Peter Nansen
Gottesfriede
Peter Nansen

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Vorrede.

Indem ich hiermit im Laufe von anderthalb Jahren das vierte Buch in deutscher Sprache veröffentliche, meine ich dem deutschen Publikum und der deutschen Kritik, die meine Werke mit so grosser Liebenswürdigkeit aufgenommen haben, die Erklärung schuldig zu sein, dass diese Bücher – »Eine glückliche Ehe«, »Julies Tagebuch«, »Maria« und »Gottesfriede« – nicht in so schneller Aufeinanderfolge geschrieben sind, wie die deutsche Öffentlichkeit zu glauben geneigt sein könnte. Sie sind in Dänemark über einen Zeitraum von vier bis fünf Jahren verteilt. »Gottesfriede« ist das erste meiner Bücher, das gleichzeitig in Dänemark und in Deutschland erscheint.

Kopenhagen, im Oktober 1895.

Peter Nansen.

I.

Den 5. Juni.

So soll ich denn die Hauptstadt verlassen. Fünfzehn Jahre lang hat sie mich festgehalten, die listige Dirne, hat mir eingebildet, dass ich ihre giftige, parfümierte Luft, ihre sinnfälligen Reize, ihre anspannenden Aufregungen, ihre verfeinerte Bequemlichkeit nicht entbehren könne. Ich sass in einem Gewebe von tausend Fangfäden, ich glaubte, sie habe mich für Zeit und Ewigkeit gefangen. Ich glaubte wohl im Grunde auch, dass sie mich nicht entbehren könne. War ich nicht im Laufe der Jahre ein festes Glied der grossen Maschinerie geworden, die alle als mit dazu gehörig betrachtet? Ganz selbstverständlich nahm ich teil an dem bunten, wechselvollen Leben, bald festlich gekleidet, bald im Trauergewande, gab meine Stimme bei Entscheidung aller Tagesfragen ab, wurde gefragt und gesucht, war Ratgeber und Helfer, ein zuverlässiger Freund, ein Feind, der nicht übersehen werden durfte.

Wie müde ich oft gewesen bin! Abgearbeitet wie ein alter Droschkengaul, der, mit der Peitsche getrieben, sich doch gern platt auf das Steinpflaster gelegt hätte und dort liegen geblieben wäre, bis der Tod kam.

Todmüde bin ich von Vergnügungen und Arbeit, von steter Anspannung, dem Parteinehmen, Verteidigen, Angreifen; todmüde und im Innersten meines Herzens so gleichgültig, während ich doch weder in Worten noch im Wesen die mindeste Schlaffheit verraten darf.

Am allermüdesten aber von diesem ewigen Kampf ums Geld. Um dies Geld, das geschafft werden musste und sollte, das qualvoll aufgebracht, geliehen, verzinst, zurückgezahlt werden musste, – immer mehr, immer beschwerlicher, – eine stetig wachsende Lawine, immer drohender, mit jeder Stunde schwieriger aufzuhalten, die Arbeitsfähigkeit am Tage hemmend und den Schlaf verscheuchend wie ein Alpdruck.

Man wundert sich über den mehr oder weniger offenen Rückhalt, den der Sozialismus in steigendem Masse bei Leuten findet, die nicht zu dem Arbeiterstand gehören. Die Erklärung liegt auf der Hand. Was haben neun oder zehn von uns, die zu den obersten Klassen gehören, bei einer Staatsumwälzung zu verlieren, bei einer Änderung der herrschenden ökonomischen Gesetze und Regeln? Mindestens neun oder zehn sind wir Proletarier, die einen hoffnungslosen Kampf kämpfen, um die Einnahmen, die uns die heutige Gesellschaftsordnung gönnt, in Übereinstimmung zu bringen mit den Ausgaben, die dieselbe Gesellschaftsordnung fordert, wenn wir nicht degradiert werden wollen. Bis auf wenige Ausnahmen leben wir alle über unsere Verhältnisse, – Beamte und Künstler, Gelehrte und Kaufleute, Geistliche, Schauspieler, Obersten, Journalisten, Bürgermeister und Poeten. Was verlören wir wohl, wenn plötzlich die grosse Explosion käme, die den Staat aus allen Fugen sprengte und aus Schuldbriefen, Wechseln und Verschreibungen Fidibusse machte? Am besten haben es verhältnismässig vielleicht noch diejenigen, die von der Hand in den Mund leben. Ihre Ansprüche an das Leben sind gering, und es werden keine Forderungen an sie gestellt. Sie sind es auch nicht, die die Bewegung, die zum Umsturz führt, in Scene setzen. Männer aus unserer Mitte lehrten sie, Sozialdemokraten zu werden; die Verzweiflung der höheren Klassen hat die Ansprüche der unteren grossgezogen.

