Necker wartete erstaunt; es war das erste Mal, daß der König auf so unverdeckte Art Annes Nähe zugestand. Wenn er früher – wenn er noch gestern zu solcher Stunde mit dem Necker im Arbeitskabinett saß und beide auch wußten, daß über ihren Köpfen der Neckerin bereiter Leib auf den Polstern lag, so besaß doch Ludwig stets den Takt, gleich Oliver diese Nachbarschaft zu verleugnen, zuweilen sogar sich von seinem Rat zum Schlafgemach zurückführen zu lassen, niemals aber die geheime Tür in der Holzverkleidung zu öffnen, bevor die Schritte des fortgehenden Meisters verhallt waren. – Oliver wartete, hörte die leisen Stimmen der zwei und schon wieder – nach wenigen Sekunden – des Königs Schritt auf der Treppe. Er lächelte ein wenig, als Ludwig ins Zimmer trat und die Paneeltür schloß.

»Sire«, sprach der Meister, der in der Nähe der Wand geblieben war, nach einer kleinen Weile, »wir hatten den gleichen Gedanken: auch ich bat die Dame Necker, zuzuhören.«

Der König sah ihn einen Augenblick verblüfft an; dann lachte er auf und rief:

»Kommen Sie herein, Madame!«

Oliver öffnete sofort die Wandtür. Anne, mit offenen Haaren, gehüllt in einen pelzverbrämten Mantel aus karmesinroter, reichbestickter Seide, die nackten Füße in wattierten Pantoffeln, stand im Ausschnitt der Täfelung wie ein schönes und wollüstiges Bild, in einer Bewegung des Schreckens und der Verlegenheit erstarrt.

»Kommen Sie, Madame«, wiederholte der König mit seinem Lächeln und bot ihr galant seinen mächtigen Lehnstuhl vor dem Schreibtisch an. »Da wir beide, ich und Oliver, ganz unabhängig voneinander Sie als Zuhörerin wünschen, brauchen Sie sich nicht mehr zu verstecken. Nehmen Sie den Platz ein, der Ihnen gebührt.«

Anne zog ein wenig die Schultern hoch und ging mit gesenktem Kopf und kleinen Schritten an den beiden Männern vorbei. Oliver war ernst und sah sie nicht an. – Sie saß dann mit ihrem weißen, abgekehrten Gesicht und der lauten Farbe ihres Gewandes in dem gebieterischen Stuhl, sehr seltsam und lockend in solchem Zusammenspiel von marmorner Blässe, Glut des Stoffes und Hoheit des Thrones. Sie saß aufrecht, ohne sich anzulehnen, die Arme an den Körper gepreßt, die Hände im Schoß. Sie trug den Kopf ein wenig gesenkt und sah auf die Platte des Tisches. Der König lehnte seitlich von ihr gegen eine mächtige Truhe. Oliver war im Hintergrund, neben der offenen Paneeltür, stehengeblieben.

»Sprich, Freund«, sagte Ludwig einfach, »du weißt, was zu bereden ist.« Oliver schüttelte den Kopf.

»Das eine wenigstens«, entgegnete er mit Bestimmtheit, »ist nicht mehr zu bereden: Herr Karl wird morgen, unbeschadet an Leib und Seele, Amboise verlassen.«

»Du weißt«, meinte der König nachdenklich, »daß ich gerade dies mit dir besprechen will. Ich habe mich in den letzten Tagen mit diesem Jämmerling mehr beschäftigt, als es sein ganzes morsches Leben wert ist. Er kann mir schaden. Er wird mir auch schaden. Der Urfé wird sofort nach Norden über die Bretagne, die Normandie zum Burgunder und nach Süden zur Sippe Nemours-Armagnac, vielleicht zum malkontenten Aragon seine Gewebe zu spinnen beginnen. Ein Jahr ist eine lange Zeit, Oliver. Wenn ich aber in vier Wochen die legitime Gelegenheit haben würde, in die Guienne als erledigtes Krongut einzumarschieren, ist das Gewebe sehr leicht und für immer zerrissen.«

»Sire«, erwiderte Oliver ernst, »Sie werden eine Stunde nach Karls Abreise den Großmeister mit der Armee in den Süden kommandieren, um dem Armagnac die Rouergue wegzunehmen. Sie haben dann die Guienne von Osten und Süden umklammert. Der Bretone im Norden ist noch lahm vom Kampf. Die Normandie beherrschen Sie. Das Jahr, das nicht lang ist, wird Herrn Karl von zufriedener Sattheit oder ängstlicher Vorsicht untätig und die übrigen Frondeure beseitigt sehen. – Prüfen Sie sich, Sire, ob Sie und ich an Ihrem Einwand glauben können.«

Der König schwieg. Oliver fuhr rascher fort.

