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Fortuna infortuna fortuna

Epitaph der Hortense

 

 

Das Nessushemd


Die verschriebene Seele

Die schwarze Magie der Geduld machte den Weg frei, schien es. Wenn man an sie glaubte, mußte man die Nerven haben, die Nerven und die gleichsam taube Seele, ihre Exekutionen abzuwarten, zu erleben, zu registrieren und keineswegs aus der Haut zu fahren. Wer sich der Geduld verschreibt, darf keinen anderen Teufel haben neben ihr. Der Bruder Charles und der kleine Reichstadt waren schon lange tot, der Hortense zitterten nicht mehr die welken Backen: der verhängte Louis, Prätendent, lüpfte keinen Wolkenzipfel. Er war vorne; denn die Vordermänner waren fortgeräumt; aber man sah ihn nicht, und die Allerwenigsten hörten ihn, so leise war er. So klug war er? Der kleine Tote von Schönbrunn überschwemmte Frankreich mit einer Sturzsee der Kaiserlegende. Man trank den alten Wein bis zum schwermütigen Rausch, man ertrank in den großen Gefühlen, die Geschickten schwammen auf ihnen, schnell in ihrem Element; die Professionellen kanalisierten sie bis zu den entferntesten Steppen ihrer Politik. Der Bonapartismus wurde eine heftige Mode, von der alle Parteien zu profitieren sich Mühe gaben. War Louis, Prätendent, unter den Gewinnern? Metternich warnte den König der Franzosen vor ihm, kaum daß die Reliquienjäger den toten Sohn des Kriegsgottes kahl geschoren hatten. Louis-Philipp, der sehr kluge Mann, setzte die Arenenberger Gefahr äußerst gering an. Was will der junge Mann im Thurgau tun, wenn man ihm den Wind aus den Segeln nimmt? Der dicke Bürgerkönig nahm gemütlich und gerissen die Legende in die Regierungspolitik auf. Das kostete nicht viel: eine neue Napoleon-Statue auf der Vendôme-Säule. So schlug man die Legende mit der Heiligsprechung. Auf Leute, die den Mann auf der Säule leben ließen, schlug man mit flachen Klingen. Auf Republikaner, die bonapartistische Unruhen – auf Bonapartisten, die republikanische Unruhen anzettelten, schoß man. Man hatte sich an die regelmäßigen Komplottversuche gewöhnt. Die Cholera war schlimmer, weil sie nicht abgeschossen werden konnte. Präsident Gisquet war ein sehr tüchtiger und sehr scharfer Beamter; aber er hatte ein manisches Interesse für den jungen Mann in Thurgau: er witterte seine Hand in jedem Verschwörungsspiel der Volksfreunde oder der Menschenrechtler und fand immer wieder einen armseligen polnischen oder italienischen Anarchisten, der nach genügender Vorbereitung durch geschickte und recht unbarmherzige Kreuzverhöre die Order oder das Geld aus Arenenberg zugab. Das wurde allmählich langweilig. Der König, der zu wissen schien, was er wollte, befahl Herrn Gisquet, auf keinen Fall sein Steckenpferd durch die Regierungspresse zu reiten. »Der Bengel bezahlt uns die Zeitungsreklame ja doch nicht, lieber Präsident.« Aber die Cholera hatte schon den Ministerpräsidenten Casimir-Périer aus dem Weg geräumt – einen stiernackigen Feind, dachte Louis.

Louis dachte auch an Louis Philipp, viel mehr als der König an ihn. Louis hatte viel Zeit zu denken – und ob er vor der besonderen Richtung des Denkens schauderte oder nicht: er fragte sich, wer noch im Weg stehe, und beantwortete es sich. Die Zeit verging, – nein, die säuerliche Zeit gerann und wurde stockig wie Milch. Da war jener dicke, kluge Mann im Weg und blieb im Weg und schoß die Barrikaden und die Menschen entzwei, die sich ihm in den Weg stellten, immer wieder. War der jetzige König der Franzosen, Julikönig, Bürgerkönig, Regenschirmkönig, Birnenkönig, bäuchiger Geldschrank des Enrichissez-vous – war dieser Mann, der alle Witzblätter Europas in Nahrung setzte und dennoch nicht lächerlich wurde, vielleicht gar ein Adept der magischen Geduld wie kein zweiter der Zeit, ein Meister, wie Louis ein Lehrling, ein Virtuose des Wartens, mit allen Wassern einer toll sprudelnden Historie gewaschen, alles erlebend und überdauernd: Revolution, Konsulat, Kaiserreich, Terror, Exil und ewiges Beiseitestehen – bis er da war, wo er sein sollte, nicht etwa stürmisch, sondern durch das Geschick geschoben und gar noch überrascht, so maßlos geduldig war er. Und jetzt blieb er, gemütlich und fett von dem Berg der Erfahrung, durch den er sich hindurchgelöffelt hatte, gemästet von Erfahrung und Geduld, belacht, bedroht, seelenruhig, dickfellig und geschickt, Kabinette wechselnd und mischend wie Spielkarten, freundlich und klein wenig tückisch zu jedermann, nicht zu laut, nicht zu leise, etwas redselig, leidenschaftlicher Börsenspekulant von je, ohne Freude am Angriff, aber erbarmungslos in der Verteidigung – jetzt war er da und nichts traf ihn: nicht die Cholera, nicht die Aufstände, keines der vielen Attentate. Er schien ein Magier, kein Opfer der Magie.

Drei Jahre sind eine lange Zeit, wenn sie durch Arenenberg fließen wie Regenwasser durch die enge Traufe; und am Schluß, der kein Schluß ist, sondern vages Weiterströmen der Monotonie, mag der Zweifel an der Zeit kommen, sogar der Zweifel an dem Sinn der Geduld. Louis schrieb wieder Broschüren und politische Kommentare in langen Briefen an Le Bas. Er schrieb nicht nur, um die Zeit auszufüllen, sondern auch, um den eigenen Inhalt zu bereichern. Er hatte einen guten und flüssigen Stil, allerlei Wissen, aber, ehrlich gestanden, noch keinen klaren Standpunkt, noch keine Definition seiner immerhin anspruchsvollen Existenz. Es war wie zur Augsburger Gymnasialzeit, die ihn fleißig und ehrgeizig machte, weil der Märchenprinz im Interesse seiner Ausnahmestellung auch auf den Platz des Klassenprimus gehörte. Zu einem Prätendenten gehört eine Weltanschauung, die seinen Namen einer liberalen Zeit empfahl. Louis besaß Witterung für Zeitströmungen und Kenntnis des jungen Sozialismus, der seine bonapartistischen und republikanischen Radikalen, seine zukünftige Grande Armée, zu durchdringen begann. Louis kam einerseits von Hortense und andererseits von Le Bas: schon seine Erziehung ruhte auf den beiden Pfeilern, die jetzt die Brücke des geistigen Programms zu tragen hatten. Es war nicht schwer: man verband immer wieder und mit allen möglichen geschichtsphilosophischen, politischen und sentimentalischen Variationen: Napoleon und die Freiheit, Napoleon und das Volk, Kaiserreich und Republik, aristokratische Geburt und demokratische Natur, man kam, wie bei jenen ersten politischen Träumereien, nur immer geübter und faßlicher zu einer Art Volkskaisertum als Bekenntnis und Programm. Hortense kam nicht mehr mit: sie war zuerst entsetzt und dann ganz still; sie hatte keinen Einfluß mehr, wohl aber noch den Glauben an ihn, gemischt mit Bewunderung und mit Angst. Louis war klug genug, sich nicht nur dem zukünftigen Frankreich zu empfehlen, sondern auch der gegenwärtigen Schweiz, der er dankbar war und von deren beispielhaftem staatlichen System er viel lernte. Er veröffentlichte politische und militärische Betrachtungen über die Eidgenossenschaft, in denen er nach allem Lob über die sinnfälligste aller Demokratien den Rat folgen ließ, sich außenpolitisch und wirtschaftlich nach Frankreich hin zu orientieren, nach seinem zukünftigen Frankreich natürlich. Und in einer zweiten fachwissenschaftlichen Broschüre – er war nun einmal Artillerist und verstand auch etwas davon und Hortense hatte klug getan, den historischen Artilleriehauptmann zu wiederholen – in dem »Artillerie-Handbuch für die Schweiz« entwickelte er die geschichtliche, technische und strategische Verbindung der zeitgenössischen Waffe mit dem napoleonischen Geschützwesen. Das war das geschickteste Kompliment, das er seiner Wahlheimat machen konnte. Er wollte mit dem Lasso seiner Liebenswürdigkeit nicht nur Menschen fangen, sondern auch Staaten. In der Schweiz war er sehr beliebt.

Ach ja, er war beliebt, er war Präsident des Kantonal-Schützenvereins – hatte er für solche Präsidentenschaft die italienische Revolution und die schönen wilden Pariser Tage erlebt? und wie lange ist das schon her? – er kommandierte jeden Sonntag eine Vereinsschießerei, in Ermatingen, in Mannenbach oder Berlingen oder Frutwilen oder Salenstein oder Steckborn, er verteilte Preise, Händedrücke, Schwyzer Lobsprüche, o ja, er war populär und bei dem großen Züricher Bundestreffen, dessen Ehrenpräsidium er übernahm, begrüßten ihn die Berner Schützen mit gutturalem: »Vif Nappoleong!«, den Namen auf der ersten Silbe betonend. Die Jahre flossen durch die Arenenberger Traufe und Napoleon war Schützenkönig, Schützenkönig in Artillerieuniform. Es war eine schöne Uniform, er trug sie oft, sie stand ihm gut, der zweireihige Uniformfrack mit den mächtigen Epauletten saß wie angegossen, die engen Steghosen hatten breite Streifen wie bei einem General und der riesige bebüschelte Tschako machte aus ihm einen großen Mann.

Ach ja, er war für Arenenberg ein großer Mann und für die kleinen Mädchen. Wenn er in die argen Zweifel kam und, ganz in Zivil, sein langes trauriges Gesicht im Spiegel sah und es mit der Angst bekam, vor lauter Geduld vergessen zu werden, dann lief er zu den Mädchen. Mit der verrinnenden Zeit wurde die Angst und mit der Angst der Bedarf an Freundinnen immer größer. Er trieb es etwas toll, allein in dem kleinen Ermatingen wußte man, daß die kreolische Witwe mit Frau Läubli, der deutlich geformten Schreinersfrau, zu alternieren hatte, und nicht einmal Frau Läubli wußte, ob das Kind, das sie erwartete, von Herrn Läubli oder vom Prinzen sei; im Schloß Gottlieben bei Ermatingen, das er sich zu jener Zeit von Hortense kaufen ließ, empfing er jene Konstanzer Damen, die sich mit ihm nicht in Konstanz sehen lassen konnten; denn sein galanter Ruf war überaus groß; und während der Saison bevorzugte er Baden-Baden, junge Engländerinnen, die nach Yardley-Lavendel rochen, und die lieben Pariser Kokotten. Hortense verurteilte seine Lebensweise, ohne sie beeinflussen zu können. Dann aber kam sie mit Heiratsprojekten. Die portugiesische Königstochter wurde abgelehnt: was tat ein französischer Prätendent in Lissabon? Und die Kusine Mathilde, Onkel Jerômes Tochter, fünfzehnjährig, recht hübsch, auch wohlhabend, anscheinend intelligent? Louis sagte nicht nein. Er sagte selten nein. Man holte die Kleine nach Arenenberg, ihr jüngerer Bruder war auch dabei, er hieß Napoleon, auch er, wurde Plonplon genannt und war ein unausstehlicher Bengel, voll einer merkwürdigen Abneigung gegen Louis, der ihn nicht beachtete. Louis beachtete nur die Schwester, er verstand, mit kleinen Mädchen umzugehen, Mathilde wurde rot und blaß, er war ihre erste Liebe, Hortense mit einem Stab von Gardedamen paßte auf, daß nichts passierte; denn sie kannte ihren Sohn. Louis verlobte sich und schlief nicht in Arenenberg, sondern in Ermatingen bei einer der beiden Damen oder in Gottlieben, wo er eine strohgelbe Engländerin einquartiert hatte, die behauptete, eine natürliche Tochter Sir Hudson Lowes zu sein, des Kerkermeisters von Sankt Helena. Beide fanden die Konstellation reizvoll. Hortense fand sie schändlich, sowohl wegen der Weltgeschichte als auch wegen Mathilde; und schändlich seien auch die Ermatinger Nachtquartiere. Louis meinte lächelnd, daß er sich auf diese Weise am besten an dem Schurken Hudson Lowe räche und zugleich sich die Unschuld seiner zukünftigen Frau reserviere. Die Braut wurde nach Florenz zurückgeschickt. Louis blieb wochenlang in Gottlieben; denn er fand Gefallen an der Revanche. Die gefangene Tochter des Gefangenenwärters war hübsch, und war sie nur eine Hochstaplerin, so machte sie der Trick nicht häßlicher. In Arenenberg grämte sich Hortense, in Ermatingen die Kreolin und Frau Läubli und in Florenz die kleine Mathilde; denn der Bengel Plonplon wußte alles und sagte ihr alles.

Es nützte nichts, es nützte nichts, hinter jeder Frau, hinter jeder Nacht stand der Geduldsteufel und marterte die verschriebene Seele mit den Höllentropfen der Zeit. Es war eine chinesische Folter, die nicht durch den Schmerz quälte, sondern durch die unentrinnbare Regelmäßigkeit. Der unendliche Vorrat an Stunden tropfte auf die kahle Seele – es tat nicht weh, aber vielleicht trieb es zum Wahnsinn. Wer sprach noch, außer Arenenberg und dem in die maßlose Trauer um Charles versponnenen Vater in Florenz, vom Carbonaro-Prinzen? Und wenn ein ganzes Land von rechts und links, von oben und unten mit den napoleonischen Requisiten fuchtelte: wo blieb da noch ein Platz für den schmalen Erben? Ja, man konnte in Frankreich auf eine gewisse Presse der echten und auch der opportunistischen Opposition zählen; »Tribune«, »National«, »Révolution«, »Gazette de France« und »Courrier Français« vor allem, vielleicht sogar auf den »Temps« und den »Constitutionnel«. Aber, nicht wahr, man mußte selber etwas zählen, ehe man mit ihnen in klarer Absicht rechnen konnte. Und man brauchte Geld, viel Geld, um sich eigene Organe zu schaffen, die das Vakuum bis zur endlichen Aktivität mit ihrem unentwegten Tenor füllen könnten. Ach, man war nicht reich genug, die willfährige Mutter hatte selber mit Schwierigkeiten zu kämpfen, um ihre französischen Gelder von der Juliregierung ausgezahlt zu bekommen, und der trübsinnige und mißtrauische Vater Louis, ein reicher Mann, gab dem fatalen Sohn keinen Pfennig mehr als sechstausend Franken jährlich, ein Taschengeld. Was soll man tun? Immer nur warten?

Arenenberg hatte stets Gäste, es war schon lange das Mekka der Orthodoxen, stellte den einzigen und wahren Erben aus und verlangte als Eintrittsgeld nichts als die einzige und wahre Gesinnung. Hier war Louis der junge Gott, und die Gläubigen lauschten auf seine spärlichen Sprüche. Die großen Namen des Empire tauchten auf, weiße Schnauzbärte der Grande Armée, polnische und französische Emigranten, der exzentrische Fürst Demidoff, dessen Freundschaft schon wegen seines sagenhaften Reichtums von Wert war, drei große Dichter, Chateaubriand, Delavigne und Alexandre Dumas – es war immer nur das eine Thema, die eine große Hoffnung, die eine große Frage: wann endlich? Louis wurde immer schweigsamer. »Ça viendra,« antwortete er leise und trübe, nicht mehr. Die Pilger bekamen keinen anderen Segen mit auf den Weg. Wahrhaftig, es ging auch der graue Greisenstern Lafayette über Arenenberg auf, es kam ein alter müder, enttäuschter, ausgenützter Mann, der von der Last der Weltgeschichte genug hatte und in den letzten fünf Jahren so viel Lüge sah, daß er sich den undeutlichen kleinen Prätendenten Louis als Wahrheit einredete: er sei die letzte Hoffnung. Hortense empfing den alten Feind, wie die Kirche einen bußfertigen Häretiker: mit einer etwas verletzenden Bereitschaft zu verzeihen. Louis wurde noch trauriger, als er den Rest des großen Anti-Cäsars am Arenenberger Hausaltar stehen sah, den Kanon der Legende mitbetend, und murmelte sein: »Ça viendra.«

Am 28. Juli 1835 unternahm der Korse Fieschi, Zuchthäusler und Geheimagent, ein Attentat auf Louis-Philipp während einer Parade der Nationalgarde. Die Höllenmaschine bestand aus vierundzwanzig Gewehrläufen, die sich gleichzeitig entluden. Achtzehn Menschen wurden getötet, der König blieb unverletzt. Das Glück blieb bei Louis-Philipp, die Geduld bei Louis; aber er begann an ihr zu zerren wie an einem Nessushemd.

 

Der Prophet

In diesem verquälten Herbst trat ein sonderbarer Mensch in die Arenenberger Legende ein. Er tat es weder leise noch ohne Ankündigung. Er schickte eine Fanfare voraus, daß das sakrale und lärmempfindliche Haus zugleich betroffen und unwillig wurde. Auch Louis hielt sich die Ohren zu, als er diese tobsüchtige Broschüre las, eigentlich das erste Heft einer periodischen Druckschrift, in der ein wütiger Anachoret des Bonapartismus den Kaisergedanken wie eine Theodizee verfocht. Der Uebersender war ein der Sache ergebener Tempsredakteur, der den Prinzen auf den neuartigen und vielleicht brauchbaren Fanatismus der Schrift und des Schreibers, übrigens eines gelegentlichen Mitarbeiters seines Blattes, aufmerksam machte: »Revue de l'Occident Français« von Jean-Gilbert-Victor Fialin, Vicomte de Persigny. Der Tempsredakteur fügte hinzu, daß nach seinen Ermittlungen wohl nur der schlichte Name Fialin berechtigt sei, der gräfliche Zusatz dagegen eine dichterische Freiheit bedeute und einen ehemaligen winzigen Familienbesitz im heimatlichen Loire-Departement auf hübsche Art zu Rang und Adel bringe; der »Vicomte« sei bis vor wenigen Jahren Husarenunteroffizier gewesen und man sehe es ihm auch an, man höre es sogar noch an dem Kasernenhofton seines Pronunciamento; von diesen kleinen Schönheitsfehlern abgesehen seien Mann und Werk ungewöhnlich, frappant, vielleicht sogar alarmierend. Louis freute sich zunächst über die biographischen Notizen; er hatte eine Neigung für Glücksritter, Desperados und Spekulanten, für die Hasardeure mit der Tarnkappe, für die maskierte Opposition gegen den Staat oder die Gesellschaft oder die Armut, für alle unbedenklichen Feinde der Erfolglosigkeit – mein Gott, ich gehöre doch zu ihnen, zu recht besehen. Louis bekam genug Drucksachen ins Haus geschickt, und das meiste wanderte ungelesen in den Papierkorb. Er war zu jener Zeit skeptisch und verdrossen. Vielleicht hätte er die Streitschrift des Vicomte Persigny nicht gelesen, wenn sie ein echter Graf und nicht der Husarenkorporal Fialin geschrieben haben würde. Er las und hielt sich die Ohren zu. Ein Feldwebel brüllte von der Unfehlbarkeit des Kaisers. Ein barbarischer Geist holte sich den Messias aus dem Grab von Sankt Helena und drohte der Welt mit dem zwangvollen Glück der napoleonischen Idee, mit dem neuen Licht, das aus dem Westen käme. Louis war versucht, das Heft zuzuschlagen; aber der grobschlächtige Evangelist ließ sich nicht abschütteln. Es gibt einen Furor der Ueberzeugung, der alles sein mag, roh, irr, wirr, selbst dumm – aber niemals lächerlich. Das war es, was den Leser Louis bezwang. Das Lächeln über den »Vicomte« war längst verschwunden, über den trommelnden Apostel war nichts zu lachen. Und sieh: der Eiferer blieb nicht bei den ewigen Adlern von Marengo und Austerlitz und Burgos und Moskau, er polterte von dem Gesetzgeber und Reformator und Soziologen – wahrhaftig, er stampfte mit aufgekrempelten Aermeln das weltanschauliche Fundament zurecht, auf dem das neue Volks-Imperium zu stehen komme. – Das will ich doch auch! – »Die Zeit ist gekommen …« – Was sage ich? Ça viendra. Mein Husar reitet ein Stückchen voraus und glaubt vielleicht selber an seine verrückte Gegenwart. – »A nous l'idée napoléonienne!« Das war fast der Rhythmus der Marseillaise. – Sei er ein falscher Graf und ein falscher Prophet dazu – aber fehlt mir nicht der Trommler?

Louis überlegte die Antwort. Es ist nicht unbedenklich, einem Athleten den kleinen Finger zu reichen, daß er ihn drücke. Es ist sehr bedenklich, diesen kochenden Kessel mit seinem maßgeblichen Beifall zu überhitzen. Es ist sehr die Frage, ob es schon an der Zeit ist, sich mit dem Radau zu verbinden. – Oder juckt mich das Nessushemd so sehr, daß es mir gleich ist, womit ich mich kratze?

Der Prophet selber brachte die Entscheidung, er folgte seiner Schrift in geringem Abstand. Fialin de Persigny, Vicomte, trat auf. Er fiel mit den ersten Oktobernebeln in Arenenberg ein. Louis, den diese Unternehmungslust nicht verärgerte, sondern vergnügte, empfing ihn; und da es sich sein ironischer Geist nicht versagen konnte, für die Szene die richtige Kulisse zu stellen, ließ er den Gast in den Hortense-Salon mit der Kriegszeltdecke und den Napoleonbildern führen. Er ließ ihn sogar eine Zeitlang warten, damit die handgreifliche Tradition auf ihn wirke und ihn vielleicht auch etwas klein mache.

Louis trat ziemlich leise ein. Er sah den wuchtigen Rücken eines untersetzten Mannes, der den Napoleon auf der Brücke von Arcole über dem Hortense-Flügel anstarrte. Der Gast rührte sich nicht. Er stand vor dem Bild stramm. Er hatte Säbelbeine, wie es sich für einen Husaren gehört. Louis lächelte vergnügt. »Vicomte,« flötete er. Der Mann fuhr herum. Er hatte eine schöne freie breite Stirn; aber damit hörte der Apostel auf. Von den kleinen flinken scharfen Augen ab gehörte das rotbäckige Gesicht in die Kaserne. Die Nase war kurz, etwas verdrückt und leicht nach rechts getrieben. Ueber dem Mund saß ein fester Bart, der erst acht Tage später begann, in die dünnen Enden des Louis'schen Schnurrbartes auszulaufen. Unter der Unterlippe hing ein winziges Bärtchen, das grobe Kinn war glattrasiert, der Backenbart schwoll unterhalb der Ohren zu zwei schwarzen Büscheln auf, das ganze Gesicht hatte wie die Nase einen Schwung nach rechts, und das war nicht angenehm. Persigny starrte den Prinzen an und stand stramm. Zwischen seinen krummen Beinen, die in engen hellen Modehosen staken, sah man das zierlich gerade Empire-Bein eines der acht italienischen Stühlchen, die um den runden Tisch standen. Louis mußte den Kopf heben, um dem Durchblick zu entgehen. »Da habe ich Ihre Andacht gestört,« meinte er und wies auf das Bild. Persigny sah schnell hin und her, vom Bild auf den Prinzen, Louis spürte: vom einem Gesicht auf das andere. »Sie suchen nach der Aehnlichkeit, Vicomte,« meinte Louis und erlaubte sich endlich, leise zu lachen.

Persigny sagte stramm und laut: »Sire, ich sehe sie.«

Louis blinzelte unwillig: die Introduktion des Mannes war denkbar ungeschickt. Doch er erwartete ja von dem professionellen Fanatiker weder Geschicklichkeit noch Takt, außerdem hatte er selber ihn auf das Glatteis geführt und dann war die Stimme des Propheten eine angenehme Ueberraschung: eine kräftige, tenorale und ehrliche Stimme, die zur Stirn paßte. Louis sagte sich, daß die gute Miene die beste für diesen treuherzigen Spieler sei und reichte ihm verbindlich die Hand. Es geschah etwas Unerwartetes: der breitspurige Mann klappte über der Hand zusammen und küßte sie. Louis zog sie hastig und fast bestürzt zurück.

»Wollen wir das nicht lieber lassen?« fragte er leise.

»Nein, Sire! Nein, Sire!« rief der heftige Mann, »ich habe drei Jahre darauf gewartet! Ich habe noch nie die Hand eines Mannes geküßt, ich werde keine andere küssen, Sire!«

Das war ein kultisches Draufgängertum, das Louis weder kannte noch schätzte. Er machte kleine Augen. »Darf ich Sie bitten, lieber Herr, bei aller Freude über Ihre schöne Gesinnung, eine etwas anspruchslosere Form der Anrede zu finden …« Louis lachte leise durch die Nase – »... oder nennen Sie mich Sire, lieber Herr, weil ich Sie Vicomte nenne?«

Er konnte die Bosheit nicht unterdrücken, der Panegyriker reizte ihn. Er wollte auch den Grad seiner Unempfindlichkeit kennen lernen. Doch Persigny war sehr durchtrieben oder sehr dumm; er blickte verständnislos und sagte: »Warum, Monseigneur? Ihnen gebührt der hohe und mir der niedere Rang. Und ich wollte für Sie die Anrede des Rechtes, nicht des Unrechtes wählen.«

Louis schüttelte leicht den Kopf und ließ ihn sein. Mit dem Mann war nicht zu spaßen, er hatte festen Boden unter den Füßen. Man nahm nicht ohne Umstände Platz, weil es dem Gast schwer fiel, sich in diesem Raum und in Anwesenheit des neuen Vorgesetzten zu setzen. Persigny stand noch im Sitzen stramm. Louis wollte gerne von den bloßen Ehrenbezeigungen loskommen und begann auf eine zugleich leutselige und maßvolle Art von der Broschüre zu sprechen, von ihrer erfreulichen Tendenz und von ihrem bemerkenswerten Temperament. Autoren hören im allgemeinen gerne Lob. Man sollte meinen, daß dieser handküssende Feldwebel das napoleonische Lob mit einem neuen Ausbruch der Devotion quittiert oder sich zum mindesten sichtbar gefreut hätte. Louis wurde verwirrt: Persigny saß stumm, gespannt und wie geladen. Er sah aus, als höre er Tadel oder doch etwas Quälendes und als sei er es zu ertragen nicht mehr sehr lange im stande. Louis wurde mißtrauisch, weil der Mann nicht in berechenbarer Weise auf die Einleitung reagierte. Louis liebte nicht Rätsel bei anderen, und dieser grobe Klotz als Sphinx machte nachgerade ihn, nicht den schlechtesten Psychologen, lächerlich. Er bog plötzlich vom Thema ab, mit seiner spöttischen Modulation: »Ich habe allerlei Autoren kennen gelernt, große und kleine Namen; und Chateaubriand war bescheidener als Delavigne und Delavigne bescheidener als mein tüchtiger Freund Dumas, und alle drei sind bescheidener als ich kleiner Dilettant, der das dickste Lob über seine dünnen Unmaßgeblichkeiten dankbar und hastig frißt – aber Sie, Vicomte, sind der bescheidenste Schriftsteller, der mir je begegnet ist. Meine Anerkennung für den französischen Okzident scheint Sie geradezu zu kränken.«

Persignys Gesicht wurde rot und blank vor Anstrengung, so als hätte er sich einer Last entgegenzustemmen. Und plötzlich war es die Höflichkeit, die er fortschob. Er sagte beinahe grob und hieb die Arme grob durch die Luft: »Ich bin kein Schriftsteller, Sire. Ich bitte Sie, wir wollen keine Literatur treiben. Dazu sind wir zu wichtig. Dazu ist die Zeit zu schade. Ich gehöre Ihnen, weil Sie die Inkarnation meiner Idee sind. Bestimmen Sie über mich, aber machen Sie aus unserer Berufung keine Konversation, ich flehe Sie an …«

Louis bog den Oberkörper zurück und sah unnahbar aus. Aber er hatte Angst, er vertrug das Ungestüm nicht, er setzte sich zur Wehr und er wurde bissig. »Pardon, lieber Herr, Sie übereignen sich mir etwas hastig. Ich kenne Sie nicht. Ich kenne auch nicht die Instanz, die Ihre Berufung aussprach …«

»Die oberste Instanz!« wetterte Persigny, »Gott, der mir das Leben zu diesem einen Zwecke gab!«

»In der Tat,« lächelte Louis, »Sie haben es mit den großen Würdenträgern. Aber können Sie mir Ihre Sendung nicht ein wenig demütiger und exakter belegen? Ich bin nicht so sehr mißtrauisch wie gegen jähe Ueberraschungen empfindlich. Ich falle weder gerne in zu kaltes noch in zu heißes Wasser. Kurz: Ihr Kommando direkt vom lieben Gott bedarf der Erläuterung, eines möglichst irdischen Kommentars.«

Persigny drückte die scharfen flinken Stieräuglein zu und sah auf sonderbare Art fromm aus, zugleich verzückt und pharisäisch. »Wir sind gleichaltrig, Sire, fast auf den Tag, unser Leben begann, als die Kaisersonne am höchsten stand, unser Leben bekam ihre Flamme ins Blut …«

»Sie sind doch ein Dichter,« unterbrach Louis grausam, »und außerdem müßten dann nach Ihrer Version Anno 1808 nichts als flammenblütige Bonapartisten geboren sein.«

»Das ist mein Glaube,« sagte Persigny unerschütterlich, »und meine Aufgabe ist, sie aufzurufen.« – Er schwang die Arme in die Luft und kam in einen wilden Schwung. »Meine Aufgabe ist zu glauben und zu treiben! Meine Aufgabe ist zu dienen und zu kämpfen! Ich bin nicht Mitglied der bonapartistischen Partei: ich habe die napoleonische Religion! Sire, ich will der Loyola Ihres Kaiserreichs sein – das ist zugleich Dienst und Mahnung. Ich werde Ihnen dienen und werde Sie mahnen. Und mein erster Dienst ist die Mahnung, nicht zu schlafen, wenn es zu wachen gilt, und nicht still zu stehen, wenn marschiert werden muß!«

Louis stand auf. Persigny sprang in die Höhe und stand stramm, das feste Kinn gehoben. – Ich habe zwei Möglichkeiten, dachte Louis: stumm hinauszugehen und den Kerl durch den Diener an die Luft zu setzen – oder den Propheten anzustellen und mich von ihm aus der Geduld werfen zu lassen, in die erste beste Dummheit, in den ersten schlechten Putsch, in die Unruhe, in die Lust der Unruhe …

Er sah den Mann an. Das Kasernengesicht mit den Backenbartbüscheln, Gesicht eines Tambourmajors, sah nicht aus, als hätte er eben das zweite Kaiserreich eingetrommelt. Aber er hielt den Blick aus, mit einemmal treuherzig und hundeäugig. – Neuer Loyola, dachte Louis, oder der Husarenunteroffizier als Jesuitengeneral. Die Bosheit lag ihm auf der Zunge, er verschluckte sie. Er sagte: »Ich werde Sie meiner Mutter vorstellen. Die Königin liebt Melodramatisches noch mehr als ich.« Persigny rührte sich nicht. Louis blieb an der Tür stehen.

»Was wollen Sie denn bei mir sein, Vicomte?« fragte er und lächelte: »Loyola ist eine etwas ungewöhnliche Dienstbezeichnung.«

»Generaladjutant,« sagte Persigny ohne Zögern.

Louis lachte leise durch die Nase. »Waren Sie nicht einmal Unteroffizier?« erkundigte er sich.

»Offiziersaspirant,« entgegnete Persigny schlicht. Er war unbesiegbar.

