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Dieser Tag war ja erst bis zu seiner Hälfte gediehen – oder soll man sagen: nun ist es schon Mittag? Franziska war nervös; denn sie fühlte zugleich Ungeduld und Zeitangst – oder was es war. Sie kam nicht recht dahinter, was es war. Es war eine Angst vor jeder Stunde, was sie wohl bringe; denn die Stunden mußten etwas bringen, dafür hatte sie doch selber gesorgt. Eine Höllenmaschine hat ein Uhrwerk, eine Bombe hat eine Lunte, man konnte nach Minuten und Sekunden rechnen. Sie aber, Franziska, wußte nur, daß sie etwas getan hatte, was in der Wirkung dem aufgezogenen Uhrwerk oder der angesteckten Lunte entsprechen könnte – aber wann trat es ein? Sie war ungeduldig und ängstlich. Die Mechanik eines Attentats war nur ein Gleichnis; aber es drängte sich auf, und die Unruhe des Attentäters scheint etwas Abscheuliches zu sein. Die Ursache muß eine Wirkung haben; denn es ist unwahrscheinlich, daß ein Rohrpostbrief auf seinem pneumatischen Weg stecken bleibt oder daß die brennende Nachricht im Meer des Posteinlaufs verzischt. Die Folge sollte sein, daß die Polizei kommt und sich von der Echtheit des Kontoauszuges überzeugt – bitte sehr, man wird es nachweisen! – oder daß Bonde selber kommt, von der Polizei benachrichtigt, also bereits in der unlösbaren Verstrickung des polizeilichen Mitwissens, und die weiße Flagge hißt. Deshalb hatte sie es doch getan. Und dennoch die Angst vor der Wirkung … – deutlicher, Franziska! – das schlechte Gewissen … – deutlicher, Franziska! – die Angst um ihn, um ihn, um ihn? Oho, das fehlte noch! Du hättest ihm ja um den Hals fallen können und er hätte dich abgeschüttelt, so weit es seine verfluchte Höflichkeit erlaubte – er hätte dich manierlich von sich abgestrichen und mit seinem Tüchlein den Puder vom Rockaufschlag entfernt – Gott, er hätte es nicht getan, es gab da Augenblicke … – Franziska rauchte, rauchte.
Sie schlug auf den Klingelknopf. – Angst um ihn? Zum Lachen! Angst für mich!
Herr Leitschuh erschien mit skeptisch hochgezogener Augenbraue, sichtlich entschlossen, einen schwarzseherischen Standpunkt zu vertreten und die Flaute dieses Tages ungünstig zu interpretieren; denn er kannte seine Queen und fühlte ihre Nervosität. Was hatte die Frau, zum Teufel? Man hörte sie nicht, sie verkroch sich in eine bedenkliche Lautlosigkeit, sie sagte die Sprechstunde ab, sie kämpft mit sich statt mit dem Feind, die Militärsprache ist nicht blöde, Verehrte, sondern berechtigt, Angreifen! Angreifen! nicht ablassen, den einzig wunden Punkt des Gegners zu berennen, nämlich die Scheu vor dem Skandal in den eigenen Reihen, es gibt noch Mittel genug, um aus dem Fall »Volkskredit« die Affäre Bonde zu machen, die exzellente Sensation, der Amann ist schon unterwegs, der Brio-Spitzeder wird eingesetzt, ob er will oder nicht, und das Zähneeinschlagen wird ihm vergehen, aber die Queen muß mit im Schwunge sein, muß wieder in Schwung gebracht werden …
»Leitschuh, der Kundenbrief soll lieber nicht hinausgehen …«
»Ich höre wohl nicht recht, Frau Vio.«
»Entfernen Sie wenigstens die Anspielung auf Bonde.«
»Bitte sehr, es wird nur gesagt, daß sich Namen aus höchsten Regierungskreisen unter den Bankkunden befinden.«
»Ich will mich aber nicht strafbar machen!« rief Franziska.
»Verehrteste Frau Vio«, sagte Leitschuh und vergrub die Hände in den Hosentaschen, »das ist eine Frage der Auslegung. Der Herr Oberstaatsanwalt zum Beispiel könnte der Ansicht sein, daß Sie sich bereits seit Gründung des ›Volkskredits‹ strafbar gemacht haben.«
»Sie sind ein Viechskerl«, sprach Franziska leise und langsam.
»Nichts anderes«, bestätigte der Prokurist; »außerdem sind die Buchstaben A bis H schon versandt.« Das war zwar eine Lüge; aber sie wirkte besser als alle wahrhaftigen Argumente und förderte dadurch Leitschuhs unterweltliche Initiative wie überhaupt seine Respektlosigkeit vor moralischen Werten und Hemmungen. Während sie abschließend und abgespannt meinte, das hätte er ihr doch gleich sagen können, empfahl er sich, dem Viechskerl, sie von heiklen Operationen gar nicht mehr in Kenntnis zu setzen: nur nicht mehr viel fragen! Und so interpretierte er ihr, ungefragt, innerlich belebt, äußerlich finster, übrigens wahrheitsgemäß, den flauen und vertrackten Halbtag: daß nämlich bisher die Einlagen um die Hälfte geringer seien als die Auszahlungen – der Beweis der Warnungswirkung auf die hauptstädtische Klientel, laut Kontoprüfung – und daß man sich für den Entscheidungskampf zu rüsten habe. Franziska tadelte nicht mehr die militärische Sprache, sondern fragte leise: »Kommen wir denn durch?«
»Heute schon«, bedeutete Leitschuh, blickte aus schwarzen Augenhöhlen und ging.
– Deine Seele ist matt wie Limonade, dachte er, entweder falsch zitierend oder das Zitat wissentlich verdrehend – immerhin ein halbwegs gebildeter Mann.