– – – Neulich brach ich den Stock übers Knie. Ich übergab mein Hab und Gut einem wohlgesinnten Rechtsanwalt, arrangierte mich mit meinem Verleger, der ein freundliches Zutrauen zu meinen Fähigkeiten hegte und sich bereit erklärte, mir auf ein Jahr oder auch zwei eine bescheidene monatliche Unterstützung zu gewähren; ich habe jetzt meinen Koffer gepackt und schiffe mich heute Nachmittag ein, – ohne Abschied von irgend jemand zu nehmen – um mich nach der alten Provinzstadt zu begeben, wo ich meine erste Kindheit verlebte, die ich seit zwanzig Jahren nicht gesehen, nach der ich mich aber, wenn die Müdigkeit in mir aufstieg, beständig gesehnt habe.

Ich habe nicht geschwankt. In demselben Augenblick, wo mein Aufbruch von der Hauptstadt beschlossen wurde, im selben Augenblick wusste ich, wohin ich mich wenden wollte. Die alte Stadt ruft mich wie eine Mutter, die getreulich dagesessen und auf ihr weit umhergestreiftes Kind gewartet hat. In der alten Stadt giebt es nichts, das mich an das erinnern könnte, was ich vergessen, dem ich entfliehen will. Sie und ich kennen einander nur aus jenen guten Zeiten, da sie das Schönste und Herrlichste war, was ich kannte, der Gegenstand meines Stolzes und meiner Bewunderung, da ich ihr allerverhätscheltstes Kind war. Sie ruft mich wie eine Mutter. Denn dort liegt meine Mutter begraben. Sie umschliesst alle die Mutterliebe, die ich in jenen Tagen mehr genoss als sonst irgend jemand, und die ich so früh verlor. Wo in aller Welt sollte ich wohl hin, wenn nicht nach dieser alten Stadt? Ich suche sie auf, um wieder ein Kind zu werden.

II.

An Bord.

Ich habe während der Überfahrt nicht geschlafen und nicht gewacht. Ich sitze in der lauen, lichten Sommernacht auf Deck und lasse träumend die Gedanken dem goldenen Kielwasserstreifen folgen, von den schweren, regelmässigen Schlägen der Maschine und dem glucksenden Plätschern der kleinen hüpfenden Wellen gegen das Schiff sanft zur Ruhe gewiegt.

Die Gedanken kehren zurück auf der Bahn des Streifens, – zurück zu dem Leben, zu der Welt, in der ich mich bis vor kurzem bewegte. So wunderlich frei fühle ich mich schon von dem allen, so fremd und überlegen stehe ich dem Ganzen gegenüber. Wie gleichgültig, leer und nichtssagend erscheint es mir jetzt. Und diesem Leben habe ich fünfzehn meiner besten Jahre geopfert. Niemand ist eifriger gewesen als ich, niemand fanatisch gläubiger. Blutjung meldete ich mich zu der Fahne meiner Partei, kämpfte tapfer und blind in den Reihen der Gemeinen, wurde befördert und erreichte wohl so ungefähr die Auszeichnungen, die mein Ehrgeiz begehren konnte. Mitten im Kampfgetöse bin ich gewesen, habe gehasst und angebetet, bin meinem Fahneneid niemals untreu gewesen, habe mich niemals dazu versucht gefühlt, habe Freunde und Feinde gewonnen, habe Gutes und Böses gethan, nach besten Kräften und bestem Wissen.

Und was war dann das Ergebnis? Glück für mich? Glück für irgend einen andern? Das letztere wohl kaum; das erste unbedingt nicht. Wenn ich nun freiwillig meine erkämpfte Stellung aufgab, – die mir sicher manche als begehrenswert neiden, – so geschieht das mit einem innigen Gefühl ihrer hoffnungslosen Unhaltbarkeit.

Um was, in des Himmels Namen, kämpft man denn? Weshalb verfolgt man einander, verdächtigt und misshandelt man einander, immer bis an die Zähne bewaffnet, immer bereit, darauf loszuschlagen? Vielleicht ist da draussen, in weiter Ferne, ein Ziel zu erreichen. Eine höhere Gerechtigkeit, eine bessere Verteilung der Güter des Daseins. Vielleicht erleben unsere Enkel eine soziale Umwälzung. Übrigens aber: werden die Menschen sich glücklicher fühlen, wenn das Ziel wirklich erreicht ist, oder werden sie sich nur beeilen, mit Unruhe im Herzen, in ungesättigtem Sehnen, einem neuen Ziel entgegen zu kämpfen? Sicherlich! Nein, es ist ein leerer Wahn, dass man das Glück durch Kampf erringt. Nur im Frieden, im Frieden mit sich selbst und mit der Welt findet man das Glück.

