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Je dichter das Zusammenwohnen der Menschen sich gestaltet, desto abhängiger wird einer vom anderen. Die größte Unabhängigkeit haben die Bewohner dünnbevölkerter Gebiete. Sie sind meist arm und ohne die Wohltaten der Kultur, aber sie können tun und lassen, was sie wollen. Jeder kämpft seinen Kampf für sich, hat seine eigene Welt, ist ein Spielball der Natur und feindlicher Kräfte, aber sein eigener Herr. Dieser Zustand des Nomaden macht schon einer gewissen Gesetzlichkeit Platz, wenn die Stämme sich vergrößern oder wenn seßhafter Landbetrieb eintritt. Aber auch die Gesetzlichkeit des auf seinem Gut allein sitzenden, sich selbst genügenden Ackerbauers ist noch gering gegenüber der Zahl von Rücksichten und Regeln, an die der Stadtbewohner gebunden ist. Das höchste Maß von Vorschriften tritt jedoch erst dann ein, wenn an Stelle der Selbstwirtschaft die Produktion für den Verkauf tritt. Jeder wird dann jedermanns Knecht, und seine Freiheit beruht nur darin, daß seine Abhängigkeit nicht größer und nicht anders ist, als die seines Nachbars. Das Zeitalter der wachsenden Masse und der wachsenden Arbeitsteilung der verschiedenen Gruppen der Masse ist von Natur ein Zeitalter immer verwickelterer wirtschaftlicher Abhängigkeiten.

Der Verkäufer wird abhängig vom Käufer, aber auch vom Mitverkäufer. Der deutsche Landmann wird abhängig vom Verkäufer in Argentinien, der Händler in der Kleinstadt vom Kaufmann in der Großstadt, der Bauer von der Kaufkraft des Städters, der Städter von der Kaufkraft des Landes, der Exporteur von der Leistung der Gewerbe seines Hinterlandes, der Importeur von Geschmack und Zahlungsfähigkeit seiner Abnehmer, der Fertigfabrikant vom Halbzeugfabrikanten, der Walzwerksbesitzer vom Kohlenbesitzer, der Mieter vom Hausbesitzer, der Hausbesitzer von der Nachfrage nach Wohnungen, der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber, der Arbeitgeber von Zahl und Qualität der vorhandenen Arbeitskräfte, der Beamte von der Steuerkraft der Bevölkerung, der Geschäftsmann von den Vorschriften des Beamten, alle leben von allen, alle streiten sich mit allen, es entsteht ein Netz von Kontrakten, Verträgen, Tarifen, Gewohnheiten, Rechten, Krediten, Gesellschaften, Pflichten, wie es nie vorher in der Menschheit so verwickelt und bunt vorhanden gewesen ist. Der Einzelmensch hört auf, eine Größe für sich zu sein. Er gleicht einem Getreidekorn, das auf dem Gummiband durch das Lagerhaus gefahren wird. Es kann an seiner Stelle springen und tanzen, wird aber während dessen mechanisch weitergeschoben und von den Rändern des Bandes in die Mitte zurückgeworfen, sobald es sich verirrt. Damit ändern sich die seelischen Zustände des Menschen. Das alte Ideal, für sich allein etwas zu sein, verblaßt und verkümmert. Es war und ist ein schönes und hohes Ideal, aber undurchführbar im Massenvolke. Alle Verhältnisse werden vom Gedanken der Organisation, das ist der Regelung der Menge, durchdrungen. Es wird ein Stolz des Menschen, in großen Betrieben zu stehen, in weite Verbindungen hineingezogen zu sein.

 

Noch nie gab es eine so große Masse abhängiger Leute, die ihre Abhängigkeit fühlen und bereit sind, die Notwendigkeit geschichtlich gewordenen Abhängigkeitsverhältnisses zur Erörterung zu stellen. Sie werden uns alle zwingen, sie zu verstehen, und zwar um so mehr, als es den übrigen Volksteilen zum Bewußtsein kommt, daß das, was wir Arbeiterfrage nennen, gar keine bloße Arbeiterfrage ist, sondern die Frage nach der Bedeutung des menschlichen Ich in der Massenzeit überhaupt.

Der Lohnarbeiter ist der erste Massenbestandteil des neuen Volkes. Man mag über ihn noch so schlecht urteilen, so kann man ihm nicht bestreiten, daß er am reinsten die Menge darstellt. Er ist mehr als der Landmann der normale Durchschnittsdeutsche der Zukunft. Beklage das, wer will! Die Klage ist frei, ändert aber nichts. Die Lebenshöhe der Arbeiter ist mehr als irgend etwas anderes entscheidend für die Qualität der nationalen Arbeit. Die Gesundheit der Rasse hängt von den gesunden Existenzbedingungen der vielen ab. Die Arbeiter werden entweder aufwärtsgehoben, oder das Bleigewicht ihrer Unerzogenheit und Unkultur zieht uns alle niederwärts. Es ist gut, daß sie aufwärts wollen. Wenn sie nicht aufwärts wollten, wäre unsere Volkswirtschaft aussichtslos.

 

Ist es Tendenz der maschinellen Entwicklung, den Prozentsatz persönlich unselbständiger Menschen zu vermehren? Wie werden die Charaktere der Menschen sein, wenn es noch viel mehr Maschinen gibt, freier oder unfreier?

... Wenn ich wagen darf, mit allem Vorbehalt des Irrtums meine Meinung zu sagen, so wird es im Maschinenzeitalter stets eine große Unterschicht von persönlich unentwickelten Menschen geben. Daran würde auch eine sozialistisch-kommunistische Arbeitsverfassung zwar einiges bessern, aber nicht sehr viel ändern können. Die Gewinnung der Rohstoffe, die Ausführung der Massenarbeiten, die Hilfsdienste der bloßen Muskelkraft formen eine Unterschicht ohne aktives Ich. Dieser Unterschicht soll und muß durch Verkürzung der Arbeitszeit Gelegenheit geboten werden, ihr geistiges Dasein so hoch zu heben als möglich, aber das, was eigentlich hebt, die Möglichkeit, selber zu schaffen, kann ihr nicht gesichert werden. Ihre Arbeit ist und bleibt sehr eng gebunden. Ihr Bewußtsein muß darum Massenbewußtsein sein, dieses Wort sowohl in seiner Kraft wie in seinem Mangel verstanden. Über dieser Masse aber entsteht ein, wie mir scheint, sich vergrößerndes Gebiet von persönlicher Wirkung. Die Maschine schafft in ihrer fortschreitenden Selbstenthüllung soviel Plätze für Intelligenz, wie sie in keinem früheren Zeitalter vorhanden waren. Die Stellen, wo ein Ich in die Materie hineingelegt werden kann, vermehren sich. Nicht im handwerksmäßigen Kleinbetrieb, sondern im Großbetrieb der Herstellung von Werkzeugmaschinen ist die eigentliche Heimat der fortschreitenden Personenentwicklung. Dazu kommt die Fülle von Personalleistung im modernen Handel. Auf diese Schichten der sich erweiternden Selbsttätigkeit muß der Ethiker in erster Linie sein Augenmerk richten, hier ist das, was er braucht: Wille. Der Wille dieser Schicht wird die Anderen mit sich ziehen, hier bildet sich zwischen Maschinen und Lokomotiven eine neue Ethik, in der Sozialismus und Individualismus sich mischen, die Ethik einer Schicht, die ein Gesamtleben führt, in dem der Fortschritt von dem Mysterium abhängig ist, daß es persönliche Hingabe an die Arbeit gibt.

Ich fühle, indem ich dies schreibe, daß ich etwas Unfertiges sage, aber zugleich, daß ich meinen Fuß auf einen Boden setze, auf den die Ethiker treten müssen, wenn sie nicht in allgemeinen Generalideen stecken bleiben wollen. Es gilt die Arbeitsverhältnisse der Menschen als Grundlage ihrer Seelenbildung stärker in Anspruch zu nehmen als bisher. Die traumhaft schöne Idee von dem Maschinenzeitalter, das lauter freie, große Charaktere schafft, schwebt über den Dingen. Die Angst, als ob die Maschine allen Charakter ruiniere, lebt außer der Wirklichkeit. Die Wahrheit ist, daß eine neue Gruppierung stattfindet, an die wir uns gewöhnen müssen, der Übergang des moralischen Zentralpunktes in die Räume, wo das Eisen sich mit dem Willen verbrüdert. In der Beseelung des Eisens liegt in der Zukunft die erste Arbeit gerade unseres Volkes. Dort liegt der Herd, an dem auch die moralischen Kräfte geschmiedet werden, der Herd der neuen Energien.

* * *

Wenn man die Rede über den untergehenden Mittelstand zum erstenmal hört, so macht sie einen großen Eindruck; denn es liegen in der Tat gewisse Anzeichen von Schwäche und Krankheit vor. Aber das Handwerk wird überall da bestehen bleiben, wo der einzelne Mensch versorgt werden will. Es gibt die Massenartikel ab und versucht die besondere Pflege der Kundschaft. Daß ihm dabei die Gesetzgebung helfen muß, ist selbstverständlich.

* * *

Der Begriff Lohnarbeiter ist noch ungeheuer weit! Was für Unterschiede gibt es zwischen den Schriftsetzern, Bildhauern und Feinmechanikern einerseits und den Erdarbeitern, Sackträgern und Hafenarbeitern andererseits! Es liegen ganze Kulturfernen zwischen den einen und den anderen. Und doch, sie alle haben nicht Haus, nicht Hof, nicht Acker, nicht Rente, sie haben nichts als sich selbst und ihre Arbeit. Hört die Arbeit auf, dann sinken sie zusammen, wird der Lohn knapp, dann steigen sie abwärts. Derselbe gute Geschäftsgang pflegt sie alle zu heben und dieselbe Krisis sie alle zu drücken. Es gibt unter ihnen ein gewisses gemeinsames Leben, ob sie sich auch nicht kennen. Dieses Leben, das ihnen allen gemeinsam ist, macht den Inhalt ihrer Politik aus. Es ist die Politik des Lohnes. Was kann es anders sein? Lohn ist ihr Wohnen, ihr Essen, ihre Kleidung, ihre Heizung, Lohn ist ihre Bildung, ihre Gesundheit und die Möglichkeit der Erziehung ihrer Kinder. Um den Lohn dreht sich nun einmal das Leben der Masse. Das mag verwöhnten Menschen, die von Renten leben, ärmlich und peinlich erscheinen, aber es ist die nackte Wahrheit: im Steigen und Fallen des Lohnes steigt und fällt die Lebenstemperatur der Hälfte des Volkes.

 

Was ist ein einzelner Mensch innerhalb der Masse?