Regierungsrat Dr. Schmidt wiederum hatte sich über die Angriffslust seines Chefs zu wundern. Es war nicht das richtige Wort; denn es war zugleich mehr und weniger als Angriffslust, es war Schärfe, Kälte und Erbarmungslosigkeit – aber dicht darunter saß ein so merklicher Abscheu vor seinem eigenen Tun, daß es Dr. Schmidt, der ja kein gutes Gewissen hatte, auf sich bezog und vor Unbehagen schwitzte. Daß er ausdrücklich hinzugezogen wurde, als Kollege Krieger zu einer zweiten Besprechung um drei Uhr nachmittags antrat, konnte als der Wunsch des Ministers, sich zu rechtfertigen, aber auch als eine sehr Bondesche Form von Zurechtweisung ausgelegt werden. Es begann damit, daß der Chef dem Leiter der Fahndungsabteilung einen zusammengefalteten Briefbogen überreichte, mit der knappen Bemerkung: »Zum Akt.« Es begann also mit einer deutlichen Kaltstellung des ausdrücklich hinzugezogenen persönlichen Gehilfen. Dr. Schmidt bekam rote Nackenwülste. Kollege Krieger öffnete die Mappe, um das Schriftstück hineinzutun. »Lesen Sie!« befahl Exzellenz. Krieger las; er hatte ein weiches Herz, aber er konnte dienstlich ein steinernes Gesicht machen; er nickte nur, faltete das Blatt zusammen, legte es in die Ledertasche und ließ das Schloß zuschnappen. – Ein Jesuit! dachte Dr. Schmidt und lockerte den Kneifer; dabei brauche ich ihn draußen nicht mal zu bitten, es mir zu zeigen … – Der Kollege indessen war gerade in diesem Augenblick gewillt, es ihm nicht zu zeigen, als Strafe für bewiesene Niedertracht gegenüber einem so integren Manne wie Exzellenz. Jetzt fragte ihn der Minister, ob gemäß seiner telefonischen Order die Gendarmerie-Kommandos der in Frage kommenden Bezirksämter in der betreffenden Angelegenheit instruiert wären und den Überwachungsdienst schon von heute ab durchführen könnten. Dr. Schmidt wußte weder etwas von der betreffenden Angelegenheit noch selbst von einer telefonischen Order des Ministers – wann hatte er telefoniert und von wo? Er sah böse den Kollegen an, der die Frage des Ministers bejahte. Bonde wandte sich plötzlich an Dr. Schmidt: »Damit es Sie nicht beunruhigt – ich habe nämlich von einem Restaurant der Innenstadt telefoniert.« Dr. Schmidt sah auf die dünnen Lippen des Chefs; vielleicht kam noch eine Erklärung. Doch Bonde schwieg und sah ihn auch nicht mehr an. Der Gehilfe schnarrte: »Danke, Exzellenz.«
Dann lehnte sich der Minister im Stuhl zurück, sah über die beiden Männer hinweg und sagte, hin und wieder mit dem Bleistift auf die Schreibunterlage klopfend, seine erstaunlichen Beschlüsse. Die Reaktion auf die ministerielle Warnung vor dem Schwindelinstitut – er sagte zum erstenmal ein so hartes Wort über den »Volkskredit «, und beide Herren hoben den Kopf – werde nicht abgewartet, sondern herbeigeführt, ebenfalls durch die Presse, die Instruktionen gebe er, der Minister. Die vorgeschlagene Deliktkonstruktion – das heißt: die Einschmuggelung eines Geheimagenten unter die Einleger, damit die Behörde einen Protest in die Hand bekomme und vorgehen könne – sei jetzt überflüssig, ganz abgesehen von der persönlichen Meinung des Ministers, daß zum mindesten schon ein Erpressungsdelikt vorliege; ebenso stünden die Überlegungen hinsichtlich der Bankschließung nicht mehr zur Debatte. Denn der Sturm auf die Bank, der kommen werde, und zwar sehr bald, werde sowohl die polizeiliche Schließung des »Volkskredits« als auch die Beschlagnahmung der Bücher zur Folge haben, natürlich auch einen Wolkenbruch von Protesten, Anzeigen und Einklagungen – aber das sei dann schon die Sache der Staatsanwaltschaft. Die Polizei habe ab morgen in Alarmbereitschaft zu stehen; aber sie habe, das sei wichtig, den Banksturm nicht zu verhindern, sondern zu beendigen. Denn der Staat habe nicht die Betrüger zu schützen, sondern die Betrogenen, und das Kartenhaus müsse durch die Evidenz seines Truges zusammenstürzen: der Einsturz erfolge logischerweise, wenn die Realität der Forderungen in massiver Form einbreche. Der Einbruch der Realität also werde herbeigeführt werden.
Der Minister sprach halblaut und wie gestoßen, der Bleistift klopfte. Die beiden Beamten starrten ihn an. Herr Krieger fühlte sein weiches Herz klopfen und er schwieg aus Respekt vor Bondes Herz, das unter der Last der Amtspflicht lag – ein melodramatisches Exempel. Dr. Schmidt aber sprach – warum sollte er nicht endlich sprechen und sich als der persönliche Gehilfe bewähren, der ausdrücklich zu dieser Konferenz hinzugezogen war? –: »Wenn ich mit meiner persönlichen Meinung nicht zurückzuhalten brauche, so begrüße ich freudig den Entschluß Eurer Exzellenz, diese Frau, die im allerschlimmsten Sinne ein Schädling ist, eine Krankheit im Organismus des Staates, zu vernichten.«
Bonde drehte ihm langsam das Gesicht zu, ein vor Leid und Ekel ganz verzogenes Gesicht: »Ihr Zuspruch ermutigt mich außerordentlich, Herr Doktor, gestern wie heute – und jetzt haben Sie nur noch die Güte, den Doktor Bell zu mir zu bitten, möglichst sofort.«
Herr Schmidt trat ab, ihm war sehr heiß, es war sehr peinlich, die Dinge lagen bei Gott nicht klar – immerhin war er wieder eingeschaltet und wußte, was nun kommen würde. Denn Dr. Bell, Inhaber einer bekannten Presse-Korrespondenz, war der Journalist, dessen sich der Innenminister, in seltenen Fällen übrigens, zur Korrektur der öffentlichen Meinung bediente.