Wenn man daran denkt, dass sie da drinnen noch immer kämpfen. Noch hat die grosse Stadt sich nicht zur Ruhe begeben, noch summt die Bosheit und der Zorn in elektrischer Beleuchtung durch die Strassen, strömt in den Cafés zusammen, trinkt sich stumpf und dumm und erwacht dann morgen nach einem angsterfüllten Schlaf mit heissem Gehirn und bitterem Herzen. Dass sie es fertig bringen! Dass sie nicht alle eines schönen Sommermorgens mit dem Entschluss aufspringen, jetzt nicht mehr zu wollen! Und dann die Waffen von sich werfen, die heissen Gehirne in der frischen Morgenluft kühlen, das bittere Herz mit der süssen Wollust der Natur füllen, sich von aller Feindseligkeit und allem Hass reinigen, über die ganze Linie Frieden schliessen auf der einfachen, leicht fasslichen Grundlage: Wir sind alle Menschen, und wir wollen einander nichts Böses. Und ohne Blutvergiessen die Revolution vollziehen, die jede neue Revolution überflüssig macht.

– – – So sitze ich da und träume, während mich das Schiff in der schönen Juninacht über die stille See dahinträgt nach meiner alten Stadt. Und als sei es ein Bild, das meinem Traum entsprungen, so sehe ich im Sonnenaufgang, gerade als wir die Einfahrt des Fjords passiert haben, ein junges Mädchen an meiner Seite stehen, gross und stolz, mit einem Antlitz, aus dem der milde Friede leuchtet. Gleich einem Gesicht kam sie, gleich einem Gesicht schwand sie. War es aber eine Vorahnung, so nehme ich sie mit Dank hin. Eine Vorbedeutung, dass ich den richtigen Kurs gesteuert bin, um Frieden zu finden.

III.

Auf dem Mühlenberg, den 6. Juni, abends.

Wir kamen in der frühen Morgenstunde an. Mein Gepäck liess ich vorläufig an Bord, ich wusste noch nicht, wo ich wohnen wollte. Und ich schlenderte durch die schlafende Stadt. Anfänglich war mir ein wenig wirr zu Mute. Die Strasse, in der ich ging, hatte einen Namen, dessen ich mich nicht entsinnen konnte, und viele neue Häuser mit faden, glatten Durchschnittsfassaden und herzlosen Spiegelglas-Ladenfenstern.

Als ich aber auf den Markt kam, kannte ich meine alte Stadt wieder.

Ich setzte mich auf die freistehende Steintreppe vor dem Haus, in dem ich als Kind gewohnt hatte; ich schloss die Augen über dem flüchtig wiedererblickten Bilde, und so lebendig, als hätte ich ihn soeben verlassen, erstand der Marktplatz wieder in meiner Erinnerung, so wie er in meinen Kindheitstagen gewesen war.

Am Ende des Marktes fliesst die Ostau. Sie ist nicht überdeckt – wie jetzt – sie fliesst offen durch die Stadt, mit Brücken darüber und mit knorrigen, laubreichen Bäumen zu beiden Seiten. Und sie wimmelt von Booten und kleinen Schuten, auf denen Fische verkauft werden und Töpferwaren und Holzschuhe und im Herbst Obst. Dann duftet der ganze Markt, ja die angrenzenden Strassen ebenfalls, nach würzigen Bergamotten und dem Rosenhauch der Gravensteiner.

Das andere Ende des Marktes wird von dem gelbgestrichenen Königshaus mit dem gezackten Giebel beherrscht. Hier halten die alten Storchenväter der Stadt an Sommernachmittagen ihre Zusammenkünfte ab. Sie stehen je auf einem der Absätze des Giebels, zu oberst der Präsident, der die Versammlung mit lautem Geklapper eröffnet. Dann klappern sie der Reihe nach, alle die ehrwürdigen Störche, und diejenigen, die zuhören, stehen zuweilen vor lauter Eifer auf einem Bein. Aber es kann vorkommen, dass die Ratsversammlung sich in allgemeinen Zank auflöst, während alle Störche mit den Flügeln schlagen und erbittert bunt durcheinander klappern. Es kommt auch wohl vor, dass eine strebsame Storchenmadame oder ein naseweiser Storchenjunge den Versuch macht, sich in die Versammlung einzudrängen und unter kräftigen Püffen, so dass die Federn fliegen, entfernt wird.

Das alte Königshaus! Welch ein Kummer war es, als es infolge pietätloser Forderungen des Bürgerwohls einem zeitgemässen Bankgebäude zum Opfer fallen musste. Die schändlichen Ränke, die giftigen Lügen, die ins Feld geführt wurden, um es zu fällen!

Es wurde vorgegeben, dass alle die historischen Überlieferungen, die dem Königshaus seit Jahrhunderten Ruhm und Glanz verliehen, gestohlener Putz seien. Es wurde ferner behauptet, das Haus sei so vom Alter mitgenommen, dass es sich kaum mehr aufrecht halten könne, dass es eine stets drohende Gefahr für die umliegenden Gebäude sei. Ein rasender Kampf wurde im Stadtrat und in der Ortspresse zwischen dem Vertreter der Idee – dem Geschichtslehrer der Lateinschule – und den Materialisten, die das Bürgerwohl repräsentieren, gekämpft. Aber diese letzteren siegten, nachdem ein Wohlfahrtsausschuss und einige auf die Bank versessene Handwerker ein sachverständiges Urteil über die Hinfälligkeit des Königshauses abgegeben hatten. Und der Abbruch wird begonnen. Wir Kinder, deren patriotische Phantasie im Schatten des alten Hauses aufgewachsen ist, folgen mit erbittertem Kummer jedem Schlag der Hacke, und wir geniessen einen schmerzgemischten Triumph, als die Handwerker mitten bei der Arbeit ihre Machtlosigkeit erklären und Pulver zu Hilfe nehmen müssen, um die klafterdicken Mauern des Königshauses zu sprengen. Und so fällt dann endlich der alte Riese, aber nicht von Menschenhänden. Sterbend spottet er seiner Gewaltthäter.