Was ist ein Bergarbeiter? Es gibt etwa 900 000 erwachsene männliche Arbeiter, die in den deutschen Bergwerken, Hütten, Salinen und Torfgräbereien beschäftigt sind. Eine gewisse Anzahl von ihnen sind Vorarbeiter, Gruppenführer, Steiger oder Obersteiger. Diese heben sich einigermaßen aus der Masse heraus, aber viele von ihnen sind auch nicht sehr etwas anderes als die anderen Arbeiter. Wollen wir annehmen, daß von den 900 000 etwa 100 000 sich in irgendwelcher Weise von der Masse unterscheiden, sei es durch ihre Stellung im Betriebe, sei es durch Leistungen in der Vereinsorganisation oder auf einem anderen Gebiete, so bleiben noch immer 800 000, deren ganzer Lebenslauf heißt: sie fingen eines Tages an, Bergarbeiter zu sein, und blieben es, bis ihr Körper versagte oder bis ein Unfall sie verletzte; von da an waren sie Berginvaliden, bis sie starben. Diese Lebensbeschreibung wird unterbrochen durch einige Angaben folgender Art: er verheiratete sich, hatte zwei Söhne, von denen einer Bergarbeiter wurde und ein anderer Schaffner, hatte zwei Töchter, von denen die eine einen Bergarbeiter heiratete und die andere als ledige Schneiderin lebt; er wechselte im ganzen fünfmal die Grube und war zweimal längere Zeit im Krankenhause, polizeilich ist nichts Ungünstiges über ihn bekannt. Dieser Teil lautet bei jedem einzelnen etwas verschieden, aber alle diese Verschiedenheiten sind wiederum so eintönig, daß es schwer ist, sich das Bild eines solchen Lebens als eines besonderen Daseins zu machen. Ein Tag gleicht dem anderen, ein Lohnbuch dem anderen, ein Haushalt dem anderen.

Noch gibt es freilich Unterschiede, aber sie werden im Laufe der Zeit nicht größer, sondern kleiner. In dem heutigen Geschlecht von Bergarbeitern merkt man noch den Unterschied zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Da bringen noch viele ihre besonderen Gewohnheiten und Sitten aus der Heimat mit, ihre Sprachformen, Speisen, Getränke, Erinnerungen. Das alles aber gleicht sich immer mehr aus, denn die Kinder gehen in dieselbe Art von Schulen, lernen aus denselben Büchern nach gleichen Lehrplänen, die Frauen kaufen bei derselben Art von Krämern ungefähr dieselben Waren, die Männer lesen dieselben Zeitungen, sitzen in der gleichen Art von Wirtschaften, reden über dieselben Lebensfragen. Der eine ist klüger als der andere und versteht das Leben besser, aber im Grunde sind sie alle nur Blätter eines Baumes, Gräser einer großen Wiese, Menschen mit dem Massenschicksal.

Und geht es etwa nur dem Bergarbeiter so?

In allen Arbeitszweigen, in denen die Arbeit keine besonderen schwer gewinnbaren Fähigkeiten fordert, ist es ähnlich. Soll man das Leben der Textilarbeiter beschreiben? Die Beschreibung ist gar nicht viel anders als die der Bergarbeiter, nur daß an die Stelle der Kohlengrube der Fabriksaal tritt. Fast hat dieses Leben noch weniger Abwechslungen und darum weniger Gelegenheiten, daß der Einzelmensch sich als Person heraushebt. Es gibt in der deutschen Textilindustrie etwa 400 000 Arbeiterinnen in Fabriken oder anderen Anlagen, die der Gewerbeinspektion unterstellt sind. Diese 400 000 gehen jeden Tag zur Arbeit. Was aber läßt sich von dieser Arbeit erzählen? Der Statistiker kann allerlei davon sagen, auch der Techniker und der Kaufmann, aber was für persönlicher Lebensinhalt ist darin? Die Maschinen schnurren ihr ewiges Lied, der Staub wirbelt um die Lampen gestern wie heute, das Tagesquantum muß fertig werden. Ganze Kilometer von Garn laufen an den Augen vorüber, immer Garn, immer weiße Linien, immer blinkendes Metall und immer derselbe Lärm, den man nicht eigentlich mehr hört, der aber die Nerven nicht zur Ruhe kommen läßt.

 

Vorhin mußte gesagt werden, daß alle Lohnarbeiter eine gewisse Gleichmäßigkeit ihrer Daseinsbedingungen haben. Jetzt fügen wir hinzu, daß die politische Leistungskraft der verschiedenen Schichten des Proletariats eine äußerst verschiedene ist. Der Hauptunterschied ist der von ungelernten und gelernten Arbeitern. Natürlich ist das kein ganz scharfer Unterschied. Irgend etwas muß jeder gelernt haben, und das Lebensschicksal wirft auch oft denselben Mann einmal nach oben und einmal nach unten. Aber im Grunde gibt es doch auch hier zwei Welten, und politisch kommt für den Stimmzettel Ober- und Unterwelt, für die politische Arbeit und Gedankenbildung aber fast nur die proletarische Oberwelt in Betracht, wenigstens fängt es an, so zu sein. Bis heute war der Zustand vielfach so, daß die Kräfte der oberen Hälfte mit Gedanken arbeiteten, die zur unteren Hälfte gehören, man sieht aber, wie das mit dem Erstarken der Gewerkschaftsbewegung anders wird. Der gelernte Arbeiter tritt fester hervor und zeigt seine Eigenart. Das ist im Blick auf den Gesamterfolg der demokratischen Bewegung höchst wünschenswert und gut. Der organisierte, höhere Arbeiter ist Realist, er will Vorteile erkämpfen, während der unorganisierbare, ungelernte Arbeiter Utopist ist, Wolken im Kopfe hat. Auf letzteren Punkt kommt es an. Solange die Lohnarbeiterschaft sich vom Gedankengange ihrer unentwickelten Unterschicht leiten läßt, kann sie naturgemäß wenig leisten, denn diese Unterschicht ist ihrer ganzen Anlage nach unpolitisch. Ihr fehlt die nötige Organisation, Einsicht und Disziplin. Mit ungelernten Tagearbeitern kann man zwar Wahlerfolge haben, aber einen reellen politischen Gedankengang pflegt doch nur die sogenannte Schicht des intelligenten Arbeiters. Es soll nicht geleugnet werden, daß sich aus dem ungelernten Proletariat einzelne überaus fähige, politisch tüchtige Köpfe erheben, aber die Schicht als solche ist für die verwickelten, schwierigen Gedankengänge zu wenig reif. Sie muß geführt werden, und zwar von der ihr nächststehenden Schicht, vom gelernten, qualifizierten Arbeiter.

 

Die unterste Schicht der Lohnarbeiter wird voraussichtlich immer durch gesetzlichen Minimalschutz vor dem versinken in Barbarei bewahrt werden müssen. Es wird in aller für unser Auge erkennbaren Zeit eine Unterklasse von Arbeitskräften geben, deren rein kaufmännischer Wert so gering ist, daß sie nur durch einen Rechtsakt der Gesamtheit vor äußerster Willkür und Ausbeutung gesichert werden kann. Das sind die Menschen, die von der großen kapitalistischen Materialfülle nichts ihr eigen nennen können, als eben nur ihr Hausgerät und ihre Kleider, die oft traurig genug aussehen; die Leute, von denen das Wort des kommunistischen Manifestes richtig bleibt, daß sie nichts zu verlieren haben als ihre Ketten; eine Schicht, die zur Angst und Qual aller übrigen Volksgenossen wird, sobald man sie unter Menschenmaß herabgleiten läßt. Um ihretwillen muß der gesetzliche Arbeiterschutz eine dauernde Einrichtung sein. Für die höheren Arbeiterschichten verliert er aber in dem Maße an Notwendigkeit, als ihnen die Freiheit gewährleistet wird, für ihre Interessen gemeinsam einzutreten; denn jede einigermaßen gute Gewerkschaft erzwingt sich das in Freiheit selber, was das Gesetz als Minimalbedingung zu fordern in der Lage ist. Hätten wir mehr Freiheit der gewerkschaftlichen Entwicklung gehabt, so würden wir weniger Gesetze, Strafen und Beamte gebraucht haben. Es gehört zur Weisheit und Ironie aller Geschichte, daß aller Freiheitsmangel sich als Organisationsbelastung äußert. Wenn man statt des Sozialistengesetzes und statt aller der polizeilichen Schikanen, deren sich heute alle Welt zu schämen beginnt, ein ordentliches freies Recht für Berufsvereine geschaffen hätte, so würden wir jetzt einen gut funktionierenden Selbstverwaltungsapparat besitzen, in dem die Sekretäre der Unternehmer und Arbeiter sich auf Grund von Tarifverträgen verständigen. Das würde für die Staatsverwaltung eine Entlastung und für alle Beteiligten eine höchst nützliche Schulung sein. Mit jedem Stück polizeilicher Verfolgung eines Arbeitervereins wurde die gesunde liberale Lösung der Arbeiterfragen gehindert. Die Gewerkschaften konnten keine verhandlungsfähigen Körper bilden, die Arbeiter konnten nicht auf Besserung ihrer Lage durch eigene gemeinsame Anstrengung rechnen. Wenn man die Großtaten der deutschen Reichsregierung in Sozialpolitik rühmt und preist, so soll man nie verschweigen, daß ein bedeutender Teil dieser Großtaten nur nötig geworden ist durch ebenso gigantische Irrtümer derselben Regierung, und daß aller Arbeiterschutz für gelernte Arbeiter nur ein dürftiges Ersatzmittel der freien Bewegung der Berufsvereine der Arbeiter ist.

* * *

Man mag vom Glanz unserer Zeit reden, was man will, das Wohnungswesen ist Nacht und Grauen! Auch das besagt nicht übermäßig viel, daß die Prozentziffern sich im allgemeinen gebessert haben, denn die absoluten Ziffern der Menschen, die ein menschenunwürdiges Wohnen ertragen müssen, wachsen beängstigend. In solchen Wohnungen sollen die zukünftigen wirtschaftlichen und militärischen Verteidiger des Vaterlandes geboren werden!

 

Es ist ein Elend, mit was für kleinen und teuren Wohnungen sich fast die Hälfte des Volkes behelfen muß! Nicht das ist das wichtigste, daß an einzelnen Stellen ganz schmutzige Löcher als Wohnungen ausgeboten werden. Die Mehrzahl der deutschen Wohnungen ist nicht schmutzig und faulig. Selbst die Landarbeiterwohnungen fangen an, sich über den allertiefsten Zustand zu erheben. Die Wohnhäuser der großen Städte und Industriegebiete sind meist erst in neuerer Zeit entstanden, unterlagen baupolizeilicher Prüfung und werden, schon um ihre Vermietbarkeit nicht zu schädigen, zwar nicht glänzend, aber erträglich gehalten. Sie sind aber so teuer, daß im allgemeinen die von ihrer Arbeit lebende Familie halb soviel an Wohnung hat, als sie aus gesundheitlichen und sittlichen Gründen haben sollte.