Noch während er telefonierte, trat Krieger in sein Büro; es war also im Ministerkabinett nicht mehr viel Zeit für weitere Heimlichkeiten zugestanden worden. Schmidt hängte ein und wandte sich um: »Da staunt der Laie«, sagte er und schaute auf die Mappe des anderen. Herr Krieger öffnete sie und gab ihm stumm das zusammengefaltete Geheimnis. Das war keine Charakterlosigkeit, sondern das Resultat einer langen Überlegung. Jawohl, der Kerl soll es lesen und sich schämen! – Dr. Schmidt las es, gab es zurück, nahm den Kneifer ab und putzte ihn mit dem Taschentuch: »Hat wohl eine Stange Geld gekostet«, sagte er.
Krieger bekam sein dienstliches Steingesicht. »Da Sie sich leider nicht zu schämen vermögen, Herr Kollege, so tu ich es für Sie.«
»Herr!« brauste Dr. Schmidt auf, satisfaktionsfähiger Akademiker.
Herr Krieger aber meinte kalt: »Das ist für Sie keine Beleidigung, Herr Kollege, sondern eine Ehre«, und ging.
Als Graf Bonde des Abends nach Hause kam, meldete ihm Diener Michael, daß Adelina zu Bett liege. Der Minister ging zuerst in die Bibliothek, um die Aktenmappe auf den Schreibtisch zu legen, eine volle Mappe, er hatte sich viel Arbeit mitgebracht, eine Nacht ist lang. Dann wollte er zu Adelina hinaufgehen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen – es gehört sich so. Aber er war müde und hungrig, er war vor allem müde zu reden, wieder von diesen Dingen zu reden – ja, und er hatte kein Bedürfnis, sie zu sehen. Er saß auf dem Schreibtischstuhl, den Kopf an der Rückenlehne – Diener Michael wird wahrscheinlich annehmen, daß Exzellenz oben sei, im Schlafzimmer von Frau Gräfin. – Es widert mich so an, dachte Matthias, und seine Lippen formten die Worte, er dachte beinahe laut.
Der Gong dröhnte nicht zu laut und nicht zu leise, wie vorgeschrieben. Der Minister betrat das Eßzimmer, das eine Gedeck stand verlassen auf dem gleichmütig festlichen Tisch – Wachskerzen, Blumenaufsatz, ein Gedeck. Diener Michael stand in dienstlicher Starre hinter dem Stuhl, zuweilen erschien ein schwarzer Frackärmel mit steifer weißer Manschette und der Hand in weißen Zwirnhandschuhen auf der rechten Seite, zuweilen auf der linken Seite, Teller und Speiseplatten setzten sich vor dem Einsamen nieder und entschwebten, in den Kelch gluckste Rheinwein, in den Becher zischte Mineralwasser – man sagte: Bitte! oder: Danke! sonst nichts, und das war nicht Sprechen, sondern gehörte zur kleinen Musik von Porzellan und Glas und Silber. Matthias dachte: man kann auch allein sein. – Gedanken sind gerne vorlaut, wenn Stille herrscht. Warum dachte er jetzt dies: ob sie wohl läuten und nach mir fragen, mich also als ungezogen hinstellen und gewissermaßen Lügen strafen wird? Bonde verneinte es sich sofort; denn dazu war sie zu lange mit ihm verheiratet gewesen. Was für ein Plusquamperfektum, Bonde? – Man ißt und trinkt, betupft sich den Mund mit der angestärkten Serviette aus feinstem Damast, man taucht die Finger in ein Silberschälchen mit lauwarmem Wasser, in dem ein dünnes Zitronenscheibchen schwimmt, man ist außerordentlich höflich zu sich, da ja niemand anderer da ist – es sei denn, man achtet so sehr auf die Form, weil Diener Michael dahinter steht; vor dreihundert Jahren werden die Bondes noch mit den Fingern gefressen und die abgenagten Knochen über die Schulter geworfen haben, den Dienern ins Gesicht oder den Hunden ins Maul. Warum habe ich eigentlich keinen Hund? Denn ich werde sehr allein sein. –
Er betrat Adelinas Schlafzimmer. Sie richtete sich im Bett auf, lächelte ihn an und sagte leise: »Endlich!« Wann hatte sie ihn je mit solchem Wort begrüßt? Er trat ans Bett, sie hob das Gesicht zu ihm auf, als böte sie ihm Stirn oder Mund. Er strich ihr nur leicht über das Haar und fragte: »Du fühlst dich nicht gut, Adelina?«
»Ich fühle mich sehr gut, Bonde, ich habe mich zu Bett gelegt, um mit dir allein zu sein.« – Bisher, dachte er bitter, klingt es wie in Flitterwochen, die ich nie gehabt habe. – »Ich meine natürlich«, verbesserte sie sich und sah sehr hübsch aus, wie ein verlegenes Mädchen, die schönen braunen Haare in zwei dicken Zöpfen über der Schulter, »um uns ungestört sprechen zu können, unbehelligt von diesem gräßlichen Michael – ja, ich liege schon seit Mittag im Bett, weil ich dachte, du kommst – und ich war enttäuscht …«
»Ich hatte keine Zeit«, sagte Bonde.