 

Die Agentur

Dieser zweifelhafte Herr Fialin genannt Persigny, auf fragwürdige und unernste Art berufen, begann sofort seine Arbeit, auf der Stelle, auf die Minute, wohlvorbereitet und plötzlich sachlich, plötzlich phrasenlos, so als sei die ganze Eingangsszene mit Kothurn, Fanfare und Trommel eine Antrittsformel gewesen, eine massive Art von Zeremoniell, die ihren Eindruck gemacht, ihren Zweck erfüllt hatte, jetzt erledigt war und die Bühne für das eigentliche Handwerk räumte, zu dem kein Klappern mehr gehörte. Louis war verblüfft. Dieser Mann, der so sicher und kurios gerüstet in den Arenenberger Kreis sprang, als versuche er nicht das Glück, sondern erfülle er einen geheimnisvollen Termin, – dieser scheinbare Jahrmarktsmagier nahm sich sofort den Prophetenbart ab und gab sich ernst, intelligent, nüchtern und in der Sparte des gemeinsamen Interesses ungewöhnlich gut beschlagen. Er verstand sich auf das Handwerk, das Louis vor lauter Geduld fast schon vergessen hatte.

Persigny kam mit einem fertigen Plan, den er – wie er beiläufig und ganz ohne seine dynastische Ehrfurcht erwähnte – jüngst in London dem Senior der Familie, dem Exkönig Joseph, vorlegte, einem zu alten, zu skeptischen, zu resignierten Mann, als daß er den Mut und die Leidenschaft hätte aufbringen können, die die Aktion verlangte. Louis besaß Mut und Leidenschaft, wenn sie auch verkappt waren, sehr tief in ihn eingelassen, mit Ironie, Müdigkeit und vieldeutigem Lächeln verkleidet. Und wenn sein scharfer Verstand auch die dreiste und gefahrvolle Spekulation erkannte, die der Prophet mit einer noch nicht genügend gelockerten Zeit zu treiben willens war, so war es doch wieder das große Spiel, das ihn lockte, die Würfel, die er seit Italien und Paris nicht mehr in der Hand hatte: der geliebte Hasard mit der Historie – so war es vor allem die Angst vor dem Friedhof der Geduld. Seit wieviel Jahren hatte er sich nicht mehr geregt? Er wollte sich wieder regen.

Persigny ging nicht wie ein Rauhbein vor, er ging keineswegs mit dem Kopf durch die Wand, sondern brachte zu dem Plan ein Jahreswerk beinahe systematischer Vorarbeiten mit. Er hatte den politischen Organismus Frankreichs nach den schmerzempfindlichen Stellen abgetastet, er hatte die Geographie der Opposition gegen das herrschende Regime studiert, er hatte nicht die launischen oder jähzornigen Städte und Departements, nicht Paris, Lyon, Marseille, Grenoble gesucht, deren Meutereien nicht aus dem Herzen, sondern aus dem Magen kamen: er hatte nach dem echten Widerwillen geforscht, nach der gegensätzlichen Struktur von Land und Leuten, nach der Antipathie von Grund auf. Er hatte gefunden, daß der Westen des Reiches loyal war, royalistisch, und sich bis zum Vendée-Fanatismus der weißen Kokarde steigerte. Er hatte gefunden, daß der Osten oppositionell war, demokratisch, sogar republikanisch. Je östlicher er kam, desto unbeliebter war das Julikönigtum. So fand er Straßburg, die merkwürdige Stadt, Schnittpunkt zwischen deutschem und französischem Denken, nervösen Pendel zwischen zwei Kulturen, Sammelbecken aller möglichen politischen und sozialen Ideen, Zuflucht der deutschen und polnischen Radikalen. Er fand eine Stadt mit einem äußerst intelligenten und beweglichen Bürgertum, das gerne protestierte, in religiöser und politischer Beziehung, das noch eine ungewöhnlich lebendige Vorstellung der Ideologie von 1789 bewahrte, eine etwas konfuse Neigung für Konspirationen besaß und erst vor vier Jahren wegen des überhöhten Zolls auf badisches Vieh einen veritablen Aufstand inszenierte, die Ochsenrevolution genannt. Er fand, und das war das Wichtigste, eine städtische Nationalgarde, die republikanisch gesinnt war, und eine Garnison, von der zum mindesten die Artillerie und die Pioniere weniger mit dem König als mit den Straßburgern sympathisierten.

Vicomte de Persigny erlitt einen kleinen Rückfall in die Rhetorik des »Französischen Okzidents«: »Und ist es nicht eine der tiefsinnigen, vielsagenden und wunderbaren Volten des Schicksals, daß gerade das vierte Artillerieregiment in Straßburg steht?«

»Warum gerade das vierte Artillerieregiment?« fragte Louis verwundert.

»Sire!« rief Persigny und hatte einen Tadel in der Stimme, wie einst Hortense, wenn der Junge auf die heilige Historie nachlässig reagierte, »Sire, welche Frage und welche Antwort! Bonaparte kommandierte in Toulon das vierte Artillerieregiment!«

»Ach so,« meinte Louis ohne Rührung, »sehr hübsch, gutes Proklamationsthema – aber sagen Sie, mein Lieber, dieser charmante Zufall ist doch nicht das Grundmotiv für Ihre Wahl von Straßburg?«

Persigny blickte streng. »Wir gingen von der organischen Struktur des Landes aus und haben das Recht, charmante Zufälle gering zu schätzen. Straßburg ist das östliche Nervenbündel wie Marseille-Toulon das südliche. Der Kaiser saß auf Elba und hob das Land von Süden aus den Angeln. Vom Golf Juan bis Paris brauchte er zwanzig Tage. Wir haben es nicht einmal so eilig. Wir sitzen in Arenenberg und packen das Land von Osten …«

»Wie die aufgehende Sonne,« lächelte Louis.

»Wie die aufgehende Sonne,« bestätigte Persigny mit Würde. »Und wenn wir Straßburg haben, haben wir das Elsaß. Wenn wir das Elsaß haben, haben wir Lothringen. Wenn wir Lothringen haben, haben wir die Champagne. Wenn wir die Champagne haben, haben wir Paris. Wenn wir Paris haben, haben wir Frankreich.«

»Auch für hundert Tage?« fragte Louis.

»Für hundert Jahre,« sagte der Prophet.

 

Schon war man im Betrieb, schon ging man auf den Menschenfang. Louis verstand sich darauf, es war sein Sport; und daß die Aufgabe jetzt schwieriger war als bisher, zugleich delikater und gefährlicher, reizte ihn. Man mußte aktive Militärs gewinnen: darum handelte es sich. Der genaue Persigny hatte Personalakten der wichtigsten Garnisonsoffiziere angelegt. Den Winter über trieb er geheimnisvoll durch Elsaß und Lothringen und kam mit ganzen Stammrollenauszügen zurück. Er brachte auch neue Helfer mit: ein paar junge Offiziere, die aus unterschiedlichen Gründen den Dienst quittieren mußten, aber noch über Verbindungen mit ihren Regimentern zu verfügen behaupteten, und etliche jener auf Halbsold gesetzten ehemaligen napoleonischen Offiziere, die nicht den neuen Herren hatten dienen wollen und wenigstens ihre ehrliche Ueberzeugung mitbrachten. Arenenberg wurde eine merkwürdige Geheim-Auskunftei des französischen Grenzoffizierskorps. Es war eine Kombination von Polizeibüro und Bestallungszentrale. Man wußte über jeden Kommandeur Bescheid, über jeden Adjutanten, man sonderte die Offiziere aus, die noch ein napoleonisches Patent besaßen – und das war die Mehrheit der höheren Grade – und arbeitete bereits theoretisch mit ihnen für den Fall, daß Straßburg gewonnen war und der Marsch nach Westen begann. Persigny schlug vor, den General Woirol, Kommandant von Straßburg, zum Generalissimus der neuen napoleonischen Armee zu machen. »Sachte,« lächelte Louis, »der Herr hat ja von seiner großen Zukunft noch keine Ahnung, und vielleicht schießt er uns zusammen, ehe wir ihm sein Avancement verkünden können.« Der Vicomte, dessen Schnurrbart jetzt in feine Enden auslief wie der seines Chefs, begegnete den Louis'schen Scherzen grundsätzlich mit taubem Gesicht. Im Frühling brachte er die Verbindung mit einigen linksradikalen Straßburger Politikern nach Arenenberg. Die Theorie von dem neuen revolutionären Bonapartismus, von der gemeinsamen demokratischen Front gegen das Juste-Milieu hatte bei den elsässischen Ideologen Raum gewonnen. Der Prophet war tüchtig. »Ich mache Sie bei der ersten Gelegenheit zum Herzog, Herr Graf,« lächelte Louis, »das ist für Sie der nächsthöhere Rang und paßt in unsere Republik.« Persigny blickte taub.

Louis kam in Schwung. Die besonnene Art, mit der eine verwegene Aktion vorbereitet wurde, gefiel ihm. War nicht wiederum bei dem Abenteuer ein Stück jener Geduld, die ihm anstand wie damals in Italien, weil sie weise war und dennoch tatkräftig und kein Höllenpakt mit der Lethargie? Warum sollte es nicht diese Form für ihn geben: Abenteurer der Geduld, Konquistador der Vernunft, Prätendent mit der Logarithmentafel? Sein römisches Heldentum war nicht das schlechteste gewesen, es schlug weder in Feigheit noch in Lächerlichkeit um, wie man es auch drehte: es war klug inszeniert, warum auch nicht? Wenn ein skeptischer und weitsichtiger Geist sich gegen das Mißlingen rückversichert: was schadet es? Nur die Le Bas'schen Helden verspritzen eilends ihr Blut und treiben sich kurzatmig ins Finale. Er mußte einen langen Atem haben, um ans Ziel zu kommen. Er mußte die Technik besitzen, Niederlagen zu überdauern. Er ging jetzt auf Straßburg los, klug, alle Gelegenheiten nutzend, alle Möglichkeiten wägend, guten Mutes und ganz für sich ungläubig.

Er verschickte mit glücklich stilisierten Begleitschreiben sein Artillerie-Handbuch an die ausgewählten Garnisonsoffiziere. Wenn ein Prinz mit dem Zunamen Napoleon und gar noch der sonderbare Heilige von Arenenberg ein brauchbares militärwissenschaftliches Buch schreibt und dediziert, so ist anzunehmen, daß der Empfänger die ungewöhnliche Sendung zu schätzen und den Anstand zu wahren weiß. Es antworteten alle, die meisten sehr geschmeichelt, einige mit recht deutlichen Versicherungen der Ergebenheit. Nur der Chef Woirol, scheinbar ein sehr vorsichtiger Mann, ließ durch seinen Adjutanten danken. Louis qualifizierte die Antworten nach ihren Wärmegraden und verwickelte die Offiziere in einen systematisch fortschreitenden Briefwechsel, in dem er, je nach den offenen oder zwischen den Zeilen verborgenen Bekenntnissen des Partners, schneller oder langsamer von der Fachwissenschaft auf die napoleonische Geschichte und von der Vergangenheit auf die politische Gegenwart zu sprechen kam. Von einer bestimmten thematischen Situation ab sandte er die Briefe nicht mehr durch die Post, sondern durch einen Kurier, der den Titel eines Adjutanten hatte und ein dienstentlassener Leutnant aus einer legitimistischen Familie war. Dadurch bekam die Korrespondenz wie von ungefähr einen konspirativen Charakter, und jeder Offizier, der sie dennoch fortsetzte, war schon halb erobert. Im Frühsommer war Louis bereits so weit, eine Anzahl Offiziere zu persönlicher Besprechung bereit zu wissen. Es wurde Baden-Baden vorgeschlagen, weil es nahe an der Grenze lag, von den Straßburger Offizieren frequentiert wurde und deshalb unauffällig und ohne besonderen Urlaub besucht werden konnte. Doch Louis wiederum war in dem mondänen Bad an der Oos eine sehr bekannte Erscheinung und nicht allein die Pariser Kokotten im Conversationshaus und auf der Lichtenthaler Allee beachteten ihn. Man mußte vorsichtig sein, man mußte mit der Kombinationsgabe nicht nur der Kurgäste, sondern auch der vielen Spitzel rechnen, die Frankreich und Oesterreich und Preußen an diesem internationalen Treffpunkt offizieller oder verhüllter Persönlichkeiten unterhielt. Man hatte nicht das Geld, um sich nur für diesen Zweck eine Villa zu mieten. Persigny wollte sich um den Ausweg bemühen und reiste für eine Woche fort. Als er wieder kam, sagte er, daß die bekannte Sängerin Eleonore Brault-Gordon, zur Zeit in Baden-Baden, aus Fanatismus für die Sache des Prinzen bereit sei, ihre günstig an der oberen Hardgasse gelegene Mietvilla für die Zusammenkünfte zur Verfügung zu stellen.

Louis machte kleine Augen. »Schon wieder eine Fanatikerin,« meinte er. »Ich verehre Frauen sehr, wie Sie wissen; aber eigentlich sollten wir es unterlassen, auch noch ihre politische Treue zu strapazieren.«

Persigny lächelte selten; aber jetzt lächelte er und es stand ihm schlecht, es gab seinem Gesicht einen noch stärkeren Rechtsdrall: man könne sich auf Miss Gordon verlassen – sie sei 1808 geboren.

Louis lächelte nicht mit, er hatte ein sonderbares Gefühl mit einemmal. »Sie wissen offenbar Bescheid, mein Freund,« näselte er, »und das ist bei unserem allgemeinen Alter noch nicht einmal eine Unhöflichkeit.«

»Im Gegenteil,« merkte der Prophet an, »Miss Gordon ist sehr hübsch.«

Louis hob die Brauen und sah über ihn hinweg. »Die Dame ist Engländerin?«

»Französin, Tochter eines Kapitäns der Kaisergarde, bonapartisch wie ich, – Frau Gordon als Witwe des englischen Kriegskommissars Sir Gordon Archer – eine herrliche Frau.«

»Sie schwärmen, Loyola.«

»Ich habe Grund.«

»Sie schwärmen von Ihrer Freundin.«

»Von unserer Freundin, Sire, sie hat schon allerlei für uns getan, sie ist seit zwei Jahren meine politische Helferin, sie hat mir im letzten Winter die schwierigsten Personallisten verschafft – sie ist würdig, Sire, bei Namen genannt und Ihrer persönlichen Gnade teilhaftig zu werden – sie ist es in jeder Beziehung würdig.«

Persigny lächelte wieder. Louis hob langsam den Kopf und musterte ihn mit einem Blick, der nicht freundlich war. Was kam noch alles aus dem unübersichtlichen Mann: Prophet und Bürochef und Detektiv – und jetzt noch ein Stückchen Zuhälter? Oder will er ein bißchen Barras spielen und für das zweite Kaiserreich gleich die Josefine liefern? »Galantes Lächeln kleidet Sie nicht zum Besten, Persigny,« meinte er und öffnete beim Sprechen kaum die Lippen, »und es wäre besonders hübsch, wenn Sie mir nunmehr auch noch sagten, daß Miss Gordon wohlhabend sei.«

»Ach Gott,« entgegnete Persigny unbeirrt, »sie ist eine beliebte Konzertsängerin, verdient mit ihrer Kunst ziemlich viel Geld und besitzt außerdem durch ihren verstorbenen Mann einiges Vermögen.«

»Wir verstehen uns ausgezeichnet,« sagte Louis scharf und drehte ihm den Rücken. Unter dem Fenster hockte der ewige See, zwischen den Pappeln des Hanges sah man die Landzungen von Mannenbach und Berlingen, im Salon klimperte die Mutter auf der ewigen Harfe – ach, er kannte dies alles zwanzig Jahre von seinen achtundzwanzig! Das Nessushemd juckte.

»Für die nationale Aktion ist ihr kein Opfer zu groß,« ließ sich Persigny hören. »Unter anderem hat sie den ›Französischen Okzident‹ finanziert.«

»Unter anderen gewiß auch Sie, Herr Vicomte.«

»Gewiß,« bestätigte Persigny, »als den Herausgeber.«

»Finanziert sie nicht auch unseren Straßburger Putsch, Herr Generaladjutant?«

»Inwiefern, Sire?«

»Hat sie nicht möglicherweise jene Villa erst gemietet, um die Vorbesprechungen zu beherbergen?«

Persigny entgegnete nach einer Pause: »Ich bewundere Ihren Scharfsinn, Monseigneur.«

»Ich bewundere die Dame.«

»Sie gibt am 1. Juli ein Konzert, ich habe bereits Karten.«

 

Der »Große Saal« des Baden-Badener Conversationshauses, gleich hinter dem Portikus und vor den Spielsälen, war ziemlich voll. Louis und Persigny saßen in der ersten Reihe, den Zylinder auf dem Kopf, sehr elegant, schweigsam. Louis wurde bald erkannt, er hörte das Gezischel seines Namens, sein Rücken spürte die Operngläser und Lorgnons, die auf ihn gerichtet waren. Er war in unfreundlicher Stimmung und blickte aus halbgeschlossenen Augen auf den Goldknopf seines Stockes. Persigny hielt sich still und störte ihn nicht: das wenigstens hatte er für solche verschlossenen Augenblicke gelernt. Es klingelte, die Herren nahmen die Hüte ab. Auf dem Podium erschien eine überaus stattliche kräftige vollbusige Dame mit einem ausdrucksvollen Gesicht, von dem man im Hochglanz des Rampenlichts nicht sagen konnte, ob es ein hübsches oder nur ein gut zurechtgemachtes Gesicht sei. Sie war kostbar gekleidet, mit einem Stich ins zu Kostbare, zeigte ein verschwenderisches Dekolleté und eine große Sicherheit der Haltung. Persigny, mit verzückt zuckendem Schnurrbart, eröffnete das Beifallklatschen des Saales, und der Zusammenschlag seiner mächtigen Hände dominierte noch im Chorus. Louis blinzelte nervös gegen den Claqueur und verschränkte die Arme. Miss Gordon verbeugte sich ein wenig, sie senkte und hob eigentlich nur den Kopf und lockerte nicht den etwas theatralischen Ernst ihres Gesichtes. Ihre Belladonna-Augen sahen über die Reihen hinweg ins Leere, auch über die erste Reihe. Persigny beruhigte sich. Der Frack am Flügel intonierte, Miss Gordon sang eine Cavatina von Nicolini. Sie hatte eine große schöne Stimme. Ihr Busen wogte.

»Eine herrliche Frau,« wisperte Persigny an Louis' Ohr.

»Eine schöne Stimme,« sagte Louis, »das höre sogar ich, trotzdem ich unmusikalisch bin.«

Der Prophet konnte nicht anders und flüsterte wie für sich: »Und dieser Busen …«

– Eine Göttin für Feldwebel, dachte Louis; aber er selber liebte kräftige und deutlich geformte Göttinnen. Er meinte bissig und wenig mit sich im Reinen: »Mir scheint, Sie sind noch unmusikalischer als ich.«

Miss Gordon hauchte ersterbend das Finale, mit starrem Kassandragesicht, und der Beifall mußte lange tosen, ehe er ihren Tragödinnenblick aus der Unendlichkeit löste.

Prinz Louis Napoleon schickte ihr durch seinen Generaladjutanten den bereiten Blumenkorb mit der blauweißroten Schleife ins Künstlerzimmer. Persigny erschien wieder im Parkett und hatte noch rötere Backen als sonst. Er war erregt und scheinbar guter Dinge. Louis begriff ihn nicht: er scheint sie doch zu lieben, überlegte er, wie geht das zusammen? – Sie sei glücklich, meldete der Apostel, sie habe die Trikolore geküßt, sie habe sogar ein paar Tränen vergossen …

»Hoffentlich singt sie vor Glück nicht hier noch die Marseillaise,« unterbrach Louis trocken, »sie sieht sowieso aus wie auf Delacroix' Bild ›1830‹ die fahnenschwingende Dame Freiheit, die auch so willig den bewundernswerten Busen zeigt; aber hier sind wir im Großherzogtum Baden.«

»Wahrhaftig,« schwärmte Persigny, »sie sollte drüben die Marseillaise singen – das wiegt ein Dutzend Proklamationen auf.«

»Bei diesem Dekolleté zweifle ich nicht an ihrem Sieg über ein Armeekorps.«

»Sire, Miss Gordon ist ungewöhnlich kräftig und durchtrainiert, gleich vorzüglich als Reiterin, Fechterin und Schützin.«

»Dann werde ich auch ihr mein Artilleriehandbuch dedizieren und Sie nicht beneiden, lieber Freund, wenn Sie in eine ihrer durchtrainierten Stunden geraten.«

Persigny sagte taub: »Miss Gordon hat, der Vorsicht halber, ein kleines Souper in ihrem Haus anrichten lassen.«

Die Vorsicht war nicht zu tadeln. Im Restaurant des Conversationshauses oder im Hotel Stefanienbad oder im Europäischen Hof, säße man auf dem Präsentierteller. Es ging ja um Politik. Louis nickte wortlos.

Miss Gordon sang noch viel: aus der »Semiramis« von Rossini, ein Rondo von Pacini und italienische und französische Romanzen, ihre Bravourstücke. Persigny klatschte unentwegt und brüllte auch »bis!« und »bravo!« Louis, der nicht viel Musik vertrug, bekam Augenlider wie Blei.

Nach dem Konzert, als er durch die Gasse der Neugier spießrutenlaufen mußte, und vollends in der sanften Nachtluft wurde er wieder frisch. Sie gingen langsam durch die kleine Allee, die vom Conversationshaus zur Oosbrücke führte. Man mußte Miss Gordon Zeit lassen, sich aus der dramatischen Sängerin in die heitere Gastgeberin zu verwandeln. Louis schob den Hut in die Stirn; der endlich dunkle Park hängte die Blicke und das Gestaune von ihm ab, die Stille wirkte wohltätig nach den zu vielen Tönen – hoffentlich hielt auch der Claqueur neben ihm Ruhe. Ja, Persigny war still. Seine Säbelbeine machten kurze feste Schritte, der Kies flog hinter seinen Hacken auf. Er trug den Kopf mit dem mächtigen Zylinderhut gesenkt, als ginge er in nicht ganz leichten Gedanken. – Vielleicht beginnt bei ihm jetzt doch die Plage des Gefühls für sie, dachte Louis und lächelte im Dunklen. Persigny räusperte sich. – Ach, jetzt wird er wieder reden, dachte Louis, oder der Seher hat gesehen, daß ich eben zu lächeln gewagt habe.

»Sire, wie finden Sie die Frau?«

»Sie singt gut, wenn auch etwas viel. Für mich brauchte sie viel schlechter zu singen, sänge sie dann auch viel weniger.«

Persigny räusperte sich; aber seine Stimme blieb doch aufgerauht. »Sire, gefällt Ihnen die Frau?«

Louis rückte den Hut in die Stirn: »Herr Fialin, betreiben Sie außer der bewährten politischen noch andere Agenturen?«

Persigny drückte den Knauf seines Stockes unter das Kinn. Sie gingen schweigsam weiter. Der Mond segelte aus einer Wolke und illuminierte eifrig und einwandfrei die Ruine von Hohenbaden und die Porphyrfelsen des Battert. Louis dachte verdrossen an die permanente Ausstellung der Arenenberger Landschaftsromantik. Die Veduten, die vor ihm ausgespannt waren, solange er denken konnte, verstellten die andere Welt, die unliebliche, die entzauberte, die profane, die unbedenkliche, in die er gehörte. Also gut, man gehe durch das keusche Märchen des Schwarzwaldmondes zu Miss Gordon und fange die umfangreiche Venus mit der politischen Sehnsucht, sofern sie nützlich werden kann. – Louis schüttelte den Kopf: selbst sein Wille zur Verworfenheit war schwunglos. Der Umgang mit Frauen war für ihn bisher denkbar unpolitisch gewesen, abseits der Aufgabe, sogar ein Mittel, um nicht immer an sie zu denken. Gewiß, das brauchte es nicht zu bleiben und es mochte eine Zeit kommen, wo die Frau, die galante Frau, auch politisch wichtig war, so wichtig wie während des Direktoriums, so wichtig wie vor 89 – ja, vielleicht wird einmal seine Zeit die große Zeit für schöne Frauen sein: aber warum sollte er mit dieser Riesendame beginnen und auf die täppische Schicksalsfügung des gemeinsamen Feldwebels eingehen?

Persigny hustete und sagte heiser: »Miss Gordon ist vollkommen unabhängig, vollkommen Herrin ihres Tun und Lassens, von jeder Bindung frei …« Er wollte wohl noch mehr sagen; aber er verschluckte es.

– Das ist ja ein armer Teufel von einem Propheten, dachte Louis, das ist ja ein wahrer Märtyrer seiner Liebe. Er blieb stehen und sprach freundlich. »Hören Sie, Persigny, warum quälen Sie sich eigentlich so? Von mir droht Ihnen gewiß keine Gefahr. Miss Gordon ist für mich eine politische Agentin, sonst nichts.«

»Auf mich ist keine Rücksicht zu nehmen!« rief Persigny und ging vor Erregung weiter, trotzdem es ungehörig war. »Auf mich ist auch noch niemals Rücksicht genommen worden – von ihr! Und sie ist viel zu schön, viel zu schön …« Er blieb stehen und hob tragisch die Arme. Louis hinter ihm sah im Ausschnitt der Husarenbeine ein Stückchen Mondschein silbern auf dem Weg.

»Mir gefällt sie nicht,« sagte Louis kurz. Persigny schüttelte voll tiefen Unglaubens den Kopf.

 

Die beiden Herren mußten in einem winzigen, etwas kleinbürgerlich möblierten Salon warten: die Künstlerin war wohl schon im Hause, aber noch nicht umgekleidet. Louis gähnte deutlich. Es reute ihn, zumal nach der Gesprächswendung während des Herweges, die Zusammenkunft mit der Dame nicht auf morgen und auf eine weniger intime Stunde verlegt zu haben. Jetzt war es bald Mitternacht, und die Geschichte, die allerlei Deutungen zuließ, ging erst an. Persigny schien die dramatische Anschauung der Geschehnisse auf dem Sommernachtweg zurückgelassen zu haben. Er saß munter und rotbackig auf einem zerbrechlichen Stühlchen, schlug die Beine in den engen Steghosen zwanglos übereinander (was er sonst in Gegenwart des Chefs nicht zu tun pflegte) und erzählte, wie Miss Gordon vor Jahresfrist im Hydepark einen zudringlichen Kavalier mit einem einzigen regelgültigen Fausthieb auf den Rasen legte. Louis hielt die Anekdote für ungeeignet, ihm die Heldin reizvoller zu machen, und schwieg beharrlich.

Miss Gordon trat rauschend und duftend ein, das Zimmerchen bebte spürbar und Louis erschrak vor ihren Ausmaßen. Persigny bekam runde und starre Augen der Bewunderung. Die Frau war nicht fett, sondern mächtig. Sie hatte eine breite Brust und breite Hüften, aber eine beinahe zierliche Taille. Sie trug ein helles, geblümtes Seidenkleid, das nicht ganz so tief ausgeschnitten war wie das Konzertkleid. Sie hatte auch nicht die Arme nackt wie auf dem Podium: unter den sehr abfallenden Schultern bauschten sich wie Ballons die Keulenärmel der Mode auf, die plötzlich wieder um den Unterarm einliefen und ganz eng das Handgelenk umspannten. So sah es aus, als blähten sich Athletenmuskeln unter der Stoffblase. Das schöne schwarze Haar war in der Mitte gescheitelt und fiel in je zwei dick gedrehten Locken rechts und links auf die Schulter. Das Gesicht aber, aus der Nähe gesehen, war erstaunlich; es war ein herbes, scharfes, fast männliches Gesicht, das ganz gegensätzlich und wie irrtümlich über dem ausladenden Riesinnenkörper erschien. Und es trug auch den Anflug eines Bärtchens.

Der schmächtige Louis reichte ihr bis zu den Schultern, der untersetzte Persigny knapp über den begehrten Busen. Der Prophet stellte den Prinzen mit pompösen und feierlichen Worten vor. Louis küßte der Dame nicht die Hand, er hielt die Reserve des Souveräns für ein gutes Mittel, den Abstand zu erhalten. Miss Gordon machte einen Hofknix und die Bewegung ihres massigen Körpers war nicht ohne eine sichere Anmut. Sie zeigte lächelnd ihre schönen Zähne, als Louis mit einiger Hast ihren Gesang lobte. Eine hübsche blonde englische Zofe bat zu Tisch. Louis bot der Sängerin den Arm. Sie nahm ihn und preßte ihn sofort an sich, mit festem und unverblümtem Druck. Sie nahm ohne weiteres von der Beute Besitz: das paßte weder zum Hofknix noch zu des Prinzen maßvoller Huld. Louis wurde es heiß, und ihm war sogar, als sei er rot geworden. Der gefangene Arm hatte ihren festen Körper zu fühlen; er hatte auch zu erfahren, daß sie kein Korsett trug. Louis versuchte nicht gerade grob, sich zu befreien. Sie ließ ihn erst los, als sie sich an den kleinen runden Eßtisch setzten. Aber sie ließ nur seinen Arm los und schaffte sofort einen neuen Kontakt mit den Beinen. Louis suchte nach seiner bewährten Ironie, um die Dame abzuschrecken; aber er war überrumpelt, er war zunächst sprachlos und dann verbot ihm die Rücksicht auf den armen Persigny, anzüglich zu werden. Er aß und trank wenig und setzte eine eisige Miene auf. Miss Gordon bemerkte sie nicht oder wurde gar durch sie zur Attacke gereizt. Sie aß und trank kräftig und preßte ihr Knie gegen das seine. Er hatte keinen Platz zum Ausweichen, wollte er nicht gegen die Husarenbeine stoßen. Persigny trank sehr viel, redete ununterbrochen und wurde von der Dame schlecht behandelt. Louis versuchte vergeblich, dem Gespräch eine sachliche Note zu geben und auf die Straßburger Offiziere zu kommen. Miss Gordon bedeutete ihm nur, wie unwichtig die paar hitzigen Leutnants seien, die sich eingefunden hätten; er würde es morgen selber einsehen. Persigny kam in eine betrunkene Rhetorik, deklamierte mit wässrigen Augen seine napoleonische Heilslehre und küßte die »Hand des neuen Cäsars«, ehe es sich Louis versah. Dann begann auch Miss Gordon zu reden, leise und leidenschaftlich mit ihrer schönen, dunklen Stimme: von dem Erlebnis dieses Augenblicks, von ihrer Liebe für die Idee, die sie jetzt endlich lebendig sehe, neben sich in der Person des Erben, von ihrer Sehnsucht, sich der heiligen Sache hinzugeben. Louis saß betäubt und schläfrig. Während sie die großen Worte sprach, fraß sie ihn mit den Augen. Louis lächelte mühselig. Ihre starken weißen Finger streichelten seine Hand. Der Prophet hob ein leises Weinen an, »vor Glück zu leben«, wie er stotterte. Miss Gordon befahl leise und scharf: »Geh jetzt!« Persigny stand sofort auf, rotbäckig und starräugig, etwas schwankend. »Warten Sie nur, Vicomte,« warf Louis schwach ein, »ich komme gleich mit.« Persigny stand unsicher hinter seinem Stuhl und sah kläglich die Dame an. Miss Gordon blickte Louis ins Gesicht; sie hatte große, blaue, traurige Augen und lächelte mit blanken Zähnen. Dann stand sie auf und nahm ihn bei der Hand. »Wir wollen noch Kaffee trinken, Hoheit,« sagte sie. Sie führte ihn in ein Boudoir mit einem großen Divan und einem kleinen Tisch, auf dem Mokkakännchen, Tassen, Liqueurflaschen und Gläser standen. Sie schloß die Tür, sie schob laut, gleichsam mit Betonung, den Riegel vor. Persigny war draußen geblieben.

»Wo ist er – wieso bleibt er …« stotterte Louis schwach. Sie kam langsam auf ihn zu, lächelnd, wogend, furchtbar groß und stark, und hob ihn auf wie ein Kind.