In langem Streit, unter Erschütterung des sozialen Friedens, erkämpfen die Gewerkschaften Vorteile – für die Wohnungsbesitzer! In vielen Demütigungen erbitten die Beamten Geld – für die Wohnungsbesitzer! Die schlechtesten Zimmer steigen im Preise. Ganz alte Häuser, die, kaufmännisch gesprochen, längst abgeschrieben sind, vermehren ihre Einnahme. Die Allerärmsten bezahlen verhältnismäßig das allermeiste. Eine alte Näherin, die eine Kammer für 10 M. im Monat mietet, arbeitet 10 Tage, um wohnen zu dürfen.

Die Qualität des Massenvolkes leidet unter seiner räumlichen Zusammendrängung, die Moral leidet und der Reichtum an inneren Werten. Es ist deshalb ein Haupterfordernis der neudeutschen Volkswirtschaft, die Menschen zu dezentralisieren, um sie zu erhalten.

Das Ideal also muß sein: Dezentralisation der Masse, soweit es nach der Natur der Bodenschätze möglich ist, Industriestraßen durch die Provinz, Belebung der Kleinstädte, Industrialisierung des flachen Landes! Wenn wir die Menschen auf dem Lande halten wollen, so müssen wir ihnen dort Lebensmöglichkeiten verschaffen. Heute will der Landmann von der Industrialisierung der Provinz oft wenig wissen. Er sagt einfach: ich will keine Sozialdemokraten sehen! Er will für sich bleiben, vergißt aber dabei, was es für seinen Absatz bedeutet, die Käufer vor der Tür zu haben. Die Landleute industrialisierter Gebiete sind mit ihrer Kundschaft zufrieden, sobald diese gute Löhne verdient. Die Industrialisierung des flachen Landes sollte zur allgemeinen Parole gemacht werden.

 

Versuchen wir festzustellen, worauf sich die großen arbeitslosen Einnahmen etwa eines Berliner Bodenbesitzers gründen. Er besitzt ein Grundstück, das als Ackerboden minderwertig ist und durch alle vergangenen Jahrhunderte hindurch nur wenigen Menschen Nahrung bot. Der Wert dieses Grundstückes hat sich erst von da an gehoben, als die Großstadt zu ihm hinausrückte. Was hat der Besitzer dafür getan, daß die Stadt wächst? Dieses Wachsen ist ein geschichtlicher Vorgang, der weit über seine kleinen Privatinteressen hinausgeht. Vielleicht war er stets bei der Partei derer, die dem Wachstum Hemmnisse bereiteten. Auch das ändert nichts an seinem Gewinn. Die Verlegung des politischen Schwergewichts vom deutschen Süden nach dem Norden, der Sieg des preußischen Heeres, die Verbesserung der Verkehrsmittel, der Zusammenfluß von Menschen und Geld sind für ihn dagewesen. Er gewinnt von der Abwanderung aus den östlichen Provinzen, von der Hoffnungslosigkeit der Tagelöhner, von den Fortschritten der Hygiene, er ist ein Glückskind der neuen Wirtschaft. Alles scheint sich ihm in Gold zu verwandeln, und er selber wird nobel, ohne daß er es merkt.

 

Das Land der Masse! So tönt es, wenn wir die Klage der städtischen Mieter wie dumpfes tausendfältiges Rauschen vernehmen. Gehört nicht das Land dem Volke? Ist es nicht altes germanisches Rechtsbewußtsein, die Gesamtheit als Herrin des Bodens zu betrachten? Sind Eigentumsrechte an Grund und Boden dazu da, um Millionen von Menschen heimatlos zu machen, und um durch das Anwachsen der Menge eine Minderzahl mühelos zu bereichern? Was sollte denn das Eigentumsrecht an Grund und Boden ursprünglich sein? Ein Schutz der Arbeit vor fremdem Eingriff. Heute wird es zum Anrecht auf einen Anteil an fremder Arbeit. Das trifft ja oft auch sonst beim Eigentumsrecht zu, wird aber auf diesem Gebiet am unmittelbarsten empfunden. So juristisch fest das Eigentumsrecht an Grund und Boden formuliert ist, so sicher ist, daß das öffentliche Bewußtsein, das Gewissen des Volkes, dieses Recht nicht mehr versteht. Man sieht den Zweck nicht ein, weshalb die städtischen Bodenwerte heute beliebigen Einzelpersonen zugute kommen, und die große Reform, die dunkel in dem Nebel der zukünftigen Dinge liegt, heißt Ablösung dieses moralisch nicht mehr haltbaren Rechtes.

So leicht es aber ist, das neue Rechtsbewußtsein gegenüber dem alten Bodenrechte auszusprechen, so unendlich schwer ist es, den geordneten Weg zur Überleitung in bessere Rechtsverhältnisse zu finden. Man muß dabei sich gegenwärtig halten, wie überhaupt neue Rechte zu entstehen pflegen. Sie kommen nicht aus einer bloßen Theorie heraus. Deshalb, weil etwas theoretisch richtiger ist, geschieht es noch lange nicht. Wieviel müßte sonst in der Welt schon geschehen sein! Neues Recht ist gewöhnlich nur Formulierung eines neuen Zustandes, der sich unter der Decke des alten Rechtes sein Dasein erzwungen hat. Wo aber ist bis heute der neue Zustand im Wohnungswesen? Alle unsere Baugenossenschaften sind bis jetzt noch junge Kinder mit geringen Kräften. Erst wenn sie wachsen, werden sie ihre Rechte schaffen. Alle öffentliche Bautätigkeit ist nur ein Anfang. Das Erbbaurecht ist ein Versuch. Die Zusammenfassung der Mieter als gemeinsame Wirtschaftskraft ist kaum irgendwo erfolgreich zu spüren. Die Organisation des Proletariats versagt bis jetzt gegenüber dem Wohnungsproblem. Man klagt und zahlt! Die Idee »das Land dem Volke« hat ihre Form noch nicht gefunden. Nur auf dem Wege der Besteuerung versucht man da und dort der wachsenden Rente einen Teil ihres mühelosen Gewinnes zu entwinden. Diese Lage ist peinlich für jeden, der die Wohnungsfrage in ihrem ganzen Umfange begriffen hat. Aber ist es nicht schon ein Vorteil, daß wenigstens die Zahl derer, die sie begreifen, im Zunehmen ist?

* * *

Bei Freund und Gegner wird eine Grundfrage der Frauenbewegung oft falsch aufgefaßt, indem man so tut, als wäre das Eintreten der Frauen in die Politik etwas Neues. Neu ist nämlich nicht die Sache selbst, sondern nur ihre gegenwärtige Erscheinungsform: der Kampf um das Wahlrecht. Auch die Männer wählen ja erst seit kurzer Zeit, vorher war ihre Lage genau wie jetzt die der Frauen. Ohne Männer und Frauen könnte der Staat niemals bestehen, und deshalb waren sie auch vor den Wahlrechten schon immer tatsächlich Mitregenten. Der Fortschritt der Neuzeit liegt nur darin, daß für dieses uralte sachliche Verhältnis die parlamentarische Form gefunden wurde, und zwar zuerst für die Männer. Was die Frauen verlangen, ist in Wirklichkeit kein neuer Zustand, sondern nur ein neuer Ausdruck für gutes altes, ungeschriebenes Recht.

Wer sich die alten vorrevolutionären Staats- und Gesellschaftszustände vergegenwärtigt, wird sich leicht von selber vorstellen, daß in ihnen die Frau keine kleine Rolle gespielt hat. Je weniger nämlich das geschriebene Recht waltet, desto selbstverständlicher ist die Mitwirkung beider Geschlechter an der Staatsmeinung. Daß die Fürsten selbst von Frauen oft ebensosehr geleitet wurden, wie von ihren Kabinettsministern, ist in allen Geschichtsbüchern zu lesen. Aber fast wichtiger noch ist in der Zeit des Beamtenstaates die durchschnittliche Beamtenfrau gewesen, die geborene Vermittlerin zwischen Volk und Staat, zwischen Menschlichkeit und Vorschrift. Und wenn es irgendwo zu Aufständen und Unruhen kam, da war in Paris, ebenso wie bei den schlesischen Weberrevolten, die Frau dabei, und zwar nicht nur im Hintergrund. Es gibt keine große Volksstimmung, weder im guten noch im bösen Sinne, ohne Frauen, weil es überhaupt kein Leben ohne sie gibt. Ohne die Frau gibt es keine Kinder, keine Schulen, keine Soldaten, keine Priester, keine Feldarbeit, keine Viehzucht, keine Kleider, kein Mittagessen und keine Meinung über alle diese Dinge, denn wer mitarbeitet, redet mit. Man mag diesen Einfluß der Frau indirekt nennen, so war er in den vorparlamentarischen Zeiten sicherlich im ganzen nicht viel geringer als der der Männer. Daß nicht jede Frau viel bedeutet hat, ist klar, aber das lag bei den Männern nicht anders, denn auch die Verlesung des bekannten Bibelwortes bei der Trauung war noch nie ein Hindernis für die Frauen, ihren Kopf durchzusetzen, wenn sie einen hatten. So wenigstens lagen die Dinge nördlich der Alpen, bei Engländern, Skandinaviern, Deutschen und Nordfranzosen. Das, was die Männer voraus hatten, war die biblisch und römisch-rechtlich begründete Führung des öffentlichen Wortes. Und dieser Vorzug wuchs dadurch, daß Wahlrechte entstanden. Der Mann wurde Redner, Wähler, Abgeordneter, Schriftsteller. Die geschriebenen politischen Rechte wurden Männervorrechte.

Es liegt nun aber seit der Einrichtung des parlamentarischen Betriebes nicht etwa so, als ob jetzt die Frauen gar nichts mehr zu sagen hätten. Eine so weitgehende Ausschaltung der einen Hälfte des Volkes ist sachlich überhaupt nicht durchführbar und sollte auch in der Frauenagitation gar nicht als vorhanden hingestellt werden, denn wenn in der Tat die Frau heute völlig ausgeschaltet wäre, so könnte man nur schwer glauben, daß sie morgen durch bloße Änderung von Gesetzesparagraphen zur politischen Größe erhoben werden sollte, weil Gesetze doch nur dann wirkungsvoll sind, wenn sie das aussprechen, was schon tatsächlich vor der Tür steht. Die Frau besitzt noch heute alle ihre ewigen und unveräußerlichen ungeschriebenen Rechte, und sie verlangt nichts anderes, als daß in einem Zeitalter, wo alle alten Rechte in Paragraphen gebracht werden, auch ihr Recht so formuliert wird, wie es der Zeitsitte entspricht. Dazu gehört allerdings die grundsätzliche Überwindung des biblischen und römischen Verbotes der urkundlichen Rede. Nur um diese Änderung handelt es sich, nicht um eine Neueinführung der Frau in den Staat.