»Aber du kommst auch jetzt sehr spät, so als hättest du es darauf angelegt, mich zu quälen …«
»Es war womöglich eher die Absicht, dich nicht zu quälen, Adelina, mit einem abgespannten, hungrigen und mißgestimmten Mann.«
»Nun ja«, meinte sie, »das lange Warten hatte auch sein Gutes. Ich habe viel nachgedacht, über dich, Bonde.«
»Über mich?« fragte er.
»Setz dich doch«, bat sie und wies auf das Bett. Er aber zog einen Stuhl heran und saß dann, ohne sich anzulehnen. Sie legte das Gesicht in die aufgestützte Hand und sah ihn an, aus großer Nähe. »Bonde!« sagte sie leise, und es klang genauso, wie ihr Begrüßungswort: ›Endlich!‹ Sie wartete, er rührte sich nicht. »So sprich dich doch endlich mit mir aus!« flehte sie, »ich bin doch ein Mensch und kein verhängtes Bild!«
– Was für ein seltsamer und bewegender Vergleich! dachte er, und welch ein ehrlicher Anschlag für die Fuge unserer Notlügen! – »Wo soll denn unsere Aussprache einsetzen, Adelina – etwa da, wo sie gestern abend unterbrochen wurde?«
Sie überlegte – o ja, sie mußte genau überlegen und vorsichtig sein von Anfang an, bei jedem Wort: so schwierig war es zu entscheiden, was zu wissen und was nicht zu wissen war – er blickte aus zusammengekniffenen Augen auf ihr armes Stirnchen. »Ach Gott«, begann sie endlich, »mir liegt ja nur an dir und mir, an unserem Verhältnis, und daß wir uns wieder ganz klar sehen … Denn du kennst ja nun meine Rolle … oder meinen Anteil an der Geschichte …« Sie ließ zögernd den Satz in der Luft hängen, vielleicht war schon der Anfang verfänglich, vielleicht hätte sie schon dies nicht sagen sollen … – Sie konnte einem leid tun.
Er aber fragte: »Woher willst du das wissen?« Das war eine ungute Frage, man sollte sie ihm nicht zutrauen.
Sie antwortete leise und tastend: »Von Franziska. Sie rief mich heute nacht an, nachdem du von ihr fortgegangen bist …« Sie wartete auf einen neuen Einwurf von ihm; aber er schwieg, er schien ihre Antwort gelten zu lassen. Sie fuhr fort, ängstlich: »Du weißt also auch, daß Franziska damit gar nicht so viel anfangen kann …«
»Es genügt, meine Liebe; sie hat heute früh dem Polizeipräsidium, nicht mir, einen Auszug deines Kontos zugesandt, sozusagen zur freundlichen Verwendung.«
Adelina richtete sich auf. »Das ist schamlos …«, flüsterte sie mit hohem Stimmchen, und aus den Augenwinkeln sah sie auf den Telefonapparat am Bett, dann auf ihren Mann.
»Ach Gott, Adelina, das ist eine Kampfmethode, wenn auch keine noble, zugegeben.«
Sie ließ den Kopf auf das Kissen zurückgleiten und schloß die Augen; sie brauchte lange zu der kleinen Frage: »Und du?«
»Ich wandte mich an einen gewissen Spitzeder, den Empfänger des Geldes, der sich in honetter Weise bereit erklärte, den rein charitativen Charakter der Unterstützungen in aller Form zu bestätigen.«
Sie rührte sich nicht im Kissen, sie öffnete auch nicht die Augen; aber unter den Wimpern glitzerte es – sie weinte lautlos, es war, als schliefe sie und als wüßte sie gar nicht, daß Tränen kamen.
Er sah sie an. Wenn sie jetzt beichtet, was wird dann sein? Kann dann noch alles gut werden? Kann gut werden, was noch niemals gut war? Die Fragen sind so kalt wie das Herz, das abgewandte.
»Sieh mal, Matthias«, flüsterte sie mit einemmal, hastig und fern, als spräche sie aus dem Schlaf, »ich war ja ganz verzweifelt, heute nacht, heute früh, ich sah und hörte nichts mehr, ich dachte bloß nach, da verwirrte sich alles, schließlich schien ich es zu sein, die zu büßen hatte, schuldig vor dir, bestraft von dir – ich, und nicht die andere …« – ›Opferlämmchen!‹ läutete es in ihren Ohren. Sie riß erschrocken die Augen auf und wandte ihrem Mann das Gesicht zu. Bonde saß etwas vorgeneigt und sah sie an, kalt, nicht einmal neugierig, so verschlossen, abgeschlossen von der Welt, wie ein Tauber – und wer nicht hören will, der antwortet auch nicht. »Sag, Bonde, was hat sie eigentlich verbrochen? Gestern hast du mir nur erzählt, was ihr Gewerbe ist, ihre Organisation und Spekulation, ihre Taktik und Praktik, und du hast es sogar, als Psychologe, zu rechtfertigen gesucht, mir zuliebe …«
»Sie hat ihre Einlegerschaft und damit das Nationalvermögen um schätzungsweise zehn Millionen geschädigt.«
»Zehn Millionen! – Und was steht darauf für Strafe, Bonde?«
»Zuchthaus.«
Solch ein Wort ist wie ein Steinwurf oder wie ein Peitschenhieb oder doch wie eine eiskalte Hand, die sich jäh auf die warme Haut legt. Aber sieh, die zarte Frau zuckte nicht zusammen, sondern nickte nur und sagte: »Sie verdient es.«
»Nein«, sagte Bonde.