 

Der Auftrag

Miss Gordon hatte recht. Die Subalternoffiziere, im ganzen sechs Herren, die Louis an den beiden folgenden Tagen im kleinen Spießbürgersalon der Mietvilla empfing – mit etwas übertriebenen Vorsichtsmaßregeln, je einen am Vormittag, am Nachmittag und am Abend – waren gewiß nette, junge, durch den Garnisonsdienst gelangweilte Leute, auch begeisterungsfähig, auch zum Einsatz ihrer Person gewillt, aber sie brachten nicht mehr mit als ihre eigene unbedeutende Bereitschaft, und etliche von ihnen taten es sogar nur bedingt, nur für den Fall, daß sie mit ihrer Gesinnung nicht allein stünden. Keiner von ihnen behauptete, innerhalb ihres Truppenteils Einfluß zu haben, um die Bewegung fördern zu können. Die beiden wichtigsten der Offiziere, die sich in die Korrespondenz mit Louis eingelassen hatten, der Adjutant des Generals Woirol – ein Hauptmann von Franqueville, der mit der Schwester einer Hofdame Hortenses verheiratet und deshalb mit Arenenberg schon früher bekannt war – und der Adjutant eines Infanterie-Regimentes, erschienen nicht. Louis hatte Grund zu arger Enttäuschung und gedrückter Stimmung. Die Besprechungen mit den Offizieren wären ohne jedes Ergebnis gewesen, wenn sich nicht am dritten Tag doch noch ein Regimentsadjutant eingefunden hätte, der aus dienstlichen Gründen nicht früher kommen konnte: Oberleutnant Laity vom vierten Artillerieregiment. Ob es der Name der berühmten napoleonischen Truppe oder die sympathische Erscheinung des jungen Offiziers war: Louis erwachte aus seiner schläfrigen Skepsis. Laity schob die ersten Phrasen des Prinzen beiseite, sah ihm in die Augen und sagte ohne Umschweife, daß mit einem Sack Sentiments und einer Handvoll Leutnants die Garnison nicht bekehrt und Straßburg nicht erobert werden könne. Die Garnison müsse an der Spitze gepackt werden; das bedeute, daß der Platzkommandant Woirol und der Artillerieoberst Vaudrey, sein persönlicher Chef, gewonnen werden müßten. Das würde seine Schwierigkeiten haben. Beide zwar seien alte napoleonische Frontoffiziere, aber keiner ein Abenteurer von Begabung und Neigung. General Woirol zumal sei saturiert und habe eigentlich keinen Anlaß, gegen den Julikönig zu meutern. Oberst Vaudrey allerdings sei politisch unzufriedener, weil er vielfach im Avancement übergangen, erst seit 1830 wieder aktiv sei und dem Dienstalter nach längst zur Generalität gehören müßte. Es käme eben auf den Versuch an. Das sei alles, was im Augenblick zu sagen und anzuraten sei.

Laity war ein hübscher Mensch mit schwarzen Haaren und brauner Haut. Louis, der in seinem Umkreis keinen Ueberfluß an sachlichen und ehrlichen Leuten hatte, fand ihn liebenswert. »Und Sie, mein Freund, fragte er ihn, »wie stehen Sie zu mir?«

»Ich wäre nicht zu Ihnen gekommen, Monseigneur, wenn ich nicht zu Ihnen stünde. Ich bin alt genug, um zu wissen, warum ich es tue, und ich bin jung genug, um an Ihre Zukunft zu glauben.«

»Sie halten mich also für einen Abenteurer von Begabung und Neigung?« lächelte Louis.

»Wenn es ein Abenteuer ist, daß Sie Napoleon heißen und danach leben müssen: ja, Prinz.«

Louis drückte ihm die Hand. »Ich bin skeptischer als mein Name und geduldiger als meine Legende. Das sei Ihnen für alle Fälle gestanden, auch für diesen Straßburger Fall. – Wann sehe ich Sie wieder, Laity?«

»Wenn jener erste Versuch gelungen oder mißlungen ist.«

Louis machte den Versuch. Er schrieb an General Woirol den durchdachtesten und durchtriebensten seiner Verführerbriefe, er war ein ungewöhnlicher Stilist geworden, er hatte nachgerade in der Komposition doppelbödiger, treuherzig arroganter, mit Gefühlsnebeln umhangener Aufforderungen zum Hochverrat Uebung – diese Poetik der Geheimpolitik war ein Meisterbrief: er, der Prinz Louis-Napoleon oder Napoleon-Louis Bonaparte (wie er neuerdings unterschrieb, um das bourbonenhafte Louis hinter dem programmatischen Namen zurücktreten und allmählich verschwinden zu lassen) – er wäre trostlos, müßte er die Grenze Frankreichs verlassen, ohne den verehrtesten der alten napoleonischen Militärchefs gesehen zu haben; er wisse wohl, daß die Gesetze und die Politik sie beide, den Prinzen und den General, in zwei verschiedene Lager werfen möchten, aber das sei unmöglich: »ein alter Militär wird für mich immer ein Freund sein und mein Name wird ihn immer an seine glorreiche Jugend erinnern. General, ich sehe mit zerrissenem Herzen Frankreich vor meinen Augen und darf es nicht betreten. General, helfen Sie mir! Könnten Sie mir in einigen Tagen eine Zusammenkunft in der Umgebung von Baden-Baden gewähren, so erleichterten Sie allein durch Ihre Gegenwart die Last der Trauer, die auf mich drückt und mich vielleicht erdrücken wird. Könnte ich Sie umarmen, so möchte ich die Undankbarkeit der Menschen und die Grausamkeit des Schicksals vergessen können. General, verzeihen Sie, daß ich mich gegen Sie so freundschaftlich äußere, so aufgeschlossen gegen Sie, den ich gar nicht kenne. Aber ich weiß ja: Ihr Herz ist nicht gealtert.«

Das war ein Brief! Louis las ihn vor. Persigny stand feierlich auf, wortlos vor Rührung. Er war seit der Nacht des Konzertnachspiels von einer gleichsam penetranten Diskretion, er tat, als sei nichts geschehen oder als sei das Geschehnis ein langgewohnter und anerkannter Zustand; und seine Propaganda für Miss Gordon hörte jählings auf, ohne daß sich seine Huldigungen für sie, seine Ergebenheit für den Prinzen und sein rotbackiger Betriebseifer vermindert hätten. Miss Gordon lag auf dem Divan, reglos und riesig, hörte dem vorlesenden Louis zu und sah ihm zu, mit einem langen Blick, das Gesicht auf die Hand gestützt. Louis las mit einer sehr gefühlvollen Stimme, etwa so, wie die rührenden Worte in die Seele des Empfängers klingen sollten; auch sein Gesicht war gefühlvoll oder doch von einem gut gespielten Ernst; aber seine lange Nase zuckte vor innerer Heiterkeit. Als er fertig war, blickte er die Frau an, und in seine Augen sah man nicht hinein, weil Wolken über sie hingingen.

Dies war gewiß: sie war unsicher und er sicher geworden. Nach dem Blitzsieg jener Nacht wollte sich bei ihm kein Zeichen der Niederlage einstellen und noch weniger ein Symptom der Hörigkeit, auf die sie es mit Wucht und Erfahrung abgesehen hatte. Dieser Mann kam nicht näher, so nahe er war, und war in keiner Umarmung zu greifen und wurde durch kein Wort der Liebe vertraut. Er war nicht einmal zu vergewaltigen, weil er sich keinen Augenblick zum Widerstand herabwürdigte, sondern sich mit einer spöttischen Anmut zum Genießenden machen ließ. Dieser unnahbare Geliebte, der sich – gepackt und bezwungen – in der winzigen Zeitspanne zwischen Schreck und Lust auffing und in Positur stellte und sich schon wie eine Auszeichnung verlieh, erschien am nächsten Tag so korrekt und leutselig, so bar der Erinnerung, so undeutlich, so unbekannt, so voll von fremdem Reiz auch, daß die verwirrte Siegerin zu glauben geneigt war, sie habe nur geträumt. Aber sie hatte nicht geträumt, sie hatte das Erlebnis gehabt, das auf der Stelle von ihm eingekerkert wurde, mit der Mitleidslosigkeit des nicht Liebenden – ach, so liebte sie ihn also, nach der Erfüllung hoffnungslos, so rasch und so streng gestraft, wie es selbst ihre ehrgeizige Angriffslust nicht verdiente? Im Nu türmten sich die Fragen auf, seine unbefangene Gegenwart gab Rätsel auf, der kaiserliche Prinz, der Prätendent, der große Zukünftige erlaubte nicht die Intimität, Antwort zu erheischen: aber die Gedanken gehörten ihm, das konnte er nicht hindern – das konnte selbst die Erkenntnis nicht verhindern, daß keiner seiner Gedanken ihr gehörte.

Er sah sie an und lud sie zur Briefkritik ein, nein, zum Beifall. Was sollte sie sagen? War sein Briefschreiben so wie ihr Singen, das man aus Höflichkeit bewunderte, auch wenn man unmusikalisch war? (Dieser Persigny hatte es verraten und konstruierte selbst daraus wechselseitige Anziehungspunkte). War sie ohne Verständnis für die politischen Romanzen, die Louis mit zuckender Nase komponierte? Wußte sie denn nicht, die Cavatina singend, welches schwermütige Gesicht auf das Publikum wirkte? »Ausgezeichnet,« sagte sie endlich, »vortrefflich! Es ist geradezu schade um ihn.«

»Um den General?« fragte Louis und lachte durch die Nase.

»Um den Brief. Er ist so schön, daß er verdiente …«

»... ehrlich zu sein – ja, Madame?«

»Erfolg zu haben, Hoheit. Wer zweifelt an seiner Ehrlichkeit …« Sie lächelte ihn mit unsicherer Zärtlichkeit an.

Der Adjutant de Bruc, Graf de Bruc, echter Graf, machte wieder den Kurier. Da er aus dem alten Adel stammte und sein ungewöhnlich langes, müdes, vornehmes Gesicht die Rechnung der langen Ahnenreihe augenscheinlich präsentierte, nicht aber den bonapartistischen Konvertiten anmerken ließ, war er als Träger politisch heikler Briefe unübertrefflich. Der Aristokrat wurde vom Julibürgertum, das sich leidenschaftlich gerne adeln ließ oder, wenn es irgend ging, selber adelte, mit Auszeichnung empfangen, und der Vicomte de Persigny von Fialins Gnaden rühmte sich seiner Eroberung aus ähnlichen Gründen, aus dem tiefen Respekt des Snobs vor dem Hochgeborenen. Einen Comte de Bruc empfing auch der Platzkommandant von Straßburg; doch dann endete die Audienz schnell und brüsk. Der General las den Brief, faltete ihn wieder zusammen, steckte ihn in den Aermelaufschlag und sagte: »Das einzige, was ich für den Prinzen tun kann: ich will ihn nicht Ihrer gewiß sehr nützlichen Person berauben, Herr Graf, und gebe Ihnen eine Stunde Zeit, den Rückzug über den Rhein anzutreten.« Herr de Bruc verbeugte sich vornehm und ging. Der Vicomte de Persigny hätte an seiner Stelle das genaue Zitat der Antwort unterlassen und dem Prinzen Louis die Abfuhr ein wenig freundlicher dargestellt. Der Comte de Bruc meldete die kurze Szene Wort für Wort. Louis zog die Brauen hoch, ließ sich jedoch weder Enttäuschung noch Aerger anmerken, sondern setzte sich hin und schrieb einen Brief an den Obersten Vaudrey, der ähnlich begann, wie der Brief an Woirol, dann aber auf das Schreiben an den Platzkommandanten zu sprechen kam – »eine rein menschliche Angelegenheit, Colonel, ein Hilferuf wie dieser« – und die Antwort des Generals Wort für Wort wiederholte. »Der Neffe des Kaisers fragt Sie, den Offizier der Großen Armee, ob es eine würdige Antwort sei und ob es auch Ihre Antwort ist, wenn er in großer Seelennot Sie um das Gleiche bittet.« Der Adjutant de Bruc war nicht nur ein nobler, sondern auch ein kaltblütiger Mann. Er zog auch mit diesem Handschreiben nach Straßburg, so als gäbe es nicht als Folge der ersten Briefzustellung bestimmte Gefahren für ihn. Doch sein feudaler Paß öffnete ihm wieder Grenze und Tor, der Platzkommandant schien seinem Namen keinen Steckbrief angehängt zu haben und der Oberst Vaudrey empfing ihn sichtlich unvoreingenommen. Der Oberst las den Brief, er las ihn langsamer als der General, vielleicht sogar zweimal; aber auch er faltete ihn zusammen und steckte ihn in den Aermelaufschlag. Der Graf kannte das schon und erwartete den Hinauswurf. Der Oberst sah ihn an, ging zweimal durch das Zimmer, sah ihn wieder an, verließ dann stumm den Raum und kam nicht mehr zurück. Auch das war eine Antwort. Bruc wartete noch zehn Minuten, vornehm und kaltblütig, und wandte sich dann zum Gehen. In der Tür traf er mit dem Regimentsadjutanten zusammen. Premierleutnant Laity sagte mit feinem Lächeln: »Herr Graf, dienstlich habe ich Ihnen zu sagen, daß Oberst Vaudrey sich außer Stande fühlt, auf den Brief des Prinzen eine zusagende Antwort zu geben, und deshalb lieber überhaupt keine Antwort zu geben gedenkt. Privat darf ich Ihnen sagen, daß ich meinen nächsten Sonntagsurlaub wieder in Baden-Baden verbringen werde.« Graf de Bruc verbeugte sich, fuhr wieder durch die Porte d'Austerlitz nach Kehl zurück, gleichmütig und unbeanstandet, und rapportierte dem Prinzen, der ihm weniger aus Ungeduld als aus Langeweile bis Appenweier entgegengekommen war, leise, genau und gefühllos die Geschichte des zweiten Briefes. Louis hob die Brauen und sagte nur ein paar Worte der Anerkennung für Herrn de Bruc und seine zuverlässigen Botengänge.

Was war erreicht? Nichts, garnichts – nur ein zweiter Besuch des netten Laity, wie er es ohnedies versprochen hatte. Was konnte der junge Mann, der zu klar und ehrlich war, um den Mißerfolg zu überschwätzen, noch für neue Wege zeigen – was anders als den Rückweg nach Arenenberg und die Rückkehr in die Resignation? Louis hatte schlechte Tage, bat Persigny, sich möglichst gedämpft zu verhalten und war höflich genug, sich und seine Depression vor Miss Gordon zu verbergen. Daß es eine Grausamkeit war, schien er nicht zu wissen. Miss Gordon litt ernsthaft, weinte viel, übte dann schwierige Passagen, um sich auf andere Gedanken zu bringen, und kommandierte schließlich Herrn Persigny, der im Augenblick etwas leer lief, zur Tröstung.

Laity kam, und Louis wurde wieder frisch, als er das wache Gesicht des Offiziers vor sich sah. Sie saßen wieder in dem winzigen Salon. Sie hörten Miss Gordon singen: einzelne Töne, die sie mit großer Hartnäckigkeit wiederholte, Tonleitern, Bruchstücke von Liedern.

»Jetzt haben wir den Mißerfolg,« sagte Louis.

»Ja und nein,« meinte Laity, »der Brief an meinen Oberst war gut, hat immerhin Eindruck gemacht. Mein Oberst ist ein schlichtes Gemüt und ein kräftiger Hasser. Er haßt natürlich den Chef Woirol, weil er mit gleichen Dienstjahren und nur mit größerer politischer Elastizität schon Divisionär ist.«

»Und nun?«

»Nun müßte man geschickt und vorsichtig und geduldig an ihm weiterarbeiten; denn Woirol wird nur durch vollendete Tatsachen zu beeinflussen sein, wenn überhaupt.«

»Aber Ihr Oberst antwortet mir doch nicht, kommt doch nicht!«

»Man müßte es ihm sachte beibringen zu antworten und zu kommen.«

»Aber wie, mein Lieber, wie nur? Auf mich reagiert er nicht, und ich kann auch nicht nochmals schreiben, ich kann ja auch nicht nach Straßburg kommen. Und Sie, Laity, trauen Sie sich den Einfluß zu?«

»Keineswegs.«

»Nun eben. Also was tun?«

Miss Gordon sang unentwegt chromatische Tonleitern hinauf und hinab. Louis stand mit nervösem Gesicht auf und schloß das Fenster.

»Eine schöne Stimme,« sagte Laity.

»Ja, aber laut.«

»Eine schöne Frau,«, sagte Laity.

Louis sah auf. »Sie kennen Miss Gordon?«

»Sie gab im vorigen Winter ein Konzert in Nancy, wo ich zufällig war.«

»Ach so, Sie kennen Sie nur vom Podium her.«

Laity lächelte. »Außer ihrer Kunst interessierten sie in Nancy Straßburger Offiziere. So widerfuhr mir die Ehre ihrer persönlichen Bekanntschaft.«

Louis lachte durch die Nase. »Laity, war das die einzige Ehre, die Ihnen Miss Gordon antat?«

»Nein,« sagte Laity mit blanken Augen; »aber wir wollen jetzt Ihrer prachtvollen Emissärin die Ehre antun, wieder von Oberst Vaudrey zu sprechen.«

»Und?« ermunterte Louis und seine große Nase zuckte vor Vergnügen.

Laity lachte leise: »Mein Oberst ist ein schlichtes Gemüt, vor allem Frauen gegenüber. Er ist ein Meter einundneunzig groß und stolpert über das kleinste Milchmädchen.«

»Holla!« lachte Louis, »ich schätze Miss Gordon auf ein Meter fünfundachtzig. Darüber stolpert man nicht, darüber fällt man!«

Miss Gordon sang mit Hingabe eine italienische Arie. Man verstand nur das Wort: amore.

 

Louis war ein nachtragender Mensch. Seine Abneigungen waren wie seine Zuneigungen, leise und verdeckt, aber wohl aufgehoben. Haß war für ihn ein seltenes Gefühl, ein so großer Aufwand an Gefühl wie Liebe, zu viel Gefühl für die Objekte, die es zumeist nicht wert waren. Er haßte Miss Gordon keineswegs. Aber jener Augenblick, wo die Riesin ihn um den Leib nahm und das Spielzeug auf das Sofa trug – jene Sekunde der Hilflosigkeit, der Demütigung, der unsagbaren Lächerlichkeit wurde nicht vergessen. Laitys Anregung gefiel ihm, weil sie frech war, allein schon durch ihren Witz das ganze unsichere Unternehmen zu einem Schelmenstück machte und dadurch dem möglichen Mißerfolg etwas von der Schwere nahm, von dem Umfang des Tragischen oder Lächerlichen – er fürchtete ja nichts so sehr wie dies: daß die Welt oder daß auch nur ein Mensch über ihn lache –; Politik mit Emissärinnen machte ihm Spaß, und daß sie schon länger getrieben wurde, als er wußte, hatte dem unternehmenden Herrn Persigny bereits Anerkennung eingebracht: aber trotzdem hätte es dem Prinzen, der einen zarten Sinn für Frauen besaß, sehr viel Ueberwindung gekostet, persönlich eine Frau zu solcher Dienstleistung zu bestimmen oder zu überreden. Nicht einmal jene weizenblonde Engländerin, Hudson-Lowe-Tochter oder Hochstaplerin, die zu ihm ebenfalls durch die Politik gekommen war, aus einer konstruierten oder echten Lust an politischer Blasphemie, wäre von ihm zum politischen Instrument gemacht worden; denn sie hatte, gewiß etwas fischblütig, sehr neugierig und mit übertriebener Ueberzeugung von der Schönheit ihres Körpers, sich ihm doch gegeben und ihn nicht genommen. Sie bewahrte den holden Zauber des Geschenkes, für das Louis zärtlich zu danken wußte. Aber die Riesin, die ihre körperliche Ueberlegenheit bis zur groben und demütigenden Umstülpung der Beziehungen ausnützte, hatte ihn beleidigt. Sein Selbstgefühl war merkwürdig stark, so wenig laut es war. Es bedurfte keiner Ueberwindung, nein, es war eine Genugtuung, Miss Gordon die Attacke gegen Oberst Vaudrey reiten zu lassen.

Wie wird sich zu dem Auftrag der Vicomte de Persigny verhalten, der die Agentur ihrer Person inne hat und dennoch einen Ausbruch des Schmerzes sehen ließ, in jener verächtlichen Nacht der achtungswürdigste Augenblick? Louis war neugierig, der Apostel blieb bei aller Tüchtigkeit gewiß eine verdächtige Figur, aber keineswegs langweilig. Louis richtete sich ein, eine lange Strecke des langen Weges mit ihm auszukommen, gerade mit ihm, dessen Behandlung sehr billig und mühelos war; denn sie kostete nur das, was Louis überreichlich besaß: Hoffart und Herablassung, ironisch gemischt. Der Mann kostete ihn kein Quentchen Gefühl, weder Neigung noch Abneigung, und hatte von Anfang an und für alle Zeit das Primat des Dienstverhältnisses selber stabilisiert: den Abstand. Louis unterrichete ihn von dem Projekt Gordon-Vaudrey, mit Absicht in sehr nüchterner und geschäftsmäßiger Form. Persigny strich mit dem Handrücken die Backenbartbüschel auf und antwortete dienstlichen Tones, daß er natürlich schon selber daran gedacht habe, zumal zu der erwähnten kleinen Schwäche des Obersten noch eine ausgesprochene Leidenschaft für die Gesangskunst hinzukomme, das sei keine Improvisation, um der prinzlichen Idee zu schmeicheln, sondern Tatsache, leicht zu beweisen, weil Herr Oberst Vaudrey, von Natur kein beschaulicher Mensch, die Gesangskunst nicht nur bewundere, sondern selber übe, als Dilettant natürlich, aber im Besitz eines beachtlichen und innerhalb der Garnison sogar berühmten Basses.

Louis lachte herzlich. Dieser stramme und begriff-flinke Generalagent der Legende war ein seltsamer Heiliger, wenn es um die Ueberwindung persönlicher Gefühle ging. Das also war seine Antwort auf den Vorschlag, den Aktionsradius der geliebten Frau zu erweitern.

»Was für ein Duett!« lachte Louis. »Aber warum hielten Sie mit unserer guten Idee zurück, mein Lieber? Warum verließen Sie sich darauf, daß ich sie haben möchte? Sie besitzen sonst doch das Ingenium und den Ehrgeiz des Autors?«

»Warum?« wiederholte Persigny und machte Hundeaugen. »Sire, es gibt eine Art von römischer Disziplin – ich sage nicht: von römischer Tugend –, die von dem Diener der Idee verlangt, daß er für die Idee oder für den Repräsentanten der Idee auch die privaten Gefühle hingibt, also auch die private Liebe, also auch die Geliebte – das gibt es, Sire, und das ist hingegeben worden. Aber es steht wahrhaftig nicht dem Diener an, ein solches Opfer seinem Herrn zuzumuten.«

Der Prophet sah aus wie ein Pharisäer; ja, er sah aus, als bereite es ihm heimliches Vergnügen, zu diesem Dialog gekommen zu sein. Louis war peinlich überrascht und fürs erste verwirrt. Warum focht der Narr auf diese Weise? War es seine Art Genugtuung für das zugefügte Leid, oder glaubte er es wirklich, in seiner besessenen Vorstellung von der Schönheit und Unwiderstehlichkeit der Dame?

Louis fragte kurz und hochmütig: »Wollen Sie mit Miss Gordon sprechen oder soll ich es tun?«

Persigny hob langsam den Kopf, in sanftem Entsetzen: »Sie, Sire?«

»Also Sie,« bestimmte Louis ungemütlich; »Sie sind ja auch für derlei Komödien der bessere und erfahrenere Regisseur.«

»Sie, Sire?« beharrte Persigny in seinem Staunen, »Sie könnten nicht nur das Opfer aufbringen, sondern auch noch diese … diese letzte Härte gegen sich? So bewunderungswürdig das ist: verlohnt es dieser Artillerieoberst wirklich?«

»Fialin,« sagte Louis leise, »ich sehe Ihnen vieles nach, so lange Sie bei Ihrem Leisten bleiben. Ich rate Ihnen gut: bleiben Sie bei Ihrem Leisten.«

Persigny nahm sitzend eine stramme Haltung an und sagte: »Sire, ich bewundere Sie!« und da es ihm nicht genügte, stand er auf, um stramm zu stehen, und wiederholte: »Sire, ich bewundere Sie!«

Louis schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Das bedeutete für ihn schon einen groben und seltenen Ausbruch seines Unmuts. Persignys Gesicht drängte vor Bestürzung noch mehr nach rechts – man sah es ihm an: vor Bestürzung. Gut, man wird den Maniaken aufklären. »Lieber Generaladjutant, Sie sind auf dem besten Weg, mir so unleidlich zu werden, wie es mir Ihre Unteragentin schon lange ist.«

Was tat der Maniak? Wurde er klar und vernünftig und meinethalben erleichtert, von dem Alp der Ungewißheit befreit? – Ja, er wurde erleichtert oder schien außer sich zu geraten, er fiel über Louis' Hand her und küßte sie. »So viel Güte, Sire …« stammelte er, »so viel Takt – so viel Rücksicht auf mich … unnötige Rücksicht, Monseigneur, unnötig das Zartgefühl für den, der gerne dient und gibt – unnötig das Ableugnen Ihres guten Herzens …«

»Lassen Sie mich los, zum Teufel!« rief Louis, »treiben Sie mich nicht in die Versuchung, Sie einen Idioten zu heißen …«

»... unnötig die Reserve gegen sie …« flüsterte Persigny.

»Gegen wen?« fragte Louis.

»Gegen Eleonore …« flüsterte Persigny.

»Wer ist El... – ach so!« Louis wandte sich ab und lachte.

»Sie leidet ja,« flüsterte Persigny.

Das aber überhörte Louis, der zum Ende kommen wollte. »Wenn wir uns beruhigt haben, lieber Freund, verfügen Sie sich zu der Dame und unterbreiten ihr das Duett mit dem Bassisten.«

Persigny antwortete nicht gleich; dann sagte er befangen:

»Sire, das kann ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Eine Frau, die liebt, begreift keine römische Disziplin.«

»Wen liebt sie, was liebt sie – doch die liebe gute Idee! Nun also, alles für die Idee!«

»Sie sind die Idee.«

»Nun also, alles für mich!«

»Ja,« sagte Persigny, »sie glaubt, alles für Sie gegeben zu haben.«

»Ein Irrtum,« lächelte Louis, »und Ihr Auftrag der Prüfstein.«

»Ich kann nicht,« meinte Persigny leise, »ich weiß sehr gut, was ich bei ihr kann und nicht kann. Sie liebt Sie auf – auf …« Er brach ab, hob ein wenig die Hände, und plötzlich schrie er, verzweifelt und leidvoll: »Sie liebt Sie!«

Louis sah ihn verwundert an. Dann nahm er Hut und Stock. »Kommen Sie mit, Persigny?«

»Wohin, Sire?«

»Zu Miss Gordon.«

»Ach Gott …«

»Es wäre mir nicht unlieb.«

»Zu Befehl,« sagte Persigny soldatisch.

 

Miss Gordon war überrascht und betreten. Sie hatte den Besuch des Prinzen nicht erwartet und sich nicht schön gemacht. Sie war nicht geschminkt und nur flüchtig gepudert, ihre Haut war etwas großporig und blank, das Haar nicht in Locken, sondern aufgesteckt, das Gesicht dadurch sehr flächig und kahl. Sie trug ein loses Hauskleid von unvorteilhafter Farbe und Form. Sie fühlte sofort ihre schwache Position und war unsicherer als sonst. Louis gab ihr leutselig die Hand; aber sein verhangener Blick musterte sie sehr genau und fand sie unschön: sie fühlte es und wagte vor Scham kaum einen Gedanken an ihre Liebe.

»Sie kennen doch den Premierleutnant Laity, Madame,« griff Louis sofort an.

»Laity …« wiederholte sie verlegen, »ja – nein – ich weiß wirklich nicht genau …«

»Ein hübscher dunkler Junge,« sagte Louis, »als Frau sollte man ihn nicht vergessen.«

»Ich glaube …« flüsterte sie gequält, »ich glaube, ich kenne ihn.«

»Sie kennen ihn von Nancy her,« sagte Louis. »Sie arbeiteten doch im vorigen Winter für uns und fingen sich löblicherweise den Jungen, weil er Straßburger Offizier war.«

»Ich erinnere mich …« sprach sie sehr leise und wurde dunkelrot.

»Sie haben das Glück und die Gabe, Madame, Beruf und Vergnügen mit einander in Einklang bringen zu können,« sagte Louis. »Und unsere Sache wiederum profitiert davon.«

Sie sah ihn mit einem schweren Blick an und schwieg. Persigny warf rotbäckig und strahlend ein: »Fürwahr, solche glückliche Gabe ersetzt römische Tugend!« Weder Louis noch Miss Gordon achteten auf den Zwischenrufer.

Louis sagte: »Herr Laity wies mich darauf hin, daß Ihre Erfahrung und Ihr Talent als Emissärin in diesem Augenblick, wo wir nicht recht weiterkommen, einsetzen sollte und auf das Nützlichste verwertet werden könnte. Herr Laity ist geneigt, an Ihren Erfolg zu glauben, auch wenn das Ziel höher gesteckt wird und es sich nicht nur um den Fang eines kleinen Regimentsadjutanten handelt. Auch ich möchte annehmen, Madame, daß für Ihren Ehrgeiz sogar ein großer Regimentskommandeur ein Kinderspiel ist.«

Miss Gordon wurde sehr blaß und dachte: was für ein böser Mensch!

Der Unerbittliche fuhr fort: »Es handelt sich um den Oberst Vaudrey, Kommandeur des vierten Artillerieregiments – Madame, des Regiments, das Bonaparte in Lyon kommandierte! – um den Oberst Vaudrey, Offizier der Großen Armee, künftigen Marschall von Frankreich im künftigen zweiten Kaiserreich, ein Meter einundneunzig groß, schlichtes Gemüt, Frauenfreund und vorzüglichen Bassisten. Sie werden die historische Aufgabe übernehmen, Madame.«

Miss Gordon starrte ihn an. Was ist das für ein Mensch! Was ist das für ein grausamer, höhnischer und undankbarer Mensch! Hat er es von seinem großen Oheim, der seine Maitressen nackt im kalten Schlafzimmer warten ließ, bis er die Zeit für die zwanzig Minuten fand, die er für die Wollust angesetzt hatte? Daß er ein großer Mann ist oder wird: beweist es auch diese Niedertracht?

Louis sagte: »Sie werden die Güte haben, sich mit Herrn Laity in Verbindung zu setzen. Sie werden die Güte haben, Herrn Laity im Interesse seines Chefs nach Möglichkeit zu schonen. Herr Laity wird zunächst ein Garnisonskonzert unter Ihrer Mitwirkung organisieren. Das Weitere wird sich dann von selber ergeben. Das erste Ziel ist, Herrn Oberst Vaudrey zu einem Besuch in diesem Haus zu veranlassen. Das wird Ihnen gewiß nicht schwer fallen, wenn Sie den Grundsatz befolgen, daß der Oberst über den Zwiegesang hinaus in Straßburg nicht erreichen darf, was er zweifellos erreichen möchte; denn er ist nicht nur Bassist, sondern auch ein entflammbares Herz. – Was haben Sie, Madame?«

Miss Gordon ließ langsam den Kopf auf die Brust sinken und weinte lautlos, ohne das Gesicht zu bedecken. Louis schwieg betroffen. Selbst diese Frau mit ihren Muskeln und ihrer Strafwürdigkeit wurde durch die Tränen, ob sie echt waren oder nicht, absolviert, wie alle Frauen, die schließlich zur Notwehr der stummen Tränen greifen. Louis war gegen Weinende schwach. Er ging zu ihr, nahm ihre Hand und sagte: »Verzeihen Sie.«

Schon drückte sie seine Hand, hitzig und unangenehm, und aus dem Tränenbad der Augen stieg schon wieder der Appetit nach ihm. – Warum verzeiht sie gar so schnell! dachte Louis und wußte nicht, was tun. Es räusperte sich der Prophet, den beide vergessen hatten, und sagte mit etwas enger Stimme: »Was diese Tränen betrifft, so hatte ich in den drei letzten Nächten Gelegenheit, sie zu bewundern und schließlich zum Stillstand zu bringen.«

Die beiden prallten auseinander. Louis fühlte eine unwiderstehliche Heiterkeit in sich aufsteigen, er wehrte sich – denn Miss Gordon hatte geweint und verdiente Rücksicht, trotz allem –, er ging mit stoßenden Schultern in eine Zimmerecke, er konnte sich nicht mehr halten: er lachte.

Persigny fiel in das Lachen ein, rotbäckig, stramm, etwas lärmend.

Miss Gordon lief aus dem Zimmer.

