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Gläubiger

Hoff dachte nicht an den Zwerg, als er auf die Straße trat. Er sah ihn und wollte ihm in der ersten Regung davongehen; denn er hatte von den Nothelfern genug. Er hatte auch ein ganz anderes Ziel und konnte keine Anhänglichkeit gebrauchen. Aber, überlegte er dann, die Flucht war ein unvollkommenes Mittel, um Paula loszuwerden; denn der Kleine hatte eine Spürnase wie ein Jagdhund. Er mußte ihn beschäftigen oder, besser noch, an seiner Hilfsmission irremachen.

Hoff ging zu Paula, der sich sofort anschickte, das Gespräch wieder in der Technik des langsamen Aneinandervorbeigehens zu führen.

»Bleiben Sie ruhig stehen«, befahl Hoff.

Der Kleine schaute sehr aufmerksam zu ihm hinauf und sagte: »Sehen Sie, Herr Rittmeister, jetzt sind Sie doch schlechter Stimmung geworden.«

Hoff hörte nicht darauf und gab ihm den Schlüssel für Fräulein Lilly Schmid: er soll ihn abgeben und auf Fragen, die die Dame möglicherweise stelle, nicht eingehen.

»Verstanden«, sagte Paula, er könne in einem halben Stündchen wieder zurück sein.

»Wo?« fragte Hoff.

»Hier«, antwortete Paula etwas zaghaft.

Er habe ihm niemals den Auftrag gegeben, sich hier aufzupflanzen, meinte Hoff, und da sich Herr Hertz die Überwachung verbitte, habe er, Paula, auf Unannehmlichkeiten gefaßt zu sein. – Paula wiegte den Kopf und machte listige Augen: Man könne ihm kaum verwehren, sich auf öffentlicher Straße nach Belieben aufzuhalten – es sei denn, Herr Hoff gebe ihm den ausdrücklichen Befehl, wegzugehen.

»Mir ist es vollkommen gleichgültig, was Sie tun und wo Sie sich aufhalten«, sagte Hoff; »aber wenn Sie mir wirklich einen Gefallen erweisen wollen, dann schränken Sie Ihr Interesse an meiner Angelegenheit möglichst ein.«

Das war überraschend. Paula schaute zu ihm auf, und seine Kugelaugen waren wie glasiert. – Er wird doch nicht wieder zu heulen anfangen, dachte Hoff erschrocken und sah sich um. Das Bibliothekfenster Hertzens war von der Gardine verhangen; aber Hoff fühlte beinahe, daß David sie beobachtete.

»Es ist ja richtig«, sagte Paula verhalten, »daß ich noch gar nichts für Sie habe tun können, Herr Hoff. Und leider mißachten Sie auch meinen bescheidenen Rat, zum Beispiel meine gehorsame Bitte, in den ersten Tagen Ihre Wohnung nicht zu verlassen. Aber vielleicht kommt schon noch die Gelegenheit für mich.«

»Sie scheinen mich nicht gut verstanden zu haben«, sagte Hoff grob. »Die Umstände sind seit gestern anders geworden. Von mir aus können Sie auf Herrn Hertz aufpassen oder nicht: aber mich lassen Sie bitte in Ruhe.«

Paulas Augenglasur drohte jetzt zu schmelzen. Doch er sagte mit einer leisen Schärfe: »Sie sind ja nur durch den Menschen enttäuscht, Herr Hoff. – Ich denke nicht daran, es auf mich zu beziehen. Im Gegenteil! Im Gegenteil! Ich beziehe es nur auf ihn!« Das waren dreiste, sogar mit einer leisen Drohung gesprochene Worte, und Paula hatte die Taktlosigkeit, dabei auf Hertzens Haus zu zeigen. Hoff ließ ihn stehen und ging weg. Er drehte sich nach zwanzig Schritten um, weil er wieder das Gefühl hatte, dem Kleinen Unrecht getan zu haben. Doch auch Paula hatte sich auf den Weg gemacht, in entgegengesetzter Richtung. Hoff sah nur noch den Rücken des Abmarschierenden und seine Zwergenbewegung. Die Beinchen waren so kurz, daß ihm die Knie zu fehlen schienen. Er ging auch so: steifbeinig, wacklig und die Füße mit den Flatterhosen in kleinen hastigen Halbkreisen voreinandersetzend.

Er ist wahrhaftig eine böse Laune des lieben Gottes, dachte Hoff und ging weiter, ohne noch einmal zu Hertzens Haus hinaufzuschauen: ach Gott, der arme David ist es auch und ich bin es auch und unsere Zeit ist es auch. Wir Gezeichneten finden vor lauter Gleichheit und Mitleid mit uns keinen anständigen Gegensatz mehr. Dieses Krüppelchen verdiente vielleicht mehr Vertrauen als der laue Hertz. Paula ist treu, ohne Debatte und Reflexion. Aber ich brauche keinen Knappen, sondern einen Gegner – oder besser: Gläubiger. Denn Gegner können geschlagen, Gläubiger müssen bezahlt werden.

 

Hoff betrat den ersten Tabakladen, der offen war (viele Geschäfte hatten geschlossen, teils aus Sympathie mit den Streikenden, teils aus Angst vor Unruhen und Plünderungen). Er kaufte sich Zigaretten und bat um ein Adreßbuch. In der Öffentlichkeit war bekannt, daß der Revolutionsminister seine Barockresidenz nur dienstlich benutzte und sein häusliches Leben – soweit er dazu kam – in der bescheidenen Wohnung weiterlebte, die er vor seinem Eintritt in die Zeitgeschichte innehatte. Die radikalen Zeitungen hatten oft genug auf diese vorbildliche Art persönlicher Führerhaltung hingewiesen. Die Opposition wiederum verwarf es als falsche Bescheidenheit und als besonders billige Art von Demagogie.

Das Adreßbuch, noch aus den ersten Kriegsjahren, enthielt viele Bewohner des gleichen Namens und nannte ihn endlich, noch als Redakteur und Parlamentsmitglied, mit der Adresse eines halbproletarischen Stadtviertels im Osten der Stadt. Hoff prägte sich Straße und Hausnummer ein. Er glitt noch einmal über die vielspaltige Seite mit der winzigen Type und der Menschenmasse, die an ein und demselben Buchstaben hing. Es war eine ordentliche, sogar bürokratische, fast schon militärisch ausgerichtete Versammlung, die dennoch von ihren Geheimnissen nichts preisgab als den Namen. Hoff nahm mit den Augen den Appell ab und staunte über die vielen Gleichheiten und Ähnlichkeiten. – Sie unterscheiden sich verteufelt wenig, dachte er, und wenn man sie so liest, wimmelt es von Doppelgängern und Spiegelfechtern. Die immer gleichen Buchstaben, voneinander in nichts unterschieden, wagten die Bezeichnung von Menschen. Was ist das für eine Anmaßung! Was ist das für eine Bauernfängerei mit dem Zufall! Wie kommt dieser und der und der dazu, gleich dem Minister zu heißen? Wie kommt David Hertz dazu, als »Hoffnung« genannter Mensch den Menschen Hoff genau zur Hälfte zu enthalten?

Aber siehst du dir den einen Namen an, der nicht nur den Minister bezeichnet, sondern auch ihm gehört, einzig und allein den einen und besonderen Menschen benennt, in den Hintergrund sein ureigenes Schicksal zeichnet und über die ganze große Seite schon sein unendlich vertrautes Gesicht, dann fallen die Imitationen um ihn herum zusammen wie Kartenhäuser. Das ist doch wiederum eine Genugtuung. Du kennst von allen Menschen dieser Seite eben doch nur diesen einen Menschen. Von allen Spiegelbildern und Hoffnungen gehört zu dir doch nur der wirkliche Hoff. Hier bist du und dort ist der Minister. Du bist jetzt schon so weit, die Augen zu schließen, sie wieder zu öffnen und aus der Kolonne der zahllosen Namen den einen gesuchten, den Menschen vertrauten Lebens und Todes mit dem ersten Blick herauszustechen. Du und er stehen immer wieder einander gegenüber, immer profilierter, immer mehr von den Schlacken der Reflexion und der Resonanz gereinigt: Schuldner und Gläubiger. Du brauchst doch nicht mehr, um weiter zu kommen.