Dieses Nein, nicht das Zuchthaus, traf sie; sie setzte sich aufrecht und sah ihn groß an: »Nein? Das verstehe ich nicht.«
»Es ist sehr schwer zu verstehen, Adelina. Sie muß bestraft werden und verdient es nicht.«
»Kommt jetzt wieder die Metaphysik von gestern?« fragte sie.
»Nein«, sagte er, flüchtig lächelnd, »heute bin ich weder verstiegen noch unaufrichtig – soweit wir beide überhaupt noch wissen, was Aufrichtigkeit ist.«
Sie wurde rot. »Mein Gott«, sprach sie unfrei, »aber du willst oder mußt sie doch vernichten?«
»Das ist ja mein Unglück«, antwortete er einfach und hob wie demütig ein wenig die Hände, die Handflächen nach oben.
»Dein Unglück?« fragte sie und schluckte und schluckte, »das ist dein Unglück?« Er schwieg. Sie strich über die Bettdecke und sah ihren Händen wie verwundert zu. »Dein Unglück, weil dein Gerechtigkeitsgefühl dabei in die Brüche geht – also sozusagen ein Berufsunglück?«
»Nein«, sagte er.
Sie strich über die Decke, ihr Kopf sank nach vorne, sie flüsterte ihren hochgezogenen Knien zu: » Mein Unglück heute nacht war, dich bei ihr zu wissen.«
»Nein«, sagte er wieder.
Was verneint er denn? Hat er wieder nicht zugehört? Ist er wieder taub? Was verneint er denn?
»Ja!« schluchzte sie in ihre Knie hinein. »Ja! Glaub mir doch …«
»Nein«, sagte er zum drittenmal.
Sie streckte seitlich den Arm aus und suchte wohl seine Hand. »Ich habe heimgefunden, Matthias, verstehst du mich denn nicht? Ich weiß, wer du bist, wie gut du bist – ich weiß, ich weiß …«
»Ach Gott«, stöhnte Bonde.
Sie richtete sich auf und beugte sich zu ihm hinüber. »Verzeih mir«, flüsterte sie und wurde blutrot, »komm doch zu mir …«
Er lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen. »Wie peinlich«, sagte er.
Sie löste sich von ihm ab, nein, sie stieß sich von ihm ab. »Geh!« befahl sie.
Er stand auf. – ›Ich bin doch ein Mensch und kein verhängtes Bild‹ – das kam ihm in den Sinn, das Gleichnis stimmte nicht, weder für ihn noch für sie. Auf ihrem Toilettentisch lag ihre graue Tasche und darauf die grauen Handschuhe. Nicht mit dem Finger hinweisen, Bonde, es hat nicht gut getan! –
Zu dieser späten Abendstunde saß in der »Goldquelle« außer Herrn Leitschuh kein Mensch. Es war aus dem mundfaulen Wirt nicht herauszubekommen, wie während der Geschäftsstunden die Stimmung der Gäste gewesen war, was sie gesprochen hatten, ob von der Warnung die Rede war und ob die gänzliche Leere jetzt nicht bereits von einer Art Verfemung abgeleitet werden konnte. Pächter Emil beschränkte sich auf die Auskunft, daß geschimpft wurde, wie gewöhnlich, daß er nicht zugehört habe, wie gewöhnlich, und daß das Geschäft schlecht ginge. Damit war nicht viel anzufangen; und da es draußen regnete, konnte die Abwesenheit der Liebespaare und der paar anderen Zufallsgäste auch harmlos erklärt werden. Ein Jettatore ist nicht nervös.
Herr René Brio erschien auffallend pünktlich und war aufreizend von Anfang an, zunächst durch seine gute Laune, die wie ein Hohn über dem nassen Gummimantel und in der tristen Leere der »Goldquelle« glänzte, und dann durch die peremtorische Art, wie er als Einleitung seinen Aufenthalt befristete: fünfzehn Minuten; denn in seiner »Guillotine« sei es voll, im äußersten Gegensatz zu Leitschuhs »Goldquelle« – haha, und dabei sähe der Herr Prokurist wiederum eher wie ein Mann unter der Guillotine aus, als wie ein Knabe an der Goldquelle! – Er hoffe, knurrte Leitschuh, daß selbst ein Stimmungssänger als Clown sein Publikum mit besseren Witzen unterhalte, sehe aber im übrigen keinen Anlaß für spaßhafte Töne; die Viertelstunde genüge ferner vollkommen, um sich endgültig zu entscheiden, die ihm bekannte Forderung zu erfüllen oder die ihm bekannten Konsequenzen zu tragen: die Guillotine sei schon hochgezogen – Haha! lachte der Brio, und wer liege drunter?
»Sie«, sagte Leitschuh.
»O weh und weh mir!« jammerte der Brio wie ein Schmierenkomödiant, »da entscheide ich mich gar nicht erst, sondern erfülle lieber gleich die Forderung, in der Viertelstunde …«
»Um so besser«, sprach Leitschuh finster und sah forschend auf Renés Hand, die den Gummimantel öffnete, zwischen Jacke und Weste verschwand und mit der Brieftasche wiederkehrte.
»Einen Liebesbrief!« lachte der Brio, »nur einen!« und präsentierte den Scheck.
»Das ist nicht möglich …« murmelte Leitschuh und besah ihn sich genau.