 

Das Duett

Ende Juni fand in der Réunion des Arts zu Straßburg unter dem Patronat des Stadtkommandanten ein Wohltätigkeitskonzert statt, für das die bekannte Sängerin Eleonore Brault-Gordon gewonnen worden war. Das Orchester stellte die vorzügliche Kapelle des 16. Linienregiments. Die Künstlerin sang eine Cavatina von Nicolini, aus der »Semiramis« von Rossini, ein Rondo von Pacini, italienische und französische Romanzen. Sie bezwang die Hörerschaft durch ihre schöne Stimme, ihr tragisches Gesicht und ihre großartige Erscheinung, großartig auch in der Enthüllung ihrer Büste. Das hingerissene Offizierskorps flüsterte sich zu, daß es das tiefste Dekolleté sei, welches jemals ein Straßburger Konzert bestritten habe. Die Damen der Garnison fanden sie trop forte. Der Oberst Vaudrey fand sie vollkommen. Da er ein Draufgänger war und von seinem Adjutanten Laity über die Eigentümlichkeiten der Dame hinlänglich unterrichtet, erschien er schon während der Pause im Künstlerzimmer, riesig, klirrend, martialisch, immer noch der schöne Mann, der sich nur dann an seine sechsundfünfzig Jahre erinnerte, wenn es um die Anciennität ging und um die keineswegs genügend beachtete Tatsache, daß er seit vierzig Jahren Offizier war – immer noch Eroberer und Schwerenöter mit dem mächtigen Schnauzbart der alten Garde, rabenschwarzen Schnauzbart, frischgefärbt, mit viereckigen Schultern, mächtigen Schultern selbst ohne Epauletten, mächtiger Brust, erst seit drei Jahren ein klein wenig wattiert und dennoch gerade breit genug für die massive Kruste der Orden und Ehrenzeichen: ein blitzender, knackender, federnder Sieger aus der großen Zeit, fast ohne Bauch. Er trat ein, mit dem Schwung des Empire und dem hübschen Liebhaberzeremoniell seiner Zeit: er stockte an der Tür, er machte große Augen, die weißen Zähne blinkten unter dem schwarzen Bart, er ballte einen Augenblick die Linke auf die Dekorationen der Herzgegend wie in einer beinahe schmerzhaften Bewunderung; und dann schoß er vor, in ihr Lächeln hinein. Der kleine Laity, ganz winzig neben dem Riesenpaar und dennoch der künstlerische Leiter des Abends, sagte höflich und unbeachtet die einführenden Worte. Der Oberst hatte sich schon ihrer Hand bemächtigt, ihrer Hand und des nackten Wunders ihres Armes; und so nahe wie Hand und Arm, so natürlich und gefällig verbunden, war sein Lob des Gesanges und sein Lob der Frau; und wie der Arm mehr Raum bietet als die Hand, verschob er, Fachmann sowohl für das eine wie das andere, das Schwergewicht des Lobes auf die Frau, und je mehr er die Frau pries, desto höher glitten seine Lippen den Arm hinauf. Miss Gordon hatte nur zu lächeln und kaum zu sprechen und wartete voller Ruhe, bis Oberst Vaudrey bei der Schulter angelangt war. Dann sagte sie ihm mit ihrer schönen dunklen Stimme, daß er ein galanter, wenn auch stürmischer Mann sei und daß sie gerne wieder über ihren Arm verfügte, weil sich die Pause zu Ende neige und sie sich für den zweiten Teil des Programms ein wenig konzentrieren müßte. Dem Eroberer Vaudrey fiel es nicht leicht, ihren vernünftigen Argumenten zu weichen, die der Bassist Vaudrey ohne weiteres hätte anerkennen müssen. Miss Gordon sagte es ihm auch und fügte hinzu, daß man sich ja wahrscheinlich bei der anschließenden Soiree im Hause des Stadtkommandanten wiedersehen würde. Man sah sich wieder, Miss Gordon war die gefeierte und ziemlich zurückhaltende Primadonna, so zurückhaltend, daß sie den Spitzenschal, der Schultern, Brust und Arme verhüllte, während des ganzen Abends nicht abnahm, auch nicht während der beiden Meyerbeer-Arien, die sie noch zum Besten gab, auch nicht auf die immer dringlicheren Bitten des Obersten Vaudrey, der nicht von ihrer Seite wich und sich zusehends in seine frische Leidenschaft verrannte. Der Chef Woirol, von Natur vorsichtig und von seiner Kommandantin viel zu streng beaufsichtigt, um auch nur einen libertinen Gedanken zu wagen, mußte schließlich den Obersten beiseite nehmen und ihn bitten, mit Rücksicht auf die Damen und auf die untergebenen Offiziere, also aus Gründen des Anstandes und der Disziplin, die Huldigungen für die Künstlerin auf ein salonmäßiges Maß zurückzuschrauben und zum mindesten die öffentlichen Versuche zu unterlassen, Miss Gordons Spitzenschal zu lüpfen. General Woirol unternahm diese Zurechtweisung nicht ohne heimliche Freude; denn er konnte den Oberst so wenig leiden wie der Oberst ihn und war zudem als kleiner, fetter, asthmatischer Mann dem Riesen gegenüber in der dauernden Spannung des körperlich Benachteiligten, ach, auch des ehelich Benachteiligten; denn Vaudrey war der sehr freie Mann einer immer unsichtbaren, immer kränklichen Frau, die Generalin aber war immer sichtbar, immer gesund und er, der zurechtweisende General, beneidete ihn im tiefsten Herzen um die Möglichkeit des Erfolges; denn auch ihm gefiel die großmächtige Frau. Der Oberst sah auf ihn hinunter und Woirol fühlte, daß Vaudrey der Schöne mit dem schönen reichen grauen Haar auf seinen kahlen Kopf blickte. Der Oberst sagte, als sei es eine rechte Antwort: »Dann werde ich singen, mein General,« drehte sich um und ging, mit einem brennenden Blick für Miss Gordon, an den Flügel, ganz so als hätte ihn der Chef darum gebeten. Er sang ein deutsches Trinklied, weil Woirol ein Deutschenfresser war, und sein berühmter Baß dröhnte wie aus einem hohlen Faß. Er erntete heftigen Beifall, Miss Gordon stand plötzlich neben ihm, lächelnd und lobend, er küßte innig ihre Hand, sie sagte: »Wir wollen zu zweit singen,« Laity, der künstlerische Leiter, verkündete es mit Genugtuung, die beiden sangen ein bretonisches Lied, ein Klagelied der Schiffersfrauen um die Männer auf der See, Vaudreys Baß lief unter ihrer großen, klaren Stimme ganz zart und tief, es klang schön, dem Mann zitterten die Hände auf den Tasten vor Glück, sie lehnte sich leicht gegen ihn, als es zu Ende war und der Salon sich begeisterte, er sah sie an, sie lächelte und flüsterte: »Souvenirs du peuple!«, er riß die Augen auf und auch der Mund blieb offen, sie lächelte, er nickte mit dem ganzen Oberkörper, dann sangen sie Bérangers Lied vom Kaiser. »Parle-nous de lui, grand'mère, parle-nous de lui.« Einen Augenblick war es still im Raum, dann brüllten die Offiziere, die jungen zumal: »Parle-nous de lui!« und klatschten demonstrativ, Vaudrey wandte den Kopf, der General schaute betreten, jetzt klatschte er höflich, Miss Gordon drückte leicht den Arm des Obersten und flüsterte an seinem Ohr: »Das war lieb von Ihnen.« Er schaute sie an, sie sah schön aus, sie leuchtete vor Erregung. – Jetzt liebt sie mich, dachte er glücklich. – Sie liebte ihn nicht, sie liebte wohl nur Bérangers Lied oder den Kaiser. Er hatte sie nach Hause bringen dürfen, es war selbstverständlich, es kam keinem anderen zu, er führte sie am Arm fort, mit der Eleganz des Empire, herausfordernd elastisch, ein ausdrücklicher Sieger, Achill mit Penthesilea, Orpheus mit Eurydice, die Leutnants mußten grüßen und den Neid in laszive Kommentare umsetzen – ach er hatte sie in seinem Wagen ins Hotel fahren dürfen, die winzige Strecke von der Platzkommandantur am Kléberplatz zur Meisengasse, ach, man konnte kaum seine Liebe erklären, sie wohnte im Hotel Stadt Paris, beim Broglie, schon hielt der Wagen, er hatte sie umklammert und gebettelt: er kenne ein kleines Hotel, den Broglie hinauf, nahe dem Theater, gar nicht weit von hier. Sie hatte gelacht und ihr Gesicht ganz nahe dem seinen gebracht: ob er wirklich geglaubt habe, sie würde ja sagen und mitlaufen? Sie lachte immerzu. »Mein Gott, wann fahren Sie fort?« fragte er verzweifelt. – »Morgen.« – »Und wann sehe ich Sie wieder – mein Gott wann? wo?« Sie hob langsam die Schultern: sie lebe jetzt in Baden-Baden, wie er wisse. Sie ließ sich endlich küssen. Er stöhnte: »Ich komme bald – ich muß Sie wiedersehen …« Sie stieg aus und summte heiter: »Parle-nous de lui, grand-père, parle-nous de lui«. – Es heißt doch »grand-mère«! quälte sich Oberst Vaudrey die ganze Nacht, und sein Herz war zerrissen.

 

Louis war unmittelbar nach der Belastung Miss Gordons mit dem Straßburger Auftrag nach Arenenberg zurückgefahren, weil er der gedemütigten Frau nicht wieder begegnen wollte. Er schämte sich. Der Erfolg gegen einen ungelenken Gegner, dem noch Herr Persigny das Bein stellte, war nicht rühmlich. Die Brutalität gegen eine Frau, die wahrhaftig für ihn zu fühlen schien, war erbärmlich. Er schämte sich vor allem, weil er gelacht hatte. Er fuhr ab und überließ die Führung der Geschäfte Herrn Persigny, den er sehr gerne für einige Zeit entbehrte. Er kam nach Haus, der Arenenberg stand ganz still im jungen Sommer, gepflegt und lieblich und etwas selbstvergessen oder gar wie vergessen vor lauter Idyll, die Mutter begrüßte ihn still, nicht mehr neugierig und immer etwas müde, selbst ihre eigensinnige Königinnenwürde war müde geworden und zugleich ein wenig fahrig, und in dem zierlichen Schlößchen ging weiter die Legende um, eigensinnig und lieblich schlaff, mit sakralem Dienst, approbrierten Gästen, kleinen Soupers und dem Kanon der hoffnungslosen Gespräche von der alten Hoffnung. – Arenenberg, Narrenberg – – und ich der Exporteur der närrischen Produkte … – Louis dachte an den Putsch, an Persigny und Miss Gordon. War er der Karikaturist der Historie, deren Namen er trug und deren Idee er mit seiner Existenz betitelte, oder ließ sie sich so verzerrt und humorig an, so voll Ironie und Travestie, weil sein Prätendententum lahm war wie in Florenz der muffige Vater, der ihn nicht gezeugt hatte? Rächt sich die Komödie der Abstammung durch den Unernst seines Schicksals?

Persigny war ein Psychologe. Er ertrug Miss Gordons ersten Zorn mit großer Gelassenheit, weil er das Absinken der Entrüstung zur schlechten Laune, zur Resignation und schließlich zur Willfährigkeit sowohl gegen seine treuherzige Person als auch gegen die historische Aufgabe voraussah. Den Fehlschlag mit Louis verleugnete er. Was sei fehlgeschlagen? Sie habe ihren Willen gehabt und kenne jetzt den Mann, dem die Zukunft gehöre, gewiß nicht nur aus der Entfernung, und nichts sei abgeschlossen. Denn der zukünftige Kaiser wisse nicht nur zu prüfen, sondern auch zu danken: »Eleonore, der Kaiser wird dir in den Tuilerien danken.« Persigny kannte die Frau und wußte sie zu behandeln. Als sie nach Straßburg fuhr, wußte er, daß sie trefflich arbeiten würde.

Als sie zurückkam und mit herzlichem Vergnügen von Vaudrey berichtete, wußte er, daß sie gut gearbeitet hatte und daß ein Konzert in Kolmar, welches Leutnant Laity veranstalten wollte, wenn die Wirkung in Straßburg ausgeblieben wäre, nicht mehr nötig sein würde. Persigny war seiner Sache so gewiß, daß er am Tag ihrer Ankunft den Prinzen zu kommen bat. Der Prophet geriet fast in Zeitnot, seine Voraussichten erfüllten sich Schlag auf Schlag: es traf vierundzwanzig Stunden nach der Rückkehr der Künstlerin ein Liebesbrief des Obersten Vaudrey ein, ein Dokument, das recht poetisch begann, blumig und bilderreich, im Verlauf seiner acht Seiten die Stile wechselte, als sei es eine Liebesbrief-Anthologie der letzten fünfzig Jahre, und mit ganz unverblümter und ehrlicher Leidenschaft endete, stillos verliebt und sehnsüchtig. Miss Gordon gab ruhig und geschäftlich den Brief an Herrn Persigny; weder sie noch er erlaubten sich Bemerkungen oder scherzhafte Zitate, keiner von beiden lachte, keiner tat es aus Achtung für das heftige Gefühl eines bejahrten Mannes: sie waren im Amt. Er setzte für sie den Antwortbrief auf, ein paar maliziöse Zeilen: was für viele und große und schöne Worte, Herr Oberst, Worte, Worte – und was dahinter, Herr Oberst, wieder nur Worte? hat ein Mann, der der lauen und lahmen Zeit Béranger vorsingt, für sein Gefühl wirklich kein anderes Ausdrucksmittel als die selige Lespinasse, die noch viel schönere Liebesbriefe schrieb? hat der Herr Oberst in den Orkus zu steigen oder den Hellespont zu durchschwimmen, wenn die Gefühlsbeförderung durch die Post wohl die Adressatin erreiche, aber nicht die Frau, die man zu lieben vorgibt? – Persigny las den Entwurf ziemlich rasch und fast ohne Betonung vor, ernst und dienstlich. – »Gut?« – »Gut.« – Miss Gordon schrieb ihn ab und schickte den Brief fort. Der Prophet, der einen Hang für bürokratische Ordnung hatte, heftete Liebesbrief und Antwort-Entwurf in den Akt »Vaudrey« ein, den er zusammen mit anderen Personalakten von Wichtigkeit nach Baden-Baden mitgenommen hatte. Als Louis eintraf, sagte er rotbäckig, stramm und bescheiden: »Sire, ich glaube, wir sind weiter gekommen,« und legte den Akt »Vaudrey« vor: er enthielt bereits, als Einlauf des gleichen Tages, die Depesche, in welcher der Oberst seine Ankunft ankündigte. Louis lächelte zufrieden. Er war gerne gekommen. Die Windstille von Arenenberg hatte auf das Blut gedrückt, daß die Ohren sausten und der Kopf dröhnte. – Lieber diesen windigen Scherz, dachte er.

»Ist sie unglücklich?« fragte er plötzlich.

»Wer?«

»Miss Gordon.«

»Unglücklich?« Persigny war maßlos erstaunt. Inmitten einer historischen Aufgabe unglücklich? Wenn die Idee, für die man lebt, vorwärts gleitet wie ein glückhaftes Schiff, unglücklich? Louis winkte ab.

 

Trotzdem Oberst Vaudrey einen sehr eleganten kaffeebraunen Frack und pfirsichfarbene Beinkleider trug, machte er in Zivil nicht den glorreichen Eindruck wie in Uniform. Gewiß war er auch jetzt noch ein schöner Mann, ein auffallend stattlicher Mann mit großem, rotem Gesicht, den Gardebart in frischer Schwärze und auch die dicken Brauen so schwarz, daß sie wohl ebenfalls gefärbt waren, das reiche Silberhaar in kühner Locke über den Ohren aufgebürstet: aber er war nicht so sicher und sieghaft wie in Straßburg, er schien sogar etwas bedrückt, es mochte sein, daß ihn nicht nur das sensuelle, sondern auch das geographische Problem seiner Liebe belastete; denn es war nicht üblich, es war sogar gegen den ausdrücklichen Wunsch des Kriegsministeriums, daß die Chefoffiziere der östlichen Grenzgarnisonen ihren Urlaub jenseits des Rheins verbrachten. So begann das Abenteuer mit der Lüge; denn Baden-Baden durfte als Urlaubsort nicht genannt werden. Und wenn Vaudrey auch den General Woirol nicht leiden konnte, so haßte er die Lüge noch mehr, er verstand sich nicht aufs Lügen, der General war dick und klein und häßlich, ein Streber, ein Pantoffelheld, ein Cunctator: aber er hatte klare und kluge Augen, und in diese Augen hineinzulügen, war eine verteufelte Sache – und so hatte Vaudrey schwitzend und schwatzend »Bains-les-Bains« angegeben, einen kleinen Erholungsurlaub in Bains-les-Bains – ach Gott, das war keine Lüge, sondern die Uebersetzung, die wörtliche und ungebräuchliche Uebersetzung; und daß es zugleich der Name des bekannten Thermalbades in den Südvogesen ist: nun ja, das war die Krücke für den lahmen Lügner. Vaudrey fühlte sich nicht wohl, der General hatte klug und klar geschaut und sich vielleicht seinen Teil gedacht – ja, man konnte sich allerlei denken, nahm man schon Bains-les-Bains für Baden-Baden, und Vaudrey selber dachte nicht nur an Miss Gordon, sondern auch an den eindrucksvollen Briefschreiber und Titelinhaber des Bonapartismus, der über den Rhein seine Klagelieder sang und seine feinen Fäden sponn, Vaudrey war nicht dumm, sondern nur verliebt und trotz seiner Verliebtheit ahnungsvoll, General Woirol war ebenfalls nicht dumm und außerdem nicht verliebt oder doch bedingungslos und ausschließlich auf seine Generalin angewiesen – vielleicht gab es ihm in diesem zweifelhaften Fall eine fatale Ueberlegenheit. Vaudrey fühlte sich nicht wohl, er mußte mit der Lüge beginnen und lügenhafte Umwege machen, über Schlettstadt und Colmar; und als er nicht nach dem unverdächtigen Westen abbog, nicht auf Gérardmer zu, sondern genau entgegengesetzt nach Neu-Breisach und zum Rhein, spürte er im Rücken von neuem die scharfsichtigen Generalsblicke. Am anderen Ufer wurde die Last nicht geringer und in Baden-Baden nahm sie zu; denn ein schöner Mann zu sein, ein stadtbekannter Riese, ein lebendes Monument der alten Garde, ist gut und beglückend, wenn man sich sehen lassen darf: aber die einzigartige Erscheinung, durch die Zivilkleidung wenig beeinträchtigt, anonym halten zu müssen und dabei zu wissen, daß jeder Militär und jeder zweite Zivilist zu Straßburg die Vaudreyschen Körpermaße auswendig kannte, und daß der kleinste Straßburger Linienleutnant seine paar Franken nirgends lieber verlor als im Badener Kasino, – dies alles zu wissen und darum jedes Gesicht in seinem Blick als Straßburger Garnisonsgesicht zu beargwöhnen und zu fürchten, daß jeder junge Mensch, der ihn sah, aufzuckte: »Sieh da, der Oberst Vaudrey!« – das war keine angenehme Lage, auch nicht für den Verliebten, der Miss Gordon wiedersehen durfte.

Er sah sie wieder und der Druck wich wie ein Nachtmahr vor der Morgensonne. Was war sie schön und wo blieb noch, vor ihrer geräumigen Pracht, ein Platz für die Rücksichten des Dienstes und der Politik, für die Begriffe der geographischen und moralischen Grenze – ja, für Lüge und Wahrheit, für Böse und Gut! Hier war die Wahrheit ihres göttlichen Körpers und das kostbare Gut ihrer Nähe! – Ihre Arme waren nicht bloß, sondern verborgen unter den weiten Seidenärmeln des Hauskleides, das viel mehr verhüllte als das unvergeßliche Straßburger Konzertkleid. Vaudrey streifte den Aermel zurück – o wie willig glitt die Seide aus dem Weg! – und küßte im Sturm den Arm hinauf. »Sie üben mit Vorliebe dieses Präludium, Herr Oberst?« fragte sie ihn. Die Göttin hatte eine verwirrende Art. Sie besaß so viel Geist wie Schönheit – er erinnerte sich an ihren etwas vertrackten Brief – und die Dinge lägen einfacher, wenn sie nichts als schön gewesen wäre oder gar von der süßen Dummheit seiner kleinen Standortsfreundinnen, die dem großen Kommandeur ganz ohne Dialektik zugetan waren, ohne Einspruch, ohne Bemerkungen, ohne klassische Gleichnisse, ein wenig wie Rekrutinnen. Miss Gordons geistige Eleganz verpflichtete, der vollkommene Liebhaber hatte Widerpart zu halten, auch in der Anmut des Gespräches, und Esprit zu zeigen, wenn er gefordert wurde; aber es war anstrengend und auch störend, es war ungewohnt. Vaudrey strich sich den Gardebart und suchte nach der geschmeidigen Parade. »Präludium …« kicherte er charmant, »Präludium, schönste Frau … – wohlan, mon ange, machen Sie mich zum glücklichsten Menschen: kommen wir zum Hauptthema!«

War es nicht gut gesagt, mehr: war es nicht von einer Brillanz, die der Geliebten die Lust nehmen sollte, auf diesem Boden weiter zu fechten, und die Lust geben sollte, das Terrain zu wechseln oder gleich zu kapitulieren? Seine Hand schlüpfte wieder unter ihren Aermel, gleichsam mit neuer Berechtigung. Sie lächelte recht sonderbar und schüttelte mit einer beinahe wegwerfenden Bewegung seine Siegerhand aus dem Aermel. »Wirklich?« fragte sie dabei und schien belustigt, »wirklich schon zur Hauptsache?«

»Ja!« rief er hitzig und etwas ratlos, »zur Hauptsache! Das ist meine Liebe … ach, Leonore, ich liebe Sie …«

»Wirklich?« fragte sie wieder und war ganz ernst, »lieben Sie wirklich? – Es wäre wohl schön …«

»Leonore!« schrie er glücklich und packte sie.

»Sie brauchen nicht so laut zu sein,« meinte sie, ohne sich viel zu wehren; aber sie sah dabei zur Tür, und das störte ihn.

»Ich weiß nicht, daß ich laut bin,« flüsterte er, »ich weiß garnichts mehr, ich weiß nur …«

»Ich weiß nur,« sagte sie ruhig, »daß Sie komische Briefe schreiben und gerne meinen Arm hinaufrutschen. Als wir in Straßburg Béranger sangen, hatte ich eine bessere Meinung von Ihnen.«

»Mein Gott,« quälte er sich, wahrlich ein gutmütiger Freier, »wir können ja auch wieder singen – was Sie wollen, was Sie wollen …«

Jetzt lächelte sie und strich ihm leicht über das Haar. »Später,« sagte sie weich, »später, wenn wir noch dazu kommen. Ich fürchte, wir kommen nicht mehr dazu.«

»Aber warum nicht,« schrie er, vom Heißen ins Kalte geschwenkt, »warum denn nicht!«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben ein sehr lautes Organ, Herr Oberst, auch wenn Sie nicht singen,« stellte sie fest, und er knickte zusammen, als ob er nachträglich seine Lautstärke brechen wollte.

»Ich fürchte«, fuhr sie fort, »daß Sie nur das Gardemaß an Ihre Liebe legen …«

»Nein, nein, nein!« schwor er dazwischen.

»Ich fürchte sogar noch viel mehr,« perorierte sie unbeirrt und kam mit dem Gesicht näher, »ich fürchte, Sie werden, der Ueberlieferungen der Großen Armee und Ihrer Gardenatur zum Trotz, – Herr Oberst, Sie werden sehr bald, sehr bald davonlaufen.«

»Ich?« schrie Vaudrey, aber dann fingen seine Augen an zu blinzeln, vielleicht wegen der beunruhigenden Nähe ihres Gesichts, ihres großen, duftenden, herben, fremden Gesichts, das nicht zu ihrem Körper paßte; vielleicht aber auch, weil er ahnte, was kam. Er starrte auf ihre Lippen, die etwas wulstig, aber schmal geschminkt waren.

»Parle-nous de lui,« sang sie mezza voce, die Stimme saß, sie besaß Technik, es klang sehr schön und leicht dramatisch. Vaudrey blinzelte, er war ja musikalisch, aber er hätte in diesem Augenblick nicht mitsingen können, seine Kehle war eng. Sie machte eine Pause und sagte mit Nachdruck, sogar mit Schärfe: »Darum handelt es sich, darum, darum! – Sie gehen nicht, Herr Oberst?«

»Nein,« antwortete er etwas mühsam, weil die Kehle eng war; doch es genügte nicht, er fühlte es, das Stichwort war gefallen, man mußte der Poesie Rechnung tragen, vielleicht wollte sie nur ein bißchen Poesie. »Mein Kaiser …« flüsterte er heiser und verlegen und salutierte, trotzdem er in Zivil war.

»Ich bin Bonapartistin,« sagte sie und kam so nahe, daß er ihren Atem spürte, »ich habe meine Idee, das ist meine Liebe. Wer mich liebt, muß auch meine Liebe lieben.«

»Ich liebe …« schwor er flüsternd und unbestimmt.

»Sie lieben zu billig, Herr Oberst,« sagte sie an seinem Mund. »Ich nicht, ich setze meine Person ein für meine Liebe …«

»Ich auch,« schwor er schwach.

»Sie nicht, Herr Oberst, Sie wollen nur in mein Bett; aber Ihre Person lassen Sie unter dem gekrönten Regenschirm. Und wenn Sie jetzt hören, daß ich Sie liebte, wären Sie der Mann, für den ich Sie in Straßburg hielt – der Mann, der zu uns gehört, und daß ich Sie hierher brachte, weil ich Sie nicht nur für mich, sondern für die Idee gewinnen will, und daß ich nichts bin als eine geringe Dienerin am Werk, eine Emissärin der Partei, jawohl, eine Partei-Emissärin, Herr Oberst: dann werden Sie sogar auf das Bett verzichten – so lieben Sie.«

Vaudrey war unter der roten Haut blaß geworden und sah plötzlich alt aus. Er sagte fast ohne Ueberlegung, er sprach eigentlich gegen seine eigene Blässe: »Ich bin nicht so … so unwürdig, wie Sie glauben, Madame, und ich war nicht so ahnungslos, wie Sie glauben …«

»Nun also,« lächelte sie und preßte sich an ihn, »dann gehen Sie doch.«

Er fühlte durch den leichten Stoff die Göttin, er brannte, er stöhnte: »Ich gehe nicht …«

Sie küßte ihn sehr lange, sehr heftig und ließ ihn los. Er schwankte, als hätte er nicht nur einen Kuß, sondern auch einen Stoß bekommen – als hätte sein Leben einen Stoß bekommen. Er hielt sich an der Wand fest und sah rundum. Sie war nicht mehr im Zimmer. – Sie wird wiederkommen, dachte er wirr und hartnäckig, sie wird wiederkommen, sie gibt mir noch eine Bewährungsfrist, sie läßt mich allein, damit ich nachdenken kann und weglaufen kann – aber ich denke nicht nach und ich laufe nicht fort, ich bleibe, ich bleibe …


Ein Herr trat ein, ein schmächtiger junger Mann mit gelbem Gesicht und langer Nase, mit Kinnbärtchen und ausgedrehtem Schnurrbart, mit zierlichen Schritten, in guter Haltung, vornehm und freundlich. Das Gesicht war bekannt, nicht weltbekannt, sondern insgeheim bekannt, wie ein Privatdruck, den die Zensur verbietet und der dadurch unter die gierigen Augen kommt, gleichsam als das unbekannte Gesicht bekannt, als das zugedeckte, leicht abzudeckende, zum Aufdecken reizende Gesicht des großen Anspruchs, der großen Unruhe, der nicht umzubringenden Legende, einmal weitverbreitet und sehr aktuell – in den paar Monaten des Jahres 1831, wo es die Oppositionsblätter heroisierten und die Witzblätter karikierten – und seit letztem Winter wieder durch die Arbeiterquartiere und die Garnisonen der östlichen Provinzen vertrieben, in billigster Aufmachung und so heimlich kolportiert, [nächtens] in die Hand gedrückt, an Straßenecken, Kasernentoren und Spelunken, wie eine Pornographie. Oberst Vaudrey stand an der Wand, an die Wand genagelt, zugleich wie ein Soldat und wie ein Verurteilter. Ist man ein Riese und seit vierzig tollen Jahren Offizier, so ist dieser Napoleon ein so winziger Mensch wie es der andere war und so kommt der Blick nach unten, ob man will oder nicht, zu der zärtlich ehrfürchtigen Anbetung der kleinen Statur, der Statuette des Kriegsgottes, wie er es in den drei oder vier gewaltigen und schon lange sagenhaften Augenblicken des Lebens hatte tun und niemals vergessen dürfen.

Louis blieb vor ihm stehen und sah zu ihm hinauf. »Ich freue mich, Herr Oberst Vaudrey,« sprach er mit weicher Stimme und hartem Französisch, »ich freue mich.«

Warum freut er sich? dachte der betäubte Mann, und wie darf ich glauben, daß seine Freude und Miss Gordons Kuß zusammengehört?

»Bitte setzen Sie sich,« sagte Louis sanft. Vaudrey verfing sich schon in dieser wohlklingenden Stimme und sein gutes Herz verfing sich in dem fremdartigen Französisch des Verbannten. – Welches Leid, dachte er, welches ungeheuere Leid für Napoleon, sogar von der eigenen Sprache verstoßen zu sein! Er dachte an den eindrucksvollen Brief des Prinzen und wurde langsam dunkelrot.

»Herr Oberst,« sagte Louis und lächelte begütigend, »ich habe Ihnen vor einiger Zeit einen Brief geschrieben. Sie vermochten meinem Adjutanten keine umgehende Antwort zu geben. Ich sah ein, daß es einiger Ueberlegung bedurfte. Ich konnte nicht glauben, daß Ihr Schweigen endgültig sei. Und ich hatte recht.«

Vaudrey senkte die heiße Stirn. Der sitzende Napoleon war gewachsen, der sitzenden Riese war kleiner geworden und konnte nicht mehr in die Augen schauen, die das tragische Leben bewölkte.

»Mein Freund,« sprach Louis, »man kommt von sich nicht los, man kommt nicht los von dem Ruf des Lebens, kein Mensch löst sich von seinem Schicksal, man kann sich vor ihm verstecken, man kann vor ihm die Augen schließen: es bleibt bei einem. Es gibt Zeiten, wo man es nicht sieht, nicht hört und nicht vermißt. Sie kennen das, ich werde es vielleicht kennen lernen. Dann kommt der Augenblick, wo es sinnfällig da ist. Es ist da.«

Vaudrey hob den Kopf und sagte langsam und schwerfällig: »Ich glaube.«

»Sie und ich,« sprach Louis, »wir beide haben die gleiche Stimme in uns, das gleiche Bild, den gleichen Befehl – Sie im Herzen, das das Blut in Ihr Leben pumpt, ich im Blut, das zum Herzen strömt. Wir haben die gleiche Bestimmung durch das Leben; Ihr Leben ist noch nicht alt genug, als daß Sie es zu nichts als Erinnerung gerinnen lassen dürfen, und mein Leben ist jung genug, um es für die Bestimmung zu riskieren. – Ich habe Sie Freund genannt, Vaudrey, darf ich es?«

Der Oberst warf sich über die Hand, die Louis ihm reichte. Als er sich aufrichtete, sah er in ein abgespanntes Gesicht mit müden Augen. »Ich freue mich, Freund Vaudrey,« sagte Napoleon wie verlegen. »Wir haben noch viel zu sprechen, aber nicht heute mehr, für heute genügt die erste Freude. Wir sind uns sicher, Vaudrey, die Mittel brauchen nicht heilig zu sein. Auf Morgen dann.« Er stand auf, wurde ein Zwerg vor dem Riesen und ging schnell.