Mensch vertrauten Lebens und Todes. Ist dieser Gustav-Adolf-Kopf denn schon der vertrauteste Mensch? Das Adreßbuch ist so dick, wie eine kräftige Männerhand breit. Es enthält Millionen Menschen. Es lockt mit solchem Aufgebot zu der Gegenprobe.

Hoff schlug die Seiten zum H zurück und suchte den eigenen Namen. Es gab von ihm nicht so viele wie von dem des Ministers. Der Blick fiel sofort auf den gesuchten Träger des Namens, vertrautesten Menschen: »Andreas Hoff, Generalmajor und Brigadekommandeur, Ludwigskirchstraße 17, hochparterre.« Hubert fand den General noch viel schneller als den Minister, vielleicht aber nur, weil Andreas der Vater die Hoffs des Adreßbuches anführte. Aber es war ja kleinlich und häßlich, nach solchen Gründen äußerlichster Art zu suchen. Wollte er denn den Vater absetzen und den Usurpator, der schon die Dynastie verdrängt hatte, auch in seinem Privatleben inthronisieren? Nein, er wollte die Gegenprobe machen und besaß das Recht jedes Menschen, über den Grad persönlicher Nähe zu entscheiden.

Er sah durch die väterliche Namenszeile hindurch Aufbau und Handlung der eigenen Familie und des eigenen Lebens bis zu den kleinsten Einzelheiten. Er erkannte sich zu, daß es nichts Vertrauteres gäbe. Er las die Adresse und sah die väterliche Wohnung bis in die letzten Winkel. Es waren sieben Zimmer, von Andreas Hoff gemietet, als er in den Generalstab und der fünfzehnjährige Hubert, das einzige Kind, in das Kadettenkorps kam. Die Wohnung hatte eine etwas kühle und menschenleere Atmosphäre; denn die Mutter starb wenige Jahre nach dem Einzug an den Folgen eines Sturzes vom Pferd. Trotzdem liebte der Kadett Hubert das väterliche Haus; denn er sah es ja nur in den Ferien und es war für ihn Begriff und Raum der Freiheit, Erholung von dem trübsinnig korrekten Korpszwang. Durch seine und der Familie Lebensumstände war für den Knaben Liebe immer gleich Respekt und Respekt eigentlich eine gehobene Form von Angst. So liebte oder respektierte oder fürchtete er auch den Hauptmann, den Major, den Oberst, den General Hoff, der für ihn der doppelte Vorgesetzte als Vater und Offizier blieb und auch diese zweifache Subordination forderte. Bedachte er jetzt recht, so war auch der Vater für ihn immer eine Art Gläubiger gewesen.

Daß dieses Wort jetzt wiederkam, als sei es die umgeblätterten Seiten mitgesprungen!

General Andreas war sehr viel größer und breiter als Leutnant Hubert (die Mutter war eine kleine, zierliche und sehnige Dänin, Turnierreiterin), er war zu dem Sohn, auch zu dem Erwachsenen, von einer freundlichen Strenge, eigentlich immer dienstlichen Tones, bestenfalls von einer Herablassung, die von den Unterschieden der Körpergröße und des militärischen Ranges herrührte. Hubert erinnerte sich nicht, jemals von seinem Vater einen Kuß bekommen zu haben.

Trotzdem hatte er niemals das Empfinden gehabt, daß er vom Vater nicht geliebt werde. General Hoff beorderte für den Sohn, übrigens auch für die Frau, eine Sparsamkeit des Gefühls, die indessen eine gute und starke Basis hatte und durchaus genügte. Als er nach dem Reitunfall der Mutter, von dem der Sohn noch gar nichts wußte, von der Klinik nach Großlichterfelde fuhr, stand der Kadett Hubert stramm, blaß vor Schrecken über das unerwartete und unangemeldete Kommen des Vaters. »Lieber Junge, deine Mutter ist gestorben«, meldete der Vater und hatte das gesunde rote Gesicht wie immer und die tönende Kommandostimme, die nicht leise sprechen konnte. Dabei liebte er seine Frau mit seiner ganzen ehrlichen Kraft, vergaß sie nie, blieb Witwer. Hubert glaubte sogar, daß er auch später niemals eine Freundin hatte. Über diese Dinge sprach allerdings General Andreas auch nicht mit dem Leutnant, auch nicht mit dem Oberleutnant Hubert.

Der Vater wurde außerhalb des Dienstes immer wortkarger; aber er verringerte darum nicht seine Art Freundschaft für den Sohn. Im Krieg nahm er ihn nicht in seinen Stab; doch er schrieb ihm jede Woche eine Feldpostkarte mit vier Zeilen, fast immer des gleichen Inhalts. Im Mai 1916 blieb die wöchentliche Karte plötzlich aus. In den zwei Tagen der Ungewißheit fühlte Hubert zum erstenmal mit allen Graden der Angst und der Unruhe, wie sehr er an dem Vater hing. Dann wurde er zum Regimentskommandeur gerufen und wußte sofort Bescheid, als er das Gesicht des Chefs sah. Die Offiziere nannten es: das Pastorengesicht. Exzellenz Hoff – Fliegerbombe – Heldentod.

Hubert hatte den Vater, der schon im Jahre 1915 Divisionär wurde, das letztemal bei einem kurzen Urlaub in Brüssel gesehen. Der riesige Mann mit den roten Mantelaufschlägen, dem roten Gesicht und dem weißen Schnurrbart sah prachtvoll aus. Der Leutnant Hubert war so stolz auf ihn gewesen, wie früher der Kadett Hubert, wenn er Sonntagnachmittag eine halbe Stunde mit dem Vater spazierengehen durfte. General Andreas drückte ihm auf der Brüsseler Gare du Midi zum Abschied die Hand und sagte: »Mach's brav, Junge.« Dann legte er die Hand an die Mütze und ging, noch ehe der Zug abfuhr. Man stob rechts und links vor ihm auseinander. Die mächtigen, eckigen Generalsschultern waren noch lange zu sehen.

Der Oberleutnant, der Rittmeister, der Tanzlehrer, der Ligamann Hoff war stolz auf den Vater. Der Mörder Hoff war stolz auf den Vater. Man wußte wieder, woher man kam und woher der Gegensatz zu dem anderen, dem nicht so vertrauten, dem Minister stammte. – Du brauchst bei alledem kein Gesinnungslump zu werden, Hoff. Auch der Vater ist noch Gläubiger.

Das war die Gegenprobe. –

Der Zigarrenhändler fragte, ob das Adreßbuch wieder frei wäre. Hoff klappte es zu und ging.

 

Unterwegs begegnete er einem Demonstrationszug. Zu vier und vier kamen Männer und Frauen auf den toten Straßenbahngeleisen heran. Es sah von weitem aus, als rollte der dunkle und geschlossene Zug auf langsamen Rädern. Hoff blieb stehen. Es kann sein, dachte er, daß ich jetzt, wie dieser und jener Passant, in eine Seitenstraße eingebogen wäre, käme ich nicht gerade von der Begegnung mit meinem Vater. Ich bilde mir ein, daß er mir nachschaut, vielleicht schon lange. Ich will mir sagen, daß mein ganzer Kampf aus seinem anständigen Geist heraus geschieht: dann biege ich in keine Querstraßen mehr. Andreas Hoff hätte jedenfalls schon die Pari-Chance mit dem Fordwagen und den gelben Mariengläsern abgelehnt.

Hoff stand auf dem Randstein des Bürgersteiges. Die Demonstranten kamen heran, barhaupt und stumm. Es schrien nur die Aufschriften auf den Schildern, die sie mit sich führten und wie Fahnen trugen. Den Zug eröffneten vier Ordnungsmänner mit roten Armbändern. Es waren gesetzte Leute, bärtig, unterernährt und von einer gewissen Führerwürde. Sie sahen geradeaus. Keiner sah Hoff an. Der aber prüfte jedes Gesicht und las jede Aufschrift. Ob es eine Parole war oder ob es aus dem Ernst der gemeinsamen Bewegung entstanden war: auch die Nachfolgenden sahen geradeaus, keiner blickte zur Seite, auch die Frauen nicht. Das war sehr eindrucksvoll. Hoff, der einsam, unbeobachtet, unberufen die Parade abnahm, hatte mit bösen Blicken oder gar mit Zurufen gerechnet, nicht weil er den Leuten Rächerinstinkte zuschrieb, sondern weil er gut gekleidet war.