»Bankscheck, Verehrtester, sagt nichts aus und stinkt nicht, aber stimmt …« René zog ihm blitzschnell das Papier aus der Hand. »Pardon, mein Herr, einem, der drunter liegt, gibt man füglich nicht so viel Geld in die Hand. Nur die Chinesen, wenn ich mich nicht irre, geben ihren Toten Geld mit – und Sie kriegen es fertig, Leitschuh, und reißen noch heute nacht damit nach China aus. Ich gebe Ihnen dafür die Adresse meines Anwalts, hier, und da kann man den Betrag erheben, nach Ausfolgung der bezüglichen Papiere.« Er stand auf und knöpfte den Gummimantel zu. »Aber dieses Armesünder-Viertelstündchen habe ich mir nicht verkneifen können – nichts für ungut, armer Sünder …«
Leitschuh schaute zu ihm auf, mit schaurigen Augen: »Da stimmt was nicht, Spitzeder, woher haben Sie das Geld? …«
»Sie werden lachen, Herr Prokurist und ich gönne Ihnen das letzte Lachen: ich habe es von einem Freunde meiner Kunst …« –
Nun, Herr Leitschuh lachte nicht, sein schwarzer Blick klebte immer noch an der Tür, in welcher der fröhliche Gummimantel verschwunden war, auf Nimmerwiedersehen – und so kräftig war das böse Prinzip, das sich den Geierkopf als Sitz und Gehäuse ausgesucht hat, daß es zunächst gar nicht das Gefühl der Niederlage aufkommen ließ, sondern das Hirn mit Kombinationen und Recherchen nach dem Dreh und dem Trick des obsiegenden Gegners vollkommen beschäftigte. Wie hat er das fertig gebracht? Höchst einfach: Volte mit der Erpressung zur anderen Seite hin. Gut: aber wie kam die kleine Bonde so schnell zu dem hohen Betrag? O welche Wonne, wenn sie es ihrem Mann gestohlen hätte … – Und gerade in der Wonne dieses Gedankens traf Herrn Leitschuh der zweite Schlag an diesem Abend. Denn in seinem Blick stand nicht mehr die tote Tür der »Goldquelle«, sondern Herr Amann, wie er leibt und lebt.
Herr Amann marschierte sozusagen in den bösen Blick hinein, quer durch die Gaststube zur Estrade des reservierten Nischentischs, mit der dreisten Unbefangenheit, Unbetroffenheit, Unfühlsamkeit, die schon manchen Ärger des Blickwerfers erregt hatten.
»Sie sind schon zurück?« fragte Leitschuh drohend.
Herr Amann setzte sich nicht, sondern stützte sich auf seinen nassen Regenschirm wie auf ein Schwert und sah seinerseits bedrohlich aus. »Da staunen S', Herr General«, sprach er unliebenswürdig.
»Allerdings«, bekannte Leitschuh und kommandierte von oben herab, obgleich er doch von unten herauf sprach: »Sie wollen sich erklären!«
»Zuständ!« erklärte Herr Amann, »ihr scheint mir eine viel feinere Gesellschaft zu sein, als einzukalkulieren war.«
»Das ist keine Erklärung für Ihre Anwesenheit hier«, entgegnete Herr Leitschuh streng.
»Also hören S' zu, Herr«, sagte Amann, »ich bin zwar weggefahren, aber nirgends angekommen – und wissen S' warum, Herr?«
»Nein.«
»Weil überall da, wo ich mir für euch den Mund verbrennen sollte, die Bahnhofsausgänge von Gendarmen besetzt waren. Jetzt wissen S', warum ich schon wieder hier bin – und sagen S' nicht, bittschön, daß die Polypen nicht meinetwegen dastanden; denn ich hab einen Riecher und riech sie schon hier, und sagen S' beiläufig nichts mehr von Werten, die ich an mich nehmen soll, ich pfeif drauf, verstehn S', ich arbeite nur mit freien Werten, aber nicht mit solchen, wo schon Handschellen dranhängen, Zuständ! Und jetzt wissen S', warum Sie mir den Buckel runterrutschen können.« Herr Amann stieß den Schirm auf, hob ihn dann an die Schulter, obgleich er tropfnaß war, und ging davon, zusammen mit zweihundert Mark Reise- und Tagesgeldern. –
Da saß nun der Jettatore, zwei Schläge im Nacken, und starrte auf das Zinnteufelchen, das auf dem Aschenbecher ritt, das Reservatsschild als weiteren Kopfschmuck. Das böse Prinzip findet unschwer vom fröhlichen Gummimantel zum Verräter der Amann-Tour. Aber bescheidet es sich damit? Man unterschätze den Leitschuh nicht. Er hat in Paris fünfzigtausend Francs und in Amsterdam zwanzigtausend Gulden, den Niederschlag ganz persönlicher Geschäfte, kein Mensch weiß es, dem Fräulein Nebel wird nur undeutlich gelockt damit: aber er fährt nicht mit dem Nachtschnellzug, den er noch erreichen könnte, in den Westen. Er bleibt und verläßt sich nur auf sich, streicht alle feigen und verräterischen Helfershelfer, streicht selbst die Queen als Mitwisserin, eine Frau ist eine Frau, weiß Gott, was sie jetzt denkt und treibt in ihrer bösen Unruhe – Leitschuh wird den Brand entfachen, in dem sie mutlos herumstochert. Sie will nicht den Scheck schreiben, sie braucht es nicht. Leitschuh wird auf dem Schecktalon vermerken: zwanzigtausend Mark an Graf Bonde, Vorname aus dem Adreßbuch, Datum der Audienz, den leeren Scheck wird er verbrennen – und das ist nicht alles: Anlage eines Geheimkontos, Chiffre »Exzellenz«, eine ausgezeichnete Chiffre …