Mitten auf dem Markt liegt das rote Rathaus mit dem Wappen der Stadt in Gold und Farben über dem schweren, braunen Portal aus Eichenholz. Um das Rathaus scharen sich alle die Grausen der Ammenmärchen. Vor demselben stand in alten Zeiten der Pranger und der Schandpfahl, an den die Verbrecher gefesselt wurden, wenn sie öffentlich ausgepeitscht werden sollten. Hier verbüssten unter anderen die berüchtigten Räuber aus den grossen Wäldern nördlich vom Fjord den Anfang ihrer Strafe, als sie endlich nach zahllosen Schandthaten von Soldaten und Bauern der Umgegend eingefangen waren. Die Bande bestand aus einem alten Weibe, ihren sieben ruchlosen Söhnen und einem wunderschönen Mädchen, der Geliebten Erik Krumfingers, des ältesten der Brüder. Plünderungen, Schändungen, Brandstiftungen waren die geringsten ihrer Verbrechen. Auch mancherlei Mordthaten hatten sie auf ihrem Gewissen und Grausamkeiten der schrecklichsten Art. So – mein Kindermädchen wenigstens erzählte es – war es ihr grösstes Vergnügen, kleine Kinder an glühende Öfen zu binden, wenn sie einen Bauernhof verliessen, nachdem sie ihn geplündert und die erwachsenen Bewohner gemordet hatten. Es war ein Fest für die ganze Stadt, als sie, bis an die Taille entblösst, vor dem Rathaus ausgepeitscht und am nächsten Morgen nach dem Galgenhügel geführt wurden, um hingerichtet zu werden. Erik Krumfingers Liebste erregte ein gewisses Mitleid. Sie war so wunderschön von Gesicht und Gestalt, sie war so jung, und sie jammerte so kläglich, als sie gepeitscht wurde. Aber von Schonung konnte keine Rede sein. Sie war die Allergrausamste gewesen in Bezug auf das Braten der kleinen Kinder.

Rings um den Marktplatz herum liegen dann alle die alten Kaufmannshäuser und Schenken, wo die Bauern an den Markttagen einkehren, und dort ist der herrlichste Tummelplatz für die Spiele der Kinder. Fachwerksgebäude mit einer wahren Wildnis von hölzernen Galerieen mit getrockneten Heringen auf ausgespannten Schnüren, von wackelnden Treppen und morschen Hinter- und Nebengebäuden, die hin- und herschwanken wie Betrunkene. Hier auf den Böden in den grossen Kornhaufen wird Versteck gespielt, und des Sonnabends sitze ich hinter dem Schenktisch in dem Wirtskeller der holsteinischen Madam und schenke den Bauern und dem Droschkenkutscher Weissbier und Schnaps ein. Dieser, der mein besonderer Freund ist, wohnt in einem Loch in der Mauer hinter dem Stall und führt dort in einer stets frischen Atmosphäre von Pferdedung, bei einem Spirituskocher, einem Haufen Schwarzbrot, einer Kruke Schweineschmalz und einem kleinen Stück Kümmelkäse die glücklichste Junggesellenwirtschaft, die ich mir denken kann. Aber wenn die Stimmung in dem niedrigen Keller einen gewissen Höhepunkt erreicht hat, so amüsiert man sich damit, dem alternden Droschkengaul in Branntwein getauchtes Brot zu geben, und wie ein wilder Araber saust die Kracke dann auf dem Marktplatz umher und verbreitet Schrecken und Entsetzen unter den Bauerfrauen, die mit ausgebreiteten Röcken vor der Rathaustreppe sitzen und in ländlicher Ungeniertheit ihre Privatangelegenheiten besorgen.