Dieses Nichtbeachtetwerden rührte ihn an. Er hatte wieder die dunkle und zerrüttende Ahnung, daß man ihn an seine Schuld nicht heranlassen würde. Hier stand er, Schuldner Hoff, floh nicht, verkroch sich nicht, bot sich dar – und dort marschierte das Gläubigerregiment und beachtete ihn nicht einmal als Gaffer oder als Angehörigen feindlicher Klasse. Würde er jetzt brüllen: »Nieder mit dem Minister«, so möchten sie ihn wohl totschlagen; aber warum sollte er es rufen? Er hätte sich ja eher, seinem Gefühl für den Toten folgend, ihnen anschließen können. Und rief er: »Ich bin der Täter!«, so riskierte er, den schönen Ernst der Leute zu zerstören.

Die Masse marschierte im Gleichschritt; aber der Marsch hatte nichts Militärisches, viel eher etwas von einer Prozession. Es lag über der Bewegung kein Kommando, sondern die eigene Kraft und der eigene Willen. Es lag über dem Zug wohl Trauer, doch zugleich auch etwas Bedrohliches und Gefährliches. Sie klagten und sie klagten an. Sie wollten aber auch zugleich wie Urteilsvollstrecker wirken. Ihre Uniform war das Unförmliche, ihre Verwahrlosung aber sah nicht immer natürlich aus. Die Männer waren nackthalsig und die Frauen ganz ohne Anmut. Alle schienen nur ein wenig aus ihrem geschlossenen Ernst gebracht werden zu brauchen, um Wütige und Barrikadenkämpfer zu sein.

Ich finde, dachte Hoff, daß der Minister mir ähnlicher sah als ihnen. Und zwischen mir und ihnen gibt es schwerlich größere Gegensätze: ich werde ja beinahe wieder politisch.

Die Aufschriften, die sie mit sich trugen, gehörten vollends vielmehr der Revolution als der Trauer um einen Menschen. Fast alle fingen mit »Es lebe ...« und »Hoch ...« an und hatten gar nichts mit dem Tod gemein.

Vier um vier, Männer, Frauen, wilde und stumpfe Gesichter, alle ernst, alle stumm, alle, als seien sie hungrig, alle die Augen geradeaus.

Hoff wurde der starren Profile überdrüssig und sah nach links, wie lange der Zug noch dauere. Es ging dem Ende zu. Doch über der Schlußgruppe schwankte ein Riesenschild ihm in den Blick. Es war rot und überwölbte wie ein Tor die Vier-Mann-Breite des Zuges. Es saß auf zwei roten Stangen, die von den beiden Außengängern der Reihe getragen wurden. Es hatte auf der oberen Randmitte einen medaillonartigen Aufsatz, auf den mit gröbster Schablone, rot und schwarz, das Gesicht des Ministers gemalt war. Das Gesicht sah aus wie von einem Räuberhauptmann. Hoff, der das wahre Gesicht kannte, fand es empörend. Aber unter dem Medaillon war die Aufschrift, und die riesigen schwarzen Lettern von absichtlicher und aufreizender Unregelmäßigkeit waren schon von weitem zu lesen. Es war ein brutaler Vierzeiler, der zweite Vers größer geschrieben als der erste, der dritte größer als der zweite, der letzte am größten.

Hoff kniff böse die Augen zusammen und versenkte die fahrigen Hände in die Manteltaschen: das ging ihn an. Er las:

Die Mörder kennen wir!
Die Mörder nennen wir!
Die Mörder hassen wir!
Die Mörder fassen wir!

Hoff las immer wieder die Verse, die in ihrem eigenen Rhythmus schütterten, taktfest näher kamen und immer größer wurden. Mit einemmal war die ganze Demonstration unter dem stummen Gesang dieser vier Verse marschiert: so schien es wenigstens Hoff. Er wußte das Marschlied, das einprägsam genug war, schon auswendig, und sprach es sogar im Takt des Massentrittes mit: aber er nahm nicht die Augen von dem mächtigen Spruchband. Darüber das mißlungene Opferbild sah er nicht mehr. Er las nur die Worte, das Gesicht erhoben und den Kopf im Schlag der Silben und der Schritte mit winzigen Rucken nach rechts drehend.

Die vier Männer unter dem roten Schild – die beiden äußeren, die es trugen, und die beiden in der Mitte – sahen aus, als seien schon sie allein imstande, das Gedicht in die Tat umzusetzen. Sie waren auffallend groß und kräftig. Alle vier trugen Kord-Stoffhosen, breite Gürtel und rotgestreifte ärmellose Trikots, die die Muskelkeulen der Oberarme und grobe Tätowierungen sehen ließen. Ihre Gesichter waren jung, verwegen, sehr unbarmherzig in dem gebotenen Ernst und glichen sich durch die übermäßig herausmodellierten Unterkiefer auf unangenehme Weise. Da sie im ganzen Zug die einzigen waren, die nichts als Trikot und Hose trugen und ihre Kraft auf demonstrative Art zeigten, dienten sie wohl bewußt als Fahnenmannschaft des blutroten Spruchbanners und als Darsteller einer derben Regie für die Straße.

Sie waren so auffallend und aufreizend, daß sie Hoffs Aufmerksamkeit von ihrem Emblem auf sich herunterzogen. Er sah sie an – sie kamen ja nahe genug an ihm vorbei – er vermeinte sogar, ihre grobe Ausdünstung zu riechen. Er achtete nicht auf sein Gesicht, das sich vor Abscheu zusammenzog. – Sind das meine Gläubiger und Richter und Nachrichter? fragte er sich; und werden sie, bei so anspruchsvoller Aufmachung, mich wenigstens bemerken?

Sie gingen an ihm vorbei, mit herausgedrückter Brust und hartem Bizeps, breitbeinig wie Matrosen oder Ringkämpfer. Sie hatten auch wohl die dicksten Nägel unter ihren Sohlen, den lautesten Tritt. Das Gedicht, das sie trugen, krachte durch sie hindurch stramm auf das Pflaster. »Nennen wir! – Hassen wir! – Fassen wir!« schlug Hoff ihnen den Takt. Sie kümmerten sich nicht um ihn und blickten böse in die Nacken ihrer Vordermänner.

Die Vier bildeten den Schluß des Zuges. Hinter ihnen waren nur noch Ordnungsmänner. Hoff sah ihnen nach. Aber sein Blick sprang sofort von ihren rotgestreiften Rücken in die Höhe. Die Rückseite der Spruchtafel war nicht leer und stumm wie die Rücken ihrer Träger, sondern trug die Kopie der Vorderseite in genauer Wiederholung des Kopfes, des Textes und der Schriftgrößen. Die rote Wand schrie ihre Kampfverse nach vorwärts und rückwärts.

Sie wissen doch, daß es nur Einer war, dachte Hoff, während das janusköpfige Gedicht abmarschierte; aber sie generalisieren den Mörder – vielleicht wegen der Rhetorik, vielleicht aber für den wirklichen Klassenkampf. Sie steigern meine Tat und meine Schuld und meine Verantwortung ins Maßlose. Sie zeigen sich mir als Gegner ohne Gnade und ohne den kleinsten Sinn für Verständigung. Sie schreien als A und O ihrer Empörung, daß sie mich kennen, nennen, hassen, fassen: Aber sie nehmen mich nicht einmal mit einem Blick an. Ich lebe doch noch! Ich habe doch keine Tarnkappe auf!

Der Demonstrationszug rollte schon ziemlich weit auf seinen Trambahngeleisen, das rote Spruchband wie eine mächtige Schlußlaterne hinter sich. Hoff setzte seinen Weg fort und hatte das verfluchte Lied hartnäckig im Rhythmus der eigenen Schritte. Er brachte sich mißmutig aus dem Marschtakt, ging sehr langsam, sehr schnell: doch die Verse ließen sich dehnen oder zusammenpressen und kamen immer mit.