Das Zimmer war leer. Wo stand der neue Cäsar, klein und bezaubernd? hier. Wo saß er, wo sprach er, wo riß er mich mit zehn magischen Sätzen in seinen sanften Schwung? – Vaudrey setzte sich auf Napoleons Stuhl, legte die Arme auf den Tisch und den Kopf auf die Arme. – Wie paßt das zusammen? fragte er sich und hatte ein wenig geweint, ein paar gute männliche Tränen für die Große Armee, für die alte Statuette, für die neue Statuette, und Miss Gordon legte ihr kühles Gesicht auf seinen Nacken und ihren schweren Busen auf seine Schulter und sagte mit einer Stimme, die so schwer war wie ihr Körper, eigentlich mit einer traurigen Stimme: »Jetzt bin ich glücklich.«

 

Die Hauptprobe

Den Rest besorgte Persigny. Oberst Vaudrey, von Louis bezaubert, von Miss Gordon besessen, wurde von dem Propheten mit den Keulenschlägen seiner Rhetorik betäubt. Was der Prätendent sanft und klug andeutete: den Sinn seiner Existenz, die Dynamik seines Namens, die politischen Zeichen der Zeit und das Ziel des neuen Reichs, hämmerte der Apostel mit wütig großartigen Monologen in das befangene und schon bereite Hirn. Und war die Narkose vollkommen, so erweckte ihn Persigny mit einem strategischen Programm von äußerster Lebendigkeit; durch ihn, den Kommandeur Vaudrey, und durch die Gewalt der napoleonischen Erinnerung hat man das vierte Artillerieregiment Bonapartes, und zugleich die Schwestertruppe, das dritte Artillerieregiment; das Pionierbataillon wird freiwillig folgen, weil es als revolutionäre Truppe gilt; dann werden die drei Infanterieregimenter mit Ueberredung oder mit Gewalt gewonnen, General Woirol wird abgesetzt, Vaudrey Höchstkommandierender, Straßburg Operationsbasis; mit den zwölftausend Mann der Garnison, hundert Geschützen, den zehn bis zwölf Millionen Francs des vorhandenen Bargelds, einem Waffenarsenal, das genügt, um die ganze Bevölkerung Ostfrankreichs zur Miliz zu machen, wird am Tag nach dem Fall Straßburgs der Marsch auf Paris angetreten; das Elsaß folgt der Erhebung am dritten Tag, Metz, Nancy und die Nachbargarnisonen am vierten Tag, in Reims zählt die Armee Napoleons und des Generalissimus Vaudrey hunderttausend Mann, eine Woche später erfolgt der Einzug in Paris und ganz Frankreich wird jubeln. Vaudrey war betroffen, begeistert, betroffen, er kam nicht zu sich, Persigny wechselte zur Drohung über: bei alledem möge sich der Herr Oberst gegenwärtig halten, daß es schon jetzt für eine Revision der Meinung und der Stellung zu spät sei; er möge sich vor Augen halten, daß er auf die denkbar innigste Weise mit der Bewegung verkuppelt sei, dreifach verklammert durch Napoleon, Miss Gordon und ihn, den Vicomte de Persigny, der im Interesse der heiligen Sache ganz gewiß vor nichts zurück scheuen würde, um die Haltbarkeit der Bindung zu sichern. Der Riese sah auf den kleinen Mann herunter – auch er war vor ihm ein kleiner Mann, doch keine zierliche Magie der Nachfolge, sondern ein böser stämmiger Gnom aus einer plötzlich gegenwärtigen, plötzlich dominierenden Unterwelt. »Sparen Sie sich Ihre Insinuationen für andere, lieber Herr.« Doch er hatte Angst vor ihm und seiner dreifachen Qualifikation als Prophet, Stratege und Erpresser. Die vierte, die mit der geliebten und liebenden Frau zusammenhing, wurde von Vaudrey glücklicherweise nicht bemerkt.

Oberst Vaudrey, gestreichelt, geliebt, gegerbt, gewalkt, umgestülpt und neugeformt, kehrte nach Straßburg zurück, auf dem alten Umweg, sogar mit einem Abstecher nach Bains-les-Bains, des Alibi wegen – nicht mehr belastet, sondern glücklich; denn Miss Gordon begleitete ihn. Er quartierte sie in der Waisengasse 4 ein, gegenüber der Artilleriekaserne, im Hause seines Adjutanten Laity, der wie ein Augur lächelte, sich ohne Umschweife als Verschworenen bekannte, noch ehe sein Chef den Mund zur Beichte öffnete, und der neuen Oberstin so nützlich war, wie neulich der Konzertsängerin. Oberst Vaudrey, wieder in Uniform, strahlend, riesig und kaum wattiert, klirrte vor neuer Jugend. Die Welt war verwandelt, das Leben wieder frisch und schön und gefährlich wie in der großen Zeit von Marengo bis Waterloo, er hatte einen neuen Gott und eine Göttin. Er meldete sich bei Woirol, sah den kleinen, dicken Mann in den Boden hinein, auf seine Glatze, in die klugen Augen und dachte sich den Triumph vorweg, ihn absetzen und vollends zu einem Nichts machen zu können. – Ich werde ihn nicht verhaften, sondern zu seiner Xantippe sperren, ich werde ihm seine Unwichtigkeit und seine Ohnmacht mit solchem Großmut demonstrieren, daß ihn vor Aerger der Schlag trifft; denn [schlagflüßig] ist er sowieso.

Der General kreuzte die Hände über dem runden Bauch und sah klug und klar zu ihm herauf. »Also, Vaudrey, es war schön in Bains-les-Bains?«

»Sehr schön, reizender Ort, Hügel, Wälder, Wiesen, lauter kleine Seen, ein Fluß namens Bagnerot, und das Bad kannten schon die alten Römer.« Der Oberst hatte sich vorbereitet.

»Ein altes Militärbad also,« meinte Woirol freundlich und undurchsichtig, »es hat Ihnen augenscheinlich gut getan. Wären Sie nicht bereits im Glanz Ihrer sprichwörtlichen Gesundheit abgefahren, so könnte man jetzt feststellen, daß Sie überaus erholt aussehen.«

»Mir geht es ausgezeichnet,« betonte Vaudrey.

»Erfreulich,« sagte der General, »sehr erfreulich – und den Prinzen haben Sie nicht gesehen.«

»Welchen Prinzen?« knarrte Vaudrey.

»Louis Bonaparte,« erläuterte Woirol mit Ruhe.

Der frühere Vaudrey hätte jetzt, unter dem wasserhellen Blick, hitzig und schwätzend gesagt, daß er ihn gesehen habe, er hätte nicht anders gekonnt. Der verwandelte Vaudrey, für den Miss Gordon in der Waisengasse wohnte, blieb ruhig und kühl, schätzte die Lüge unter die unheiligen Mittel, von denen der Magier gesprochen hatte, und wurde nur um einige Grade feindseliger. »Ich habe nicht das Vergnügen, den Prinzen zu kennen, Herr General. Hat er ebenfalls die Kur in Bains-les-Bains gebraucht?«

Woirol löste die Hände vom Bauch und steckte sie in die Taschen der Reithose. Er kannte nur den früheren Vaudrey. Er machte eine Pause und meinte dann: »Uebrigens – was ich Sie schon lange fragen wollte: haben Sie nicht auch einen Brief von ihm bekommen?«

»Ich habe von ihm sein Artillerie-Handbuch bekommen, wie fast alle Fachoffiziere – ein sehr gutes Buch.«

»Nein, einen Brief, in dem er Sie bittet, sich mit ihm in Baden-Baden zu treffen, einen vor tückischer Sentimentalität strotzenden Brief, übergeben von einem Grafen de Bruc.«

Vaudrey hatte schon von der Lüge gekostet und gemerkt, daß sie gut tat. Er log weiter, und da Woirol sich unterfing, den liebenswerten und leidvollen Verbannten zu verleumden, log er mit Genuß und gleichsam als Strafe für den Lästerer. »So,« lächelte er süffisant, »Sie haben einen solchen Brief bekommen, Herr Woirol, ich nicht, ich bin ja nur ein gewöhnlicher Regimentskommandeur.«

Der General blies die dicken Backen auf. »Nun,« sagte er mit einiger Schärfe, »mein Adjutant, der ganz gewöhnliche Kapitän Franqueville, und der ganz gewöhnliche Regimentsadjutant von der sechzehnten Infanterie haben etliche solche Briefe und schließlich einen veritablen Gestellungsbefehl nach Baden-Baden erhalten. Sie haben allerdings das selbstverständliche Pflichtgefühl gehabt, mir die Dokumente zu übergeben. Und ich habe sie zusammen mit dem an mich gerichteten Brief ans Kriegsministerium weitergeleitet.«

»Das wird Sie zweifellos in allerhöchste Erinnerung bringen, mein General,« sagte Vaudrey mit unverstelltem Haß; denn sein Gesicht konnte noch nicht lügen.

Woirol starrte ihn an. »Man wird aufpassen,« sagte er leise und gefährlich, »man wird unter Umständen scharf und unbarmherzig zupacken. Ich habe alle Vollmachten, auch die für das Standgericht.«

»Standgericht ist immer das wirksamste,« bestätigte Vaudrey mit rotem Gesicht, und er dachte: ich werde ihn doch an die Wand stellen.

 

Es kam noch eine andere Wolke über den vergnügten Himmel, unter dem Vaudrey mit Miss Gordon lebte: es kam noch der Vicomte de Persigny. Er hieß zu Straßburg anders, er trennte sich von der Aristokratie und konspirierte unter einem bürgerlichen Namen. Wäre er ein Hochstapler, so handelte er gewiß umgekehrt. Er war zu Straßburg ein Herr Manuel, Georges Manuel, Privatgelehrter aus Paris, und wohnte in der Büchergasse 17, nahe dem Türkheim-Staden, im Südwesten der Stadt, Gottseidank nicht im Viertel des Liebespaares. Das war für Vaudrey der einzige Trost, als er hörte, daß der Aufenthalt des fatalen Mannes von einiger Dauer sein würde. Was wollte der Gnom: ihm aufsitzen, ihn kontrollieren?

Persigny übernahm die Leitung der ganzen Aktion, Vaudrey merkte es kaum. Persigny setzte den Oberst nicht ab, sondern ließ ihm das neue Selbstgefühl, die neue Tatfreude und das schöne Leben mit Miss Gordon, er ließ ihn in seinem Schwung und spannte ihn ein, ohne daß er es spürte. Persigny ließ sich von der Autorität und der Popularität des Obersten den Berg der Schwierigkeiten hinaufziehen, um zu den Offizieren und Honoratioren zu gelangen, die noch zu bearbeiten und zu fangen waren. Vaudrey behielt das angenehme Leben als eine Art Ehrenpräsident der Verschwörung, als Repräsentant, als ausgiebige Referenz des Unternehmens, schließlich als strahlender Kartentrumpf, als eine Art Coeur-König, der gemischt, verwahrt und ausgespielt wurde, ohne daß er recht wußte, wie ihm geschah. In der Hand hatte ihn Persigny, ein trefflicher Voltigeur, ein kaltblütiger Kopf, ein rasanter Spekulant, zugleich Rechner und Draufgänger. Der Adjutant des Generaladjutanten, der Assistent des Operateurs war Laity, der vernünftige, energische, geschickte Laity, künstlerischer Leiter für Konzerte und Konspirationen, hübscher Junge und Miss Gordons beliebter Wohnungsnachbar. In der Hand hatte den Coeur-König schließlich Miss Gordon selber, die sich ganz still hielt, nur für die Idee da war und die Waisengasse 4, das Generalquartier der Liebe und der Verschwörung, kaum verließ. Dem Obersten Vaudrey ging es gut, so wohl verwahrt, gehegt, gehalten war er, daß sich die ganze schöne zutunliche Erde um ihn drehte.

Persigny operierte gleichzeitig kühn und vorsichtig. Er nahm die Gegnerschaft Woirols für endgültig und die Sprödigkeit der Infanterie zunächst für unabänderlich, er stellte ihre Intransingenz in seine Rechnung und hütete sich vor einem neuerlichen Versuch, sie zu gewinnen, weil der voraussehbare Mißerfolg bei dem wachen Verdacht des Generals die ganze Aktion gefährdete. Er erkannte die Gegenseite an und dichtete das Unternehmen gegen sie ab. Er beschränkte sich auf die Bearbeitung der technischen Truppenteile, der radikalen Fraktionen der Stadt und der mit ihr verbundenen Nationalgarde. Das gelang ihm. Ende August standen ihm dreißig Offiziere der beiden Artillerieregimenter und des Pionierbataillons und maßgebliche Parteiführer der politischen Opposition zur Verfügung. Er war ein tüchtiger Mann, Laity bewunderte ihn, ohne ihn zu lieben oder auch nur sehr zu achten, Oberst Vaudrey, der nicht mehr viel achtete, was alles sich um sein Glück drehte, hatte aufgehört, ihn zu fürchten. Vaudrey ging es gut, Miss Gordon war zärtlich und musikalisch, sie sangen oder liebten sich, die Verschwörung fand bei dem Nachbarn Laity statt, störte nicht viel oder bot eine angenehme Abwechslung; es war für den Obersten Vaudrey nicht erstaunlich, daß auch die anderen Dinge gut gingen, und er war jederzeit bereit, den General Woirol zu verhaften und die Armee Napoleons gegen Paris zu führen. Er war weder geduldig noch ungeduldig, mit der Gegenwart zufrieden, mit der Zukunft vertraut: er war glücklich.

 

Louis und Persigny trafen sich in Basel. Da es möglich war, daß dem Prinzen oder dem Propheten oder Beiden von den interessierten politischen Polizeien Agenten auf die Spur geheftet waren, und da zumal Persigny ein gewisses Vergnügen zeigte, Zusammenkünfte durch Vorsichtsmaßregeln zu dramatisieren, selbst wenn es nicht unbedingt notwendig schien, wohnten sie nicht zusammen und ließen sich nicht zusammen sehen. Louis saß in seinem Zimmer im Hotel »Trois Rois« und wußte, daß er auf den tüchtigen Mann nicht zu warten brauchte. Der Rhein floß vor breiter und gelassener Unfehlbarkeit gleichsam unbeweglich unter dem Fenster, der Rhein gab das Gefühl des Fließens dem Haus, an das er ewig rührte und dem Blick, der die senkrechte Wand hinunter ins Wasser starrte und durch die übertragene Bewegung schwindlig wurde wie auf einem Segelschiff. – Der Rhein liebt mich nicht, dachte Louis, weder auf dem linken noch auf dem rechten Ufer, und ich liebe ihn auch nicht, ich liebe nicht den Ausdruck der Grenze und der Entscheidung von solchem bedrückenden Ausmaß; der Rubikon ist nur ein Flüßchen, über das sich gut würfeln läßt, dieser entsetzlich heroische Strom ertränkt jeden Witz des Vergleiches und vielleicht auch den Witz von Straßburg …

Persigny erschien etwas umständlich, mit dem Zeremoniell der Verschwörung, das Louis schon kannte, mit Dunkelheit, unförmigem Mantel, hochgeschlagenem Schulterkragen, Stulpstiefeln, irreführender Kombination von Droschkenfahrten und Umwegen zu Fuß, um den kurzen Weg vom »Wilden Mann« in der Freien Straße zu den »Trois Rois« gehörig zu vernebeln, mit komplizierten Klopfzeichen an der Tür und Abhorchung der Nebenzimmer – endlich stand er stramm vor Louis, strahlend, rotbäckig und mit Hundeaugen, nahm den Mantel ab, ließ sich dreimal zum Sitzen auffordern, überwand seinen Respekt, nahm Platz und rapportierte.

– Er ist unausstehlich, dachte Louis und hörte zu, aber er ist begabter als ich: er macht noch aus dem Würfelspiel eine schwarze Kunst und aus der Farce eine Staatsaktion. Er läßt nicht locker, das ist gut für mich. Er wird mich nicht locker lassen, dieser falsche Eckart.

»Jetzt fehlt nur noch eins,« sagte Persigny; »die Weihe des Bundes.«

– Er ist unausstehlich, dachte Louis; nirgends ist der sakrale Ausdruck, der mich zeitlebens verfolgt, ungehöriger als im Mund dieses Unheiligen. »Was verstehen Sie darunter?« fragte er unfreundlich.

Persigny strich mit dem Handrücken die Bartbüschel auf. »Ich verstehe darunter den Einsatz – nein, zunächst nur das Erscheinen der enthusiasmierenden Instanz. Die fehlt noch. Die bin ich nicht. Ich bin nur der Wegbereiter, im besten Fall der Herold …«

»Sie meinen also,« unterbrach Louis, »man sollte noch eine abschließende Besprechung oder eine Art Generalversammlung nach Baden-Baden einberufen.«

Persigny konnte von Hundeaugen zu Stieräuglein überwechseln, vom treuherzigen Aufschlag zur wütig flackernden Energie des zustoßenden Blickes. Louis kannte die jähe Veränderung des Menschen. Sie zeigte das Ende seiner Unterordnung an und die Lust, Widerstände einzurennen.

»Baden-Baden?« fragte Persigny vorwurfsvoll, »glauben Sie, Sire, dreißig Offiziere auf einmal bekommen Urlaub …«

»Sondern …, sondern …« unterbrach Louis nervös, obgleich er jetzt schon wußte, was die Stieraugen bedeuteten.

»Straßburg natürlich,« sagte Persigny und straffte sitzend den Oberkörper.

– Weiß dieser Mensch, was er von mir verlangt? fragte sich Louis, die Augen fast schließend; denn er wollte ihn nicht ansehen. Verlangt er von mir zu viel oder nicht zu viel? Und ist es nicht gleichgültig, auch noch die Probe auf das Exempel zu machen, selbst wenn dieses Genie mir statt des Gelächters das Mitleid Europas einbrockt?

»Sire,« sprach Persigny munter oder gar ermunternd, »wir alle in Straßburg bringen Mut auf. Selbst Vaudrey, der komische Alte, bringt Mut auf. Die Verachtung der persönlichen Gefahr ist das Bundeszeichen, auf das wir uns wortlos geeinigt haben. Ich will mich aus dem Spiel lassen; denn die Auffassung und die Aufgabe meines Lebens erachten den Straßburger Mut für nichts. Aber wenn Sie zu den Andern kommen, die sich für Sie exponieren wollen, wenn Sie ihrem Mut gleichsam vorgreifen und sich selber auf das Erstaunlichste und Bewundernswerteste exponieren, nämlich ohne Notwendigkeit oder vor der Notwendigkeit der eigentlichen Aktion, dann wird Ihr Mut die große Flamme mitbringen und zugleich das napoleonische Geheimnis des Erfolges.«

Louis lächelte still. – Er hält mich für feige, dachte er, und da er selber Mut besitzt und beweist, hat er das Recht dazu; und ich selber frage mich nicht das erste Mal: bin ich feige? und ich weiß, daß ich mir hartnäckig die klare Antwort verweigere und lieber stumm und mit gesträubtem Haar in die Gefahr renne, als daß ich mir meinen Mut oder meine Feigheit zugäbe.

Persigny wartete nicht länger auf eine Antwort; er hieb mit der Hand kriegerisch durch die Luft und sagte mit seiner schönen Stimme: »Wie Ihnen der Gedanke gefällt, Monseigneur! Ich wußte es, ich weiß, wer Sie sind und wie Sie heißen! – Und nehmen wir den schlimmsten Fall an, Sire, daß Sie trotz meiner wohl überlegten und vorbereiteten Vorsichtsmaßregeln erkannt und verhaftet werden. Was geschieht dann, Sire? Das Signal zur Aktion ist dann die Schmach, die man Ihnen antut. Dann fallen Weihe und Tat zusammen. Und das Signal wird durchdringend sein.«

Louis sah durch das Fenster in die Nacht, die das andere Ufer mit Lichtern durchstach. Dazwischen strömte der Rhein, man sah ihn nicht, man hörte nur seine männliche Stimme, die nicht einmal laut, aber von einem zermahlenden Ton der Dauerhaftigkeit war. – Er macht mich noch zu einem Helden, dachte Louis und fing leise an zu lachen, weil es sowohl auf den Rhein wie auf den Vicomte de Persigny paßte. Der Prophet hielt es für das Lachen des Mutes und der Zustimmung. Das war es wohl auch.


Der Rhein strömt unter der Kehler Brücke. Man sieht ihn nicht, man hört ihn nicht, man rollt im schwarzen Verließ der Reisekutsche, man ist ganz allein und das Herz klopft. Es ist neun Uhr abends und alles stimmt, die Zeit und die Dunkelheit und der Paß, der einen zu einem Kaufmann aus Mannheim macht, der schwarze Reisemantel mit dem dreifachen Schulterkragen, der aus schmalen Schultern breite macht und den ganzen Körper aus der kenntlichen Form bringt, der hohe breitrandige Hut, der über den Augen sitzt und jeden Blick verstellt, den eigenen und den fremden, die hohe schwarze Kravatte, die das Kinn und das Kinnbärtchen verwischt – alles stimmt, alles ist planmäßig, alles ist auf das Abenteuer dieses Septemberabends zugeschnitten, auch die Angst, die zum Spiel gehört, wie das Futter zum Stoff. Es ist eine schmiegsame, körpernahe, wärmende und ganz eigene Angst; es ist in der Kostümierung und gründlichen Verstellung dieser Stunde die Angst, die einen zumeist an sich erinnert; denn die anderen Sinne sind abgestellt oder umgestellt und gehören zur Verkleidung. Der Wagen poltert langsam über die Brückenbohlen, die Pferde gehen im Schritt, jeder Schritt dröhnt mit doppeltem Schlag auf die Trommel aus Holz, zwischen jedem Hall der Hufe ist ein Stückchen des Weges verbraucht, unten geht der Strom seinen anderen Weg, unbekümmert und unausstehlich in seinem monotonen Grenzzug, seiner lässigen Grenzkraft, seinem ewigen Hunger auf Weltgeschichte, – und für den Kaufmann aus Mannheim begrenzt er Sicherheit und Unsicherheit, Geduld und Ungeduld, möglicherweise das junge Leben: breiter Strom, der noch breiter, lange Brücke, die noch länger hätte sein können; denn am anderen Ufer wartet die französische Grenzkontrolle.

Der Wagen hält, das Herz klopft lauter, als müßte es für den aussetzenden Hufschlag aufkommen; aber über dem Gesicht liegt Seelenruhe und die kühle Abneigung des Reisenden gegen legale Störenfriede, als eine Laterne, ein Uniformarm und ein Käppi durch das Wagenfenster eindringen. Das Blut wird vom Gesicht gekühlt, das Herz wird kühl: was kann mir das Käppi anhaben? Die Laterne tanzt über dem Paß, Louis gähnt, es ist eine Pointe, die ihm gerade einfiel und die ihn mit einemmal in sonderbare Laune bringt; man reißt den Mund auf und gähnt laut und ist zugleich entstellt, unhöflich aus gutem Gewissen und vielleicht gar ansteckend. Das Käppi sagt ein zergähntes Danke, die Laterne fegt mürrisch durch den Wagenraum, um ein wenig mißtrauischer als ihr Träger, Louis schließt friedlich die Augen und achtet nicht mehr auf den Rückzug des Staatsfragmentes.

Das ist alles, das ist der Eintritt ins Abenteuer, das ist der Probeeinmarsch in Frankreich, und selbst die Gefahr schminkt sich wie ein Clown. Vielleicht wird meine zweite Republik oder mein zweites Kaiserreich eine komische Oper, vielleicht nur eine gute Operette. Mit dem Höllenspaß, den die Historie an mir haben mag, wird sich mein ernstes Herz abfinden müssen. Der dumme Schauspieler Gobert stellte einen trefflichen Imperator auf die Bretter, der dicke Louis Philipp regiert mit Gemütlichkeit und Börsenschläue und schießt in richtigen Abständen nicht nur die Emeuten zusammen, sondern auch das Gelächter, das sich immer wieder gegen ihn zu erheben droht. Ich bin weder dumm noch gemütlich, ich werde das Melodram abschaffen, weil ich zu klug bin, um es zu beherrschen, und mich mit dem Gelächter assoziieren, weil ich es nicht totschießen kann; ich werde, wenn ich mir nicht vorher das Leben nehme, ein neuer Cäsar, der mit dem allgemeinen Amüsement regiert: die besten Komiker sind die unfreiwilligen und die mit den traurigen Gesichtern.

Der Wagen rollt über die Landstraße, das Licht der Seitenlaterne stolpert die Stämme der Pappeln entlang. Pappeln längs der Straße gibt es auch auf der anderen Seite des Rheins, der Wagen poltert wieder auf eine Brücke, ich habe von Brücken genug, sie sind enttäuschend, sie sind falsche Sensationen – ach es ist nur der Kleine Rhein, unpolitische Paraphrase des Großen; aber jetzt taucht zur Rechten die Zitadelle auf, umrißlos dunkel und böse, am Tag vielleicht halb so schlimm, mein Straßburg schickt zum Gruß die Zitadelle vor, kleiner Regiefehler von meinem Genie Persigny, ich bin empfindlich gegen Zitadellen, lieber Vicomte, ich weiß nicht recht warum, manche mögen keine Leichenwagen treffen, manche keine Nonnen, manche keine schwarzen Katzen: ich keine Zitadellen – und irgendwann, irgendwo stand immer eine bitterböse Zitadelle in meinem Fenster, ich war krank, Gelbsucht, es waren auch äußere Gefahren dabei – ach, meine komische Geschichte strotzt von überwundenen Gefahren –, das Bett stand so, daß man aus dem Fenster blicken mußte, wenn man die Augen aufschlug, im Fenster stand der nahe Campanile und rechts dahinter auf dem Felsen die Festung, wie hieß sie? die Rocca, ja die Rocca von Spoleto, und der liebe Gott schickte mir den Gottesmann Mastai, daß er mich vor der Rocca bewahre – ob er noch an mich denkt und an seine Worte von der Dankbarkeit, der grundgütige und grundkluge Mann mit der noch größeren Zukunft in den Augen? Gut, ich will dankbar sein, ich will bei jeder Zitadelle an ihn denken, es gibt genug davon … Das Stadttor, Porte d'Austerlitz, eigentlich Metzgertor, keine schmeichelhafte Ideen-Assoziation für den Sonnengott von Austerlitz und welch ein ketzerischer Witz, wenn sie der Neffe und Straßburg-Stürmer als erster hätte! Paßkontrolle, ein dicker, dummer Schnurrbart hängt über dem Ausweis, man gähnt, man gähnt, das Herz ist so gleichgültig geworden wie das Gesicht, vom Tor zur Waisengasse sind es fünf Minuten, Loyola macht die Exerzitien so bequem wie möglich, der Wagen hält vor Nummer 6, der Kutscher weiß, daß er zu warten hat, Louis ist ausgestiegen, reckt den steifen Körper und blickt auf die andere Seite, es stimmt, alles stimmt, drüben hockt der mächtige Kasernenklotz, trostlose Fassade mit wenig Lichtern, dahinter soll das historische Regiment existieren, Sein viertes Artillerie-Regiment, das die Vorsehung eigens von Toulon nach Straßburg kommandierte, damit es in der Familie bleibe und mir die Kastanien aus dem Feuer hole – und davor stehe ich, ganz allein, unbemerkt, notorisch mutig und dennoch nicht in der Stimmung, an so viel Treue zu glauben. Die Geschichte ist nicht treu, und daß sie sich wiederhole, kann man mit Not und Mühe nachträglich behaupten, aber nicht im Voraus fordern. Doch es ist reizvoll, daß mein Prophet die Staatsaktion nicht nur in bequemer Nähe des Metzgertores, sondern auch angesichts der trächtigen Kaserne beherbergt.

Louis hört hinter sich ein leises Wort, dreht sich um und sieht eine Gestalt im Verschwörungsmantel. »Da bin ich, mein lieber … Wie heißen Sie hier doch?« fragt Louis. – »Manuel, Manuel,« flüstert Persigny aufgeregt und packt Louis' Hand, »ich bin so glücklich, Sire …« – »Wenn Sie schon Manuel heißen, müssen Sie auch mit Ihren Anreden konsequenter sein, lieber Manuel.« Doch auf dem Straßenstück ist kein Mensch außer ihnen. Man hört nur das Scharren der beiden Wagenpferde auf dem Pflaster und den badener Dialekt des Kutschers, der ihnen mit freundlichen Reden den Futtersack umhängt. Es ist still und gemütlich in der Waisengasse. Die Beiden betreten das Haus Nummer vier, Persigny schließt das Tor mit konspirativer Sorgfalt, nimmt den brennenden Leuchter von der Mauernische und steigt die steile Treppe voraus, auf jeder Stufe nach dem Prinzen sich umblickend. Im ersten Stock steht eine Wohnungstür offen und in der Tür steht Miss Gordon, riesengroß und schön und vor Erregung blaß. Louis gibt ihr die Hand. – »Einen kleinen Imbiß,« flüstert sie, läßt seine Hand nicht los und zieht ihn in den Gang. Louis spürt wieder ihre Kraft, gerät in peinliche Erinnerung und verdreht mißtrauisch und etwas hilfesuchend den Kopf. Persigny folgt ihnen; er weist mit dem Daumen über die Schulter zur gegenüberliegenden Wohnungstür und sagt bedeutsam: »Es sind alle da.« Louis lächelt: »Sie sind ein topographisches Genie, Herr Manuel.« Sie gehen in einen kleinen Raum mit einem großen, runden Tisch, auf dem Weinflaschen und allerlei kalte Speisen stehen. »Welch eine wohlassortierte Verschwörung!« ruft Louis und setzt sich. Persigny wirft seinen Mantel ab und stürzt sich auf Louis' Hände. »Daß ich Sie wiedersehe, Sire, daß ich Sie hier habe!« ruft er und hatte sich doch erst vor zwei Tagen in Basel von ihm getrennt. »Ich habe Hunger,« bedeutet Louis. Persigny läßt von ihm ab und steht stramm. »Sire, Sie sind ein Wunder an Unerschrockenheit.« Louis ißt und betrachtet ihn. Der Prophet trägt unter dem flaschengrünen Frack einen gelben Ledergurt mit zwei Pistolen. »Wen wollen Sie totschießen, Herr Manuel?« fragt Louis zwischen zwei Schlucken Wein. – »Ich hoffe: keinen,« antwortet Persigny ernst. Louis weiß mit einemmal, daß dieser Mann schießen würde, wenn ein Ungerufener den Kopf in seine Verschwörung steckt. Louis wird an die Gefahr erinnert; aber er glaubt nicht mehr an sie, es genügen ihm die Embleme des Mutes und der Gefahr. Er nickt dem Propheten zu, der jetzt die Wartenden benachrichtigen will. Persigny geht, Louis nickt Miss Gordon zu, die ihm gegenüber sitzt und ihn mit den Augen verschlingt. »Meine Anerkennung, Madame, meine Anerkennung,« sagt er, um etwas zu sagen, »und jetzt meine ich nicht die Gänseleberpastete, sondern Ihre vortreffliche, mutige und erfolgreiche Straßburger Tätigkeit.« Miss Gordon wird rot und beugt sich etwas vor: »Bitte,« flüstert sie, »bitte, Prinz, tun Sie mir nicht weh …« – Nein, das will ich nicht, denkt Louis und sieht ihre Augen schmerzlich geweitet, das will ich nicht, ich will mich nicht wieder schämen müssen, ich bin heute verteufelt selbstkritisch, mein Herz möchte mit mir einen Augenblick lang zufrieden sein, ich möchte Rückendeckung haben, wenn ich drüben konspiriere. Louis sagt leise und zärtlich: »Leonore …« und streichelt über den Tisch ihre Hand. Sie sinkt in sich zusammen, ihre Hand ist kalt und wie erstarrt, sie weint lautlos und lächelnd. Louis ist etwas verwirrt, die Menschen sind nicht schwer zu fangen, zu leicht, viel zu leicht … Sie steht auf, man hört Persigny zurückkommen, sie beschäftigt sich mit dem Geschirr und hantiert an der kleinen Anrichte. Persigny sieht von einem zum anderen, mit flinken Aeuglein. »Ich bin bereit«, spricht Louis laut und erhebt sich.

Die beiden Männer gehen über den Flur. Persigny, hinter Louis, sagt: »Seien Sie versichert, Sire, sie liebt den Alten nicht.« – »Wie?« fragt Louis böse.

Die andere Wohnungstür ist offen. Sie treten ein. Im Vorplatz steht ein Artillerieunteroffizier mit umgehängtem Karabiner, er steht wie ein Standbild. Louis führt zwei Finger an den Hutrand. Persigny schließt und verriegelt die Wohnungstür. Der Soldat tritt vor die Tür. Es herrscht große Stille.