– – – Ich öffne die Augen und überschaue den sonnenhellen Marktplatz. Das Rathaus liegt noch da, die alten Häuser ebenfalls, ich sehe die kleinen, grünen Fensterscheiben des Schenkkellers, ich entdecke ein kleines Stück der Ostau, die sich zwischen schiefen Häusern dahinschlängelt, und über deren baufällige Poesie ein vereinzelter Fliederbusch in einem angrenzenden Garten ein jugendliches, blühendes Lächeln breitet. – – – Ich erkenne meine alte Stadt wieder, und ich erhebe mich leichten und frohen Sinnes mit einem bebenden Gefühl des Glücks, wieder daheim zu sein. Ich bin daheim, und ich will zu dem Grabe meiner Mutter. – – –


Noch ist die Stadt nicht erwacht; während ich durch die leeren Strassen wandere, habe ich ein Gefühl, als sei ich gekommen und habe sie überrascht, und ich sende allen den bekannten Gegenständen, denen ich begegne, weckende Wiedererkennungsgrüsse zu. Du grosser Gott, dort hängt noch das dicke Tau, der ungekünstelte Feuersignal-Apparat der alten Stadt vom Kirchturm herab. Wer ein Feuer entdeckte, musste an dem Tau ziehen, so dass die Glocke im Turm läutete. Unter uns Kindern ging die dunkle Sage, dass der Glückliche, der auf diese Weise eine Feuermeldung mache, einen blanken Reichsthaler ausbezahlt bekäme. Wie fleissig – wenn auch vergebens – spähte ich nicht bei jedem Spaziergang danach aus, die Flammen aus einem Haus emporschlagen zu sehen. Ich erhielt den Thaler niemals. Ob wohl das alte Tau heute noch Dienste thut, oder ob es nur noch als vergessene Ueberlieferung aus entschwundenen Zeiten dahängt?

Ich stehe still und schaue die abfallende Seitenstrasse hinab. In dem vorstehenden Eckhaus dort unten wohnten wir ja im Kriegsjahr. Ich war damals nicht älter als zwei Jahre, und doch haben die Ereignisse jener Tage unauslöschliche Eindrücke in meiner Seele hinterlassen. Die deutsche Einquartierung, Soldaten, die mit Mutter wegen der dänischen Speisen zankten, und der gemütliche weissbärtige Major Brummbass, der sich in uns Kinder verliebte, von dem ich mich aber nicht küssen lassen wollte, weil er ein Deutscher war. Vor allem aber ein paar Bilder: Meine Mutter und meine halb erwachsenen Schwestern, sowie einige andere kleine Mädchen aus der Stadt sitzen am Tisch und zupfen Charpie. Plötzlich erschallt Pferdegetrappel in der Strasse, ich eile ans Fenster, im selben Augenblick aber öffnet sich die Thür zu Vaters Studierzimmer, und mit einem kräftigen Ruck werde ich vom Fenster weggerissen. »Lasst die Rouleaux herab, niemand darf hinaussehen,« sagt Vater bleich und bewegt. »Die Deutschen kommen!« Eine unheilschwangere Stille herrscht in dem dunklen Zimmer, und bange verkrieche ich mich hinter Mutters Röcken, während der klappernde Lärm von vielen Pferden immer mehr herankommt. Dann verstummt das Geräusch plötzlich gerade unter unsern Fenstern, wir hören nur einige hastige, laute Worte, die wie Schimpfworte klingen, ein Jammern, neue Flüche, Schwüre, Säbelgerassel, unruhiges Pferdegestampf, und schliesslich einen angstvollen Aufschrei auf Dänisch. Seinem eigenen Verbot zum Trotz eilt Vater an das Fenster, Mutter und wir Kinder hinterdrein, und von einem Stuhl aus sehe ich, wie ein Mann, in dem ich unsern Schuhmacher erkenne, von einem Offizier in blendend weissem Mantel neben dem bäumenden Pferd auf dem Steinpflaster entlang geschleppt wird. Und ich sehe, wie die Strasse von glänzend uniformierten Reitern wimmelt, die sich jetzt alle in Bewegung setzen, geführt von dem Offizier, dem der Schuster als notgezwungener Wegweiser dient. Hinab an den Fjord geht es, über den die dänischen Soldaten geflohen sind.

Und dann das Bild von den verwundeten dänischen Soldaten, die nach dem unglücklichen Treffen an den Hügeln westlich von der Stadt durch die Strassen gefahren werden. So sicher war man des Sieges gewesen, denn ausnahmsweise hatten sich die Dänen diesmal in der Mehrheit befanden.

Leider war auch der Oberst, der unsere Abteilung führte, zu vertrauensselig gewesen. Im Sturmlauf liess er seine Leute das Terrain nehmen, die Hügel hinab, an deren Fuss die Deutschen im Schutz der Grabenhecke warteten. Und von der gedeckten Stellung aus streckten die Gewehrkugeln der Deutschen die vorwärtsstürmenden Dänen zu Boden wie wehrloses Wild. Hiervon hatten wir Kinder gehört, auch von der Verzweiflung des Obersten, – er lag bei einer uns nahestehenden Beamtenfamilie im Quartier, und man hatte dem Vater erzählt, wie der Oberst, der am Morgen siegesgewiss ausritt, um die Deutschen aufzuspüren, spät am Abend heimgekehrt war und sich in seine Zimmer eingeschlossen hatte, ohne Nahrung zu sich nehmen zu wollen, ohne mit irgend jemand zu reden. Jetzt, am nächsten Morgen, kam der Zug der Verwundeten. Langsam und schwer wie ein Leichenzug rollen die Wagen durch die Strassen, und auf ausgebreiteten Strohgarben ruhen die Verwundeten. Einige haben Binden um den Kopf, andere um Arme oder Beine. Die Binden sind mit Blut getränkt, und die Gesichter sind weisser als die Binden. Nicht einer der Verwundeten schaut zu den Fenstern auf, alle starren sie mit erloschenen, hoffnungslosen Blicken vor sich hin. Ich hatte damals wohl kaum solche Gedanken; es hat mir aber später immer vor der Seele gestanden, als hätten diese verwundeten dänischen Soldaten unser Mitleid weniger durch ihre körperlichen Schmerzen erregt als durch die Verzweiflung – ja, das Schmerzgefühl – über die Niederlage, das deutlich auf ihren qualerfüllten Zügen zu lesen stand. – – –