Er ging etwas kreuz und quer, weil er den östlichen Stadtteil wenig und die gesuchte Straße überhaupt nicht kannte. Zu fragen wagte er nicht. Er machte gewiß Umwege; doch er war ja an keine Stunde gebunden und rechnete nicht damit, mit dem ersten Versuch ans Ziel zu kommen. Er wußte nur, daß er nicht locker lassen würde und daß ihm Zeit und Geduld genug zur Verfügung stand.

An einer Kreuzung sah er in der Straße, in die er einbiegen zu müssen glaubte, wieder den Demonstrationszug in etlicher Entfernung davonrollen. Er erkannte ihn sofort an dem roten Schlußschild. Er ging hinterher, mit einemmal neugierig, welches Ziel die Menge haben mochte, und seiner leisen Ahnung mißtrauend. Der Zug, etwa zweihundert Meter vor ihm, schwenkte nach rechts in eine Seitenstraße. Hoff ging langsam nach. Er wollte ihnen weder zu nahe kommen noch sie aus dem Auge verlieren. Er sah jetzt, daß die vier Athleten unter dem Spruchband, die wie unterstrichen in der Masse auffielen, nicht mehr die letzten waren. Es hatte sich inzwischen wohl eine Folge von Nachläufern gebildet. Hoff hielt sich auf dem Bürgersteig, um nicht zu den Schienengängern gerechnet zu werden.

Er kam zu der Abzweigung und sah auf das Schild der Straße, die den Zug aufgenommen hatte. Es war die gesuchte Straße. Die Demonstranten hatten also das gleiche Ziel wie er. Das Haus, in dem der Minister gewohnt hatte, trug die Nummer 55, wie Hoff es sich gemerkt hatte. Er las jetzt neben sich die Hausnummer 80. Die Demonstranten verstopften die ziemlich enge Straße. Wahrscheinlich hielt der Kopf des Zuges auf der Höhe des Hauses 55.

Hoff blieb stehen, weil die Nachhut jetzt nahe vor ihm war. Er sah schon hinter einer dünnen Schicht von schwarzen und grauen Rücken die rotgestreiften Rücken der vier Muskelmänner. Zwischen ihnen und den Nachläufern war ein Abstand geblieben. Es herrschte Stille. Hoff glaubte nicht an sie und mißtraute seinem Gehör. Vielleicht war dieses und jenes Organ unter der Anspannung der letzten Tage zu Schaden gekommen. Er hatte doch die Demonstranten gesehen, jeden einzelnen. Jeder sah aus, als wartete er auf die Gelegenheit, nicht mehr stumm sein zu brauchen. Die Masse sah nach guten Lungen aus. Aber sie war still.

Hoff glaubte es nicht. Er drängte sich vor. Er stand jetzt in der ersten Reihe der Nachläufer, zwischen sich und den Ordnungsmännern einen leeren Raum von fünf guten Metern. Er sah schon die Konturen der Schulterblätter unter den vier rotgestreiften Trikots. Aber er hörte nichts, nicht die Fetzen einer Ansprache, keinen Ruf. Schloß er die Augen, dann wurde die Gegenwart der Menschenmasse in verwirrender Weise aufgehoben: so stumm stand sie.

Die Stille wurde Hoff unerträglich: er wußte nicht warum. Vielleicht reizte ihn das rote Spruchband mit dem Schablonenkopf, den er nicht anerkannte und der sich leicht vor und zurückbewegte, zusammen mit den großsprecherischen und überlauten Versen.

Warum zum Teufel legen sie jetzt nicht los! schimpfte er für sich. Man kann doch vor seinem Haus die schönsten Reden halten, Treue geloben, Rache schwören! Was ist das für ein sakraler Trick! Was macht denn nur die Spitze vor dem Haus 55?

Hoff ging vor. Er betrat auf dem rechten Bürgersteig die leere Zone und sah noch die erschrockene oder mißbilligende Kopfwendung der hinter sich gelassenen Nachläufergruppe.

Der Ordnungsmann rechts, den er jetzt erreichte, rief scharf: »Zurückbleiben!«

Hoff ging schneller und war jetzt unmittelbar neben dem Muskelmann, der die rechte Spruchbandstange hielt.

»Emil!« rief der scharfe Ordnungsmann. Emil der Stangenträger begriff sofort. Er hielt seinen Fahnenschaft mit der Linken und packte mit einer Ausfallbewegung nach rechts den Oberarm Hoffs. Es war eine tolle Kraft in seinen Fingern.

Hoff konnte nicht einmal stehenbleiben: er flog nach rückwärts, an dem Ordnungsmann vorbei bis in die leere Zone. Der Mann Emil drehte sich nach dem Zurückgeworfenen nicht um; er hatte ihn kaum angesehen, als er ihn packte. Der Ordnungsmann sagte nur, ganz gemütlich jetzt: »Det kommt von die Eile, Herr Jraf«, und kümmerte sich nicht weiter um ihn.

Hoff hatte Mühe gehabt, das Gleichgewicht zu bewahren, auch das körperliche, und hörte hinter sich die Schadenfreude der Nachläufer. Er blieb mit rotem Gesicht in dem Zwischenraum. Man ließ ihn dort.

Was hat denn seine Frau von stummen Protesten? dachte er hartnäckig.

Plötzlich kam das Erwartete über den stehenden Zug und wälzte sich wie eine Welle von vorne nach hinten. Es begann mit einem Aufruf und scharf skandierten Spruch von der Spitze her, im Text noch undeutlich. Hoff erkannte sofort das verfluchte Marschlied, auch der Mann Emil und seine drei Kameraden schienen Bescheid zu wissen: denn im gleichen Augenblick ging das rote Spruchband auf und ab, auf und ab, wie ein mächtiger Taktschläger. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis der ganze Chor von dem Gedicht erfaßt wurde. Er sprach es gut, wie einstudiert, mit wuchtiger Betonung des »Nennen«, »Hassen«, mit hinausgebrülltem »Fassen! Fassen!«

Der Chor sprach das Gedicht einmal, den letzten Vers zweimal. Dann marschierte er ab, stumm. Aber den Marschtakt schlug das Gedicht weiter.

Hoff hielt sich dicht hinter dem Zug, weil er sehen wollte, ob die Demonstration von der Frau des Ministers abgenommen wurde wie etwa eine Parade oder ein Fackelzug. Er konnte sich ihr Gesicht und ihre Haltung dabei nicht vorstellen. – Wie soll eine trauernde Frau vor dem stummen Haufen stehen und wie gar vor dem Sprechchor? fragte er sich. Er stellte sie sich – nach dem bescheidenen Gesicht auf der Momentaufnahme – sehr zurückhaltend vor, vielleicht sogar vielen Menschen gegenüber schüchtern, sicher auch ohne Begabung für das Repräsentative; denn sonst wäre sie ja in den Barockpalast gezogen. Was machte sie mit einem Demonstrationszug, roter Marschtafel und Muskelmännern? – Hoff wollte sie sehen, um sich für sie vorzubereiten.

Die Demonstranten drehten vor dem Haus 55 die Köpfe beinahe militärisch nach rechts, irgendeinem Fenster zu; sie schauten gleich wieder geradeaus und kamen nicht aus dem Tritt. Nur die Emblem-Männer taten noch ein übriges: die beiden inneren traten auf der Stelle, die beiden Träger schwenkten ein, so daß der eine vor, der andere hinter die Innenleute zu stehen kam und das Spruchband parallel zu den Häusern. Nummer 55 und das salutierte Fenster sollten lesen, was es schon zu hören bekommen hatte, und sollten wohl auch die rohe Zeichnung des Ministerkopfes kennenlernen. Nach ein paar Schritten gingen die Muskelmänner wieder zur alten Marschordnung über.

Hoff blieb vor dem häßlichen und ziemlich heruntergekommenen Haus stehen, sah an ihm hinauf und stellte fest, daß mit Ausnahme einiger verhangener Fenster des zweiten Stockes alle Fenster geöffnet und mit Zuschauern besetzt waren. Die Ministerwohnung lag laut Adreßbuch im zweiten Stock. Es hätte Hoff eine gewisse Genugtuung bereitet, wenn die geschlossenen Fenster zu der Wohnung gehörten und die Witwe nicht unter den Zuschauern stände. Er wünschte sie sich mit der Demonstration nicht einverstanden.