»Und dies, Herr: wer allein kann Ihnen in den zehn Stunden, die zur Verfügung stehen, die legitime Gelegenheit zum Einmarsch in die Guienne geben?«

Ludwig schwieg. Oliver lächelte flüchtig.

»Ihres Gewissens andere Seite würde einem solchen Befehl nicht gehorchen«, sagte er leise; »denn Ihre Motive haben nichts mehr mit der Notwendigkeit politischen Schicksals zu tun.«

Er ging ein paar Schritte auf den König zu.

»Ihr Gewissen will keinen gemeinen Mord, Sire. – Am allerwenigsten um einer Frau willen.«

Ludwig hob mit gequältem Ausdruck die Hand. Anne bewegte sich nicht. Oliver stand unmittelbar vor dem anderen.

»Und der König«, sprach er scharf, »darf aus dem Bereich seines Gewissens so wenig herauskommen wie Balue aus dem Käfig. – Und das Gewissen muß so hart sein wie die Eisenstangen, Sire, und eine harte Sprache reden dürfen. Und es sagt Ihnen, Herr, daß in diesem Augenblick nicht Karl und keine Fronde Ihnen und dem Reich gefährlich ist, sondern die Frau, die dort sitzt.«

Er wies mit einer Bewegung des Kopfes zur Neckerin hin, ohne ihr den Blick zuzuwenden. »Und es sagt Ihnen, daß der Alkoven über uns von der Politik getrennt bleiben muß, will er sich vor der Gefahr schützen, gefährlich zu sein!«

Anne rührte sich nicht; auch die brutale Erwähnung ihrer Person erschütterte keine Muskel ihres Gesichts und des gestrafften Körpers. Der König beobachtete sie, ein wenig von Oliver fort zur Seite tretend. Seine Augen waren unruhig; ihre Regungslosigkeit schien ihn zu peinigen. Er hob die Schultern und tat die sonderbare Frage:

»Warum verteidige ich Sie nicht, Madame?«

Anne hob das stille Gesicht zu ihm auf und zog ein wenig die Lippen von den Zähnen; aber es wurde noch kein Lächeln, sondern ein unsägliches Geständnis der Schwermut. Sie sagte sehr leise, wie von fern her, den Kopf sacht schüttelnd: »Er darf so sprechen ... Er will mich nicht wiederhaben ...«

»Ich weiß es«, flüsterte Ludwig verwirrt, »ich weiß es ...«

Oliver war langsam an die Wand zurückgetreten; er wollte sein leidendes Gesicht nicht zeigen. – Der König suchte ihn mit den Augen.

»Und du bedrohst die Anne, wenn ich nicht gehorche, Oliver?« fragte er plötzlich.

Sieht er doch mein Gesicht? sann der Necker; bin ich doch noch schwach? – Er antwortete ernst:

»Der König hat nicht zu gehorchen! Der König wird morgen Madame von Savoyen benachrichtigen. Niemand wird ihn zurückhalten.«

»Niemand ...«, wiederholte Anne leise. Ludwig riß jäh die Arme in die Höhe und schrie:

»Ich bin ein armer Mensch ...«

Er hob schnell den Kopf, als staunte er über die eigene Stimme; und er hörte schon die Stimme, die von der Wand her kam und doch auch die eigene schien:

»... und ich gehorche dem König!«

Anne stand auf, als sei es der Befehl für sie. Mit kleinen Schritten ging sie an Ludwig vorbei und an Oliver, der neben der Paneeltür stand und sie nicht ansah. Die laute Farbe ihres Gewandes verschwand, man hörte den leichten Schlag der Absätze auf jeder Stufe der Wendeltreppe. Das Zimmer unten schien dunkel und kalt. Man sprach kein Wort mehr und blickte aneinander vorbei. Oliver verbeugte sich und ging. Als seine Schritte verhallt waren, trat Ludwig durch die Lücke der Täfelung, die Wandfüllung hinter sich schließend.


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