Und wann ist denn der rechte Zeitpunkt für die notwendige Neuformulierung des alten Rechtes der Frau? Ist er jetzt in England vorhanden, wird er nächstens für Deutschland dasein? Das ist nie theoretisch zu beantworten. Der Zeitpunkt für neue Rechtsformulierungen ist, wie wir schon vorhin sagten, dann immer da, wenn die neuen Rechte tatsächlich bereits vor der Tür stehen. Das heißt in diesem Falle: wenn es für jeden Sehenden offenbar ist, daß in der Praxis von den Frauen Politik gemacht wird, und zwar nicht nur von vereinzelten, sondern von vielen: dann ist die Verleihung geschriebener Rechte ein letzter Vollzug dessen, was schon eingetreten ist. Es steht also das neue Recht nicht am Anfang, sondern in der Mitte einer Entwicklung, und es ist bedenklich, die Entscheidungsschlacht zu beginnen, ehe die Mobilmachung fertig ist.

 

Statistik und Leben bezeugen es gleichmäßig, daß in allen Teilen des Volkes eine Umschiebung in der Lage und Seelenstimmung der Frau vor sich geht, die noch weit größer ist als das, was man gewöhnlich mit dem Wort Frauenbewegung bezeichnet. Auch in den konservativsten Familien sind die Töchter von heute nicht mehr dasselbe, was vor 30 Jahren ihre Mütter waren. Sicherlich ist im letzten Menschenalter die Veränderung im Wesen der Frau eine viel größere als die bei den Männern. Dabei denken wir gar nicht an besonders theatralische Vorkämpferinnen einer neuen Moral und einer neuen Kleidung. Die mögen ihren Weg für sich gehen – das ist mehr Frauensport als Frauenbewegung! Wir reden vom guten Durchschnitt in allen Ständen, und von ihm sagen wir, daß die Töchter freier geworden sind als die Mütter sein konnten. Diese Umänderung kommt mit Naturgewalt und hängt mit der Änderung der Arbeitsverfassung zusammen: alle Arbeit wird in Geld ausgedrückt, auch die Frauenarbeit. Noch ist es nicht so weit, daß die Tätigkeit der Hausfrau und Mutter finanziell abgeschätzt und gegen freie Station und gute Behandlung in Anrechnung gebracht wird, aber selbst dieser Gedanke liegt heute nicht mehr so fern wie früher, denn das junge Mädchen, das bis zur Eheschließung selber etwas verdient hat, weiß, daß ihre Tagesarbeit einen gewissen Marktwert besitzt. Sie rechnet mit sich als mit einer Kraft, die nicht aus Wohlwollen allein angewiesen ist. Darum ist auch die Frauenbewegung keineswegs mehr nur eine Angelegenheit der Ehelosen, sondern dringt in alle Frauenverhältnisse hinein.

Wenn es richtig erscheint, daß die Vermehrung der Bevölkerung der Ausgangspunkt der neuen Volkswirtschaft ist, so ist gleichzeitig von selbst klar, daß die Frau als Mutter als erste Bringerin der Neuzeit zu gelten hat. Alle andere Frauenarbeit tritt vor der Arbeit der Mutterschaft zurück. Welch bedeutsame Tatsache, daß in einem Jahre zwei Millionen Kinder geboren werden! Mitten in der volkswirtschaftlichen Erörterung möchte man an dieser Stelle eine Pause machen, um ein Lob der Mutterschaft zu singen. Die Männer erfinden Werkzeuge, die Frauen aber bringen Menschen zur Welt; die Männer schmieden Waffen, in den Armen der Mütter aber entstehen die Soldaten; die Männer regieren, die Frauen aber tun zur Größe der Nation das größte, denn nur die Völker mit leistungsfähigen Müttern setzen sich durch. Die Mütter sind das erobernde Element. Wird in einem Volke die Mutterschaft schwach, so nützt alle übrige Kultur nichts mehr, das Sinken der Mutter ist der Niedergang an sich, der Sturz ins Greisenalter der Völker. Die Jugendlichkeit der Nation hängt daran, daß ihre Töchter gern Mütter werden wollen. Jedes Mädchen, das dieses will, ist ein volkswirtschaftlicher Wertgegenstand.

 

Die alte Zeit war weniger geldwirtschaftlich. Man arbeitete und lebte zusammen. In dieser alten Zeit brauchte die Mutterschaft nicht berechnet zu werden, denn sie bedeutete keinen direkten Verlust für die Lebensmöglichkeit der Mutter. Jetzt bedeutet Mutterschaft Geldverlust, das heißt: die Frau hört in dem Maße auf zu verdienen, als sie Mutter ist. Die gewöhnliche Arbeit der Frau im Handel oder in der Industrie wird bezahlt, auch wenn sie volkswirtschaftlich von nur geringem Werte ist, die höhere Mutterarbeit aber macht sich nicht bezahlt, ja um sie leisten zu können, muß die Frau Opfer bringen. Die Frau als Individuum geht viel leichter durch die kapitalistische Welt, wenn sie nicht Mutter wird. Sie arbeitet dann nicht Menschen, sondern nur Ware, und verkauft Hände, da ihr niemand für Kinder etwas gibt.

 

Nicht nur die Arbeit der Mutterschaft, sondern alle weibliche Arbeit überhaupt steht in der neuen Zeit relativ schwerer da als früher. Die frühere Kultur beruhte viel mehr auf Frauenarbeit als die heutige. Das war nicht in jeder Hinsicht ein Vorzug, denn die Möglichkeit, daß der Mann den Herrn spielte und die Frau den Acker bestellen ließ, war in allen alten Kulturen vorhanden. Das äußerste, was in dieser Hinsicht möglich ist, zeigen gewisse Negervölker, wo die Frau als solche Sklavin und Arbeitstier ist. Auch in Deutschland gab es genug Barbarenrecht des Mannes gegenüber der Frau, diese wußte sich jedoch immerhin im großen und ganzen als Bäuerin und Meisterin in der alten deutschen Welt ihren Platz zu sichern. Das wesentlichste war natürlich ihre Stellung innerhalb der Landwirtschaft, da ja 75 % des alten Volkes landwirtschaftlich waren. Die Stellung der Frau in der älteren deutschen Landwirtschaft gehört zu den besten Positionen, die sich die Frau in irgendwelchen Kulturformen errungen hat. Auch da, wo sie erbrechtlich benachteiligt und kirchlich ihrem Manne unterworfen war, fand sich in der Wirklichkeit des Lebens eine gewisse Selbständigkeit der Bauersfrau ein, die gar nicht selten in bäuerliche Mutterherrschaft überging. Die alte Bäuerin war und ist noch häufig ein Faktor, dem sich alles andere unterordnet. Wirtschaftlich beruht diese ihre Vorzugsstellung darauf, daß die Wirtschaft alten Stils ohne sie gar nicht getrieben werden kann, da es ein fester Bestandteil der alten deutschen Sitte wurde, daß die Kuh zur Frau gehört, und daß die Kuh das Haupttier des alten Betriebes ist. In der Milchwirtschaft hatte die Frau ein Gebiet, in dessen Finanzen auch bei beginnender Geldwirtschaft die Männer nicht hineinzugreifen vermochten. Erst die moderne Molkereigenossenschaft entzieht der Frau den Rückhalt der Milchkasse, ein Verlust, der durch alle Vorteile des Molkereisystems nur schwer gutgemacht werden kann, da er die Frau um eine Stufe tiefer in die Abhängigkeit vom Manne hinabsteigen läßt. Immerhin bleibt in der Landwirtschaft auch heute überall dort, wo Viehzucht getrieben wird, die Frau in relativ gesicherter Höhe, denn die Kinderstube der Tiere erfordert im allgemeinen weibliche Hände. Auch die Garten- und Hackfruchtkultur ist günstig für weibliche Kräfte. Selbst in der Unterschicht der ländlichen Bevölkerung gelingt es dort, wo noch irgendwelcher eigener Wirtschaftsbetrieb vorhanden ist, der Frau verhältnismäßig leicht, sich selbst durchs Leben zu bringen. Sie steht in dieser Schicht sehr tief, weil die Schicht selbst tief ist, aber sie steht nicht in reiner Abhängigkeit vom Mann. Und fast überall hat es die Landwirtschaft alter Art ziemlich gut fertig gebracht, Frauenarbeit und Mutterschaft zu vereinen. Es waren Drang- und Mühezeiten für die Frauen, wenn sie kleine Kinder hatten, aber das System als ganzes hat doch innerhalb gewisser Grenzen sich gut bewährt: die Arbeit war elastisch genug, die Fruchtbarkeit nicht zu hindern. Ähnliches gilt vom alten Betrieb des Handwerks und auch des lokalen Handels. Beide waren ohne Frau undurchführbar, da beide eine Zusammenfassung von Familie und Arbeit darstellten in der die Frau mindestens so nötig war wie der Mann. Als noch alle Arbeitskräfte zur Familie gehörten, konnte die Arbeit oft leichter von einer Frau ohne Mann als von einem Mann ohne Frau fortgeführt werden.