Er wartete, bis sich die Leute verlaufen hatten, auch die an den Fenstern. Dann betrat er das Haus. Er hatte Herzklopfen und erstieg langsam eine Stufe nach der anderen. Er legte sich allerlei glaubwürdige Einführungen zurecht. Er zweifelte trotzdem, ob sie ihn empfangen würde, ob sie allein sei, ob sie überhaupt zu Hause sei. Die Leiche des Ministers war nach der Zeitung im Ministerium aufgebahrt. Vielleicht war sie dort.

Hoff blieb stehen. Und wenn sie die natürliche Gegnerin war, die er suchte, die große Gläubigerin, dann würde sie ja auch das Geschrei vom Kennen – Nennen – Hassen – Fassen mitmachen oder doch billigen. Warum also seine Spekulation auf ihren humanen Abstand von den Muskelmännern?

 

Er stand vor der Tür mit dem Namenschild. Es war ein unmodernes ovales Porzellanschild mit dem Namen in Kursivschrift, dem Nachnamen allein. Hoff dachte an die Kolonne im Adreßbuch: wieviele gab es, die so hießen! Dieses Schildchen konnte zwei Druckspalten Menschen dienen ...

Er preßte die Zähne zusammen, um den Ansturm der Unruhe, der Zweifel, der Verzweiflung zu überwinden. – Wenn die Frau vor Feindschaft sprühte, dann setzte doch bei ihm die automatische Abwehr des kampffähigen Menschen ein, wie vorhin gegen die Demonstranten, vielleicht sogar, wurde sie aus Schmerz brutal, der Abscheu wie vor den vier gestreiften Trikots. Wenn sie sehr scharfsichtig war und er sehr ungeschickt, dann ließ sie ihn kurzerhand verhaften. Und das wollte er doch nicht. Es war doch nicht die Lösung, überrumpelt zu werden. – Wenn! Wenn! Wenn! erregte er sich; was für ein Held mit Bedingungssätzen!

Er klingelte. Es dauerte ziemlich lange, bis er drinnen schlappende Schritte hörte. In der Tür öffnete sich ein vergittertes Fensterchen. Eine alte Frau fragte, was er wünsche. Sie hatte ein gekränktes Gesicht, das aber nicht von der Störung durch den fremden Mann herzurühren brauchte, sondern durch einen anderen Anlaß verursacht sein mochte oder sogar nur griesgrämige Gewohnheit war. Hoff war zufrieden, nicht sofort auf Trauer und Auflösung zu stoßen, und gewann an Sicherheit. Er fragte, ob die Frau Minister zu Hause sei. Die alte Dienerin sagte sofort ja, auf ihre unwirsche Art, die eine diplomatische Antwort nicht kannte. – Was sind diese Leute leicht zu treffen, staunte Hoff für sich. Er stellte sich als Parlamentsbeamter vor, der der Witwe einige persönliche Gegenstände des Verstorbenen übergeben möchte. Das war ein gerissener und denkbar unschöner Vorwand, auf den er erst in diesem Augenblick gekommen war; denn noch auf der Treppe dachte er an die Ausnützung seines falschen Passes, der auf einen Journalisten namens Furrer ausgestellt war, und wollte um ein Interview bitten.

Die Alte ging nicht fort, um den Besucher anzumelden oder zu fragen, ob er eingelassen werden könne, sondern öffnet sofort die Tür. Im Korridor, der ziemlich dunkel war, ließ sie ihn stehen, ging in den Hintergrund und sagte in ein Zimmer hinein: »Da ist jemand mit Sachen vom Herrn.«

Hoff hätte jetzt gewünscht, eine andere Lüge gewählt zu haben, eine unbestimmtere, die er nicht sofort einzugestehen haben würde. Aber nun war es zu spät. Die Alte kommandierte schon: »Kommen Sie nur!«

Er ging unsicher durch den finsteren Gang auf den Flecken einfallenden Tageslichtes zu, auf dem die Alte stand. »Hier hinein«, kommandierte sie.

Hoff ging durch die Tür und schloß sie hinter sich. Er war durch die Helle etwas geblendet und fühlte sich elend. – In dem Zimmer mit einfachen Biedermeiermöbeln lag die Frau auf einem Diwan. Sie war schwarz gekleidet und schien sehr mitgenommen; aber sie hatte keine verweinten Augen.

Hoff verbeugte sich: »Mein Name ist ...« Er hatte den Paßnamen vergessen. Es ging ihm noch schlechter als er gefürchtet hatte. Er murmelte etwas Unverständliches. Die Frau entgegnete mit einer leisen und angenehmen Stimme, daß es sie freue und daß er ihr wohl erlaube, liegen zu bleiben; denn sie fühle sich ein wenig angegriffen. Sie bat ihn, sich zu setzen. – Sie ist eine gute Frau, dachte Hoff und setzte sich verlegen. Er saß auf dem Rand des Stuhls und krumm, weil es ihn auf den Nacken drückte. Der Hut auf den Knien fiel zu Boden. Er hob ihn auf. Er sah die Frau an. Der Hut fiel wieder. Er hob ihn auf.

»Was haben Sie mir von ihm mitgebracht?« fragte sie.

Er sah sie an. Sie hatte ein schlichtes flächiges Gesicht, eine breite und klare Stirn wie ihr Mann, spärliches glattes graues Haar. Sie hatte eine knochige Nase und einen alten Mund; aber das mochte von ihrem Leid kommen. Sie hatte müde graue gute Augen und ein zurückfliehendes Doppelkinn. Sie war niemals schön gewesen; aber sie hatte es niemals vermißt.

Sie sah nicht mehr zu ihm hin, sondern zur Decke. Sie war weder neugierig noch mißtrauisch.

»Was haben Sie mir von ihm mitgebracht?« wiederholte sie. Sie war geduldig.

»Nichts«, sagte Hoff leise.

Sie löste die Hände, die sie unter dem Nacken gekreuzt hatte, und schaute ihn an. »Ach, dann ist es ein Mißverständnis«, erklärte sie freundlich, »dann hat meine alte Minna wieder einmal schlecht gehört.«

»Nein, nein«, sagte Hoff und schüttelte den Kopf, »sie hat schon richtig gehört. Ich sagte es, um vorgelassen zu werden.«

»Ach«, sprach die Frau mit viel tieferer Stimme als eben noch und hob den Kopf vom Kissen. Ihre Augen lagen weit auseinander und hatten sehr gerade Brauen, die über der Nase zusammenwuchsen. Sie sah jetzt ziemlich streng aus.

»Verzeihen Sie mir, gnädige Frau«, bat Hoff und preßte den Hut zusammen, »es war geschmacklos. Ich sehe es ja ein.«

Jetzt waren wieder ihre gutmütigen Augen stärker als ihre strengen Brauen. Seine offene Art gefiel ihr, auch sein Gesicht, das weder lügenhaft noch aufdringlich wirkte. »Sind Sie Reporter?« fragte sie. Hoff machte eine unbestimmte Bewegung. – »Dann hätten Sie gar nicht schlecht spekuliert«, meinte sie; »denn ich hätte Sie in der Tat nicht empfangen.« Sie tat eine entschuldigende Geste, sie wollte wohl den Berufsstand nicht kränken. »Ich bat sogar die Freunde und Mitarbeiter meines Mannes, mich heute möglichst zu schonen. – Denn morgen ist wieder ein schwerer Tag ...«

»Alle Tage sind wohl schwer«, warf Hoff leise ein. Der Ton rührte sie an. Der Mann war nicht unsympathisch. Sein Gesicht war von einem Leben gestempelt, das ihr nicht fremd war. Entweder war es Krankheit oder Sorge oder eines der vielen Erlebnisse dieser Zeit, das mit beiden verwandt machte.

»Morgen ist doch sein Begräbnis«, sagte sie weich.