Franziska saß noch am Schreibtisch, zwischen Kurszetteln und Bankausweisen, und rechnete. Sie spekulierte viel an ausländischen Börsen, um den Zins aufzubringen, und die Börsen waren fest, die Kurse standen hoch, sie konnte – verkaufte sie – mit einem Schlag zwei bis drei Millionen aufbringen und die kleine Erschütterung, die die immerhin nur verhaltene Warnung verursachte, ausgleichen – vorausgesetzt natürlich, daß man sie in Ruhe ließ und daß nicht die große Erschütterung folgte. Sie rechnete und wog ihren Teil an Eisenbahnen, Bergwerken, Goldminen, Kanonenfabriken, Brauereien, und wühlte mit ihrer schönen und kräftigen Hand, die zupacken konnte wie die der Namenlosen, die ihre Werte schafften, in den Papieren, die die Werte bedeuteten. Denn alles war Ziffer, und nur auf die Zahl kommt es an, nicht auf das Werk; denn alles war Geld. Ja, hing sie denn nun eigentlich so sehr am Geld, so wild und wütig, so mit Körper und Seele, statt an einem Menschen, statt an einem Mann? Was war es denn nur mit ihr? Sie hatte Glück bei Menschen, sie hatte immer Glück, gab es ihnen oder nahm es ihnen, je nachdem – welches Glück denn, das Geld? Sie verdiente viel Geld, gewiß, und hatte sich verteufelt wenig um den Staat und seine Paragraphen gekümmert, und jetzt hat sie Sorgen, weil der Staat plötzlich gegen sie ist und sagt, daß sie Unrecht tue, Verbotenes tue, und vor ihr warnt und gegen sie vorgehen will, mit seinem scheußlichen, unheimlichen, unbarmherzigen Apparat, und ihr das Glück abjagen will, das Geld. Liebt sie so das Geld – wie ist es denn mit ihr? Warum weiß sie nicht einmal eine Antwort oder kann sowohl mit Ja als auch mit Nein antworten? Das Geld macht ihr Spaß: jämmerlichste Antwort. – Gott, alle hängen am Geld, alle da unten im Haus sind gierig nach Geld und stoßen ihre Brunstschreie aus, Tag für Tag – und das nimmt sie einfach mit wie eine große Welle; und sie schwimmt auf der Welle, das ist eine Lust, und sie ist mit einemmal die Welle selber, das ist eine noch größere Lust; sie richtet sich nach einem großen Willen, richtet Körper und Geist danach und ist schon der Wille selber, das ist eine mächtige Hingabe. – Wie soll er das verstehen!
Er: wer?
Bonde wollte arbeiten, um nicht an sie zu denken. In der Mappe lag Arbeit für zwei Nächte: schwierige Budgetfragen, ein Stauwerkprojekt, ein Dorf will eine Stadt werden, eine Stadt wünscht ein Realgymnasium, Eingemeindungen, Personalfragen – man ist doch noch zu etwas da, zu etwas anderem … – er kam nicht einmal bis zum Schreibtisch. Die schlanke bronzene Stehlampe mit dem achteckigen Schweinslederschirm verschenkte mildes Licht und lockte ihn auf seinen Ledersessel. Er wollte nicht lesen, sondern die Augen schließen und sich von der warmen Stille des Raums berühren lassen. Doch die Stille scheute vor ihm zurück wie ein Reh, das sich nicht locken läßt – sie blieb um ihn herum, aber hielt Abstand, sie vermied ihn. Mit Recht, dachte er; denn ich bin so etwas wie ein Henker. – Seht, dieser Mann kommt geradewegs von seiner Frau und hat gerichtet – nun ja, das Wort ist zu grob für ihn, er hat gesagt: ›wie peinlich!‹, als sie das erstemal um seine Liebe bettelte, und seine Ehe ausgeblasen wie einen Kerzenstumpf und die Tür geschlossen, leise und artig, nicht etwa zugeworfen. – Nein, Bonde dachte gar nicht mehr an Adelina, die Tür war ja geschlossen, und nicht um ihretwillen lag die Arbeit fern auf dem Schreibtisch und nannte ihn die Nacht, zurückschaudernd, einen Henker. – Der Henker ist der Vernichter schuldigen Lebens, im Namen und Auftrag des Gesetzes. Was hat Bonde heute getan? Er hat die Schlinge um Franziskas Hals gelegt. Ohne das Gleichnis, das ihn so sehr erregt: er hat durch Herrn Dr. Bell einen Alarmartikel in die Presse lanciert – und zwar tückisch oder taktisch (wie man es nennen will) ausgeklügelt, so daß ihn nicht etwa die hauptstädtische Morgenpresse bringt und dadurch Franziska vor dem Angriff warnt, sondern zuerst die Amtszeitungen und Bauernblätter des Oberlandes und dann erst, um der furchtbar Überfallenen den Rest zu geben, die große Abendpresse –: die Nachricht von dem unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch des Schwindelunternehmens, das Signal zum Sturm auf die Bank. – Irgendwann, zu irgendwem hat Bonde heute gesagt: sie muß bestraft werden und verdient es nicht. Oh, auch das gehört zum Fugenbau der Halb- und Notlügen: vor dem Gesetz und tausend vernichteten Existenzen verdient sie es, vor Gott verdient sie es – nur nicht vor dem Henkersherzen! Was hat also heute der empfindsame Exekutor getan? Er hat die Exekution beschleunigt. Und so seht denn den Henker, der aus Angst vor der Liebe henkt … An diesem Abend allein zu sein, war für Franziska schwer und auch kränkend; denn ihre Freunde, wohlsituierte Herren, die das Vergnügen zugleich mit einer schönen Frau und einer guten Geschäftsverbindung zu genießen pflegten und die Ausgaben auf Spesenkonto verbuchen konnten, waren insgesamt verlegen, vergeben oder überhaupt nicht zu erreichen. Ehrlich