Persigny geht an dem wartenden Prinzen vorbei und schenkt ihm einen so schönen und reinen Blick des hingegebenen Herzens, daß Louis den Kopf senkt. Sie gehen einen kleinen Gang entlang, den gleichen Gang wie bei Miss Gordon. Persigny bleibt vor einer Tür stehen, durch deren Ritzen Licht dringt, er stockt einen Augenblick, er hebt die Schultern, es ist sehr still, nichts verrät die Nähe vieler Menschen. Persigny stößt die Tür auf, bleibt auf der Schwelle stehen und ruft mit seiner schönen und warmen Stimme:

»Napoleon!«

Er tritt zurück. Louis zögert eine Sekunde, er erschrickt an der Schamlosigkeit des Propheten, der den großen Namen aufwirft, als beschwöre er das Gespenst oder den Schauspieler Gobert, ihn graut vor dem Namen und der Szene, ja, Szene, ja, Szene! – ach, es ist nur ein kurzes und heftiges Lampenfieber, das mich schüttelt, nicht der Anstand des Herzens, nicht der Aufstand der eigenen Würde, die die falsche Würde abschüttelt, es ist schon vorbei, du brauchst nicht mehr mit den Augen zu winken, strammer Regisseur, ich trete schon auf … Louis betritt das große Zimmer. Er trägt noch den heroischen Mantel, den er nur aufgeknöpft hat, er trägt auf dem Kopf den hohen Hut, er sieht ziemlich groß und sehr kräftig aus. Das Zimmer zuckt zusammen, klirrend mit Sporen und Wehrgehänge. Die Offiziere stehen im dichten Halbkreis, in der Mitte der ersten Reihe steht Vaudrey, riesig und rothäutig, von ihm aus flacht es sich rangmäßig ab, die Leutnants stehen hinten. Louis tritt vor sie hin und nimmt den Hut ab. – Jetzt bin ich viel kleiner, nicht wahr, und vor eurem Vaudrey ein Zwerg, jetzt seid ihr enttäuscht, nicht wahr, so sehe ich aus …

Die Stille ist groß, die Männer blicken ihn an, seine Wolkenaugen gleiten über die Gesichter, er lächelt, und sieh, alle lächeln – er spricht leise, mit seiner weichen Stimme und seinem harten Französisch:

»Da bin ich, meine Freunde, und ich gehöre euch. Gehört ihr mir?«

Ein Schrei bricht aus, ein dreifacher Schrei: »Ja, ja, ja!«, wild und zärtlich.

Ich habe sie schon, ich habe sie schon! wenn ich lächle, lächeln sie mit, wenn ich ihnen vorweine, weinen sie mir nach! »Meine Brüder, ja, meine Brüder; denn ich bin euer ärmster Bruder, ich bin der Bruder aus der Fremde, ich bin der Verbannte um meines Namens willen, ich bin der Verdammte um des Prometheus willen, den sie auf die Ozeanklippe schmiedeten, ich bin der Verfehmte um meines heiligen Zieles willen, ich muß mich in mein Vaterland schmuggeln wie der Dieb in der Nacht – aber ich schmuggle mich hinein, ich schleppe die Konterbande des alten Ruhms und der neuen Zeit mit, ich komme zu euch, meine Brüder, und ich frage euch: wollt ihr wagen, was ich wage? …« – Was rede ich? hör zu, wie ich rede, wie mir die Worte kommen, nur weil sie mein Gesicht gelten lassen, wie ich die Wirkung dosiere, wie ich diese Männer betrunken mache und ihr Schicksal in die Tasche stecke, wie der Jahrmarktsschreier die Groschen der Beschwatzten. Sogar der kleine kluge Laity, vor dessen ehrlichen Augen ich Angst hatte, sieht nichts und hört nichts, was er nicht leidenschaftlich glaubt. Ich höre nicht auf, oh, ich höre nicht auf … – – –

Oberst Vaudrey in der Mitte schwankt wahrhaftig wie ein Betrunkener und dann schluchzt er auf, es klingt wie betrunkenes Lachen, es schüttelt ihn, daß die Männer neben und hinter ihm mitgeschüttelt werden, einige weinen mit, andere sind leichenblaß, andere sind feuerrot, alle schüttelt die Begeisterung.

»Vive Napoleon!« ruft Regisseur Persigny nicht zu laut und nicht zu leise; denn er denkt an alles, auch daran, daß man in diesem Haus nicht allein ist; und er beschwört den aufgerufenen und erregten Chor sofort: »Nicht zu laut, meine Herren!« Vaudrey zieht den Degen, mit nassen Augen und wildem Gesicht, wie zur Attacke – er wird brüllen, dieser Maniak von einem Bassisten, dachte Persigny und bändigt ihn mit strengem Blick und aufgehobener Hand – alle ziehen den Degen, alle sehen aus, als ob sie schreien müßten, nasse, blasse, rote Gesichter der Begeisterung – alle hauchen nur: »Vive Napoleon!«, angestrengt und großäugig auf das Piano der Leidenschaft achtend und doch seltsam dringlich und durchdringend in der Tonlosigkeit des großen Gefühls.

Napoleon, mit gelbem Gesicht und müden Augen, küßt jeden Bruder auf die Wangen.

Persigny begleitet ihn zum Wagen, stumm vor Glück. Miss Gordon wartet neben dem Wagen, sie hatte gehofft, daß Louis allein käme. Jetzt sagt sie nichts als ein leises und demütiges Adieu. Sie hatte ihm sagen wollen, daß sie ihn liebe. Persigny bittet zum Abschied: »Sire, küssen Sie auch mich.« Louis tut es lächelnd, der tüchtige Mann hat es verdient. Miss Gordon ist schon fortgegangen.

Der Wagen verläßt die nächtliche Stadt nicht durch das Metzgertor, sondern durch das Spitaltor, das nur ein paar hundert Meter entfernt ist. Es geschieht der Vorsicht halber. Die Torwache und später das Käppi an der großen Rheinbrücke sind zu müde, um nach dem Paß zu fragen. Wer hinausfährt, ist ungefährlich. Louis gähnt.

 

Das Gespenst

Wie alt war Hortense? Sie war dreiundfünfzig Jahre, neigte zur Fülle und zur Trägheit, war ganz grau und sehr müde. Ihre Mutter Josefine war mit einundfünfzig Jahren gerade im anmutigen Verblühen, schlank, wach, reizvoll und leichtsinnig, als sie starb, gleichsam zu ihrer eigenen Ueberraschung; sie war eigentlich schon seit zwanzig Jahren im anmutigen Verblühen gewesen, so lange sie der Kriegsgott kannte, ihr ewiger süßer und herber Abschied von der Schönheit war ihr Zauber gewesen; denn sie war niemals schön. Hortense aber war schön gewesen und hatte nicht von der Schönheit Abschied genommen, sondern ihr den Abschied gegeben, schlichten Abschied, um zur Heldenmutter zu werden. Jetzt war auch die Heldenmutter entlassen, schon lange, sie rechnete nicht mehr nach, wie lange, sie kannte sich schon lange mit dem Sohn nicht mehr aus, aber sie vertraute ihm, sie hielt auf ihn große Stücke, sie machte sich klein und still vor ihm, sie sah ihn weit über sich auf dem undeutlichen Podest der Zukunft, sie hatte mit ihm recht behalten und wußte doch nicht, was an ihm ihr recht gab: vielleicht war es nur, weil sie einstmals ihre Pflicht getan hatte, mehr als ihre Pflicht, weil sie einstmals die Welt für ihn wieder geschaffen hatte, Stück für Stück, Jahr für Jahr, hartnäckig und mühselig. Jetzt zelebrierte sie noch die Legende wie ein gewohntes Amt, und da beide alt geworden waren, das Amt und sie, sich ähnlich wurden und ein wenig zu vertraut, so wie ein absonderliches Museum mit dem Kustos verwachsen kann, machte sie es sich bequem mit der Legende, die schließlich in sie hineinkroch, mit ihr in Schloß und Park herumging und schon durch die Andeutung ihrer alten Königlichkeit genügend repräsentiert wurde. Aber noch etwas Anderes war in sie hineingekrochen und lag im heimlichsten Winkel des Körpers wie ein Klümpchen ungeborenen Lebens und war doch vielleicht der ungeborene Tod. Das Hausmärchen sollte nicht vor ihr sterben, das war alles, was sie wünschte; denn was der undeutliche Sohn will und vollbringt, wird kein Märchen mehr sein; das wußte sie. Und da sie also an den Tod dachte, fragte sie sich manchmal, unter dieser oder jener Kriegszeltdecke, ob sie wirklich stürbe, ehe ihr Sohn deutlich würde. Das war ja ihre alte Angst, die geblieben war. Nur ihr alter Anspruch, seinen Triumph zu erleben, war eingeschlummert. Hortense war sehr müde.

Sie ahnte, daß etwas vorging, aber sie fragte nicht, sie fragte schon lange nicht mehr. Als er ihr entwuchs und entglitt, vor sechs Jahren noch, litt sie unter seiner Verschlossenheit. Das war schon längst überwunden, sie sah ihn nicht oft, er war viel fort oder lebte in Gottlieben und um ihn war immer das Gerücht von Liebschaften und jetzt von politischen Plänen – beide hätten ihr nicht fremd zu sein brauchen, aber sie hatte an ihre Jugend keine andere Erinnerung mehr als die für Arenenberg geziemende – und saß er bei ihr, so war er liebevoll und schweigsam. Sie sah ihn an, er war viel in Deutschland, sie hörte dies und das, dieser grobschlächtige Persigny, unheimlich und unsympathisch trotz seines Glaubenseifers, blieb seit vielen Wochen verschwunden, Louis war mager, angespannt und nicht glücklich, sie sah ihn an, er lächelte und sprach vom frühen Herbst, der das Arenenberglein vernebelte und von der Erde trennte, als sei es der Säntis oder gar die Jungfrau.

 

Persigny bedachte alles. Als Anfang Oktober der Termin für die Aktion auf das Monatsende festgesetzt wurde, schickte er den Oberst Vaudrey, der in der Doppelflamme der Liebe zu Napoleon und Miss Gordon zu offensichtlich schmolz, mit der Dame auf neue Flitterwochen. Vaudrey nahm alles, was sich ihm bot; die Geliebte war näher als das politische Monatsende, jeder Tag des erstaunlichen Lebens beglückend und die Entfernung von dem stieräugigen Mann angenehm. Er beachtete nicht, daß ihn Woirol so bereitwillig beurlaubte wie Persigny und fuhr mit Miss Gordon als Mann und Frau gehorsam und glücklich die Reiseroute ab, die sie in der Tasche hatte, die bis nach Dijon führte, wo er ein Landhaus besaß und als stadtbekannter Schwerenöter mit einer sehr schönen und formal wie für ihn geschaffenen Unbekannten eine Woche verwegenen Glückes lebte, und die pünktlich am 25. Oktober mittags in Colmar, Gasthaus zum Engel, zu enden hatte.

Persigny dachte an alles. Er kam nach Bern, wo Louis allerlei Besprechungen mit Schweizer radikalen Politikern und Umstürzlern aus Deutschland, Italien und Polen hatte; denn Frankreich konnte schon im November ein neues Gesicht haben, und es sollte allen Unterdrückten, Verbannten und Verfolgten der europäischen Reaktion zulächeln. »Ich bin ein anderer Napoleon,« lächelte Louis, »ein umgekehrter, ich beginne mit dem Exil und endige bei den Menschenrechten.« Er drückte viele Hände. – Persigny kam, rotbäckig, eifrig und tüchtig, rapportierte und gab Daten und Richtlinien für die Entscheidung. Dann fragte er: »Sire, haben Sie schon an die Uniform gedacht?«

»Uniform?«

»An Ihre Uniform für die Aktion.«

»Ich habe ja neulich schon meine Verschwöreruniform in Straßburg vorgeführt.«

Persigny schüttelte energisch den Kopf. »Zivil wirkt nicht auf Soldaten.«

»Nun,« meinte Louis belustigt, »ich habe ja auch die wunderschöne Artilleriehauptmannsuniform, in der ich am Sonntag die Schützenfeste von Lanterswilen bis Steckborn kommandiere.«

Persigny verstand grundsätzlich keinen Spaß: »Sire, Sie können nicht in Schweizer Uniform Frankreich erobern. Es hätte schwere völkerrechtliche Komplikationen zur Folge.«

»Soso,« lachte Louis vergnügt, »da fällt mir ein, daß ich schon als Säugling französischer Leutnant war, Lancier, wenn ich mich nicht irre. Meine Mutter hat sicherlich das Uniförmchen aufgehoben – aber es wird mir zu knapp sein, fürchte ich.«

Persigny erwiderte nichts, sondern holte einen zusammengerollten Bogen Papier aus seiner Reisetasche.

»Ich habe hier schon ein paar Skizzen gemacht,« sagte er einfach, »auch für die Uniformen Ihres Stabes, so weit er nicht zur Straßburger Garnison gehört.«

Louis breitete das Blatt aus – sein Lächeln war wie weggeschlagen, seine große Nase zuckte und seine Augen wurden ganz klein. Er warf das Blatt auf den Boden und sagte: »Machen Sie sich für das Straßburger Theater zum Marschall, Graf Fialin, ich erlaube es Ihnen. Aber machen Sie mich nicht zum Affen. Das erlaube ich Ihnen nicht.«

Persigny hob das Papier auf, sah es zärtlich an und meinte mit Ruhe: »Ich bin über Ihre Verärgerung außer mir, Sire, aber ich begreife sie nicht, ich begreife sie wirklich nicht …«

Louis trommelte auf den Tisch. »Mein Lieber, manchmal fürchte ich, mir versagt die Kraft, Sie auszuhalten.«

Persigny hob langsam den Kopf; sein Gesicht mit dem Schwung nach rechts wurde so schwer von Staunen und Kummer, so verbogen von dem Hieb des Unrechts und der Kränkung, daß es sich langsam und sprachlos wieder senkte. Jetzt lag sein Kopf auf der Brust und die Vatermörder drückten die Backenbartbüschel bis über die Ohren.

Der Anblick war eindrucksvoll, ob als ehrlicher oder verlogener Ausdruck des Schmerzes; denn es konnte beides sein. Der Mann war unbesieglich. Louis kämpfte schon wieder gegen das Lächeln und spottete versöhnlicher:

»Warum holen Sie sich nicht lieber gleich den Schauspieler Gobert aus der Comédie Française, wenn er noch lebt? Der Herr hat Uebung und besitzt nicht nur das fragliche Kostüm, sondern auch das zugehörige Gesicht. Sie machen den Marschall Ney, trotzdem Sie zuweilen eher wie Foucher aussehen, de Bruc gleicht sowieso dem jungen Talleyrand, trotzdem er viel dümmer und viel anständiger ist, und ich kann dann zivil im Hintergrund bleiben.«

Persigny hatte sich erholt und wieder aufgerichtet. Er legte die Hand auf seine Skizze und erklärte völlig sachlich, schon ohne Spur der Erschütterung, die er soeben durchgemacht hatte: »Monseigneur, belieben Sie hinzusehen, vorurteilslos. Vielleicht gelingt es, das Mißverständnis zu beseitigen. Es handelt sich um eine Phantasieuniform, Rock blau, Kragen und Litzen rot, mit einiger Anlehnung an die französische Artilleriemontur, im übrigen nicht völlig sichtbar, weil ein Mantel getragen wird. Was diesen Mantel betrifft, so ist er allerdings grau, wie der berühmte Uniformmantel; mit dem gleichen Recht kann man aber auch sagen: grau wie hunderttausend Offiziersfeldmäntel. Was nun den Hut angeht, den kleinen Querhut, der wohl hauptsächlich die Ideenverbindung Eurer Hoheit verschuldete, so ist ohne weiteres eine gewisse Aehnlichkeit mit dem heilig historischen Hut zuzugeben. Aber, Sire, – und jetzt kommt meine Rechtfertigung, die unwiderlegbar ist –: diese stolze Aehnlichkeit weisen alle Generalstabshüte auf und meine Hutskizze basiert nicht auf dem Devotionalium, sondern auf dem Diensthut des französischen Generalstäblers. Und wenn die Augen der Begeisterung aus Ihrer Uniform nicht meine Phantasie, sondern die Erscheinung Ihres großen Namens sehen, so kann ich nichts dafür; denn, Sire, ich will nur Ihr Mißverständnis, nicht das allgemeine Verständnis beseitigen. Und was mich betrifft, Sire, ob ich der Vicomte de Persigny bin oder der erschossene Ney, der ein Held, oder der verbannte Foucher, der ein Schuft war, ob ich Straßburg als Theater oder als Schicksal sehe: ich, Ihr getreuer Diener bis in den Tod, ich habe Sie in Straßburg vor den Offizieren sprechen hören, Sire – und diese Rede war nicht von mir.«

Jetzt wurde Louis rot, ja, er wurde rot. Er sah den Unbesieglichen an, er hatte ihn während des ganzen langen fließenden Monologes angesehen, staunend, erheitert, beängstigt und zum Schluß beschämt, er sagte jetzt leise: »Bruder Fialin, Sie sind der Genius des zweiten Kaiserreiches, was bin ich ohne Sie? ein Napoleon ohne Hut. Verzeihen Sie mir. Nehmen Sie Ihre Skizze. Gehen wir zum Schneider.«

 

Der Abend des 24. Oktobers: die Mutter und der Sohn saßen im Salon, draußen schneite es zum ersten Mal, den See übermalten schon am Tag die Nebelschwaden, es gab keinen See und keine Sicht mehr, das Arenenberglein schwebte im Nichts. Im Eckkamin an der Fensterwand knackten die Buchenscheite. Louis knackte Nüsse und war wortkarg. Wenn die Mutter ihn ansah, lächelte er liebenswürdig, ohne die Augen aufzuschlagen und sie anzuschauen. Er fühlte es, wenn sie ihn anschaute, irrte sich niemals und lächelte nicht ins Leere. Hortense saß einen Teil des Jahres während ihrer Abendstunden im Salon auf dem Kanapee zwischen den beiden Fenstern, den anderen Teil gegenüber auf einer der beiden merkwürdig geformten Couchetten rechts vom Flügel, wenn sie Migräne hatte oder nur träge war, oder auf dem Sessel links von der Harfe, wenn sie stickte. Sie liebte das Sticken von je; malte sie nicht oder komponierte sie nicht oder dichtete sie nicht, dann hatte sie gestickt. Selbst die heraldischen Stickereien auf den Polstern des Kanapees, der Couchetten und des Sessels waren von ihrer Hand, und das Sticken blieb die einzige von ihren vielen Künsten, die sie noch ausübte. Jetzt saß sie zum ersten Mal in diesem Jahr auf dem Sessel neben der Harfe und eröffnete den Winter. Die Stickerei lag auf dem Schoß; aber sie arbeitete nicht, sie dachte nach oder träumte; hin und wieder sah sie den Sohn an.

»Der Winter fängt früh an,« sagte Louis.

»Ja,« sagte Hortense.

– Warum stickt sie nicht? fragte sich Louis. Er schob den Teller mit den Nüssen fort und hob den Kopf. Ueber dem Flügel war der junge Bonaparte im Sturm auf der Brücke von Arcole. Neben der Tür zum Seesalon hing seit vier Jahren ein neues, stattliches Bild, auf dem ein schöner junger Mann im schwarzen Taillenrock und in heroischer Haltung ein schönes, mutiges Pferd einen ungemein steilen Weg hinanführt. Es hieß Prinz Napoleon auf Arenenberg mit seinem andalusischen Rappen, stammte vom Maler Cottrau, einem der musischen Intimen des Hauses, und kontrapunktierte die Brücke von Arcole; denn, dachte Louis oft, es scheint fast leichter, mit der Fahne über die Brücke zu stürmen als den Gaul den Berg hinauf zu bringen. Er schätzte das neue Bild gering, aber er liebte auch nicht das alte Bild. Dieser junge, schöne, schwungvolle Brücken-Bonaparte bedrückte ihn, solange er denken konnte, bespöttelte ihn im Grunde, zog immer neue Register des exemplarischen Mutes und verlockte zur Persiflage. Louis dachte an die Kehler Rheinbrücke. Er verzog das Gesicht, er schnitt dem Bild eine kleine Grimasse; als er merkte, daß die Mutter ihn ansah, lächelte er ihr zu.

»Was ich noch sagen wollte, maman,« sagte er, »ich fahre morgen früh zur Jagd nach Hechingen.«

»Auf lange?« fragte Hortense. Das war eine merkwürdige Frage. Jagdausflüge währen nicht lange. Die Mutter glaubte ihm nicht. Aber vielleicht hatte sie ihm noch nie geglaubt, wenn er sie belog.

»Kaum lange,« antwortete er leise und stand auf. Links von der Tür zum Seesalon hing ein Bild des toten Bruders Charles. »Gute Nacht, maman,« sagte Louis und küßte ihre Hand, »ich muß morgen früh aufstehen.«

»Gute Nacht, Louis,« sagte Hortense leise, »komm gut zurück.«

An der Tür blieb er stehen. – Das war ein flüchtiger, ein zu flüchtiger Abschied, dachte er.

»Willst du mir noch etwas sagen?« fragte hinter ihm Hortense.

»Ach nein,« sagte er und lächelte zurück, »ich überlegte nur, welches Gewehr ich mitnehmen soll.«

Er ging. Warum sollte er sie noch unruhiger machen als sie schon war. Im Vestibül mit den vielen Waffen an der Wand, mit Hakenbüchse, Hellebarden, Lanzen, Degen, Rapieren, Sturmhauben, Fechtermasken und dem vollen Gewehrrechen, hing ihm der Kammerdiener Thelin den Mantel um. – Ich könnte eine ganze Leibgarde mit Arenenberger Trophäen bewaffnen, dachte er, so kriegerisch ist das Märchenhaus. Er ging hinter dem Diener, der eine Laterne trug, zum Oekonomiegebäude hinüber. Ueber Rasen und Kiesweg lag der Teppich von schütterem Schnee und verschluckte die Schritte. – Wie leise, dachte Louis, wie sterbensleise ist es um ihr Museum.

Der Diener wünschte eine gute Nacht.

In dem ehemaligen Schlafzimmer des Lehrers Le Bas, das jetzt ein Wohnzimmer war, lag das große Paket aus Bern schon seit drei Tagen, unausgepackt. Es zeigte sich, daß es als Ganzes nicht im Koffer untergebracht werden konnte. Louis zerschnitt die Schnüre und öffnete es seufzend, wie einen Brief, von dem man weiß, daß er Unerfreuliches enthält. – Man kann sich irren oder man kann Gefühle überwinden. Die Straßburger Putschuniform nach einer Idee von Persigny lag jetzt säuberlich auf seinen Händen, strömte den guten Geruch neuen Stoffes aus und ließ das Gemüt unbehelligt. Man kann mit Hilfe eines Persigny über Schlimmeres hinwegkommen als über das Veto des eigenen Taktgefühls; man sollte doch nach allem, was hinter einem und vor einem liegt, ein genügend dickes Fell besitzen, um sich durch diese unverschämte Uniform nicht mehr die Haut röten zu lassen – die Haut, Louis, die vom Nessushemd geschunden ist, und die blasphemische Uniform, Louis, ist das Antidot, ein Balsam, kalt wie eine Hundeschnauze – – sieh, man legt den bunten Rock, den grauen Mantel und den kleinen Hut nicht sofort in den Koffer, wie man es eben noch wollte, man wirft die Requisiten nicht in die Versenkung, um erst in Straßburg als wohlequipierter Geist in die Höhe zu fahren, o nein, man trägt sie ganz zärtlich und neugierig in das kleine Ankleidezimmer, man weiß, daß man Reithosen und hohe Reitstiefel anhat, prädestiniert für die Verwandlung: sieh, man ist im Nu Napoleon …

Louis steht vor dem großen ovalen Spiegel. – Ich lache? Nein. Ich entsetze mich? Nein. Wer ist das? Das weiß kein Mensch. Das ist ein kleiner häßlicher Levantiner mit großer Nase, dunklem Bart, gelber Haut und frühen Säcken unter den Schlafäuglein und ihm mögen, wäre er nicht gut gekleidet, die Felle weggeschwommen und die Teppiche gestohlen sein, die er über den Schultern getragen haben könnte, und er trägt ein unsinniges unbekanntes Querhütchen auf dem traurigen Kopf und er trägt einen überraschend gut gearbeiteten, nagelneuen grauen breitschultrigen, den dürftigen Körper auffüllenden Offiziersmantel. Wer ist das? Es ist keinesfalls der Schauspieler Gobert von der Comédie Française. Es ist eine Fehlbesetzung, da helfen selbst die Requisiten nichts. – Ich will es euch sagen: es ist ein falscher Louis.

Wem mache ich damit Freude? Wer hat mir dieses Leid aufgebürdet?


Napoleon dreht sich langsam um, mit bösem und entschlossenem Gesicht. Er sieht nicht, was ihm nachgeworfen wird: die entsetzliche Echtheit, die der Spiegel seiner Rückseite zuwendet. Wer jetzt in den Spiegel blickt, sieht wahrhaftig den Kriegsgott aus dem Zimmer gehen.

Er tritt auf die Galerie hinaus und nimmt von dem Fensterchen, durch das er als Gymnasiast hinüber spähte, um unbemerkt zu den kleinen Mädchen zu entschlüpfen, die Laterne, die vorhin der Diener pflichtgemäß zurückgelassen hatte. Er zündet sie an und geht die Holztreppe hinunter. Er geht über den breiten Schneeteppich, er geht lautlos. Es schneit noch immer, es kommt kein Laut aus der wattierten Welt. Die Sicht geht nicht weit, es schneit und nebelt, man sieht kaum die Pappel vor der Kapelle. In der flockigen Luft hat der Schreitende kein Gesicht, nur Umrisse. Stände jemand längs des kurzen Weges zum Schloßportal, so erstarrte er und traute nicht seinen Augen: er sähe das Gespenst des Kaisers mit einer Laterne.

Napoleon läutet, und da er weiß, daß der Diener schon im Bett ist und daß es eine kleine Weile dauern wird, bis man öffnet, setzt er sich auf die Bank neben der Tür unter dem Vordach mit den vier Eisensäulen, klopft den Schnee von dem neuen Mantel, nimmt den Hut ab, entfernt sorgfältig die nassen Flocken und setzt ihn wieder auf.

»Wer ist da?« fragt der Diener hinter der Tür.

»Ich,« sagt Napoleon.

Die Tür geht auf, er tritt ein. Der Diener Thelin, in einem abgelegten Schlafrock des Prinzen Louis, sieht ihn ruhig, ergeben und vertraut an, er sieht den Prinzen Louis und nicht den Hut und den Mantel, oder er lebt so lange in der Legende, daß es für ihn nicht erstaunlich ist, den Erben in der ererbten Uniform zu sehen.

»Haben Monseigneur etwas vergessen?«

»Ist die Königin noch auf?«

»Ihre Majestät sind bereits im Schlafzimmer.«

Napoleon geht durch das Vestibül und steigt die flachstufige Wendeltreppe zum ersten Stock hinauf. Im Korridor steht eine Kammerfrau. Sie macht einen kleinen müden Knix, sie staunt nicht, sie fällt nicht auf den Rücken, sie flüstert nur: »Ach, Monseigneur …«

Louis denkt: in diesem Haus kann das traurigste Gespenst umgehen, ohne aufzufallen, wenn es nur in der Uniform umgeht. Er ist plötzlich enttäuscht und müde. Er fragt: »Schläft die Königin schon?«

»Ja, Monseigneur.«

Was will ich denn? Was will ich denn? Ich gehe hinein, sie liegt sehr hoch auf dem blauseidenen Himmelbett im flachen Alkoven neben der Tür, ich weiß, sie trägt ein Spitzenhäubchen und ihr Gesicht ist eingefettet; denn sie pflegt sich noch aus Gewohnheit, nicht mehr aus Eitelkeit; sie wird sich mit einem Ruck aufrichten, ihre großen Augen machen und mich anstarren, sie wird vor Glück lächeln, sie wird ganz rot unter der Vaseline werden und es wird aussehen, als schwitze sie vor Glück, ›Louis‹ wird sie flüstern oder vielleicht gar ›Napoleon,‹ oder nur: ›Ich habe es gewußt!‹ – ›Was hast du gewußt‹, frage ich unfreundlich. – ›Daß ich dich einmal so sehen werde.‹ – ›So,‹ sage ich und zeige auf mich, ›so gehe ich jetzt nach Straßburg und mache Geschichte, die alte Geschichte.‹ Ich bin nicht freundlich, ich lächle nicht – nun ja, man lächelt nicht unter diesem Hut, Napoleon ist ernst. ›So sehe ich aus,‹ sage ich lauter und zeige auf mich mit beiden Zeigefingern, ›so sehe ich aus, Mutter!‹ – Will ich das? Will ich sie zum Abschied anklagen, daß ich so und nicht anders aussehe? Will ich ihr den falschen Louis an den lieben grauen Kopf werfen? Und was wird sie antworten, blind vor Glauben an meine Echtheit? Sie wird flüstern: ›Du siehst schön aus,‹ und dann wird sie weinen, aus Glück und auch vor Angst um mich, und ich werde davon laufen, heroisch kostümiert, und ihr die Freude mitnehmen und den Kummer zurücklassen …

»Soll ich Majestät wecken?« fragt die Kammerfrau.

»Nein, nein,« sagt er und wendet sich zum Gehen, »es ist unwichtig.«

 

Der kleine Hut

Der Straßburger Militärputsch vom 30. Oktober dauerte drei Stunden.

Doch die Nacht vorher war lang gewesen, sehr lang. Um elf Uhr abends waren Louis und Persigny von der Büchergasse aufgebrochen. Der Weg bis zur Waisengasse war lang; aber sie hatten Zeit, sie gingen langsam, jeder dachte: die Nacht wird lang genug. Die Nacht war klar und hell, der volle Mond warf Spitzgiebelschatten über die beschneiten Gassen, Mondschein und Schneeschein verwoben sich zum Licht von sanftestem hellstem Blau, die alten lieben Häuschen hockten vertraut nebeneinander, die Lange Straße hörte nicht auf vor Ehrsamkeit, Friedlichkeit und gemütlicher Stille, und hob man den Kopf, so fuhr der Münsterturm aus den Schneedächern wie ein silbernes Geschoß in den Himmel. Es war keine Verschwörernacht, es war ein Nachtwunder an reichsstädtischer Lauterkeit, Reinheit und Treuherzigkeit. Louis dachte an Arenenberg und Rom und Florenz und Baden-Baden, er dachte an die ewige Vedute, von der er nicht los kam. Er war sehr wortkarg, er hatte während der vierundzwanzig Stunden in Monsieur Manuels Wohnung außer Vaudrey und Laity keinen Menschen sehen wollen, er machte keinen zuversichtlichen Eindruck – mochte Persigny, der ihn von der Seite ansah, ihn für kleinmütig halten. Er war nicht feige, er war nur ungläubig und sonderbar gegen seine Existenz verdrossen. Wem machte er Freude? Dieser alten Stadt in Schnee und Mondschein, die ihm ihren vollkommen Frieden demonstriert? Dem Land, das groß und fremd im Westen liegt und ihn nicht gerufen hat? Der Mutter, die ihm in aller Frühe, kurz vor der Abreise, ein Kästchen hinübergeschickt hatte, und in dem Kästchen war der Trauring Napoleons mit Josefine, als Talisman für den Jagdausflug nach Hechingen, oder damit ein Stück echt sei an ihm und an seinem Aufzug, den sie um ein Haar gesehen hätte – nur der versponnenen Hortense aus dem Museum Arenenberg? Oder sich selber, den er nicht im Spiegel sehen mochte, den Don Quixote der Ungeduld – ach, den Ritter von der traurigen Geduld?

»Uebrigens, Persigny,« sagte Louis mit einemmal, »wenn die Sache mißlingt und Sie sich retten können …«

»Sir,« unterbrach Persigny und verwandte aus Vorsicht den kleinen englischen statt des großen französischen Titels, »doch nicht ohne Sie …«

»Jeder, der sich rettet, entlastet mich,« sagte Louis mit einer gewissen Strenge. Persigny sah ihn von der Seite an, Louis hatte den einen der drei Kragen des Reisemantels hochgeschlagen und den Zylinder in die Stirn gedrückt, man sah von ihm nur die große Nase. Persigny fragte sich: entlastet es ihn vor Gericht oder vor dem Gewissen, und warum spricht er dergleichen? Louis ging eine Weile schweigend weiter, als habe er vergessen, was er sagen wollte. Mit einemmal sprach er wieder, den Satzanfang pedantisch wiederholend: »Wenn die Sache mißlingt und Sie sich retten können, verwenden Sie Ihre ganze Tüchtigkeit und Ihren ganzen Einfluß auf die uns freundlich gesinnten Parteien und Blätter, daß meine Straßburger Opfer, Vaudrey, Laity und Genossen, eine gute Presse und die besten Anwälte bekommen. Außerdem veranlassen Sie, daß meine Mutter an Frau Vaudrey – es gibt ja eine Frau Vaudrey – monatlich mindestens dreihundert Franken schickt oder sie und die beiden Söhne in Arenenberg aufnimmt.« Das ist ja wie ein Testament, dachte Persigny, und sein Herz ist plötzlich viel zu weich … – »Haben Sie mich verstanden?« fragte Louis und wandte ihm mit einem Ruck den Kopf zu.