Hoff hätte jetzt nicht mehr nötig gehabt, seine zweifelhafte Erscheinung unter neuen Beweis zu stellen. Sie machte es ihm ja leicht. Sie glitt über die Fragwürdigkeit des Eintritts und des Berufes hinweg. Vielleicht wäre bei dem guten Geist der Frau ein Weiterreden und Vortasten möglich gewesen, ohne seine Person aufs neue zu beglaubigen. Aber ihre reine Traurigkeit trieb ihn zum Anfang zurück.

»Ich bin auch kein Reporter«, sagte er und schüttelte wieder den Kopf.

»Schon gut«, begütigte sie und hatte sogar den Anflug von einem Lächeln um den Mund, »es ist Ihnen ja verziehen. Ich sehe ja, Sie trauern um ihn. Sie wollen ihm noch einmal so nahe kommen wie möglich. Deshalb kommen Sie doch zu mir, nicht wahr? Und sehen Sie: wenn Sie mir statt eines Federhalters oder eines Notizbuches von ihm eine solche Verehrung für ihn vorweisen, so ist mir das doch noch viel lieber.«

In der Unerschütterlichkeit ihrer guten Meinung erinnerte sie ihn ein wenig an Frau Hansmann. – Was wird sich die Alte um mich sorgen! kam es ihm in den Sinn. Wie wird sie dem Kater Joseph über meinen Leichtsinn und meine Unsolidität klagen! Ich muß noch einmal nach Haus gehen, um sie zu beruhigen. –

Die Frau des Ministers hatte wohl von ihm eine Bestätigung erwartet, als sie ihm die Totenverehrung zuwies; denn hier hörte ja auch ihr Verständniswillen auf.

»Habe ich nicht recht?« fragte sie etwas betont.

Es war nicht leicht, ihrem Zureden standzuhalten und nicht zu allem ja zu sagen. Aber gab er nach aus Vorsicht oder aus Sympathie für sie –, dann tauchte er in ihrer Traurigkeit unter wie in einem stillen See und würde auch von ihr nicht mehr gesehen, so wenig wie von den Demonstranten. Er kämpfte nachgerade um seine schuldige Existenz, die man ihm immer wieder ableugnen wollte.

»Ich bin ein früherer Offizier«, entgegnete er leise.

Sie freute sich. »Oh, es gibt gar nicht so wenige, es gibt eine ganze Reihe früherer Offiziere, die nach dem Umsturz zur Besinnung gekommen sind und sich durch die Persönlichkeit meines Mannes von der neuen Welt überzeugen ließen.«

So ging es nicht weiter. Die Frau war von einer aufreibenden Konsequenz. Und ihre Gegenwärtigkeit war von einer erdrückenden Kraft. Sie sagte nicht einmal: »mein verstorbener Mann« oder »mein ermordeter Mann«. Sie sagte immer nur und zeit ihres Lebens: »Mein Mann.«

Hoff sprach leise, langsam und deutlich: »Ich bin Mitglied der Nationalliga.«

Die Frau richtete sich auf. Sie nahm auch die Beine vom Sofa und saß jetzt auf dem Rand. Sie stützte die Arme auf den runden Tisch, der vor dem Diwan stand. Hoff sah, daß sie breitschultrig war und kräftige Knochen hatte. Sie schaute ihn aufmerksam an, nicht erschrocken und nicht im Zorn. Unter ihren Augen waren tiefe dunkle Ringe. Es war vielleicht nicht möglich, mit solchen Leidsiegeln im Gesicht in eine grobe Wut zu geraten.

Hoff saß krumm und hatte den Hut verloren, der vergessen zwischen seinen Schuhen lag. Er sah sie ein wenig von unten an und erwartete ihren Spruch. Vielleicht müßte er jetzt gehen. Heimlich hoffte er auf ihre Gnade. Mit ihrer zwangvollen Art, alles in die Liebe für den Toten zu treiben, rechnete er jetzt nicht mehr.

Sie sagte überraschend genug, nicht als Frage, sondern als Feststellung: »Sie waren Mitglied der Nationalliga.« Sie betonte: waren.

Hoff wehrte sich, von ihrer Zähigkeit tief bedroht. »Ich bin es, gnädige Frau.«

»Nein«, sagte sie entschieden, »oder nur rein äußerlich – innerlich doch nicht mehr.«

»Mein Gott!« stöhnte er sehr bedrängt, »wie wollen Sie das wissen ...«

»Ist das denn so schwer zu raten?« rief sie und leuchtete vor Überzeugung. »Sie kommen doch in seine Wohnung und zu seiner Frau, weil Sie es bei Ihren Leuten nicht mehr aushalten können – nach alledem. Sie halten die Feindschaft Ihrer Umgebung gegen einen solchen Mann nicht mehr aus – aus Bewunderung für solches Schicksal, sage ich Ihnen, sicher sogar schon aus Abscheu gegen die Tat ...«

Hoff hatte keine Kraft mehr. Er griff ja mit scharfen Ohren nach jedem ihrer Worte und suchte nach Einwänden, um sich zu halten. Aber er fand keinen Grund, sich ihnen entgegenzustemmen, am wenigsten gegen ihren letzten Satz von der Abscheu. Sie faselte ja nicht: es stimmte doch! Er war deshalb hier! Sie war sein Wegbereiter!

Er gab nach. Er nickte und sagte leise: »Sie haben recht – glaube ich.«

Auch sie nickte und kam mit den Armen weiter über den Tisch ihm zu, mit den Handflächen nach oben, als erwartete sie seine Hände. »Wissen Sie auch«, sagte sie und hatte jetzt wieder eine tiefe Stimme, »das ist Ihnen hoch anzurechnen, lieber Herr ... Wie war doch Ihr Name?«

»Hoff«, sagte Hoff.

Er erschrak erst, als er seinen Namen ausgesprochen hatte. Jetzt war doch eigentlich sein Schicksal besiegelt; und er brauchte sich nicht mehr viel erklären zu lassen. Aber das war eine Selbstüberrumpelung. Es ist doch nicht die Lösung des Problems, eine Dummheit zu begehen. Das hätte er auch bei dem Muskelmann Emil und bei jedem Polizisten fertigbringen können. Und an Dummheiten war kein Mangel: der Sekretär, der Barbier, der ihm den Bart abnahm, Paula, Hertz, Lilly – jede Stunde seit gestern früh starrte vor Dummheiten, vom Aspekt des Verbrechers und des Kriminalisten. Aber es ging um seine Schuld, nicht um Schläue. Seine Dummheiten waren vielleicht die einzigen Ehrentitelchen auf dem langen Weg seit gestern. Gut, die Nennung des Namens eben mochte das folgenschwerste Wort sein bisher und die halbgesprengten Brücken hinter sich völlig abbrechen. Gut, gut, er hätte nicht mehr umkehren können, wie es auch kommen würde – und diese Frau war die Führerin, wie er sie brauchte. Sie schlug ihn nicht an seine Schuld heran, das hätte ihn ja nur wieder störrisch gemacht; es war schon so, daß sie ihn hineinstreichelte, ahnungslos.

Er hob etwas den Kopf. Sie sah ihn klug und mütterlich an.

»Ich rechne es Ihnen hoch an, Herr Hoff«, wiederholte sie; »vielleicht bedeutet das etwas für Sie.«

»Es bedeutet sehr viel für mich«, sagte Hoff. – Wenn Sie mich nur nicht immer belohnen möchte, vor lauter Liebe für ihn, dachte er. Wenn sie mich nur nicht immer als Konvertiten sähe, als posthume Eroberung ihres Mannes! Sie läßt aus Pietät nichts an mich heran!