gesagt, hatte sie auch keine Sehnsucht nach ihnen, und sie bereute sofort, der ersten Regung ihrer Unruhe nachgegeben zu haben, statt zu rechnen und sich durch die Zahlen zu beruhigen. Nun waren auch die Zahlen vertan, und hinter ihnen hatte sich das sonderbare Bedürfnis erhoben, sich ihretwegen zu entschuldigen, sich zu verteidigen: vor ihm, der doch nicht da war und nie mehr kommen würde. Nie mehr! Alles war plötzlich so unabänderlich, so rettungslos geschieden in Hüben und Drüben, und dazwischen hingen wie traurige Herbstfäden die Wünsche in der Luft – was für Wünsche? man erkannte sie kaum, faßte sie kaum. Gestern war es noch einfach, sie ging zu ihm, sie telefonierte mit ihm, er kam zu ihr, man kämpfte ums Leben, um den Sieg, und packte sich an. Jetzt findet man sich nicht mehr – warum denn nicht? Der faßlichste Wunsch ist doch der, ihn zu sprechen, ihn wenigstens zu sprechen! Heute vormittag hatte sie einen Augenblick lang das Bedürfnis gehabt, Adelina anzurufen; aber sie hatte Angst vor ihrer furchtbar aufgebrachten Kinderstimme, die: »Schamlos!« kreischt, mit Recht. Doch das Gewissen hat sich nicht um sie gesorgt, sondern nur um ihn. Und wenn das Gewissen jetzt auch nur ein Vorwand ist, ihn zu sprechen, vom eingesandten Kontoauszug zu sprechen wie gestern von der Auflagenachricht: was tut's, wenn sie ihn nur spricht und vielleicht, vielleicht …–
Bonde hakte die Finger ineinander, ganz fest, und drückte Kopf und Rücken gegen das Polster, er drückte die Augen zu und die Zähne zusammen, es fror ihn, und dennoch war die Stirn feucht von Schweiß. Was soll er gegen die wilde und süße Versuchung tun? Es ist so einfach, das Hörrohr abzuheben, einfacher noch, als die Schlinge von ihrem Hals; denn da könnten die Hände zittern – und die verschlungenen Finger sind kalt und naß wie die Stirn. – 4747, das geht nicht mehr aus dem Kopf, dann die knackende Stille, dann ihre Stimme, dann seine Stimme: Franziska, rette dich! – es kann auch weniger dramatisch gesagt werden: ich würde Ihnen raten, gnädige Frau, noch heute nacht abzureisen, denn morgen dürfte es zu spät sein; – es kann auch unpersönlicher gesagt werden und präziser; morgen wird mit großer Wahrscheinlichkeit, als Folge alarmierender Zeitungsmeldungen, der Sturm der Einleger auf die Bank beginnen und zur polizeilichen Besetzung und Schließung des »Volkskredits« führen, zu deiner Vernichtung, Franziska; heute kommst du noch fort, Franziska!
Bei ihr wie bei ihm stand der Apparat auf dem Schreibtisch, ein schwarzer Kasten, tot und stumm, zu beiden Seiten die Kurbel wie Krüppelärmchen, es glitzerte nur die Gabel, die das Hörrohr trug. Franziska könnte ihn mit der Hand erreichen, Bonde müßte aufstehen. Das Ding steht tot und stumm zwischen Wunsch und Versuchung, es ist nicht der Weg zueinander, es steht im Wege. Die beiden rühren sich nicht, sie starren den Apparat an, bis er im Blick zerschmilzt wie schmutziger Schnee in der Sonne. Der Weg ist frei, grenzenlos …
Zunächst hört er ihre schöne Stimme, dann sieht er sie, noch in der Ferne. Es weichen die Wände, und er ist bei ihr. Er hält zwischen den Händen ihr Gesicht und betrachtet es zum erstenmal und zum tausendsten; denn es gehört ihm endlich und von je. Da sind die hellen schrägen Augen, die Mulden unter den starken Backenknochen und die Blitzzähne im großen Glückslachen. Sie nun hat ihn enger in der Umarmung und im Gehäuse des Raums und der Zeit, es ist bei ihr diese Nacht und dieses Zimmer, wo der Wunsch ihn rief und wohin er gekommen ist, wunderbar eilig und gut. Bei ihm aber ist die Kraft der Zärtlichkeit so groß, daß sie das Leben und die Welt durchschwirrt mit ihr, der Frau, und sie ist überall mit ihm, überall, wo er weiß, daß es schön ist. Er rudert sie über den Gebirgssee des Oberlandes, der aus Liebe zu ihr die Farbe seines Wassers nach ihren Augen wählt, verblichenes Moosgrün, und die Berge in der Ferne krönen sich zum Fest der Abendsonne mit Franziskas metallischem Haarrot – er sitzt mit ihr unter den Linden des Gartenrestaurants an der Seine, nahe von Bougival, und der Mai flirrt durch die Weiden über den Schlangenleib des Flusses, Gold und Grün – er geht mit ihr durch den Silberdom der Nacht von Fiesole nach Settignano, und wo zur Rechten in der Tiefe ein samtener Himmel mit unzähligen Sternen auf die Erde gefallen ist, da ist Florenz. Sie ist überall mit ihm und immer, und selbst noch in der zartesten Stille lebt neben ihm ihr Atem. –
Auf dem Kissen seines Bettes lag ein Brief. Bonde war so müde, daß er ihn nicht sah, sondern, sich hinlegend, im Nacken spürte. Er schlug danach, den Kopf anhebend, wie nach einem Tier. Er hatte ihn in der Hand und besann sich auf die Dinge des Lebens. Er öffnete ihn und las zwei Sätze von Adelinas Hand: daß sie morgen früh zu ihrer Mutter fahre; daß sie den Weg frei gebe. Bonde dachte: der erste Satz ist vernünftig, der zweite lächerlich.