Ich gehe, ohne an den Weg zu denken, dem ich folge. Es sind zwanzig Jahre verflossen, seit ich diese Strasse zuletzt durchschritt, ihre Namen sind mir seit zwanzig Jahren nicht ins Gedächtnis gekommen: wie an einer unsichtbaren Hand, ohne Nachdenken, ohne Tasten, werde ich genau dahin geführt, wohin ich gehen will. Ich bin in dem Heim meiner Kindheit, ich bin in meines Vaters Haus; mein Fuss strauchelt nicht auf dem heimischen Boden.

So stehe ich, gerade als der Hahn zum dritten Mal seinen Morgengruss über die Stadt hin kräht, in der kleinen Strasse, die nach dem Friedhof hinabführt. Die niedrigen, strohgedeckten, gelben Häuser, in denen die alten Kranzbinderinnen wohnten, nehmen noch immer die Strasse ein, und wie vor zwanzig Jahren hängen noch – als seien es dieselben – einfache Epheu- und Mooskränze mit Immortellen an den kleinen Thüren mit den Klinkschlössern. In einem der Häuser steht ein Fenster offen und, herbeigelockt durch den morgenfrühen Wanderer, steckt ein Mütterchen den Kopf heraus. Ich kaufe ihre Kränze, lege die bescheidene Bezahlung in ihre runzelige Hand und, von ihrem Segen begleitet, durchschreite ich die Pforte, die zum Friedhof führt, wo mich Vogelgezwitscher und Cypressenduft und morgenfrische Blumen empfangen.

Meiner Mutter Grab liegt abseits von dem Haupteingang in einem stillen, entlegenen Winkel unter Hunderten von andern Gräbern. Die unsichtbare Hand leitet mich die halb zugewachsenen Steige entlang, die sich zwischen den Rasenhügeln hinschlängeln, und dann stehe ich plötzlich vor dem kleinen, mit einer Hecke umfriedigten Fleck, wo Mutter ruht, mit einem Kinde an jeder Seite: ein grösserer Hügel zwischen zwei ganz kleinen. Frischer Epheu bedeckt alle Gräber und windet sich um das schlichte Marmorkreuz auf Mutters Grab. Dahinter, so dass die schweren lila und goldigen Blütentrauben darauf herabhängen, steht ein Goldregenbaum und ein Fliederbusch, und in einer jeden der vier Ecken des kleinen Friedhofbeetes entfalten Rosenbäume durch die Regenthränen der Nacht ihre rosa und weissen Knospen an dem Lächeln der Morgensonne.

Ich setze mich auf die grüne hölzerne Bank, ich liebkose mit dem Blick den Namen auf dem Kreuz gegenüber, und ich rede mit meiner Mutter.

»Ich bin zu Dir gekommen, Mutter, um Frieden zu finden. Zwanzig Jahre lang weilte ich fern von Dir, war ich weit, weit fort unter fremden Menschen. Als ich zuletzt hier sass und Abschied von Dir nahm, wusste ich nicht, was ich verlor. Ich war ein Kind und Du eine junge Frau. Jetzt bist Du eine kluge, alte Frau und ich ein tagesmüder Mann, und mein Haar fängt bereits an zu ergrauen. Schenk' mir den Frieden, den Du längst gewonnen hast, und ich bleibe bei Dir!«

Es ist mir, als sässe meine Mutter mir gegenüber, eine alte Frau mit weissem Haar und sanften, braunen Augen. Ich vergesse Zeit und Stunde, während ich ihr so in die Augen schaue, bis mich die sieben schrillen Töne der Kirchenglocke, die über den Friedhof dahinschallen, wecken. Ich nehme die Kränze, die ich noch immer auf dem Arm trage, und lege sie knieend auf das Grab. »Hab' Dank, Mutter, – hab' Dank für alles, – in alten Zeiten und jetzt.«