»Sie scheinen die Tragödie so tragisch zu nehmen, wie sie ist, Herr Hoff«, sagte sie weich. »Wissen Sie auch, daß das für mich die erste Erleichterung ist dieses Mitgefühl eines sogenannten Gegners?«

»Sie sehen mich viel zu – viel zu wertvoll«, erregte sich Hoff, »Sie überschätzen mich ...«

»Ich glaube kaum«, fiel sie ein, unbeirrt, »denn ich sehe das Symptom, Sie begreiflicherweise nur Ihr persönliches Gefühl. Ich spreche immer im Zusammenleben mit meinem Mann – das hört für mich nicht auf, Herr Hoff. – Auch er – gerade er rechnete es Ihnen hoch an ...«

»Lassen Sie das doch, gnädige Frau – um Gottes willen! Sie ahnen gar nicht, wie mir Ihre Güte zusetzt!«

»Er ist gütig, Herr Hoff, ich habe es vielleicht von ihm gelernt. Ich habe alles von ihm gelernt. Ich kenne ihn, wie ihn kein Mensch auf der Erde kennt. Ich weiß, daß er noch sehr weit von seinem Ziel entfernt war. Die beiden Kugeln waren furchtbar dumm, entsetzlich dumm: aber das sind alle Kugeln. Das Ziel meines Mannes war die Versöhnung, die innere und äußere Versöhnung, Herr Hoff, die große Versöhnung!«

Hoff stand auf. Er war außer sich. Wenn es so weiterging, absolvierte die Frau auch den Mörder. Sie war von dem Toten mit einer solchen Vollmacht ausgestattet, daß sie binden und lösen zu können vermeinte und es gar auch konnte, wenn der Schuldige nur ihr einfaches Dogma annahm. Sie band ihn an den Toten und löste ihn von der Schuld. Es war ein Verfahren von evangelischer Schönheit. Aber ihn, Hoff, nützte es nichts! Ihn machte es schlapp und abtrünnig!

»Verzeihen Sie mir!« rief er. »Verzeihen Sie mir! Aber solch ein Ziel liegt im Dritten Reich. So lange können wir beide nicht warten: Ihr Mann nicht und ich nicht. Und ich habe es fast so eilig wie er ...«

Die Frau lehnte sich etwas zurück, hielt sich am Tisch und sah ihn prüfend an, nicht mißtrauisch, sondern mitleidig. Ihre Augen rückten leicht hin und her. – Jetzt sieht sie mir auf den Mund, fühlte Hoff, jetzt auf die Stirn, jetzt in die Augen, jetzt wieder auf die Stirn. – Sie sprach nichts. – Jetzt fragt auch sie sich, ob ich nicht einen kranken Kopf habe ...

Hoff setzte sich wieder, als wollte er ihr mit seiner Gesittung auch seinen heilen Verstand zeigen. Er wollte sich mäßigen, nicht laut sprechen, nicht gestikulieren. »Ich muß bei der Gegenwart bleiben«, sagte er gehalten und sah auf den Boden, »die Gegenwart hat mir allerlei beigebracht, und auf dem Weg hierher hatte ich ein Gedicht auswendig zu lernen. Ich möchte es Ihnen aufsagen, gnädige Frau.«

»Herr Hoff«, unterbrach sie besorgt, »ich komme jetzt mit Ihnen nicht mehr mit. – Ich glaube, Sie machen sich noch krank ... ich meine, Sie vergrübeln sich, Sie komplizieren ...«

Die Frau verstrickte sich selber in dem Wunsch, ihm aus seiner Verwirrung herauszuhelfen, und schwieg verlegen. Sie kannte Fälle, wo sich junge Menschen in einem Fieber der Ehrlichkeit verzehrten, schließlich zu verbohrten Abstraktionen kamen und sich in den äußersten Radikalismus retteten, um nicht verrückt zu werden. Jetzt fehlte doch ihr Mann, der solche Menschen mit seiner ruhigen Vernünftigkeit oft wieder auf die richtige Straße zurückgebracht und sie zu nützlichen Mitarbeitern erzogen hatte. ›Ich brauche keine Fanatiker, keine Genies und keine Hysteriker‹, pflegte er zu sagen, ›ich brauche Kameraden, die einen Witz verstehen.‹ »Wäre mein Mann hier«, fuhr sie fort und sprach vor Wehmut unsicher; denn sie hörte mit dem Zitat auch seine geliebte Stimme, »wäre er hier, er hätte Sie rasch wieder beieinander. Er verstand sich darauf, Herr Hoff.«

Hoff hob das Gesicht und deklamierte beinahe schüchtern: »Die Mörder kennen wir – die Mörder nennen wir – die Mörder hassen wir – die Mörder fassen wir! – – Das habe ich von der Straße mitgebracht, gnädige Frau.«

»Ach so!« rief sie erleichtert, »das ist es! Das macht Ihnen soviel Sorge?«

»Nicht Sorge«, sagte Hoff, »eher Verwirrung; es ist einfach die Gegenprobe zu Ihrem gütigen Exempel. – Haben Sie es gehört?«

»Ja«, sagte sie, »aber es gefiel mir nicht. Es ist wider seinen Geist.«

»Standen Sie am Fenster?«

»Nein, ich lag hier auf dem Sofa.«

»Haben Sie von der Demonstration gewußt?«

»Ja, Herr Beutelmann kündigte sie mir an.«

»Wer ist doch Herr Beutelmann?« fragte Hoff leise, wie für sich.

»Der Sekretär meines Mannes – Sie wissen doch, der dabei war.«

»Ach ja«, flüsterte Hoff, »und warum sahen Sie sich die Leute nicht an, gnädige Frau?«

»Ich liebe keine Demonstrationen, mein Mann auch nicht. Für ihn war es immer eine Qual, unter dem Druck von Demonstrationen und Plakattafeln zu sprechen, also eigentlich nur das zu sagen, was sie ihm in Stich Worten mitbrachten. Aber er hat es natürlich oft tun müssen. Ich brauche es nicht. Ich kann das auch nicht. Ich habe niemals seine Kraft aufgebracht, ein Mittelpunkt zu sein, – und am allerwenigsten heute.«

»Sehen Sie«, sagte Hoff mit Genugtuung, »ich habe Sie mir ähnlich vorgestellt. Deshalb fragte ich so aufdringlich.«

Auch sie war zufrieden. Sie rechnete es sich zugute, eine Entspannung herbeigeführt und den offensichtlich Leidenden beruhigt zu haben. Für sie lag der Fall ziemlich klar: da war ein junger Mensch von williger, prägsamer und moralischer Natur, ein wertvoller Mensch also, der durch die letzten Ereignisse aus dem Gleichgewicht gekommen war, seine politische Verranntheit bereute und nun herkam, um seinen inneren Frieden wieder zu finden. Der Frieden würde zu ihm kommen, wenn sie ihn dem Geist ihres Mannes nahe brachte. Es gab für sie keine schönere Aufgabe.

»Sehen Sie«, sagte sie, »jetzt sind wir schon ruhiger. Und ich werde Ihnen auch Ihre anderen Fragen beantworten können, glaube ich. Sie haben sicherlich noch mehr auf dem Herzen. Ich möchte haben, daß Sie ganz leicht und befreit von mir weggehen.«

Sie war abgespannt. Ihre körperliche Schwäche, die sie in der letzten Erregung vergessen hatte, machte sich wieder bemerkbar. Sie streckte sich auf dem Diwan aus.

Ich bin froh, daß sie wieder liegt, dachte Hoff, und nicht mehr so unerschütterlich gutgläubig und wohlmeinend vor mir sitzt. Wenn sie liegt, denkt sie wohl mehr an sich, ihren Körper, ihre Trauer und wird skeptischer. Ich wünschte, es bliebe möglichst sachte zwischen uns, damit sie nicht wieder auffährt.

»Wären Sie bei meinem Mann,« meinte sie versonnen und sah zur Decke, »so läse er Ihnen Ihre Nöte von den Augen ab und heilte Sie, ehe Sie es sich versähen.«

»Ich denke die ganze Zeit daran«, sagte Hoff von einem ganz anderen Ende der Welt her, »ob Sie sich nicht insgeheim fragen: weiß dieser Mensch vor mir, ein Ligamann, vielleicht nicht mehr von dem von dem Mord als ich?«

»Das frage ich mich ganz und gar nicht,« erwiderte sie still und rührte sich nicht.

»Aber wenn ich es wüßte«, drängte Hoff und hakte die Finger ineinander, »erwarteten Sie dann nicht nach alledem, daß ich Ihnen sagte, was ich weiß?«

»Nein«, sagte sie sehr knapp.