Die Familie, in und von der gearbeitet wird, ist es, die durch die neuere Zeit verdrängt wird, denn die Vergrößerung der Betriebe hat zur Folge, daß Familie und Produktion sich trennen. Das Handwerk tritt aus der Familie heraus und wird Fabrik, Werkstätte. Der Geselle tritt aus der Familie heraus und wird Arbeiter, der nur während der Arbeitsstunden mit dem Arbeitsleiter in Beziehung steht. Selbst der Lehrling erscheint nur für die Arbeitszeit. Die Männer gehen »auf Arbeit«. Damit entleert sich der alte Begriff der Familie, und es entsteht die neue Familienform, die es in den alten Zeiten nur vereinzelt gab, die Wohnstätte, die nur für Konsumtion und Kindererziehung in Betracht kommt, aber nicht für Produktion. Diese neue verkleinerte Familie wird nun der Lebensbereich der Frau, welche dadurch von einer mitschaffenden zu einer verwaltenden Kraft herabgedrückt wird. Dort, wo viel zu verwalten ist, wird das weniger empfunden, denn die Leitung einer wohlhabenden Haushaltung bietet der Frau auch dann noch Spielraum genug, wenn sie ihren Mann in ein Geschäft gehen sieht, an dem sie keinen Anteil mehr hat; aber im kleineren Lebensgebiet, wo die Wohnung eng und der Konsum gering ist, da wird jetzt die Frau zur verkümmernden Pflanze. Und zwar wird sie das um so mehr, je geringer das Quantum von Tätigkeiten wird, das sich für Familienbetrieb eignet. Die Zahl der Hausarbeiten nimmt immer mehr ab. Das Schlachten und Backen geschieht kaum noch auf dem Lande in der Familie, das Waschen vermindert sich bei verringerten Räumen, die Hausschneiderei weicht der Billigkeit der Konfektion, das Besorgen der Lampen wird durch Gas überflüssig, die Heizungsvorrichtungen vereinfachen sich, alles kann gekauft werden, und wer nicht kochen will, kauft Essen in der Gastwirtschaft. Was bleibt schließlich noch übrig, wenn das Haus das Reich der Frau sein soll? Muß es nicht wie Verzweiflung über sie kommen, wenn sie sich mit der alten Familie zurückgehen sieht? Man sagt ihr, sie solle sich an der Erziehung ihrer Kinder genügen lassen. Aber wie kann jemand erziehen, der nichts erlebt? Die Erziehung der vier Wände, in denen Woche für Woche ein Weib sitzt, das nur davon lebt, daß der Mann Geld in ihre Hände legt, ist in Wirklichkeit keine Erziehung, die auch nur entfernt das bieten könnte, was die oft hausbackene und nicht von des Gedankens Blässe angekränkelte Erziehung der alten Bäuerin und Meisterin leistete, auch wenn die Frau in den vier Wänden mehr gelernt hat als ihre Ahnfrau. Und was sollen all die unverheirateten Frauen tun? Für sie ist schlechterdings in der verkleinerten Familie kein Platz. Einst konnten Tanten, Muhmen, Basen überall gebraucht werden, und alle alten Familiengeschichten reden von ihnen; jetzt aber kann der kleine Mann in der Stadt beim besten Willen nichts mit ihnen anfangen. Wo soll die Frau bleiben, die noch nicht Mutter ist, oder die niemals Mutter wird, oder die ihre Kinder zeitig großgezogen hat? Ihr Suchen nach Produktion und Verdienst ist der Teil der Frauenfrage, der am offensten vor allen Augen liegt.

Die Frau muß auch auf Arbeit gehen! Alle moralischen Einwendungen sind bei heutigen Verhältnissen nichts als Geplapper. Das Weib ohne Rente, das heute nicht auf Arbeit geht, ist moralisch viel gefährdeter als die Arbeiterin. Die Würde der Frau im modernen Leben liegt sogar eben darin, daß sie sich ihren Lebensbedarf nicht schenken lassen und nicht mit Leistungen erkaufen will, die ihrer Natur nach nicht käuflich sein sollen. Ehre jedem Mädchen, das etwas lernen will, um sich nicht verkaufen zu müssen! Sittlich liegt die Sache sehr klar, aber volkswirtschaftlich leider desto unklarer.

Der Mittelpunkt der Schwierigkeiten ist die beständige Vermehrung von wichtigen Arbeiten, für die sich die Frau aus natürlichen Gründen nicht eignet. Jede Arbeit, die maschinell betrieben wird, gleitet damit mehr oder weniger aus den weiblichen Händen heraus, denn sowohl der Bau der Maschine wie auch ihre Bedienung ist ebenso wie Transport und Kohlenbeschaffung männlich. Was für die Frau im allgemeinen übrig bleibt, sind Handgriffe, die die Maschine nicht machen kann oder will. Die Zahl dieser Handgriffe ist sehr groß; deshalb wächst die weibliche Ziffer, aber die gewerbliche Arbeit selber in ihrem Kern ist heute so männlich wie jemals. Man gehe nur in die Fabriken! Ich habe ein gutes Teil in den verschiedensten Arbeitszweigen gesehen, kenne die langen Säle voll weiblicher Arbeit, weiß, daß alles Zurichten, putzen, Einpacken, Sortieren, Anheften, Löten, Stanzen, Anmalen ohne Frauen gar nicht gemacht werden kann, will nur davor warnen, daß man aus bloßer Statistik über die Stellung der Frau im Gewerbe sich falschen Meinungen hingibt. Sie dient und hilft, aber sie leitet nicht. Daran ändert es auch wenig, wenn die Zahl der »selbständigen« sich sehr vermehrt.

Im ganzen sind es die armen Industrien, die der Frau die Türen aufgemacht haben, teilweise Industrien, deren Aufrechterhaltung in der Konkurrenz des Weltmarktes sehr schwer sein wird. Die großen, entscheidenden Industrien sind fast frauenlos. Um nur die größten zu nennen: das Baufach in allen seinen Teilen, der Bergbau, die Metallindustrie, die chemische Industrie, der Eisenbahnbetrieb, die Holzverarbeitung. Diejenigen Arbeitszweige, in denen die Neuzeit am lebhaftesten pulsiert, die in der Volkswirtschaft unserer Tage das eigentlich Neue sind, stellen der Frau fast unübersteigliche Hindernisse in den Weg. Und gerade diese Industrien müssen wir pflegen, von der Eisenindustrie hängt, wie wir täglich sehen, aller andere Fortschritt ab. Es ist ein Unglück, mit dem die Frauen sich abfinden müssen, daß die neue Kulturperiode ihnen in so hohem Grade das Leben schwer macht. Aber nicht nur die Frauen müssen sich damit abfinden, sondern wir alle ohne Ausnahme müssen die Lage der Frau in ihrer ganzen, nie vorher vorhandenen Schwere kennen lernen, um bereit zu sein, zu helfen.

Das was die Frau mitbringt, ist die Kleinheit der Finger, der Geschmack für das Zierliche und Nette, die anerzogene Geduld, Ordnungsliebe und Bedürfnislosigkeit. Mögen einige dieser Eigenschaften auch nur durch die Not herangebildet worden sein, so sind sie doch jetzt da und bilden Waffen der Frau im Kampfe ums Dasein. Im neuen Wirtschaftsvolke ist die konkurrierende, billige und geschickte Frau der gewerblichen Berufe und die Verkäuferin der neueste Bestandteil. Viele weibliche Kräfte, die bei Handwerksberufen mitgezählt sind, sind in Wirklichkeit auch Verkäuferinnen. Textilbranche und Handel öffnen sich dem Weibe. Es ist kleinlich, wenn die Männer bei der oben dargelegten Schwierigkeit der Frauenberufsfrage auch hier noch den Frauen Nöte machen wollen. Überhaupt soll man ihnen alle Arbeitszweige, die sich gesundheitlich für Frauen eignen, aufmachen, damit sie selber prüfen, ob sie in ihnen sich ein Leben schaffen können! Seid liberal gegen die Frau, denn wir alle brauchen, daß sie nicht von der Eisenzeit und Geldzeit zur käuflichen Ware oder zum Luxusspielzeug herabgedrückt wird! Es ist die Seele des Volkes und der Nachwuchs des Deutschtums, der in dieser Frage auf dem Spiele steht.

Die Doppelaufgabe heißt also: erstens müssen inmitten der modernen Kultur hinreichend breite Arbeitsgebiete für die Frau hergestellt werden, und zweitens muß die Arbeit in diesen Gebieten so angelegt werden, daß die Mutterschaft sich mit der Arbeit verträgt. Es darf nicht heißen: entweder Arbeit oder Mutter, denn so einleuchtend dieses »entweder – oder« für eine gemütvolle Betrachtung sein mag, so tötet es auf die Dauer die Mutterschaft. Der Zug zur Berufsarbeit ist groß und wachsend unter allen unseren jungen Mädchen. Wer von diesem Zuge nicht ergriffen wird, taugt im allgemeinen weniger, als wer ihn stark empfindet. Das bessere, charaktervollere Weib muß bei heutiger Sachlage Selbstverdienerin werden wollen, solange sie noch jung ist und ihres Lebens Plan zu machen beginnt. Soll nun für sie die Aufforderung zur Ehe unter allen Umständen die Aufgabe der erlernten Arbeit und gewonnenen finanziellen Selbständigkeit bedeuten, so wird in vielen Fällen die Aufforderung ablehnend beschieden werden. Ein Mädchen, das für sich etwas in der Welt geworden ist, hat nicht die einfache Naivität der ungelernten Tochter, die unter allen Umständen einen Versorger braucht. Soll gerade die straffe, tüchtige, berufliche Tochter sich von der Mutterschaft ausschließen? Das wäre ein Unglück für sie und das Volk! Es gilt also die Arbeitsverhältnisse der Frauen elastisch zu machen, so daß Heirat und Arbeit sich auch in der neuen Kultur vertragen, wie sie sich in der älteren Kultur vertragen haben. Ein Beispiel dafür ist der Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland hinsichtlich der Lehrerin. In Frankreich darf die Lehrerin verheiratet sein, bei uns nicht. Ohne Zweifel ist es eine große Anforderung an Umgewöhnung unserer Sitten, was in den letzten Sätzen gefordert wird, aber man überlege das Problem selbst, um sich zu fragen, ob nicht doch die einzige dauerhafte Losung der Frau lauten muß: Arbeit und Mutterschaft.

Arbeit und Mutterschaft! Mit diesem schweren Doppelideal allein ist die Zukunft der Frau gesichert, und zwar deshalb, weil nur so die Frau körperlich und sittlich gesund bleibt (oder wird), und weil nur so das Volk im ganzen weiterbestehen kann. Gelingt es nicht, dieses Doppelideal zu verwirklichen, so teilt sich die Frauenwelt in zwei Hälften, nämlich in

mutterschaftslose Arbeiterinnen und
berufslose Mütter.

Die mutterschaftslose Arbeiterin ist aber in sich selbst ein halbes Wesen, mag sie sinnlichen Lebensgenuß ohne Mutterschaft sich versagen oder gestatten. Sie ist in beiden Fällen viel schlechter daran als der Mann, der nicht Vater ist. Auch als Arbeitskraft ist sie teilweis entwertet durch die seelische Unbefriedigtheit ihrer Zwangslage. Und andererseits ist die berufslose Mutter eine Wunde am Volkskörper, da sie, wie schon gesagt, an Charakter zurückgehen muß und außerhalb der Jahre der Kinderpflege sich als zwecklosen Bestandteil der Gesellschaft empfindet, selbst wenn sie mit Kochen und Möbelputzen und Pflege des Mannes ihre Zeit auszufüllen lernt. Das richtige Gefühl, daß ihre Arbeiten nicht groß genug für ein ganzes Menschenleben und vielfach technisch rückständige Arbeiten sind, liegt wie Blei auf ihrer suchenden Seele. Weshalb haben wir so viele Puppen unter unseren Frauen? Weil sie ihr Dasein mit Puppenarbeit hinbringen! Sie erhalten die häusliche Kleinwirtschaft aus Lebensangst. Sie flehen, daß das Zeitalter der Maschine ihnen ihre Arbeit nicht noch mehr erleichtern soll. Denn wozu, wozu würden sie dann auf der Welt sein?