Aber in meinem Herzen regt sich noch ein anderer Dank, während ich langsam, umsaust von Vogelgezwitscher und dem Spiel des Windes in den Baumkronen, den stillen, süssduftenden Garten des Todes verlasse. Ein Dank für die Treue der alten Stadt, die meiner Mutter Grab nicht hat öde liegen lassen, die es gehegt und gepflegt hat. Giebt es wohl ein so langes Erinnern, eine so beständige Treue in den grossen Städten, wo das Neue eines jeden Tages lärmend vorwärts stürmt und alles Vergangene beiseite pufft? Dort gedenkt man des Todes nur in prahlerischen Aufrufen im Inseratenteil der Zeitung. Dort sind die Friedhöfe zu gross und zu weit entfernt. Die Toten müssen für sich selber sorgen. Die alte Stadt hat die Toten in ihrer Mitte, stets zugegen, in einem liebevollen Erinnern lebend. Ich danke Euch, Ihr Freunde meiner Mutter in der alten Stadt, ich kenne Euch nicht mehr, ich bringe Euch den stillen Dank meines Herzens dar.


– – – Ich beschliesse meine Wanderung auf dem Mühlenberg, und dort bleibe ich.

Der Mühlenberg liegt dicht vor der alten Stadt, ist ihre Lustanlage, ihr Stolz. Selten fand auch eine Stadt einen so herrlichen Fleck zu einem öffentlichen Park. Ein hochherziger Bürger verwandelte vor einem Jahrhundert den Mühlenberg in eine Anlage, indem er ihn bepflanzte, durch Treppen- und Wandelalleeen in Terrassen abteilte, ihn durch Tannen und Fichten gegen den Wind schirmte und dann in diesem Schutz Buchen und Ziersträuche aufwachsen liess. Er entriss dem Westwind die Macht und verlieh der Sonne die Oberherrschaft, schuf so auf dem öden Mühlenberg einen fruchtbaren Garten. Hier hinauf ziehen die Bewohner der alten Stadt an Sommernachmittagen mit Proviantkörben und Trinkwaren, lassen sich im Pavillon auf der ersten Terrasse kochendes Wasser zum Kaffeemachen geben und richten sich in den Lauben häuslich ein. Auf den oberen Terrassen im Walde aber spielen die Knaben Räuber und Soldat.

Mit der geheimen Angst, enttäuscht zu werden, lange ich auf dem Mühlenberg an. Denn in meiner Erinnerung aus den Kinderjahren steht er als etwas ganz märchenhaft Grosses und Schönes da. Der Hügel ist Berg, Wald und Urwald.

Mit einem Lächeln sehe ich, dass das Grossartige verschwunden ist. Sowohl der Hügel als auch die Bäume scheinen mir eingeschrumpft zu sein. Es ist nichts Märchenhaftes, nichts Phantastisches an dem Mühlenberg. Seine Schönheit aber ist zuverlässig. Ein lieblich lächelndes Idyll. Und auch das Grossartige fehlt dem Mühlenberg nicht, er hat seine Aussicht.

Ich bin bis zum »Pavillon« hinaufgelangt, einer gelben, aus Holz erbauten Villa, wo der eine Kellner und eine Heerschar von Spatzen im Begriff sind, die kleinen Wirtshaustische von den Abfällen der Proviantkörbe zu säubern. Zu meinen Füssen liegt die ganze Stadt und dahinter der Fjord, der sich gleich einem spiegelblanken Fluss zwischen Hügeln und Wiesen dahinschlängelt. Meilenweit schweift der Blick nach beiden Seiten, über eine Unendlichkeit von Himmel, Wasser und sommerlich üppigem dänischen Lande, über die Stadt, deren rote Dächer an den grünen Abhängen des Mühlenberges herabgeglitten zu sein scheinen.

Hier habe ich meine ganze Stadt, und im selben Augenblick fühle ich, dass ich hier wohnen muss. Ich lasse den Wirt durch den Kellner rufen, und fünf Minuten später bin ich in den beiden Giebelstübchen des Pavillons einquartiert, die sonst nicht vermietet werden; der Pavillon hat sonst überhaupt keine Logiergäste; man überlässt mir diese Zimmer nur, weil ich mich bereit erkläre, sie auch für den Winter zu mieten. Und nun habe ich mein künftiges Heim in Ordnung. Hier ist kein Luxus, wohl aber alles, dessen ich bedarf: ein gutes Bett im Schlafzimmer, und in meiner Wohnstube ein Arbeitstisch, einige Stühle, ja obendrein noch ein Sofa.

Meine Bücher sind ausgepackt, meine Pfeifen gestopft. Seit meiner ersten Studienzeit habe ich keine Pfeife gekostet.

Gott sei mit Euch, Havannacigarren und Cigaretten, was seid Ihr doch gegen die Züge unverfälschten holländischen Knasters, den ich in diesem Augenblick rauche, während ich an meinem Giebelfenster sitze und auf meine alte Stadt hinausschaue!

IV.

Den 12. Juni.

Hoch oben auf dem Mühlenberg, über dem Walde, auf dem offenen Kamm des Hügels ragt die Mühle empor, weiss mit schwarzen Schwingen auf ihrem grünen Erdwall. Es ist die beste Mühle in der ganzen Umgegend, denn sie hat immer Wind genug. Sie dient gleichzeitig auch dem Fjord als Seezeichen, man sieht sie in einer Entfernung von mehreren Meilen.