»Ja und nein, Sir,« entgegnete er verweisend, »ich würde mir an Ihrer Stelle nicht die Seele bewölken, wenn der Himmel über uns so klar und zuversichtlich ist.« Louis schwieg. »Eine solche Nacht vor einem solchen Tag ist ein gutes Zeichen,« ermunterte Persigny.

»Das ist lieb von der Nacht,« meinte Louis und sprach nichts mehr bis zur Waisengasse 4, dem Hauptquartier der Verschwörung.

Die Nacht war lang genug. Die beteiligten Offiziere versammelten sich allmählich, alle in großer Uniform, alle sehr still, sehr gehalten und feierlich. Louis, der nebenan in Laitys Studierzimmer saß, hörte sie kaum. Persigny, der eifrige Verbindungsmann, riet, schon jetzt die Uniform anzuziehen. Louis lehnte ab, es sei noch Zeit genug bis sechs Uhr früh. – Es sei wegen der Stimmung der Herren, meinte Persigny. – Umso ratsamer sei es, beharrte Louis, die Herren nicht zu früh in Stimmung zu bringen. – Er ist schwierig heute, dachte Persigny. Oberst Vaudrey war noch in der Nebenwohnung; vielleicht feierte er für alle Fälle Abschied von Miss Gordon. Persigny wollte ihn holen, er haßte ihn und hielt es endlich an der Zeit, ihm den Freudenquell zu verstopfen. Louis verbot es ihm; er sagte ihm auch den Grund: es sei ihm lieb, Miss Gordon so lange wie möglich beschäftigt zu wissen. Persigny schüttelte verständnislos den Kopf; denn er liebte Miss Gordon, wußte hinlänglich, daß Vaudrey sie liebte, war überzeugt, daß selbst Louis sie liebte, wenn er als großer Mann sie auch dem höheren Zweck opferte, und begriff nicht die übersteigerte Staatsraison, die doch nicht mehr nötig war. Wahrhaftig, der Prinz war in Straßburg nicht eben bemüht, leicht begreiflich zu sein. Jetzt schrieb er Proklamationen, eine an die Nation, eine an die Armee und einen kurzen Aufruf an die Straßburger Bürgerschaft. Auch Persigny hatte Proklamationen geschrieben, wenn auch nicht in der Nacht vor der Aktion, sondern schon vor etlicher Zeit und als die Frucht langer Erwägungen. Er legte die Entwürfe dem Prinzen auf den Tisch. Louis nickte und ließ sie liegen. Er hatte sie nicht verwandt: es stellte sich gegen drei Uhr nachts heraus, als er die Proklamationen den Offizieren vorlas, »um den Herren die Zeit zu vertreiben«, wie er einleitend bemerkte. Die Botschaften waren sehr gut geschrieben, wenn auch etwas zu literarisch und zu lang. Sie operierten recht überraschend, aber elastisch und geschickt mit den vereinigten Begriffen des Empire und der Republik, des Ruhmes und der Menschenrechte, der Flamme von 1789, die 1830 wieder aufflammte, erstickt wurde und jetzt zum neuen Fanal entfacht würde, – und gegen sie stehen, geboren aus Verrat, Heiliger Allianz und Bürgerkrieg, die trüben Gewalten: Reaktion, Unterdrückung, Zensur, Heuchelei und Standrecht. – Nicht übel, dachte Persigny, aber zu intellektuell, ich habe anders gebrüllt, ich habe die neuen Gesetzestafel vom Felsen St. Helena geholt und sie dem Volk um die Ohren geschlagen, ich war wahrlich kürzer und kräftiger, ich ließe von seinem feinsinnigen Essai nur den einen Satz stehen, der von mir hätte sein können: »Vertrauend auf die Heiligkeit meiner Sache zeige ich mich euch, das Testament des Kaisers Napoleon in der einen Hand, den Degen von Austerlitz in der andern« – das ist gut, das ist Proklamationsstil, das wirkt, das ist so gut wie neulich in diesem Zimmer seine großartige Rührrede, mit der er die Leute fing wie Fliegen mit Fliegenleim. Heute ist er zu vornehm, zu undeutlich oder doch zu geistreich und zu kühl, heute gefällt er mir nicht. – Aber die Offiziere waren voller Lob. Die Zeit schlich, Louis ging ins Studio zurück, um allein zu sein und nicht sprechen zu müssen; er war sehr müde, er hockte in einem Backenlehnstuhl und schloß die Augen; aber er konnte nicht schlafen, er stieg in ein Karussell des Ueberdrusses, der Selbstkritik, des schlechten Gewissens, der Zweifel, der Angst, der Hoffnungslosigkeit, der Angst, der Angst, wenn er die Augen schloß. Er starrte den Propheten an, der ihm stumm gegenüber saß und keine roten Backen mehr hatte, aber ein Gesicht mit besonders starkem Rechtsdrall. – Ich hasse augenblicklich meinen Genius, dachte Louis, das ist kein gutes Zeichen, ich hasse im Augenblick keinen Menschen auf der Welt so sehr wie diesen Menschen … »Wenn Sie sich retten …« begann er, fast ohne die Lippen zu bewegen, nur um den Andern zu kränken – »Ich beschwöre Sie, Sire …« stöhnte Persigny. – – »Ich befehle Ihnen, sich zu retten, Herr Graf, denn Sie sind prädestiniert dazu …« Persigny stand auf und ging stumm hinaus, das war gegen das Ritual des Respektes, aber der Prinz war unleidlich vor Nervosität. Persigny mischte sich unter die übermüdeten und überwachen Offiziere und erwärmte sie durch ein paar Worte über die heroische und sieghafte Seelenruhe, ja, man kann sagen: über die napoleonische Haltung des jungen Napoleon. Louis nebenan starrte auf den leeren Stuhl des Propheten und hatte sein halbes Lächeln auf dem Gesicht vergessen. Er war leer und taub vor Müdigkeit, der Stuhl des Propheten torkelte in die Höhe und sank wieder oder der bleierne Kopf war auf die Brust gesunken und wieder aufgefahren. Es erhob sich ein Klirren und Knarren, Oberst Vaudrey federte herein, Riese in Gala, bebüschelt, bebändert, bekordelt, rasselnd und knackend, eine Ordenskruste von der leicht wattierten Brust bis zum eingezogenen Bauch mit der Feldbinde, er meldete sich zur Stelle, er habe bis jetzt geschlafen, weil er für die große Stunde frisch sein wollte, Louis lächelte müde und boshaft zu ihm hinauf: »Haben Sie schlafen können, Oberst?«, das Gehänge der Parade-Epauletten kam in wogende Unruhe, es war das erste Mal, daß der Prinz anzüglich wurde, und der Augenblick war nicht der rechte, Louis sah es ein, »ich hätte nicht schlafen können,« fügte er hinzu, um es wieder gut zu machen. Vaudrey erklärte hastig, daß er jetzt hinüber in die Kaserne gehe, um die letzten Vorbereitungen zu treffen. Nach dem Sechsuhrschlage, mit dem Tone des Clairon beginne die Aktion. – »Gut,« sagte Louis. Vaudrey ging noch nicht. Ob Majestät die Ansprache lesen wolle, die er, Vaudrey, an sein Regiment zur Einführung des neuen Kriegsherrn halten wolle? Er zog ein gefaltetes Papier aus dem Aermelumschlag. – »Danke,« sagte Louis und nahm es nicht, »ich bin überzeugt, daß die Ansprache vortrefflich ist, und will Sie nicht aus dem Konzept bringen.« Vaudrey ging, die Goldfransen schlugen erregt um seine mächtig verbreiterten Schultern, Louis rief ihm nach: »Vergessen Sie das Trinkgeld nicht, Herr Oberst!« Vaudrey stockte, überlegte und sagte: »Sire, Sie meinen den Ehrensold?« – »Man kann auch den Ehrensold vertrinken,« lächelte Louis. Vaudrey klirrte hinaus. Persigny klirrte herein. Er trug eine schöne, grüne Uniform und war ein hoher Offizier. Louis lag in dem Großvaterstuhl und sah ihn nicht an. Persigny konnte sich stellen, wohin er wollte: Louis sah ihn nicht an. Er stieß leicht den breiten krummen Säbel auf und sagte gekränkt: »Es wird Zeit, Sire, hinüber zu gehen und sich umzukleiden.« – »Ist Miss Gordon drüben?« fragte Louis in die Luft. – »Gewiß,« meldete Persigny, »sie hat die Uniform schon ausgepackt.« – »Dann bringen Sie die Sachen her,« befahl Louis, »ich ziehe mich hier um.« Persigny blickte verwundert, dann lächelte er voller Verständnis; er hat Angst vor seiner Liebe, dachte er und ging. Miss Gordon war völlig angekleidet und sah nicht eigentlich verdächtig aus, nicht so, als hätte sie den Abschied von Vaudrey hinter sich; aber Persigny, der als Liebender von einer überraschenden Inkonsequenz gegen sich, den Politiker, war, bestrafte sie unnachsichtig mit seinem schmerzlichsten und vorwurfvollsten Blick und belud sich stumm mit Louis' Putschuniform. Sie beachtete nicht seinen Blick, sondern nur seine Last. »Er kommt nicht?« fragte sie sehr traurig. – »Nein,« entgegnete er schneidend, »er kommt nicht und der Heldenvater hat sich endlich auch absentiert.« Sie drehte ihm den Rücken. Ach, was war es für ein Rücken! Er stand bepackt und wurde weich. Er wollte, daß sie sich umdrehe, »Leonore,« rief er sie zärtlich an, »siehst du, was ich trage?« – »Warum kommt er nicht mehr …« flüsterte sie und wandte sich um. – »Ich trage die Hülle der Weltgeschichte, Leonore!« Er trug die Sachen ehrfürchtig auf den Händen und auf dem grauen Mantel lag der kleine Hut. – »Ich habe es schon lange angesehen,« sagte sie erregt, »ich hätte ihn so gerne … warum kommt er denn nicht?« – »Warum? Warum?« Das alte Leid stieg in ihm hoch. »Weil er dich zu sehr liebt und zu sehr achtet – wie ich, wie ich!« – »Du bist ein Narr,« sagte sie unerwartet, »geh!« Er ging und murmelte: »Morituri …« Doch sie beachtete es nicht oder verstand es nicht. Es war nicht nötig, daß er den Salon der Offiziere passierte; denn jedes Zimmer hatte seine Tür zum Gang. Aber er tat es, er schritt stumm und feierlich durch den Raum, auf den Händen die Hülle der Weltgeschichte. Die Wirkung war sehr stark, die Männer starrten ergriffen auf den kleinen Hut und auf den grauen Mantel, jeder fühlte diese Stunde und die eigene Bedeutung, keiner mehr fühlte Müdigkeit oder Unsicherheit oder Angst, Persigny war ein tüchtiger Prophet, eingeklemmt unter dem linken Arm trug er den schlanken Napoleonsdegen, darunter klirrte sein breiter krummer Säbel. Die Männer blickten ihm nach. – Louis erhob sich seufzend und warf Rock und Weste ab; Reithose und hohe Stiefel trug er schon. Er zog die Uniform an, band die Koppel um und steckte den Degen ein. Persigny hielt Mantel und Hut. Louis aber setzte sich wieder. »Erst wenn es schlägt,« sagte er matt; »sonst wird es mir zu heiß.« Persigny stand mit Mantel und Hut, Louis sah ihn nicht an. Er starrte in die Luft und wartete. Auf der Straße wurde es lebhaft, Soldaten lärmten aus der Kaserne, man hörte Pferdegetrappel. »Das bedeutet nichts,« sagte Persigny, als wollte er beruhigen, »die berittenen Chargen holen ihre Pferde, die außerhalb der Kaserne ihren Stall haben.« Louis hatte nicht gefragt und sich nicht gesorgt. Er hielt mühsam die Augen offen, er fühlte plötzlich ein unbändiges Schlafbedürfnis. Dann schlug die Uhr der nahen Magdalenenkirche. Louis drückte bei jedem Schlag die Augen zu. Er war maßlos erstaunt, daß die schlagende Zeit einmal da sein konnte. »Sire,« mahnte Persigny und war ganz blaß. Louis stand, ließ sich den Mantel anziehen und setzte den Querhut auf. »Sire,« stammelte Persigny, »Sire, sie sehen aus …«

Louis sah ihn an, wach und gehässig, er sah ihn von oben bis unten an und unten, wo die strammen, weißen Hosen in den krummen Röhren der Reitstiefel verschwanden, blieb sein Blick hängen. »Sie sind genau so schön, Herr Marschall,« sagte er und sah grausam durch das Oval der Säbelbeine, »wir passen zusammen.« Er wandte sich zur Tür, Persigny hielt ihn auf, amtlich und unverwundbar: »Sire, Sie müssen jetzt den Herren ein paar passende Worte sagen, sozusagen einen historischen Ausspruch.« – »Ja,« sagte Louis und ließ die Lider hängen, »ich werde sagen: ›Meine Herren, das Theater beginnt. Lachen Sie nicht zur Unzeit. Lachen Sie lieber jetzt.‹« Er ging zur Tür. Persigny stand mit zwei Sätzen vor der Tür. »Sire,« flüsterte er und stieß mit den Stieräuglein zu. »Sie werden dies sagen: ›Meine Herren, der Augenblick ist gekommen! Wir werden sehen, ob sich Frankreich noch an zwanzig Jahre Ruhm erinnert!‹ Sie werden dies sagen oder ich werde Sie überschreien.« Louis sah ihm in das krumme, blasse, wilde Gesicht, plötzlich lächelte er, nein, er schnitt eine Grimasse, er sagte: »Du bist mir so widerlich, mein Genius Fialin, daß ich mir sehr leid tue.« Persigny war unverwundbar, er war im Dienst, er riß die Tür auf und rief: »Napoleon!« – Der kleine Hut, der graue Mantel schritt in den totenstillen Raum. Alle Blicke hingen an dem Hut, alle salutierten. »Meine Herren,« sagte Louis, »der Augenblick ist gekommen! Wir werden sehen, ob sich Frankreich noch an zwanzig Jahre Ruhm erinnert!« – »Frankreich folgt Ihnen!« schrie der Chorführer Persigny; er schrie es; denn jetzt brauchte nicht mehr die Stimmstärke reguliert zu werden. – »Ja! Ja! Ja!« schrie der Chor, im Glück, endlich schreien zu können. – Jetzt blies der Trompeter aus der Austerlitzkaserne, als hätte ihm der Dirigent Persigny das Zeichen zum Einsatz gegeben. Louis drehte sich nach ihm um, weil auch er es dachte: Der Genius hinter ihm hielt in der Hand eine Standarte, die ein bronzener Adler krönte.

 

Vor dem Kasernentor und rechts und links auf dem Straßenstück hielten berittene Artilleristen mit Karabinern. Als Louis mit den Offizieren das Haus Nummer 4 verließ, setzte Trommelwirbel ein. Louis ging mit unbeweglichem Gesicht durch die Gasse der salutierenden Reiter. Persigny, dicht hinter ihm, hielt die Standarte schräg in die Höhe, so daß der Adler über dem Napoleonshut schwebte. Louis merkte es nicht, er sah auch nicht die neugierig verwunderten Gesichter hinter den hastig beleuchteten Fenstern, er hatte auch nicht Miss Gordon gesehen, die in der Wohnungstür gestanden war, blaß und begeistert, und von dem besorgten Persigny nicht hatte zugedeckt werden können, weil sie zu groß war. Louis hatte auf seine Füße gesehen und nicht an sie gedacht; er hätte sie vielleicht gegrüßt, um ihr gutes Gefühl im Rücken zu haben. Er hatte zu fallen Angst gehabt, als er die Treppe hinunter stieg: so übel, so leer, schwindelig und elend fühlte er sich; er hatte vor der Straße, vor der Aktion, vor der Welt Angst gehabt, so verkommen, so verlogen, so verbogen und schlecht maskiert fühlte er sich. Die frische Luft tat ihm gut, es war noch dunkel, die Laternen brannten trübe, man sah der Nacht noch nicht auf den Grund, er war es zufrieden. Die Trommel und der stumme Salut der Berittenen taten ihm wohl. Das war für ihn, in Ernst und Ehrfurcht. Gruß und Bereitschaft galten ihm. Die schönen Pferdeköpfe rechts und links nickten.

Das Regiment, ein dunkles mächtiges Viereck, stand im Kasernenhof. Der Trommelwirbel hörte auf. Oberst Vaudrey zog den Säbel. Die Kandelaber neben der Einfahrt flackerten auf den langsam anschwebenden Adler über dem Mann mit dem Hut, dann auf Uniformen. Der Oberst ging auf die Gruppe zu. Der Himmel wurde ein wenig grau. Das Viereck stand stramm, in lautloser Erwartung. Jede Batterie hatte vierzig Franken, die Unteroffiziersschaft zweihundert Franken, alle hatten Karabiner, zehn Kartuschen und höchst merkwürdige Instruktionen für das Vivatgeschrei erhalten. Sonst wußten sie nichts. Louis blieb stehen und die Suite mit ihm. Der Adler flog etwas zurück: dem Propheten taten die Handgelenke weh und er lehnte den Schaft gegen die Schultern. Oberst Vaudrey salutierte mit dem Degen; aber er sprach kein Wort, jedenfalls vor Erregung. Louis hob grüßend die Hand. – Man sieht kaum sein Gesicht, dachte er, und er steht doch nahe; wie soll man mein Gesicht aus der Entfernung sehen? – Er wurde ganz ruhig. Vaudrey trat an seine linke Seite und hob den Säbel. Persigny hob den Adler über beide. Sie gingen vor. Aus der Suite lösten sich die Offiziere des Regiments und begaben sich zu ihren Abteilungen; die anderen schritten langsamer als die Protagonisten.

Louis und Vaudrey standen zehn Schritt vor der Front, den Adler über sich. Louis sah im ersten Grau des Tages die verschwommene Masse der Truppen, Helme, Schultern, ein Wellenmuster von Helmen und Schultern in die Breite und in die Tiefe, und kein Gesicht. – Dann habe ich auch kein Gesicht, dachte er, sondern nur den Hut, und bis es hell ist, bin ich schon designiert. Oberst Vaudrey trat drei Schritte vor, hob dreimal den Säbel, mit dem Säbel die Schultern, räusperte sich auf jene kunsttechnische Art, wie es die Sänger vor dem Einsatz tun, und dann rollte voll und sauber sein mächtiger Baß über den Kasernenhof: »Soldaten des vierten Artillerie-Regiments, eine große Revolution beginnt in diesem Augenblick. Der Neffe des Kaisers Napoleon, der Prinz Napoleon Bonaparte, hier gegenwärtig …« er wies mit dem Degen auf den regungslosen Mann mit dem Hut, er hatte fortissimo begonnen, es schien unglaubhaft, daß er sich noch steigern konnte, aber er steigerte sich: »... Napoleon Bonaparte tritt an unsere Spitze! Er betritt den Boden Frankreichs, um die Rechte des Volkes zurückzuerobern und Frankreich seinen Ruhm und seine Freiheit wiederzugeben! Es gilt zu siegen oder für eine große Sache zu sterben, für die Sache des Volkes! Soldaten des vierten Artillerie-Regiments, kann Napoleon auf euch rechnen? Soldaten! Euer Oberst hat bereits für euch geantwortet. Jetzt wiederholt mit ihm: Es lebe Napoleon! Es lebe der Kaiser!« Das war das Stichwort, da waren vierzig Franken für die Batterie, zweihundert Franken für die Unteroffiziere und die Instruktion gewesen. Der Säbel des Obersten fuhr in die Luft, das Regiment brüllte nach dem Takt des Säbels, einmal »Napoleon« einmal »Kaiser«, immer wieder. Kanonier Marcot, irgendwo im Karree, fragte um sich herum: »Welcher Kaiser? Welcher Napoleon?« – »Der Sohn!« – »Der Neffe!« – »Der Kaiser selber! Siehst du nicht den Hut, du Mondkalb?« – Kanonier Gaudoin am linken Flügel schrie versehentlich: »Es lebe der König!«, weil er die Gabe besaß, im Stehen zu schlafen, und weil es bisher der König war, der leben sollte, bei allen ähnlichen Gelegenheiten. Unteroffizier Huck neben ihm stieß ihm den Ellbogen in die Seite: »Kaiser! Hammel! Schrei: Kaiser!« Kanonier Gaudoin schrie erschrocken und willig: »Kaiser!«

Louis stand vor der Front, drei Schritte hinter Vaudrey, die Hand am Hut. Er war ein kluger und skeptischer Mann, hatte eine durchwachte und wenig belebende Nacht und eine Flut von bedrückenden Gefühlen und hüllenlosen Gedanken hinter sich, er war ein Mann, an den sich Selbsterkenntnis, Selbstkritik und Selbstverdrossenheit im ungeeignetsten Moment zu hängen pflegte, er kannte den Wert von Trinkgeldern und den Unwert von Vivats: aber dennoch, er stand vor der verschwommenen Front, vor der verschwommenen Begeisterung, selber dämmrig, vernebelt, unter der Tarnkappe des berühmten Hutes, und fühlte beinahe schmerzhaft das ungeheuere Glück der Anerkennung, die Lust des Erwähltseins, den Rausch der Einzigkeit, die vor der Vielheit steht und tausend Blicke und Rufe trägt. – Ist solche jähe Beglückung allen Menschen gemein, die vor einer jubelnden Front stehen, oder nur dem Erben, der den Beifall der Historie im Blut hat? Ist sie nicht fast wie der Beweis meines tiefen und echten Rechtes? Denn es ist doch in mir das heimliche und unheimliche Recht, das meinen Kopf zu tun treibt, was meinem Herz nicht liegt … – Persigny drückte ihm ganz leicht die Fahnenstange gegen den Rücken und flüsterte: »Vorgehen! Sprechen!« Aber Louis ging nicht vor oder nur ein winziges Schrittchen. Die Entfernung war gut und sollte bleiben, der Prophet mochte ihren Sinn begreifen oder nicht. »Weiter!« flüsterte Persigny ihm in den Nacken. Louis schüttelte leicht den Kopf. »Sprechen!« flüsterte der Genius, »laut, kurz, einfach, Ruhm, Freiheit, Siegen, Sterben, Regimentsgeschichte, Artilleriehauptmann, Toulon, Elba-Grenoble.« Oberst Vaudrey hatte mit einem Säbelhieb den Jubel abgeschnitten, es war still, der Morgen kroch in die Höhe. Louis hob den Kopf mit einem Ruck und sprach. Er hatte eine wohllautende, aber keine große Stimme. Nach dem Baß-Sturm des Obersten klang es wie von einer sanften und einsamen Bratsche über den Hof. »Entschlossen, für den Ruhm und die Freiheit des französischen Volkes zu siegen oder zu sterben …« Es klang fein, dünn und fremdartig. Louis fühlte es selber, und da es war, als dränge der Tag gerade während seiner Rede zum Licht, wurde er unsicher. – »Ihr die Ersten … die großen Erinnerungen … Bonaparte Hauptmann eures Regiments … Toulon … und wieder war es euer braves Regiment, das ihm die Tore von Grenoble bei der Rückkehr von Elba öffnete …« Er sprach leiser statt lauter, ihm war, als leuchte ihm der Tag ins Gesicht, nur ihm, wie ein Scheinwerfer, er brannte ihm ins Gesicht und das Gesicht tat weh. – Man versteht mich nicht, man sieht mich nur … – »Lauter!« flüsterte Persigny von hinten, »Adler!« – Louis hob unwillig die Schultern, der Adler erhob sich, kreiste um ihn, und plötzlich war der Schaft in seiner Hand. Was war das für ein kluger Regisseur! Das glatte, harte Holz lag gut in der Hand, man konnte sich stützen und schützen, man stand nicht mehr allein im Licht. Persigny soufflierte Stichworte: als ob man sie jetzt nicht selber in Fülle hätte! Adler von Austerlitz und Wagram, Symbol des Ruhmes, Emblem der Freiheit, fünfzehn Jahre Adlerzug durch Europa, unter diesem Zeichen gegen die Verräter und Unterdrücker, »und so vertraue ich den Adler dem tapferen Oberst Vaudrey an, der ihn zu verteidigen wissen wird, wie ich.« – »Hoch Frankreich! Hoch die Freiheit!« schrie hinter ihm Persigny und Louis rief es auch. Oberst Vaudrey hob Adler und Säbel, der Chor des Regiments fiel ein. Das Regiment hatte nicht alles verstanden, was der Mann mit dem Hut sagte, die hinteren Reihen hatten recht wenig verstanden; aber alle sahen, wie der kleine Kaiser die Fahne an den großen Obersten gab, eine schöne und liebenswerte Geste. – »Umarmen Sie den Obersten!« soufflierte Persigny. Louis zögerte. Der Riese stand hochaufgerichtet, seine Hände waren mit Säbel und Standarte besetzt. Wie sollte er ihn umarmen, wie sah es aus? Warum sollte er an die eigene Kleinheit das gewaltigste Maß anlegen? Da stand ein sehr kleiner und wildschreiender Leutnant im ersten Glied. Louis eilte entschlossen und mit einem plötzlichen Lächeln auf ihn zu, umarmte ihn, küßte ihn flüchtig auf die flaumigen Wangen. Der Leutnant war eine Sekunde gelähmt, dann schrie er wie besessen weiter, seine ganze Batterie kam vor Freude aus der Reihe, die neue Begeisterung durchschüttelte das Regiment. Louis stand schon wieder in der Entfernung. Persigny sah auf die Uhr und trieb zur Eile. Die Eingangsszene war erledigt, er war mit ihr zufrieden, aber er hing an den Sentiments nur so lange, wie sie notwendig waren. Vaudrey wußte nicht, was er mit dem verliehenen Adler anfangen sollte. Persigny wußte es: man gebe ihn dem kleinen Leutnant, der durch die napoleonische Umarmung überraschend ausgezeichnet wurde und ganz so aussah, als ob er ihn sich nachträglich verdienen wolle. Der kleine Leutnant mit der Standarte schaute plötzlich wild, kampflustig und grausam wie ein junger Tiger.

Der Aktionsplan trat in Kraft. Die fünf Detachements unter den vorgesehenen Offizieren wurden gebildet und fortgeschickt, um ihre Aufgaben zu erfüllen: die dritte Artillerie und die Pioniere zu alarmieren und mitzureißen, unsichere Offiziere festzunehmen, den Telegraphen zu besetzen und die Druckerei Silbermann zu zwingen, die Proklamationen zu drucken. Laity war der Führer des Pionier-Alarms. Louis winkte ihn heran, er hatte ihn gern. »Zuversichtlich, guter Freund?« – »Das gehört dazu, Hoheit.« – »Ja, ja,« sagte Louis, »ich bin auch zuversichtlich,« und er gab ihm die Hand. Persigny selber übernahm die sehr wichtige Aufgabe, den Präfekten zu verhaften. Bevor er mit seinen Kanonieren abzog, nahm er den Prinzen beiseite: »Sire, seien Sie jetzt um Gottes willen hart und fest und vergessen Sie für einen Tag die humanitäre Literatur! Seien Sie zu dem General so umbarmherzig, wie ich es zum Präfekten sein werde. Sonst haben die Kerls hier umsonst gebrüllt und wir treffen uns niemals vor der Finkmatt-Kaserne. Und wenn Sie kein Blut sehen können, machen Sie die Augen zu oder gehen Sie hinaus: der Nußknacker Vaudrey zerknackt den Woirol wie eine Nuß und freut sich ein halbes Leben darauf.« Louis flüsterte fröstelnd: »Ich will kein Blut, es geht ohne Blut, sage ich Ihnen.« Persigny sah ihn an. »Vielleicht wäre es besser, ich bleibe bei Ihnen …« – »Vielleicht ist es Ihr Glück, daß Sie nicht bei mir bleiben,« sagte Louis und versuchte zu lächeln. Persigny hob die Schultern und ging. Louis sah ihm nach: ein Genie von einem Souffleur, dachte er und fühlte sich verlassen, kann ich denn ohne ihn auftreten?

Louis übernahm das Kommando des Regiments, das heißt: er schritt mit Oberst Vaudrey an der Spitze, wieder vom Adler verfolgt; aber die Standarte trug nicht mehr der Genius, sondern der junge Tiger, der um sich sah, als wollte er mit ihr die Köpfe einschlagen, die sich nicht vor ihr entblößten. Vor den Führern marschierte die Regimentskapelle, bis zur Straße dumpf trommelnd, dann plötzlich, wie über die Ohren der ganzen Welt losgelassen, die Marseillaise schmetternd. Louis erschrak vor dem Lärm. Der letzte Mann der Kapelle, der Mann vor ihm war der Paukist. Er marschierte stark zurückgebeugt, die eine Schulter hochgezogen, und schlug auf sein Instrument, das wie ein Riesenbauch sich vor ihm blähte, als gebe er Schüsse ab. Louis schmerzte der Schädel. Vor der Waisengasse 4 stand eine riesige Frau, die immer wieder beide Arme in die Luft warf und wohl auch schrie. Es war Miss Gordon. Louis sah sie nicht; er war im ersten Schrecken des großen Musiklärms und der Paukenschüsse. Die Straßen standen voller Menschen, sie waren mit einemmal da, trotz der frühen Stunde, sie grüßten, winkten und schrieen wohl auch; aber Louis konnte nicht hören, was sie schrien, sie liefen auch mit dem Regiment mit. – Vielleicht sind es die Radikalen, die Persigny aufgebracht hat, dachte Louis; denn hinter den Fenstern und vor den Haustüren tauchten andere Gesichter auf, überraschte, ratlose, verärgerte, ohne Schrei und Gruß. Der Lärm packte allmählich den Marschierenden wie in Watte, die Kapelle schmetterte die Marseillaise, ununterbrochen, der schiefe Pauker vor ihm schlug grob und störrisch auf seinen dröhnenden Vorbauch und seine eine Schulter ging immer höher, die Marseillaise ohne Ende verstopfte die Fugen der Welt, man hörte nichts als sie und kümmerte sich schließlich nicht mehr um das, was den Augen zu sehen übrig blieb; sie verstopfte die eigenen Gedanken, aber auch die Angst, daß der Morgen erbarmungslos das eigene Gesicht enthüllte und daß man lächerlich klein und verschrumpft neben dem prallen Gala-Riesen zu sehen war. Vielleicht war es sogar ein guter und alliierter Lärm.

Die Kapelle hielt und schwieg vor dem Garnisonskommando, die Ohren dröhnten weiter, Louis, Vaudrey, der Adler und die abgezählten Leute der Regimentsspitze marschierten weiter im Schwung des nachschwingenden Taktes die Treppen hinauf, die zivilen Mitläufer formierten sich hastig rechts und links vom Eingang und ließen die Republik und den Präsidenten der Republik leben, die Truppe, die auf dem Platz zurück blieb, ließ auf irgend ein Zeichen den Kaiser und Napoleon leben und sie schrieen lauter, weil sie in der Mehrzahl waren, die Rufe drangen mühsam in Louis' brausende Ohren, es herrscht arge Verwirrung in der Welt, dachte er verwirrt, der Infanteriedoppelposten vor dem Gebäude präsentierte verwirrt das Gewehr vor dem kleinen Hut und dem großen Obersten und versank schon im Strudel der wilden Kanoniere.