Das Problem selber ist also deutlich. Aber das ist leider auch fast alles heute. Sobald man sich in seine Wirrnisse vertieft, muß man Gefühle und Organisationen verletzen, die durch Jahrhunderte geheiligt sind. Die ganze bisherige Rechtsform der Ehe beruht auf der Voraussetzung, daß die Frau Arbeitskraft im Betriebe des Mannes ist. Diese Voraussetzung trifft in der Landwirtschaft noch meist zu und ist in vielen anderen Berufen herstellbar. Sie ist und bleibt die natürlichste Form der Vereinigung von Arbeit und Mutterschaft, die gegebene Normalform. Alle diese Fälle, in denen Mann und Frau in demselben Produktionsverband stehen, machen keine neuen Schwierigkeiten. Anders aber steht es, wo beide auf verschiedene Arbeit gehen. Und dieser Fall wird leider der Musterfall in der Zukunft des gewerblichen Volkes, da die kleinen häuslichen Privatbetriebe an Bedeutung verlieren. Schon heute ist dieser Fall in allen Textilgegenden zahlreich vertreten. Dort entsteht am ersten die neue Form des Frauenlebens. Die wichtigsten Entscheidungen der Frauentage liegen dort, wo

der Umfang der Hausarbeit am meisten verkleinert ist,
die weibliche Erwerbskraft am meisten eingebürgert ist.

Dort entsteht in Not und Drang die Gestaltung, die sich dann mit der weiteren Ausdehnung dieser Vorbedingungen möglicherweise weiterverbreitet.

Wir wissen wohl, daß es der herkömmlichen Betrachtungsart der Frauenbewegung, soweit sie bürgerlichen Charakters ist, durchaus widerspricht, die Textilarbeiterin als die eigentliche Musterform der modernen weiblichen Entwicklung anzusehen. Nichtsdestoweniger müssen wir an dieser Auffassung festhalten, denn alle neuen Organisationsformen des Lebens entstehen dort, wo die neue Not am dringendsten ist. Nicht als ob die ganze Zukunft aus den Tiefen heraufstiege! Die Gedankenarbeit wird oben getan, aber das Material selbst zur Umgestaltung der Gedanken, das Rohmaterial der Kulturumgestaltungen, ist dort zu finden, wo das alte System am meisten in die Brüche geht.

 

Die Stellung des Mannes zur Familie ist von da an, wo die Familie mit dem Arbeitsbetrieb nichts mehr zu tun hat, und wo die Frau sowieso als Verdienerin in Betracht kommt, eine lockere. Wenn in ihm die Moral des früheren Zustandes nicht stark nachwirkt, so fängt er an, von der »Familie seiner Frau« zu reden, für die er Geld geben muß, weil er der Vater ist. Er tritt zur Frau in ein formulierbares Verhältnis von Leistung und Gegenleistung, sobald der Begriff der gemeinsamen Einheitswirtschaft sich aufzulösen beginnt. Der Umkreis ihrer gemeinsamen Tätigkeiten verkleinert sich. Diese Veränderung kann durch keine Schärfung der Familienpredigt, so nötig und unentbehrlich sie ist, aus der Welt geschafft werden. Von da aus aber verändert sich auch die Stellung der unverheirateten Mutter. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sie den geschichtlich gewordenen, in der Vergangenheit tief verankerten Sittengesetzen nicht genügt, aber das Urteil über sie verschiebt sich in dem Maße, als es sich um selbsterwerbende Frauen handelt, die die Verantwortung für die Versorgung von Kindern für sich übernehmen können. Ein starker Grund der alten rechtlichen Unterordnung der Frau unter den Mann fällt damit weg. In solchen Fällen braucht die uneheliche Entstehung des Kindes keine Übereilungssünde zu sein. Die Frau sucht nach einem Wege, um freie selbständige Arbeit mit Mutterschaft zu vereinigen. Sie will auf dem Arbeitsmarkt ihr eigener Herr bleiben. Wie sie dann ihre doppelte Belastung trägt, ist ihre eigene Sache, oft wird sie und das Kind dabei zerbrechen. Es ist aber schon ein Fortschritt, daß die Krankenkasse diesen Zustand ihrerseits anerkennt. Man muß dieses alles vor Augen haben, wenn man die Folgen der Trennung von Familie und Arbeit recht verstehen soll. Wer diese Folgen rücksichtslos und grundsätzlich ablehnen will, muß letztlich die erwerbende Frau ablehnen.

 

Die Frauen mit besserer geschichtlicher und moralischer Erziehung werden sich trotz der Größe ihrer Lasten nicht davon abbringen lassen, daß die lebenslängliche Einehe die endgültig beste Form der Gemeinschaft von Mann und Weib ist. Es fragt sich nur, inwieweit diese beste Form sich mit der neuen Wirtschaftslage der Frau verträgt, hier kann nur die opferwillige Praxis selbst zur Bildnerin von Recht und Sitte werden. Was wir hier inmitten volkswirtschaftlicher Untersuchungen nur zu fordern haben, ist, daß man nicht durch eine allzufertige Moral die Unmoral, das ist die Unfruchtbarkeit des Volkes, fördert. Das andere aber ist, daß wir an alle Arbeitgeber, die weibliche Kräfte beschäftigen, die dringende, aus ernster Zukunftssorge herausgeborene Bitte richten, es der verheirateten Frau zu erleichtern, erwerbend zu bleiben. Es ist das nicht leicht, denn alle Mutterschaft bedeutet Arbeitsstörung. Es gehört viel guter Wille und Klugheit dazu, der Frau im Arbeitsprozeß ihre richtige Stelle zu geben, in der sie nützliche Kraft, Charakter und Mutter zugleich sein und bleiben kann. Es ist aber eine der allerwichtigsten Fragen, die wir überhaupt vor uns haben. Ihre Vernachlässigung wird unser Volk frühzeitig alt machen. Erst dann werden wir alle unsere Töchter mit gutem Gewissen den Weg der Berufsbildung gehen lassen können, wenn wir wenigstens soviel wissen, daß dieses nicht der Weg zum Ende des Volkstums sein muß.

 

Wir müssen die sozialen Motive stärken, indem wir die Last der Kindererziehung wieder mehr zur Sache der Gemeinschaft machen. Wir sagen nicht die Kindererziehung selbst, sondern ihre volkswirtschaftliche Last, heute werden die Hersteller der Menschen von allen Seiten belastet, als sei es nötig, ihnen ihr Werk besonders zu erschweren. Weder der Vater noch die Mutter nehmen deshalb mehr ein, weil sie Kinder liefern. Man sagt ihnen: Ihr habt dafür das Vergnügen an den Kindern! Ganz abgesehen davon, daß dieses Vergnügen oft recht starken Trübungen unterworfen sein kann, so ist die Rechnung, daß der menschliche Drang, sich an Kindern zu erfreuen, ein so gewaltiger sei, daß er alle Hemmnisse spielend überwinde, keine allzu sichere. Jedes neue Kind verengt zunächst den Raum, vermehrt den Bedarf und verkürzt die Unabhängigkeit der Eltern. Wer Kinder hat, zahlt mehr Miete, zahlt Schulausgaben, verausgabt seine Kraft für die nächste Generation. Die Aufhebung des Schulgeldes ist nur allererster Schritt zur Anerkennung, daß es eine öffentliche Leistung ist, Kinder zu erziehen. In dem Maße, in dem die Natur und die starke Gattungsmoral der Vorzeit schlaffer werden, werden wir weitere derartige Schritte tun müssen, wenn wir als Volk nicht zurückgehen wollen.

 

Die Herstellung der neuen Menschen ist gemeinsame Aufgabe beider Geschlechter, und wenn die Frau mehr physische Leistungen zu übernehmen hat, so gehört es sich, daß der Mann wirtschaftlich für sie eintritt: das ist die heutige Auffassung unserer Moral, und wir sind weit entfernt, von ihr etwas abstreichen zu wollen, möchten sie im Gegenteil stärken, können uns aber doch nicht verhehlen, daß damit die Schwierigkeit nicht völlig beseitigt ist, denn auch für den Mann als Individuum liegt es so, daß er leichter durch die kapitalistische Welt wandert, wenn er sich nicht mit Kindern belastet. Auch ihm gibt niemand etwas dafür, wenn er der Volkswirtschaft als Vater viel größere Dienste leistet als sein Nachbar. Gerade hier am Ausgangspunkt aller menschlichen Wirtschaft versagt die reine Geldwirtschaft. Man behauptet, die Gesellschaft werde durch den wohlgeordneten Eigennutz der Einzelnen zusammengehalten. Das ist vielfach richtig. Aber eine Gesellschaft, die nur durch diesen Eigennutzen bestimmt wird, stirbt aus. Man sagt, jede gesellschaftlich notwendige Leistung mache sich privatwirtschaftlich bezahlt. Auch das ist vielfach richtig. Nur die Neuschaffung macht sich nicht bezahlt, weder die geistige noch die physische, da neue Menschen und Ideen im Augenblick ihrer Herstellung noch keinen Marktwert haben. Je exakter man also den Gedanken des bloß geldwirtschaftlichen Systems durchdenkt, desto mehr enthüllt er sich als ein Gedanke der Unfruchtbarkeit. Er ist ein notwendiger Hilfsgedanke im volkswirtschaftlichen Getriebe, nicht aber das A und O.

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Die Vergangenheit zeigt keinen blendenden einmaligen Sieg des Persönlichkeitsgedankens, aber ein beständiges erfolgreiches Ringen für ihn. Ihn nehmen wir Heutigen aus den Händen der Vorfahren und tragen ihn in unser technisches Zeitalter hinein, so daß unsere Parole heißt: Maschine und Persönlichkeit! Das ist der Gesinnungsinhalt, der hinter aller politischen Betätigung im Urgrunde der Geister auf der linken Seite liegt.

Dieser Gesinnungsuntergrund ist auch bei der Sozialdemokratie vorhanden. Mögen auch die Programmformeln so klingen, als käme auf Persönlichkeitswerte wenig an, und mag auch die Praxis der Partei zeitweise als Druck für Persönlichkeiten empfunden werden, es ist doch sicher, daß die Masse bei ihrem politischen Wollen von einem Persönlichkeitsideale vorwärts gedrängt wird, das der einzelne in sich hat. Der einzelne will menschenwürdig leben! In diesen Begriff »menschenwürdig« legt der Arbeiter seine materiellen wie sittlichen Ansprüche hinein. Er kämpft nicht für eine abstrakte Gesellschaftsordnung, auch nicht für seine arme Einzelperson, die bald ein Opfer gerade der politischen Tätigkeit werden kann, er kämpft für seinen Glauben an die Menschheit, das heißt für sein Ideal der Persönlichkeit, das er in Zukunft verwirklicht wissen möchte.