Hoff bebte. Er nahm sich zusammen, so gut es ging. Vor Angst, zu laut zu werden, sprach er ganz leise: »Aber das ist doch beinahe unglaubhaft, gnädige Frau! Wenn ich in der Lage wäre und willens wäre, Ihnen den Täter zu nennen ...«

»Ich bin nicht der Staatsanwalt«, sagte sie kalt. Sie war grenzenlos enttäuscht. Entpuppte sich aus dem neuen Jünger ein kleiner Judas?

»Sie sind doch die Frau des Ermordeten!« flüsterte Hoff außer sich.

Sie hob die Hand und ließ sie auf den Tisch neben sich fallen. »Eben deshalb!« sagte sie überraschend hart. »Sie haben es wenig begriffen. Ich bin seine Frau und wollte Ihnen gerne helfen, in die Nähe seines Geistes zu kommen. Aber er und ich: wir interessieren uns nicht ...«

»Er ist ermordet!« rief Hoff unbeherrscht.

»Ja, er ist ermordet!« rief sie noch lauter und traf mit der Hand von neuem die Tischplatte, »da nützt es ihm und mir entsetzlich wenig, wenn Sie sagen können, wer es getan hat!« Sie schluchzte auf und schlug die Hände vor das Gesicht. »Warum kommen Sie damit zu mir?« klagte sie.

Hoff preßte die Finger gegen die Schläfen und schloß die Augen. Umkehren! Ich muß umkehren! dachte er, sie liegt wie eine Mauer vor meiner Schuld – ich renne mir noch den Schädel ein ...

Aber wie sollte er umkehren? Sollte er wieder lügen und umschreiben und sich in Bedingungssätzen zurückwinden? Er hatte dazu nicht mehr die Nerven.

»Warum? Warum?« flüsterte er verzweifelt, »aber man geht doch auch zum Priester! Es gibt doch eine Gewissensnot!«

Sie rührte sich nicht. Vielleicht begriff sie noch nicht seine Verzweiflung, vielleicht wollte sie sie nicht begreifen, weil es über ihr Dogma hinausging. – Oder sie wußte nicht, was Gewissensnot ist.

Hoff hielt sich den Kopf. Er wurde vor Hoffnungslosigkeit böse. Er sagte fast gehässig: »Es gibt doch außer dem Opfer auch noch den Täter. Es gibt außer Leidenstragödien: Tätertragödien. Wie kann der Täter, der dazu bereit ist, seine Schuld tilgen?«

Sie schwieg. Vielleicht wußte sie keine Antwort.

»Ja, ja«, quälte sich Hoff, »das ist vielleicht zuviel gefragt. Ich will ja nur wissen, wie er an seine Schuld herankommt?«

Sie sagte kalt: »Das klebt ja an seinen Händen.«

»Nur das Blut! Nur das Blut!« stöhnte Hoff, »aber die Schuld kann durch die Finger rutschen und davonlaufen ...«

»Haben Sie Fieber?« fragte sie.

Jetzt hatte er Fieber. Das Hemd klebte ihm am Rücken, trotzdem es im Zimmer nicht warm war. Es schüttelte ihn. Sie sah es und stand auf. Sie war eine stattliche Frau, größer als der Minister, oder sie schien ihm nur groß, weil er krumm auf dem niedrigen Stuhl saß. Sie war schon wieder gutmütig. »Sie sind ja krank, Herr Hoff«, sagte sie besorgt, »legen Sie sich doch ins Bett.«

»Was soll denn der Mörder tun – nach Ihrer Meinung?« fragte er hartnäckig und mit flatternder Stimme.

Sie hatte zu begütigen. »Wenn er so leiden würde, wie Sie«, sagte sie, »dann hat er nicht mehr weit zur Versöhnung mit sich und dem Opfer. Und mein Mann nähme auch diese Versöhnung an, glauben Sie mir. Und beruhigen Sie sich doch.«

Hoff hielt sich an dem Gestell seines Stuhles fest. Er fand, daß das Zimmer nicht fest stand. Er hatte Magenschmerzen vor Hunger. Er hatte heute noch nichts und gestern zu wenig gegessen.

»Nichts ist gut«, kämpfte er. »Versöhnung ist Einbildung. Das ist doch beinahe ein Trick, um zu kneifen. Aber wenn er sich stellte, sind Sie zufrieden, nicht wahr?«

»Was für eine Zufriedenheit sollte mir das geben«, antwortete sie traurig.

Jetzt ertrinke ich, dachte er und sah dicht unter den Augen eine glatte graue Fläche, wie Wasser oder Sumpf oder Nebel. Er griff nach ihrer Hand und hielt sich an ihr. »Sagen Sie doch ja!« flehte er erstickt, »sagen Sie doch: wenn er sich stellt, dann bin ich zufrieden!«

Was es für arme Menschen heutzutage gibt, dachte sie mitleidig, und was er für heiße Hände hat. Er muß ins Bett. Ich muß ihn loswerden. Sie sagte also: Ja, ja, sie sei mit einer Selbststellung des Täters zufrieden; und es sei schließlich auch das beste, wenn ein reuiger Sünder die naheliegendste Einrichtung für seinen inneren Ausgleich in Anspruch nimmt, also das Gericht; das sei der einfachste Weg ...

»Zum Teufel mit der Bequemlichkeit!« unterbrach Hoff grob.

Diese offenbar sinnlose Antwort schien ihr so bedenklich, daß sie ihm vorsichtig die Hand entzog und ihm freundlich bedeutete, nach Hause zu gehen und sich hinzulegen. Mit einer Grippe dürfe man nicht spaßen. Sie erinnerte ihn wieder an Frau Hansmann.

Es klingelte. Sie hob den Kopf. – Dann sagte sie: »Sie dürfen sich auch nicht mehr mit diesen fürchterlichen Fragen quälen, Herr Hoff. Glauben Sie mir, der Täter selber macht sich das Leben nicht so schwer.«

Sie ist doch nicht dumm! dachte Hoff, sie will mich nur nicht an die Tat heranlassen! – Er hielt den Atem an, seine Hände flogen auf, sein Kopf ging hin und her, oder es war das Zimmer. Plötzlich stieß er mit dem Atem heraus:

»Ich bin ja der Täter.«

Was wird sie tun? dachte er sofort. Sie wird es mir nicht glauben. Sie wird vielleicht lachen.

Sie lachte nicht. Sie schüttelte nur den Kopf, sie kam sogar noch einen Schritt näher und dann strich sie ihm leicht über das Haar. Das hatte heute David Hertz auch getan. Sie sagte nichts. Hoff saß wie betäubt

Es klingelte wieder. »Die alte Minna hört wieder nicht«, sagte sie und ging zur Tür. »Es wird nur Herr Beutelmann sein.«

Hoff sprang auf. Er öffnete und schloß den Mund. »Bitte, nein ...« stotterte er. Sie blieb stehen. »Ach so«, sagte sie, »Sie sind allerdings nicht in der richtigen Verfassung für neue Bekanntschaften, Herr Hoff.«

»Adieu!« sagte Hoff. Draußen hörte man das Öffnen der Haustür und die Begrüßung des Ankommenden durch die Alte: »Ach, der Herr Beutelmann.«

»Adieu!« drängte Hoff. Die Frau gab ihm die Hand. »Gute Besserung, und kommen Sie wieder, wenn Sie gesund sind. Ich möchte Ihnen gerne helfen.«

»Vielen Dank«, sagte Hoff, »verzeihen Sie, bitte, ... Adieu.«

Er ging. In dem dunklen Korridor begegnete er dem Sekretär. Hoff klopfte das Herz bis in den Hals. Er drückte sich an die Wand. Der Gang war eng. Der Sekretär streifte seinen Arm. Das Gesicht war nicht zu erkennen, zumal die Augen durch das Tageslicht geblendet waren, Hoffs Augen durch das helle Zimmer, des anderen Augen durch das helle Treppenhaus. Aber Hoff kannte ja das Gesicht.

Der Sekretär sagte höflich: »Guten Tag.« Er hatte ein feines, helles, kühles Stimmchen. Hoff sagte kurzatmig: »Guten Tag!« und schob sich seitlich vorbei. Die Alte hielt unwirsch für ihn die Haustür auf.


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