Dem Müller gehört der Grund und Boden oben auf dem Hügel bis dort hin, wo die Anlagen beginnen. Der nordwärts nach dem Fjord zu gelegene Abhang liegt öde und unbebaut. Aber auf der nach Süden gelegenen Böschung ist ein grosses Stück umfriedigt und in einen Garten verwandelt. Der Müller ist bei dem Mann, der die Anlagen schuf, in die Lehre gegangen. Er hat Wind und Wetter getrotzt, hat eine schirmende Hecke nach Westen zu errichtet, hat die sandige Erde des Hügels mit mühsam angefahrener fetter Erde aus dem Ackerland vermischt, hat gedüngt und bewässert, gehackt und gegraben, bis er seinen schwebenden Garten blühen und gedeihen sah.

Ich entsinne mich des halb widerwilligen Respekts, mit dem die Bewohner des Städtchens von dem Müller sprachen. Man bewunderte seine Tüchtigkeit, man wurde abgestossen von seinem barschen Sonderling-Wesen. Es stand in seinem Kontrakt mit der Stadt, von der er seinerzeit den Grund und Boden kaufte, dass sein Besitz zu jeder Zeit allen offen stehen sollte, die die Aussicht bewundern wollten. Aber obwohl er keinen Versuch machte, diesen Kontrakt zu umgehen, so fühlten sich die Bewohner des Städtchens doch nicht wohl auf seinem Gebiet. Jedenfalls hielt man sich in ehrerbietiger Entfernung von seinem Haus und seinem Garten. Selbst wir Knaben, die nicht leicht von einem Raubzug in einen Obstgarten abzuschrecken waren, liessen im Herbst die berühmten Äpfel und Birnen des Müllers in Frieden reifen. Es waren auch ganz bösartige Gerüchte über den Müller im Umlauf. So erzählte man, er behandle seine junge, schöne Frau, eine Pächterstochter aus einer südlicher gelegenen Gegend, mit tyrannischer Härte. Vielleicht waren die Gerüchte nur dadurch entstanden, dass die Frau des Müllers ebenso abgesondert und eingeschlossen lebte wie er selber, etwas, das nach Ansicht der gastfreundlichen und geselligen Bevölkerung doch schwerlich auf freiem Willen beruhen konnte –; jedenfalls nahmen diese Gerüchte keine günstigere Wendung, als die junge Frau wenige Monate nach ihrem ersten Wochenbett starb und ihrem Mann eine kleine Tochter hinterliess, die weder eine Amme noch ein Kindermädchen erhielt, sondern von dem Müller selber und von seinem Gehilfen gewartet wurde. Das kleine Mädchen, der Gegenstand des Mitleides der ganzen Stadt, mochte wohl zwei bis drei Jahre zählen, als wir fortzogen. Mit scheuer Neugier hatte ich sie oft betrachtet, wenn sie in ihrem Kinderwagen, – einer einfachen Holzkiste auf vier Rädern – von dem alten, buckeligen Müllergesellen auf dem Mühlenwall umhergefahren wurde.

Ich habe jeden Tag einen Spaziergang nach der Mühle hinauf gemacht. Wir haben westliche Stürme gehabt. Ich habe das grossartige Schauspiel des erregten Fjordes genossen, und ich habe, als der Sturm abflauete, dem fernen Donnergetöse von Westen her gelauscht; dem Wellenschlag des fünf Meilen weit entfernten Meeres.

Ich fand die Mühle noch an ihrem alten Platz, zu meinem Staunen aber standen die Flügel still. Ich dachte: »Der Müller muss sich in seinen alten Tagen sehr verändert haben. Er mag die Mühle wohl nicht mehr im Sturm gehen lassen.« Aber auch heute, bei gelindem Wetter, wo nur ein ganz gewöhnlicher, massiger Wind über dem Walde wehte, ruhte die Mühle in unerschütterlicher Gleichgültigkeit. Der Wind rüttelte an den gerefften Segeln; die muntere, durch Wolken lächelnde Sonne spielte in den Kippen der Flügel. Aber die Mühle liess sich nicht wecken. Und das Allerwunderbarste: gegen einen der Flügel gelehnt, so sicher ruhend, als sei keine Gefahr denkbar, stand ein junges Mädchen in einem enganschliessenden, blauen Leinenkleide; die Arme über der hohen Brust gekreuzt, schaute sie hinaus in die offene Landschaft. Sie hörte mich nicht. Sie schien gleich einem Dornröschen am Fusse der schlummernden Mühle zu träumen.

Sollte der Müller tot sein? Sollte kein Nachfolger die Mühle und die Arbeit als Erbe übernommen haben?

Als ich vor kurzem nach Hause kam, fragte ich im Vorübergehen meinen Wirt, ob der alte Müller noch da oben wohne. Freilich, er wohne dort noch.


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