 

Die Großbetriebsentwicklung ist an sich kein Volksfortschritt, solange sie nicht mit Menschenrechten durchsetzt und gesättigt wird. Zwischen den gigantischen Industriezünften der Neuzeit versinkt die Menschlichkeit, wenn ihr nicht Bewegungsrechte garantiert werden. Wir werden ein Volk von Industriechinesen, wenn wir uns nicht zu vernünftigen Industrieverfassungen hindurcharbeiten. Das ist der Zentralpunkt der Zukunftsaufgaben in der inneren Politik, und hier ist der Liberale an seinem Platze. Der Sozialismus kommt schon von selbst als Regelung der Produktion und als Verbandszwang aller arbeitenden Menschen, aber daß er zum Segen werde, dazu müssen wir die alte Fahne der Menschenwürde im Geiste des alten Liberalismus wieder hochhalten. Die bloße Verkündigung der Großbetriebsentwicklung für sich allein ist heute ohne magnetische Kraft. Wir alle wissen, daß sie kommt, und fühlen ihre Wucht und ihren Druck. Darauf kommt es an, wie sie gestaltet wird.

 

Bis jetzt sind wir gewöhnt, die Sicherung der Menschenrechte des Angestellten und Arbeiters ohne weiteres als zum Tätigkeitsbereich des Staates gehörig zu betrachten, weil wir den Arbeiterschutz in seiner staatsgesetzlichen Form am deutlichsten vor uns sehen; grundsätzlich aber muß festgehalten werden, daß er ein Stück der Industrieverfassung selber ist, und daß der Staat nur dort einzugreifen hat, wo diese sich als unwirksam erweist. Wir brauchen deshalb so viele Staatsgesetze, weil unsere Industrieverfassung so unentwickelt ist. Hätten wir starke Gewerkschaften einerseits und wirksamen Fabrikparlamentarismus andererseits, so würden wir uns viele staatliche Bureaukratie sparen können, denn dann würden diese beiden Faktoren für sich allein in der Lage sein, durch Verhandlung mit Syndikaten, Unternehmerverbänden und Unternehmern dasjenige Maß von Schutz und Bewegungsfreiheit zu sichern, das der Angestellte und Arbeiter braucht, um Mensch sein zu können.

 

Die Frage, was der Betrieb nicht darf, wächst mit jedem Jahre zu immer zentralerer Bedeutung an. Man hat bis jetzt die soziale Frage viel zu einseitig als bloße Frage materieller Versorgung angesehen, sie ist im Großbetrieb einfach die Frage des Menschenrechts ... Wir sehen eine Zukunft mit immer größeren Riesenbetrieben heranrücken. Wird diese Zukunft eine neue Sklaverei sein, ein Ende aller liberalen Träume, eine Hörigkeit der Masse? Oder gibt es eine Form der Mitwirkung der Beamten und Arbeiter an der Leitung, die derartige moderne Versklavung unmöglich macht? Behalten wir Menschenrechte im Industrialismus? Das ist das tiefste Problem der Industrieverfassung.

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Die Seele der Menge ist in einer merkwürdigen Umschiebung begriffen, deren Wesen man vielleicht so bezeichnen kann: bei unveränderter Kleinheit der Privatinteressen vermehren sich die Allgemeininteressen. Es entsteht der Mensch, der von aller Welt etwas weiß und doch nur über sehr geringe Dinge selbst verfügen kann. Dieser Mensch trägt eben damit einen Widerspruch in sich, der in früheren Zeiten bei der Menge des Volkes nicht so vorhanden sein konnte, den Widerspruch der gedachten und der wirklichen Welt. In seiner gedachten Welt steigen Völker, Heere, Rassen, Klassen auf und nieder, und sei es auch nur wie im Nebel sich drängende Schatten, in seiner wirklichen Welt aber gibt es den Geruch aus der Küche des Nachbars und das Gebell der Hunde aus dem Dorfweg wie vor alters. Welchen Wert hat nun für ihn die neue Ausweitung des Wissens? Ist er selbst damit größer und reicher geworden? Sind wir alle reicher geworden, weil wir alle mehr Tagesereignisse und Tagesurteile erfahren als selbst Goethe und Kant erfahren konnten? ... Langsam und unvollkommen nur werden die zwei getrennten Welten ihren Zusammenhang finden können, indem einerseits der Umkreis der verantwortlichen Tätigkeiten sich erweitert und andererseits die Kenntnisse der weiten Welt im Laufe der Jahrzehnte sich vervollständigen. Das zweite geschieht von selbst, sobald nur die Schule guten Unterbau liefert, das erste aber ist das Problem des Seelenlebens der Gegenwart in seiner schärfsten Zuspitzung. Es ist die Frage, ob wir in Zukunft Menschen haben können, deren Privatinteressen nicht eng und kleinlich sind, sondern sich dem erweiterten Weltbilde anpassen. Man versteht, welches Gewicht von diesem Gesichtspunkt aus die demokratischen Bestrebungen im Staate und im Wirtschaftsleben bekommen. Das Ziel der demokratischen Bestrebungen ist, dem einzelnen Anteil an der Leitung größerer Verwaltungskörper zu geben, ihn irgendwie in den Willensvorgang mit einzustellen, durch den die Geschichte gemacht wird. Welche ungeheuren Schwierigkeiten sich diesem demokratischen Streben gegenüber auftürmen, kann hier nicht dargelegt werden. Alles, was wir in Politik und Sozialpolitik arbeiten, ist im Grunde nur Teilarbeit an dieser Riesenaufgabe der Neuzeit, den Einzelnen irgendwie zum Subjekt des Gesamtwillens zu machen. In dem Maße als es gelingt, aus Untertanen Staatsbürger und aus Arbeitssklaven Mitarbeiter zu machen, wird es gelingen, die Welt des Charakters der Welt des Wissens anzupassen und auch in der weltwirtschaftlichen Zukunft einheitliche Menschen zu erzielen. Gelingt es nicht, die Demokratisierung zu fördern, dann ist der Durchschnittsmensch der Zukunft eine arme Seele, die von allem etwas weiß und dabei einen verkümmerten Willen in sich trägt, dessen Rotationsbezirk nicht größer ist als der Lohn und die Wohnung. Unter diesen Umständen verdirbt uns die Weltwirtschaft den Charakter, denn was dann herauskommt, ist der Mensch, der als Privatperson kleinlich bleiben muß und dessen Kopf dabei voll ist von Phantasien, ohne alles Maß der Wirklichkeiten, das aber ist der Mensch, der, wenn es gerade paßt, für sinnlose Revolutionen sich vergeblich opfert. Alle Unterdrückung demokratischer Betätigung im Zeitalter der demokratisierten Weltkenntnis erzieht auf diese Weise eine unübersehbare Gefahr für den Bestand der Kultur überhaupt. Es ist kulturerhaltend, den Willenskreis der Menschen zu erweitern, deren Kenntnisse man nicht einzäunen kann. Vor den Gefahren der ziellosen Phantasie der Masse schützt nichts anderes als die Vergrößerung ihrer praktischen Verantwortlichkeit.

 

Man muß den Gedanken: »der Großbetrieb bedarf des Unterbaues einer Mittätigkeit aller Beteiligten«, zunächst als prinzipiellen Gedanken fassen. Die prinzipiell weitgehendste Formulierung ist die im sozialdemokratischen Programm enthaltene: Vergesellschaftung der Produktionsmittel überhaupt. Die Geschichte pflegt in der Wirklichkeit aber nicht mit den radikalsten Formen anzufangen und pflegt sie auch niemals ganz zu erreichen; weil dann andere Gegenwirkungen wieder eintreten. Aber darin, daß Betriebe, die Tausende, unter Umständen Zehntausende von Menschen beschäftigen, nicht mehr behandelt werden sollen, wie einst Handwerksbetriebe behandelt wurden, wo einer unter dreien der König gewesen ist, liegt der Unterschied der alten von der neuen Auffassung. Wenn im alten väterlichen Kleinbetrieb eine Art monarchischen Prinzips vorhanden war, so bedeutete dieses Prinzip deshalb nicht so übermäßig viel, weil Seine Majestät die Schürze auch mit um hatte und selber mit zugriff. Wenn aber die Betriebe groß werden, rückt Leitung und Unterordnung himmelweit auseinander, und es ist reiner Schematismus, wenn man diese modernen großen Formen einfach nach dem herkömmlichen Schema vom alten Handwerk weiter beurteilt.

Es ist notwendig, den arbeitenden Massenmenschen ein Personalinteresse für den Großbetrieb, in dem sie stehen, zu geben. Ob das nun auf dem Wege der Arbeitervertretung im Einzelbetriebe und in der Branche geschehen und wie die dazu gehörige Beamtenvertretung geordnet sein soll, das sind technische Fragen.

Einst sagte man: der Liberalismus wird den Staat ruinieren. Liberalismus war gleichbedeutend mit Umsturz! Alles, was man heute den Sozialisten vorwirft, haben schon die Väter des Liberalismus in ihren Ohren gellen hören. Ist der Staat untergegangen? Ist er schwächer geworden? Würde er untergehen, wenn er noch liberaler wäre, als es bei uns der Fall ist? Die Staaten von Nordamerika und England geben die Antwort. Der Großbetrieb Staat hat sich mit Persönlichkeitsprinzip sättigen können, ohne dadurch schwindsüchtig zu werden. Im Gegenteil, je mehr er es tat, desto frischer wurde er. Das ist die große geschichtliche Erfahrung, die uns Mut und Lust gibt, das alte demokratische Persönlichkeitsideal auch in die neue großindustrielle Zeit hineinzutragen. Unsere Industrie wird sich in ihrer eigenen Kraft erhöhen, je mehr auch in ihr aus Sklaven und Untertanen Industriebürger werden.

 

Um die Arbeit in ihrer Qualität zu heben, muß man ihr den Sauerstoff des freien Willens zuführen.

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Sozialismus ist Chorgesang, Individualismus ist Sologesang. Auch im Chorgesang muß jede einzelne Stimme singen, als ob es auf sie allein ankäme, dabei aber muß sie völlig getragen sein von dem gemeinsamen Rhythmus.

Im Chorgesang werden schwächere Kräfte von den übrigen mitfortgezogen, vor Fehlern bewahrt und auf Höhen gehoben; ein Chor darf aber niemals nur aus Schwachen bestehen. Er braucht Mitsänger, die ebensogut Solo singen können, wenn sie nur wollen. Diese zu erhalten, ist eine Lebensnotwendigkeit für den Chor.

Jeder Chor braucht einen Dirigenten. Es ist besser, wenn der Chor sich vor dem Dirigenten fürchtet als umgekehrt, aber noch besser, wenn sie beide sich fürchten, in der Leistung zu sinken.

Ein Solist kann ein neues Lied aus sich heraus finden, wenn er noch etwas vom Urgeist des Sanges in sich hat; ein Chor aber kann immer nur singen, was einer ihm vorgesungen oder vorgeschrieben hat.

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Die deutsche Zukunft ist ein großes Kunstwerk: das Nationalspiel unseres Volkes.