Vaudrey raste das Stiegenhaus hinauf. Er wußte Bescheid. Wer wußte besser Bescheid als er? Wen trug je ein so heiliger und gerechter Zorn? Hier stieß das historische Ereignis zum zweiten Mal mit seinem privaten Gefühl zusammen: bei Miss Gordon war es die Liebe, bei Woirol der Haß. Jetzt sollten zwanzig Jahre der Hintansetzung heimgezahlt werden, bei Waterloo war er Oberstleutnant, heute war er Oberst – ach, kann man überhaupt zwanzig Jahre heimzahlen, die man verloren hat? Er blieb stehen, er war außer Atem, das strapazierte Herz kam mit dem Zorn nicht mehr mit. Louis und der Mänadenzug der Kanoniere holten ihn ein. »Herr Oberst,« sagte Louis, »Sie überlassen die Verhandlungen mit dem Kommandanten mir. Sie haben die Güte, den Säbel in die Scheide zu stecken und sich feindseliger Aeußerungen zu enthalten.« Vaudrey hatte noch nicht den Atem in der Gewalt, er keuchte: »Falsch, Sire, ich fürchte …« aber er gehorchte, verbarg die nackte Klinge und führte den Trupp in den Wohnungsflügel des Generals. Die Kanoniere blieben auf dem Korridor, ein paar erschrockene Köpfe blickten aus den Türen, eine Frauenstimme kreischte böse: »Du bleibst hier!«, Louis, Vaudrey und der Adler drangen in das Wohnzimmer. Auf der Schwelle zum Nebenraum stand ein kleiner, dicker, totenblasser Mann in Unterhosen, über dem Nachthemd eine Uniformweste. »Was heißt das!« schrie er, »was wünschen Sie!«

Vaudrey ging auf ihn los, er konnte nicht anders, er durfte nicht den Säbel ziehen, er ballte die Fäuste, er blies sich auf, er machte sich noch größer, nichts paßte besser für den Bauch Woirols als die Unterhose, keine schönere Begegnung schuf das lange Leben als die der Paradeuniform mit der Unterhose, nichts gab es mehr zu degradieren. Und wenn die Unterhose schrie, so brüllte der Galariese: »Im Namen des Kaisers …«

»Halt!« rief Louis scharf, »gehen Sie zurück, Herr Oberst!« Vaudrey ging nicht zurück, aber er blieb stehen und warf den Blick wie einen Stein von oben auf den niedrigen kahlen Kopf. »General,« sagte Louis liebenswürdig, »ich komme zu Ihnen als Freund.«

»Wer sind Sie überhaupt, junger Mann?« fragte Woirol und sah ihn mit seinen klugen, klaren Augen an.

»Ich bin …« er weiß doch, wer ich bin – was soll ich sagen – wie kann man mich fragen, wer ich bin …

»Kaiser Napoleon!« schrie hinter ihm der kleine Tiger und stieß den Adler auf, daß die Kristallkrone klingelte.

»Ach so,« sagte Woirol und sah den kleinen Hut an, »ach so, natürlich, man siehts,« und er lächelte.

Louis wurde blutrot, sein Gesicht brannte vor Röte, er riß mit einem Ruck den Hut ab, er sagte leise: »Ich bin Louis Bonaparte. Ich wäre trostlos, unsere alte Trikolore aufzurichten ohne einen alten Militär wie Sie. Die Garnison ist für mich, General, entscheiden Sie sich und folgen Sie mir.«

Woirol schüttelte den Kopf. »Ich bin entschieden, Prinz, ich folge Ihnen nicht. Ich glaube, Sie sind sehr im Irrtum. Die Garnison besteht nicht aus einem Verräter und ein paar Verführten.« Er blickte langsam den blitzenden Berg Vaudrey hinauf.

Der Oberst brüllte auf: »Wagt der Verräter von 1815, der Konvertit, der Renegat, der Speichellecker …«

»General,« fuhr Louis dazwischen, »ich achte Ihre Haltung; aber glauben Sie an meine Berufung! Erinnern Sie sich an Ihre Vergangenheit, dann werden Sie an meine Gegenwart und an meine Zukunft glauben. – Hören Sie, General …«

Auf dem Platz ließen die Kanoniere den Kaiser leben, die Zivilisten antworteten mit der Republik.

Wieder lächelte Woirol. »Ich höre den Ausdruck einer Verwirrung, die sich schon in der frühesten Phase gegenseitig aufhebt …«

»Sie irren,« unterbracht Louis, »Sie kennen nicht mein politisches Ziel.«

»Prinz,« sagte Woirol, »ich fürchte sehr, Sie befinden sich hinsichtlich Ihrer politischen und persönlichen Bedeutung in einem tragischen Irrtum. So einfach und billig ist nicht das Kleid der Popularität.«

Louis runzelte die Stirn. Man schämt sich nur ein Mal. Das zweite Mal erinnert man sich, daß man in der Lage ist, zu nachdrückliche Hinweise auf die schwache Stelle abzuschütteln und den Spieß umzudrehen. »Herr Woirol, ich meinerseits fürchte, daß die Debatte fruchtlos ist und daß die Realität entscheidet. Das Gebäude ist von meinen Leuten besetzt. Wollen Sie mich wirklich zwingen, gegen Sie Gewalt anzuwenden?«

Woirol war sehr blaß; aber er sagte: »Ja, Prinz, dazu will ich Sie zwingen.«

Oberst Vaudrey ging vor, seine Zeit war nun doch gekommen. »Gut, Herr Woirol, sehr gut,« sprach er mit gedämpftem Grimm, »im Namen des Kaisers: Sie sind abgesetzt und verhaftet. Sie werden zunächst in das Arrestlokal der Austerlitz-Kaserne gebracht. Wenn Sie fliehen wollen oder Widerstand leisten, wird die Bedeckungsmannschaft von ihrer Waffe Gebrauch machen. – Herr Woirol, kommen Sie!«

Der General sah nicht den Sprecher an, sondern den Prinzen. »Ich füge mich dem Zwang,« sagte er etwas kehlig, »und bitte Sie, Monseigneur, sich ein paar Minuten zu gedulden. Ich werde mich anziehen.«

»Bitte,« nickte Louis.

»Keinesfalls!« schrie Vaudrey. »Sie werden in einem geschlossenen Wagen abtransportiert! Sie bekommen einen Kanoniermantel und Decken!«

»Finden Sie es ritterlich oder auch nur schicklich, Prinz, Ihr politisches Ziel an meiner Unterhose zu demonstrieren – oder finden Sie es lächerlich?«

Louis biß sich auf die Lippen. »Sie können sich selbstverständlich ankleiden, Herr Woirol.«

»Gut,« sagte Vaudrey, »dann komme ich mit Ihnen mit.«

»Madame Woirol ist leider ebenfalls noch im Négligée,« lächelte der General.

– Vielleicht wird er im nächsten Augenblick lachen, so blaß er ist. Es ist so viel Unernst in meinen Abenteuern, soviel Lächerliches in den Tragödien, die ich entfache. »Gehen Sie schon, gehen Sie schon, Herr Woirol!« –

Sie warteten zehn Minuten. Vaudrey klagte dumpf und ahnungsvoll. Louis schwieg. Woirol kam nicht. Vaudrey brach los, als sei das Band des Respektes, das ihn ans Zimmer fesselte, plötzlich gerissen, und stürmte in die Nebenräume. Man hörte ihn brüllen und eine böse Frauenstimme kreischen. Louis eilte ihm nach, der Adler flog hinter ihm her. In dem dumpfen und unordentlichen Schlafzimmer fuchtelte der rasende Vaudrey mit dem Säbel gegen eine dicke Matrone in Nachtjacke und mit Papillotten, die ein großes Federkissen wie einen Schild vor sich hielt.

»Er ist natürlich fort!« brüllte Vaudrey.

»Natürlich ist er fort!« kreischte die Generalin.

»Ich verhafte Sie als Geisel!« brüllte Vaudrey.

»Ich lasse Sie erschießen! Ich lasse alle erschießen!« kreischte die Generalin.

Louis ging aus dem Zimmer. Im Stiegenhaus holte ihn der Oberst ein. »Sire, wir haben eine große Dummheit begangen.« Es war die höflichste Form des Vorwurfs, die der Erregte finden konnte. Louis schwieg. »Ich habe zehn Mann weggeschickt, ihn zu suchen, aber sie werden ihn nicht finden.« Louis stieg verdrossen und stumm die Stufen hinunter. »Er ist natürlich zur Zitadelle und rafft die Vierzehner und Sechzehner zusammen, und wenn wir dann nicht schon die Sechsundvierziger haben und wenn die Konzentration mit den Pionieren und der dritten Artillerie nicht klappt, dann, Sire …« Vaudrey sah den schwierigen kleinen Napoleon von der Seite an.

Die Finkmatt-Kaserne, in der das 46. Infanterieregiment lag, konnte auf zwei Wegen gewonnen werden; von der Wallseite her, wie es der Stratege Persigny vorgeschrieben hatte, oder von der Stadtseite und ihrer nord-westlichen Ausfallstraße aus, der Steinstraße. Von der Wallseite her gelangte man an das lange Eisengitter, das hier den Kasernenhof statt einer Mauer abschloß, und hier konnte das überzeugende Schauspiel des revolutionären Regiments, der Begeisterung und der Marseillaise in breiter Szene aufgestellt werden. Der Prophet wußte, was er wollte; aber er war nicht da, die Wallseite bedeutete einen kleinen Umweg und die Zeit war durch die Flucht Woirols sehr kostbar geworden. Von der Steinstraße führte die enge Graumanngasse zur Kaserne. Kaum drei Mann nebeneinander konnten sie passieren, die Musik mußte die Spitze abgeben, die Truppe wurde in eine lange, schmale Kolonne umgeformt, und sie verstopfte noch die Straßenkreuzung, als Louis und Vaudrey vor der Kaserne anlangten. »Eine Mausefalle,« sagte Louis plötzlich und lächelte sonderbar.

Der Kasernenhof war noch leer. Der Offizier, der vorausgeschickt wurde, um die Sechsundvierziger aus den Stuben zu bringen, schien nicht angekommen oder mit seiner Forderung nicht durchgedrungen zu sein. Die Kanoniere, in der Gasse festgerammt, schrien ihr Hoch, im Hintergrund tobte die Musik. Auf dem Kasernenhof lag eine dünne Schneedecke, die junge Sonne zitterte in den Fenstern und in der reinen Luft, die Welt war so voll Licht, daß die Augen schmerzten. – In Arenenberg ist immer Nebel um diese Zeit, dachte Louis benommen. Der Gedanke glitt über ihn wie ein Nebelschwaden und war schon fort, Louis dachte nichts mehr, er stand im Licht und wartete, daß ihn das Licht entdeckte. Ein alter Sergeant mit eisgrauem Schnauzbart stand hinter dem Eingangsgitter und starrte ihn an. Louis ging auf ihn zu und glaubte zu lächeln. Er wußte es nicht genau, weil das Licht seine Haut spannte und seltsam steif machte. Er konnte kaum die Lippen auseinander bringen. »Mein Braver, wie lange dienst du?« – »Fünfundzwanzig Jahre; aber wer sind Sie?« – »Hörst du es nicht?« – »Der Kaiser ist schon lange tot.« – »Ich bin – ich bin der Nachfolger, Sergeant.« Der Mann starrte ihn an. »Nein,« sagte er, »nein!« immer wieder: »nein, nein, nein!« Die Kanoniere drängten gegen den Filter der Torgitters, Louis, Vaudrey und der Adler wurden in den Hof geschoben. Louis wandte den Kopf um, aber der eisgraue Sergeant war verschwunden, in den Kasernenfenstern tauchten Soldatenköpfe auf, vom Lärm angelockt, »Sire, reden Sie sie an,« bat Vaudrey. Louis sprach zu den Fenstern hinauf, aber sein Mund ging nicht recht auf, er hörte sich selber nicht, der Oberst brüllte für ihn, geschulten Basses, und rief die Sechsundvierziger zum Adler Napoleon, der kleine Tiger stieß den Adler in die Höhe, als wollte er ihn in die Kasernenfenster werfen, und ließ, schon heiser, den Kaiser leben. Infanteristen liefen aus der Kaserne, Kanoniere tropften durch den Gitterfilter, langsam kam die Musik näher, ein Unterleutnant der Sechsundvierziger jagte auf den Hof und fragte Vaudrey, was das alles bedeute, der Oberst fuhr ihn an: »Lassen Sie sofort das Regiment antreten! Der Kaiser übernimmt das Kommando!« – »Ich weigere mich!« schrie der Unterleutnant. – »Küß den Adler, Bruder!« keuchte der kleine Tiger und hielt ihm die Standarte vor das Gesicht. Der Unterleutnant stieß sie fort, der kleine Tiger stieß ihm den Adler gegen die Brust, der Unterleutnant riß den Säbel aus der Scheide und schrie: »Sechsundvierziger hierher! hierher!«, die Infanteristen sammelten sich um ihn, immer mehr Infanteristen, die Kanoniere ließen den Kaiser leben, plötzlich waren auf der breiten Kasernenmauer die Zivilisten, schüttelten die Fäuste und ließen die Republik leben, der kleine Tiger rannte mit dem Adler die Infanterie an und schrie immer heiserer: »Adler von Austerlitz! Adler von Wagram! Napoleon! Kaiser! Retter! Vaterland!« und plötzlich war der Adler verschwunden; denn der kleine Tiger hatte einen Kolbenschlag über den Kopf bekommen. Louis war wie erstarrt, die Sonne schoß auf ihn, er litt sehr, er wurde gebrannt wie ein Galeerensträfling, sein Gesicht wurde gebrandmarkt. – Jetzt werden sie alle lachen! dachte er. Der Riese Vaudrey packte ihn am Aermel und schleppte ihn vor die Infanteriefront: »Soldaten!« brüllte er aufgeregt, »ich, der Oberst Vaudrey, stelle euch meinen Neffen den Kaiser vor …« Nein, er war nicht wahnsinnig geworden, er hatte sich nur versprochen, er verbesserte sich auf der Stelle: »... den Neffen meines Kaisers …«; aber es war zu spät, der Unterleutnant schrie: »Er hat seinen Neffen als Napoleon verkleidet, der Lump!« – die Infanteristen gröhlten, der Chor der Kanoniere ließ immer noch den Kaiser leben, die Kapelle, schon nahe, spielte die Marseillaise, Louis schloß die Augen, Offiziere ritten von der Wallseite heran, der Infanteriekommandeur und sein Stab, »ein falscher Napoleon!« gröhlten die Infanteristen, »Herr Kamerad!« brüllte Vaudrey, »wir proklamieren Napoleon II.«, der Kommandeur zog den Degen: »Packt das Pack!« kommandierte er. Die Infanteristen drängten Louis, Vaudrey und die Kanoniere gegen das Gitter, die Republikaner rissen die Deckziegel von der Mauer und bombardierten die verhaßten Infanteristen, die Kanoniere brüllten feindselig, denn immer hassen die Kanoniere die Infanteristen, und die aus der Graumanngasse drückten ihre Kameraden gegen die Sechsundvierziger vor.

»Sire, lassen Sie schießen!« schrie Vaudrey und umklammerte Louis' Arm, »ich flehe Sie an, lassen Sie schießen!«

Louis blinzelte in die Sonne. »Nein,« sagte er leise und schüttelte den Kopf, »nein nein nein. – Ich bin doch schon erkannt.«

Vaudrey sah ihn entsetzt an. – Jetzt glaubt auch er an den falschen Louis, dachte Louis und plötzlich lächelte er; ich komme bald aus der Sonne fort, dachte er. Schatten überfielen ihn, links und rechts waren Pferdeköpfe, betropften ihn mit Schaum und trennten ihn von Vaudrey. Er hörte, daß man dem Obersten die schönen Paradeepauletten abriß und ihn einen Lump und Verräter hieß; das tat ihm sehr weh. Er hörte, wie Vaudrey mit einer ganz veränderten Stimme, schluchzend und epaulettenlos, aber doch noch großartig rief: »Kanoniere, zieht euch zurück! Gehorcht dem Gesetz!« Er hörte im Rücken, schon ganz nah, die unentwegte und ahnungslose Marseillaise – und plötzlich brach sie ab. Er hörte neben sich von der anderen Seite eine andere Stimme, die ihn höflich ansprach und ihn um den Degen bat. Er gab den Degen und den kleinen Hut, und als ihm der Hut nicht abgenommen wurde, ließ er ihn fallen.

 

Und der Prophet? Es war ein Jammer, daß ihn das Schicksal abkommandierte. Von den anderen Detachements hatte keines das Ziel erreicht, ein jedes fiel früher oder später in die Hände der Patrouillen, die von der Zitadelle aus Woirols Gegenstoß einleiteten. Selbst der tüchtige Laity brachte seine sechs Kompagnien Pioniere von der Kaserne am Judentor nur bis zum Stefansplatz. Dort ließen sie ihn stehen, als Woirol mit den Vierzehnern und Sechzehnern anrückte, und Laity, in der Aufrührer-Uniform der vierten Artillerie, wurde festgenommen, ehe er es sich versah. Nur Persigny erreichte sein Ziel. Er holte den Präfekten, einen kleinen Mann mit blühendem Schnupfen, aus dem Bett, donnerte die veränderte Weltordnung in seinen Katarrh hinein und schleppte mit Säbel, Pistole und wilden Worten, von Kanonieren eskortiert, den tropfenden Mann in das Arrestlokal der Austerlitz-Kaserne.

Dort sollte schon der besiegte Woirol sein; aber er war nicht da. – Warum kann ich nicht überall sein! klagte Persigny und raste zur Kommandantur. Er fand nichts als ein paar fluchende und um den Verstand gebrachte Kanoniere, die nach dem General in Schreibtischschubläden und Aktenschränken wühlten. Er raste zum Finkmatt-Viertel und mußte erkennen, daß der Angriff von der falschen Seite aus erfolgt war. Warum bin ich nicht bei diesem schwierigen, launischen und nervösen Napoleon geblieben! klagte er. Die Kreuzung Steinstraße-Graumanngasse war verstopft. Vor ihm stand die Musik wie ein Block und zerschmetterte mit der Marseillaise sein Bitten und Flehen und Schreien, ihn durchzulassen. Und als er sich wie ein Stier durch die musikalische Masse stieß, angeblasen, angetrommelt, angepfiffen, und sich allmählich durch die Kanoniere nach vorne arbeitete, brach die Katastrophe aus und riß ihn mit dem Strom nach rückwärts. Konnte er stand halten? Konnte er gegen den Strom schwimmen? Konnte er das Schicksal Napoleons teilen? Gab es nicht den Befehl Napoleons, sich zu retten, um der heiligen Sache willen? –

Der Putsch hatte kaum drei Stunden gedauert, für Madame Gordon waren es wie drei Jahre der Folter. Sie durfte das Haus nicht verlassen und die Revolution nicht mitmachen, auf ausdrücklichen Befehl des kleinen, bösen, geliebten Napoleon, der keinen Blick für sie gehabt hatte; sie durfte weder die Dame Roland noch die Théroigne der Straßburger Revolution sein, trotzdem sie sowohl den Geist der einen als auch den Körper der anderen zu besitzen glaubte. Sie hatte bisher die etwas senile Leidenschaft des knackenden Empire-Obersten zu unterhalten und jetzt zu warten. Wenn man warten muß, fängt das hellste Feuer der Hoffnung an zu schwelen, und um das triumphale Bild des napoleonischen Aufbruches krochen die Angstschwaden. – Bei ihm wird alles undeutlich und bewölkt wie seine Augen, dachte sie und spielte mit der Pistole, die ihr Persigny zurückgelassen hatte, zugleich als Symbol und Ersatz der großen Stunde, aus der sie ausgeschlossen war. Der Prophet liebte dramatische Gesten, sie übrigens auch. Gegen neun Uhr, als Louis schon auf dem Wege zum Stadtgefängnis war, erschien der Bursche Vaudreys und meldete in strammer Haltung: »Aus! Hin! Alle hin!« Sie hob in stummer Verzweiflung die Pistole, sie wollte sich nicht erschießen, sie hatte nur die Waffe gerade in der Hand: doch der Bursche floh, und so erfuhr sie nicht mehr. Sie nahm einen Beutel mit hundert Golddukaten, die Pistole und einen Umhang und eilte fort. Auf der Straße geriet sie in die Rückflut der Kanoniere und erfuhr wirre, übertriebene und widerspruchsvolle Einzelheiten: Napoleon erschossen, Napoleon gefangen, Napoleon entkommen. Auf dem Metzgerplatz stand friedlich und ahnungslos eine Mietdroschke. Sie ließ sich in die Büchergasse 17 fahren.

Am Schreibtisch des Propheten saß ein Mann in einer weißen Jacke mit einer hohen weißen Mütze, ein Koch oder ein Zuckerbäcker, und zerriß Papiere. »Ach meine arme Leonore!« begrüßte sie der Konditor nicht ohne Festigkeit. Es war Persigny. »Und Napoleon …« schrie sie. – »Schrei nicht so,« bat er, »jetzt ist jede Wand ein Feind und der Wirt vielleicht schon bei der Polizei. Und der Kaiser ist gefangen. Und die Fetzen hier in den Ofen. Und der alte Esel Vaudrey ist natürlich auch gefangen. Bitte hilf mir doch, die Briefschaften zu verbrennen, meine Akten, Tagebücher, Exposés, der Feind soll sie nicht haben. Ach, das ganze Unglück ist, daß ich nicht überall sein konnte …« Persigny redete und zerriß Papiere, Miss Gordon starrte ihn an. »Und du?« schrie sie. – »Schrei nicht so, Liebling,« bat er, »und den Woirol haben sie natürlich entweichen lassen, so fing es gleich an …« – »Und du, du hast ihn im Stich gelassen?« Die Konditormütze fuhr hoch. »Ich ihn im Stich gelassen? Liebes Kind, ich habe gegen fünfhundert Menschen gekämpft, um zu ihm zu gelangen; aber die verfluchte Graumanngasse war verstopft und nachher riß mich die zurückflutende Masse der vierten Artillerie mit.« – »Warum,« schrie sie, »warum teilst du jetzt nicht sein Schicksal?« Persigny stand auf. Er war durch die Konditormütze größer als sonst, er reichte der Riesin bis über die Schulter, er hatte ein feierliches Gesicht. »Warum, Eleonore? Dir will ich es bekennen. Weil ich meinem Kaiser habe in die Hand schwören müssen, mich zu retten, um die Idee zu retten.«

Das machte Eindruck. Miss Gordon schwieg und verbrannte die Papiere, die Persigny zerriß. Um zehn Uhr fünfzehn kam der Straßburger Polizeikommissar Michel Letz mit Gendarmen. Er kündigte sich unmißverständlich an und befahl im Namen des Gesetzes, die Tür zu öffnen. »Soll ich schießen?« flüsterte Miss Gordon und der Mut brannte ihr aus den schönen Augen. – »Aufhalten! Nur aufhalten!« flüsterte Persigny und nahm ihren Dukatenbeutel, der auf dem Schreibtisch lag, »wie gut, daß du auch daran gedacht hast, aufhalten, chérie,« flüsterte er »behalte mich lieb, vive Napoleon!« und er lief in die Küche. Miss Gordon hielt auf, sie schob mit ihrer gewaltigen Kraft einen Schrank vor die Korridortür, es dauerte seine Zeit, bis die Polizei die Tür eingetreten und das Hindernis fortgeschoben hatte. Miss Gordon warf im letzten Augenblick die Pistole in die Schreibtischschublade; denn es fiel ihr ein, daß man mit der Waffe in der Hand die häßlichsten Strafgesetzparagraphen beschwor. Sie wollte das Schicksal Napoleons teilen, und Napoleon lebte. Sie wollte leben bleiben. Herr Michel Letz drang ins Zimmer und sah sie erstaunt an. »Wo ist Persigny alias Manuel?« brüllte er sie an, um sie für den vorgeschobenen Schrank oder für seine Enttäuschung zu bestrafen. – Ich bin doch eine Frau, dachte sie und eine schöne Frau und das ist nur ein Mann, den ich in zehn Minuten um Hören und Sehen brächte: wie kann er mich so anbrüllen! Sie sah ihn mit ihren schönen Augen an und da sie erregt war, wogte der Busen. »Seien Sie doch höflicher, Monsieur,« sagte sie und sieh, der Grobian biß sich auf die Lippen. »Vicomte de Persigny ist nicht zu Hause, er kann begreiflicherweise als Generaladjutant des Kaisers Napoleon in diesem Augenblick gar nicht zu Hause sein.« – »Aber es wurde mir gemeldet …« Herr Letz starrte sie an, »und Sie sind die Sängerin Gordon, Madame?« – »Gewiß.« – »Sie sind verhaftet, Madame, ich habe auch gegen Sie einen Haftbefehl.« – »Glaubhaft, Monsieur.« – »Und sonst,« fragte Herr Michel Letz mit neuem Mißtrauen, »sonst ist niemand in der Wohnung?« Miss Gordon wußte nicht, ob Persigny schon das Freie gewonnen hatte. »Das weiß ich nicht, Monsieur, vielleicht der Koch.« –

Auf einem schnellen Metzgerwägelchen fuhr ein Koch oder ein Zuckerbäcker der Kehler Rheinbrücke zu.

 

Espérance

Louis blieb nicht im Stadtgefängnis; er wurde in der folgenden Nacht in die Zitadelle überführt. Von den Gefährten hatte er nur Vaudrey gesehen, einen Augenblick lang. Der Oberst sah alt und glanzlos aus und sagte: »Wenn wir füsiliert werden, Sire, dann sterben wir für eine große Sache.« – »Ja, ja,« sagte Louis, wie einst als Kind, »ja, ja, und verzeihen Sie mir.« Louis hatte seine tiefe Scheu vor Zitadellen, und als ihn die Kutsche durch die Nacht rumpelte, dachte er an die andere Nacht, wie er von der anderen Seite über den heroischen Rhein zur Mutprobe an der Zitadelle vorbei rollte – aber jetzt stieß sein Knie an das Knie des Stabsoffiziers, der über ihn wachte, und rechts und links vom Wagen ritten Gendarme, das war der Unterschied, und Vaudreys Wort fiel ihm wieder ein. In Zitadellen wird man füsiliert. – Louis lauschte in sich hinein. So ohne Angst? Warum hast du keine Todesangst? Warum, römischer Held? Weil du nicht an das Füsilieren glaubst.

Die Zitadelle tat ihm nicht weh. Er hatte ein geräumiges und beinahe komfortables Zimmer. Er hatte Ruhe und Schatten. Die höflichen Verhöre taten ihm nicht weh. Er schrieb lange Briefe an die Mutter und an Le Bas, in denen er die Aktion auf klare und bescheidene Art schilderte, mit martialischen Retuschen für die Mutter, mit vorsichtigen politischen Wendungen für den Republikaner. Die Tage vergingen, er trank, aß, las, schrieb, schlief und war seltsam ruhig. Er betrachtete den Napoleonsring, den schlechten Talisman – nein, den guten Talisman: denn ein wildgewordener Sechsundvierziger, der eisgraue Sergeant zum Beispiel, hätte ja das Gewehr auf den falschen Napoleon abfeuern können. – Du weißt also, daß du nicht füsiliert wirst? Im Ring stand eingraviert: Napoleon Bonaparte – Josefine Tascher. Und Espérance? Die Mutter sagte doch immer, zwischen beiden Namen stände Espérance. Zwischen den beiden steht nichts und Espérance ist nicht das, was der Kriegsgott im Ring trägt. Die Mutter meinte vielleicht, zwischen ihm und mir stünde Espérance, oder zwischen ihr und mir. Arme Hortense …

Nach etlichen Tagen, vielleicht war es eine Woche, erschien der General Woirol, guter Laune, Sieger und frischer Pair von Frankreich. Er war sehr höflich und sehr ironisch und seine Augen blitzten vor Klarheit und Klugheit.

»Was ist mit meinen Kameraden?« fragte Louis.

»Die Frage ehrt Sie, Prinz. Ich habe geglaubt, Sie würden sich zuerst nach Ihrem Schicksal erkundigen.«

»Mein Schicksal ist mir gleichgültig.«

»Das wiederum glaube ich nicht, Prinz, aber es hört sich gut an. Also: Vaudrey, Laity und Genossen kommen zu Jahresanfang vor das Straßburger Schwurgericht, übrigens auch die schöne Sängerin.«

»Und Persigny?«

»Persigny ist doch entkommen. Das wußten Sie nicht?«

»Das wußte ich nicht, aber das dachte ich mir. – Und ich? Vor welches Gericht komme ich?«

Der General sah ihn an. »Vor gar kein Gericht, Prinz.«

Louis fühlte das Blut im Kopf. »General, was heißt das? Ich bin der Verantwortliche. Meine Kameraden handelten in meinem Auftrag, auf meinen Befehl. Sie trifft keine Schuld, nur mich. Wollen Sie mein Gewissen belasten?«

»Ja,« sagte Woirol, »ja; denn wir halten Ihr Gewissen in dieser Beziehung für ziemlich elastisch, nach früheren Erfahrungen …« Louis war sehr rot; aber er sagte nichts. »Im übrigen kann ich Sie einigermaßen beruhigen. Es wird Ihren Kameraden nicht allzuviel geschehen. Es sind überhaupt nur neun Herren und die Dame in Anklagezustand versetzt. Es wären viel mehr, viel zu viel zu bestrafen. Aber mein weiser König will keine Märtyrer machen und eine Bagatelle nicht glorifizieren.«

»Und ich?« fragte Louis leise.

»Mein weiser König will Ihrer Person keine größere Bedeutung beimessen, als sie besitzt. Ihre Person hat gar keine Bedeutung, Prinz. Menschen ohne Bedeutung verschwinden, und kein Hahn kräht nach ihnen. Mein König verhilft Ihnen zu stillem Verschwinden. Es passiert Ihnen wohl nicht zum ersten Mal, Prinz.«

Louis hob den Kopf. »Ich glaube, General, ich brauche mich nur auf Ihre Unterhose zu berufen, damit Sie den ritterlichen und schicklichen Ton wiederfinden.«

Woirol betrachtete das kluge Gesicht mit den verhängten Augen. »Sie haben recht,« sprach er freimütig, »verzeihen Sie mir, Monseigneur. Sie kommen heute Nacht nach Paris. Dort haben Sie noch ein paar Verhöre und Protokolle zu überstehen. Dann kommen Sie nach Lorient. Dort erwartet Sie die Fregatte L'Andromède, die Sie in die Vereinigten Staaten bringt.« Louis hatte die Augen fest geschlossen und rührte sich nicht. »Ich hoffe, Prinz, Sie denken nicht wieder an die Historie. Der Vergleich würde wieder furchtbar hinken. Sie sind drüben ein freier Mann, mit einem amerikanischen Leben vor sich. Der König wünscht Ihnen alles Glück für eine amerikanische Zukunft und schenkt Ihnen außer der freien Ueberfahrt noch eine größere Geldsumme, ich hörte von zwanzigtausend Franken, die Ihnen ein angenehmes Leben verbürgt, bis die Geldüberweisungen Ihrer Familie geregelt sind.«

»Danke,« sagte Louis leise.

»Uebrigens ist Ihre Frau Mutter bereits in Paris, um den König um Gnade für Sie anzuflehen, was gar nicht nötig gewesen wäre.«

Louis machte eine heftige Bewegung. »General, ich bitte Sie, dafür zu sorgen, daß ich meine Mutter nicht durch eine Begegnung belaste. Ich mache meiner Mutter das Leben schwer genug – ich muß es schwer machen, wir beide wollen es nicht anders. Aber ich will meine Mutter in diesem Zustand auf keinen Fall sehen.«

Woirol schüttelte verwundert den Kopf. »Sie haben für eine Zusammenkunft weder Zeit noch Gelegenheit.« Sie schwiegen eine Weile. Louis dachte an Florenz und Rom und Rimini und an den Erzbischof von Spoleto und an Hortenses Kampf um ihn, an ihren wundervollen und unerwünschten Heroismus und er dachte an sein bedrückendes und beschämendes Glück im Unglück der anderen.

»Prinz,« sprach General Woirol mit einem winzigen Anflug von Verlegenheit, »dies noch: wenn Sie sich entschließen könnten, einen Revers zu unterschreiben, der Ihren ausdrücklichen Verzicht auf eine Rückkehr nach Europa ausspricht, so könnte dieser Revers mit einer Million Franken honoriert werden.«

»Viel Geld für einen Menschen ohne Bedeutung,« sagte Louis ernst; »aber den Revers unterschreibe ich niemals.«

»Mein Gott, Monseigneur, haben Sie wahrhaftig denn noch irgend eine Hoffnung …«

– Hoffnung, dachte Louis, Espérance steht nicht im Ring.

»Ich habe so viel Geduld …« sprach er leise und lächelte auf seine undeutliche Art.


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