Erst haben die Orientalen ihr Spiel gespielt, nun liegen sie und träumen von ihren vergangenen herrlichen Zaubereien. Dann spielten die Griechen ein feines, unübertreffliches Spiel, und nach ihnen die Römer ein sehr anderes, mächtiges, starkes. Das waren nicht einzelne, die es machten, denn auch Perikles war nichts ohne Athen und Cäsar nichts ohne seine Legionen. Was aber war Athen ohne Sophokles, Phidias, Perikles; was Rom ohne Scipio, Marius, Cäsar, Augustus?

So haben die Päpste ihr Spiel gespielt mit einem gewaltigen Chor aus allen Zungen, so spielte das Frankreich Ludwigs XIV., das England des 19. Jahrhunderts. So soll jetzt Deutschland sein hohes Spiel wagen. Auf, rüstet euch mit Schwert und Harfe, mit Elektrizität und Chemie, nehmt alles Können zusammen, übt jeden Schritt und jede Hand und werdet ein Volk, wie vorher noch keins so tüchtig gewesen!

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Wer vom Sozialismus nichts weiß als einige Formeln über Großbetrieb und demokratische Verfassung, der hat von ihm nur die Schalen in den Fingern. Ob er diesen Schematismus vorträgt oder einen anderen, ist praktisch ganz gleichgültig. Es gibt Sozialisten, die von allem lebendigen Sozialismus so verlassen sind, wie es Prediger gibt, die Gott nur aus dogmatischen Lehrbüchern kennen.

Lebendiger Sozialismus ist innerlich erlebte Gemeinschaft im Gestalten der Welt. Nur die Schaffenden wissen, wie eine neue große Arbeit entsteht aus einer Organisation, die erst mit dem Werke selbst geboren wird, und die dann wieder mit ihm schlafen geht.

Eine Normalorganisation für alle Zeiten und Aufgaben zu suchen, ist Mangel an Lebenskenntnis.

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Wenn Deutschland sein großes Spiel wagen will, so wird es dazu ein neues Kleid anziehen müssen. Das alte Preußenkleid ist dazu zu steif. Wir sollen uns leichter bewegen lernen, aber etwas Uniform und Gleichtritt muß doch dabei sein, denn das ist gerade die deutsche Leistung, daß wir gute Soldaten sind auf allen Gebieten des Lebens.

Nie werden wir ganz das sein was Franzosen, Spanier, Engländer vor uns gewesen sind. Aber wir werden eins vor ihnen voraus haben: wir sind das organisierbarste Volk der abendländischen Welt. Wir haben mehr Sozialismus im Blut, mehr Lust am Rhythmus des gemeinsamen Marsches.

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Die deutsche Arbeiterbewegung ist der größte freiwillige Militarismus der Erde. An ihm kann man sehen, was das Volk von seinen Militärfürsten gelernt hat und nun für sich allein probiert. Aber auch in dieser Arbeiterbewegung hängt alles davon ab, daß es Führer gibt, und daß auch diese Ordnung halten. Die Masse allein vermag nichts ohne den einheitlichen Lebensstil ihrer gewerkschaftlichen und politischen Offiziere. An diesen Proletarierführern kann man die wunderbare Verflochtenheit von Individualismus und Sozialismus studieren. Bebel war beides, ein starker Sozialist und Individualist, und seine geschichtliche Größe liegt darin, daß bei ihm beides in Harmonie blieb. Diese Harmonie ist die Aufgabe der Zukunft: wir brauchen Führer, die über der Masse stehen, indem sie, von ihr getragen, ihr den Weg zeigen.

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Eine Zeitlang schien es so, als seien nur die Arbeiter Sozialisten, und die übrige Bevölkerung wolle individualistisch bleiben. Das war schon damals, vor 30 Jahren, nicht ganz richtig, denn Adel und Geistlichkeit waren von altersher stark sozialisiert. Inzwischen aber ist die Sozialisierung der erwerbenden Schichten überhaupt eingetreten. Wo ist jetzt der wirtschaftliche Einzelmensch hingeraten? Überall Verband, Verein, Syndikat!

Der moderne Mensch ist der Verbandsmensch. Damit er aber vom Verband nicht erwürgt wird, behält er in seiner Seele ein Stück Sehnsucht nach Individualismus und freut sich, wenn er Leuten begegnet, die mehr sind als Verbandsmenschen. Wenn diese Sehnsucht einmal stirbt, dann werden wir Chinesen.

In unserer Periode kommt der Sozialismus von selber, der Individualismus aber muß gepflegt werden.

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Der Sozialismus kommt organisch, das heißt, er beginnt bei den einzelnen Volksteilen und organisiert diese. Es werden Arbeiterverbände, Beamtenvereine, Bauernvereine, Handwerkerinnungen, Unternehmerverbände, Verkaufsgemeinschaften, Wohnungsgenossenschaften, Konsumvereine aufgestellt. Jeder dieser Verbände hat in sich seine führenden Individualisten. Ihr gegenseitiger Zustand ist der Kampf aller gegen alle. Aus dem Kampf aber erwächst der Friedensschluß, die Abmachung der gegenseitigen Leistungen. Jede solche Abmachung ist ihrer Natur nach nur auf Zeit geschlossen.

Der Inhalt aller Abmachungen ist die Regelung der Produktion und Konsumtion. Diese geschieht nicht von einer Zentralstelle aus, wie es zeitweise die Theoretiker dachten. Täglich werden irgendwo Tarife abgeschlossen, Normalpreise festgesetzt, Löhne vereinbart, Dividenden geregelt. Es wird heute viel mehr regiert als jemals früher, nur wechseln die Stellen, von denen aus regiert wird. Die Ministerien und Volksvertretungen sind nur noch Teile des Regiments. Ihre Mitregenten heißen: Kohlenkontor, Stahlwerksverband, Spirituszentrale, Deutsche Bank, Gewerkschaftskommission, Bund der Landwirte, Hamburg-Amerika-Linie, Einkaufsgesellschaft, Warenhausverband und so weiter.

Das letzte Wort dieser Zeit ist der Verbandstarif. Es ist eine der höchsten individualistischen Leistungen, gute Tarife abzuschließen und sie durchzuführen.

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Das Volk, welches zuerst den Mechanismus des Tarifes beherrscht, gibt der kommenden Weltwirtschaftsperiode den Charakter. Darum streiten sich die Deutschen und die Nordamerikaner, wer dieses technische Problem der Verfassung der Arbeit zuerst und am besten löst.

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Die Arbeiter haben vielfach auch heute noch vom Sozialismus nur den letzten Teil begriffen, nämlich die gleichere Verteilung von Wohnung, Nahrung, Kleidung und Bildung. Sie wollen mehr haben. Daß man aber mehr gewinnen muß, wenn man mehr haben will, ist ihnen nicht aufgegangen, weil es noch nicht im Katechismus des Gewerkschaftsredners steht. Die Steigerung des Ertrages der Arbeit ist der Ausgang aller Fortschritte.

Die Arbeit wird ertragreich, wenn nichts Überflüssiges, Falsches, Halbes getan wird, wenn nicht mehr Material verbraucht wird, als nötig ist, und wenn zwischen den Arbeitenden alle gegenseitigen Hemmungen und Reibungen aufgehoben werden. Es muß in der Volkswirtschaft zugehen wie auf einem gutgeleiteten Rangierbahnhof. Das ist ein nüchternes Ideal, aber es ist nun einmal das Ideal der Weltwirtschaft im Zeitalter des Massengüterverkehrs. Und es ist für die Deutschen gut, daß ein so mathematisch-technisches Ideal in den Vordergrund tritt, denn das paßt gerade für uns. Das können wir. Wir systematisieren die Produktion.

Wer aber tut es? Herrschernaturen, die ihre Mitbewerber beugen. Diese sind die Bahnmacher des Sozialismus. Die großen Individualisten können nicht anders als Organisationen zu hinterlassen.

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Was will Deutschland in der Welt?

Alle Rohstoffvölker sollen für uns arbeiten, damit wir ihnen Tische, Spiegel, Gewebe, Strümpfe, Uhren, Töpfe, Bücher, Maschinen oder Heizungskörper bringen. Wir wollen das erste Menschheitsgeschäft etablieren. Das können wir nur, wenn wir das beste Geschäft für jedermann sind.

Die Organisierung dieser Volkswirtschaft ist für uns der Inhalt des Wortes Sozialismus. Das ist der Kern der Reden über Regelung der Produktion. Das ganze Volk muß zusammenarbeiten lernen, wie wenn beim Turnfest tausend junge Männer zusammen ihre Übungen machen, wie wenn bei den Sängertagen zweitausend Stimmen dieselbe Melodie halten, wie wenn bei dem Kavallerieangriff dreitausend Reiter ihre Pferde in demselben Augenblick nach vorn werfen.

Diese Aufgabe ist Kunst im höchsten Sinne des Wortes. Das muß man können. Das erfindet kein Professor. Das wird in Übung gelernt: Deutschland in der Welt voran!

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Ist es nicht etwas Kleines und Geringes, das Verkaufen hergestellter Waren als den Kernpunkt der Volkswirtschaft hinzustellen? Wo bleibt da die Kultur?

Alle Kultur lebt davon, daß man mehr hat, als man braucht. Also muß man erst so weit kommen, daß das Nötige keine Sorgen macht. Es war von Adam Smith nicht falsch, den Reichtum der Nationen mitten in die Erörterung der Neuzeit hineinzustellen. Erst laßt uns satt sein, dann wollen wir tanzen!

Sicherlich ist es wahr, daß das Persönliche am Menschen mehr in dem liegt, was er über das Nötige hinaus tut. Gelingt uns also der Sozialismus des markterobernden Tarifes, gelingt uns die beste Verfassung der Arbeit, dann sind wir in der Lage, Blumenbeete vor unsere Häuser zu pflanzen und kleine Tauben auf dem Ziegeldache fliegen zu lassen.

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Kein Volk kommt vorwärts, wenn es nicht will. Wir müssen das organisierte Deutschtum wollen, müssen die ersten sein wollen, die sich ganz den Verkehrsmitteln der Neuzeit angepaßt haben. Wir alle müssen gemeinsam wollen. Dann machen wir Geschichte, statt von der Geschichte mitgeschleppt zu werden.

Die Zukunftsformen der organisierten Weltmarktsarbeit müssen wir nämlich unter allen Umständen über uns ergehen lassen, der Unterschied ist nur, ob wir dabei Schöpfer der Formen sind oder Knechte derer, die vor uns fertig waren. Arbeiten müssen wir, auch wenn wir schlechter organisiert sind, nur hilft es uns weniger.

Das Wollen aber ist im letzten Grunde Individualismus, denn wollen kann zunächst nur der einzelne. Er wird geschoben von anderen, bei ihm aber liegt es, ob er gehen will oder nicht. Der Chor singt, jeder einzelne aber muß singen wollen.

 

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