Peter Nansen
Gottesfriede
Peter Nansen

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XXXV.

Loses Blatt.

Der Lenz hält seinen Siegeszug über den Mühlenberg mit einem grossen Gefolge von fröhlichen Menschen unten aus der Stadt. Jung und alt, Kinder und Brautleute, würdige Männer und Matronen, ja selbst arme Gichtbrüchige, – alle müssen sie hinaus, um den Lenz auf dem Mühlenberg zu sehen. – – –


Goldenen Sonnenschein in alle Winde streuend, führt der Lenz den Reigen an, und die fröhlichen Menschen aus der Stadt machen einander staunend auf seine stolzen Thaten aufmerksam.

»Schon steht die Hecke in Knospen, und am Wegesrande blühen Veilchen. Pflück' mir ein paar, ich will sie an meine Brust stecken.«

»Aber Liebste, so gieb doch acht, dass Du die Schnecke nicht zertrittst. Und schau die Schmetterlinge dort, den ganz gelben und den roten mit den schwarzen Flecken. Mein Gott, lass sie in Frieden flattern, lass sie den Frühling gemessen gleich uns.«

»Habt Ihr den Star gehört, Kinder, und den Fliegenschnäpper hier? Er trägt Stroh zu seinem Nest zusammen.« – – –


Der Zug hält am Pavillon, den der Frühling aus seinem Winterschlaf aufgerüttelt hat; den ganzen Winter hindurch ist hier nur ein einsamer Fremder zu Gast gewesen.

»Lasst uns ein Glas auf den Frühling trinken! Auf den Frühling und das Leben! Auf das Leben und die Freude!«

»Was Ihr nicht esst, Kinder, das streuet den Spatzen hin. Wir dürfen der Vögel des Winters nicht vergessen, weil der Frühling gekommen ist.«


Die fröhlichen Menschen aus der Stadt folgen dem Frühling weiter hinauf durch den Wald.

»Wie es hier nach frischem erdigen Boden und nach Tannen duftet! Geht aber nicht ins Gras! Es hat über Nacht geregnet.«

»Ja, ins Gras muss ich. Ich habe eine blaue Anemone gefunden. Und die weissen dort! Wie viele da sind, wenn man recht nachsieht!«

»Und denkt nur, die Buche! Wie grosse Knospen die schon hat. Glaubt mir, die schlägt noch aus, ehe es Mai wird, wenn der Frühling so fortfährt.«

»Freilich fährt der Frühling so fort. Frage nur die Vögel, die jubeln, sie wissen Bescheid.«


Der Lenz steht triumphierend auf dem Kamme des Mühlenhügels, und die fröhlichen Menschen brechen in laute Freudenrufe aus: »Bis hier herauf ist der Frühling gelangt. Der Mühlenwall ist mit frischem Gras bekleidet, und die Flügel schimmern wie Gold in der Sonne. Im Garten des Müllers treiben die Obstbäume Knospen, in einem Zimmer würden sie sich schnell entfalten. Wer einen Zweig brechen dürfte!«

Da öffnet sich die Thür zum Müllerhause; ein eisiger Hauch geht über die fröhlichen Menschen hin: Auf ihrem weissen Lager ruht ein junges Mädchen, kalt und bleich. Und ihr zur Seite steht ein Mann, der Fremde auf dem Mühlenberg. Seine Augen weinen nicht, sie haben keine Thränen mehr. Über seine kalte, bleiche Braut gebeugt, sagt er: »Der Frühling ist tot.«

XXXVI.

Den 10. März.

Heute ist Grete auf dem Friedhof zur Ruhe gebracht.

In der Stiftskirche fand die Trauerfeier statt. Dort sassen alle die alten Frauen und weinten ungeheuchelte Thränen über Grete, weil sie, die Jugend und Schönheit in ihre verwelkten Herzen gebracht hatte, mitten in ihrem jungen Glück davongegangen war. Auf ihren Sarg hatten sie Kränze gelegt, die ihre eigenen, zitternden Hände aus Epheu und Moos gewunden und mit Immortellen und treuherzigen Inschriften aus schwarzen und weissen Perlen geschmückt hatten.

Und nun sangen sie ihr vor, wie sie ihnen vorgesungen hatte, sangen mit ihren dünnen, gebrochenen Stimmen: »Wenn einst der Nebel sich gelichtet hat.« Ach Gott, mein Gott! Wie hatte sie sich darauf gefreut, hier an dieser Stelle als Braut vor den Altar zu treten, hier, wo sie jezt in ihrem Sarge lag, eine Braut des Todes, in das Leinen gekleidet, das sie selber gesäumt und zu ihrem Fest genäht hatte.

Mein armes, gemartertes Haupt sank herab an die Brust meiner alten Freundin. Sie streichelte mich und sprach mir zu wie einem betrübten Kinde, so wie sie mich so viele Male in entschwundenen Tagen getröstet und verhätschelt hatte. Sie wie auch ich vergassen wohl, dass ich jetzt ein grosser und kluger Mann war. Ich hatte ein Gefühl, dass es mir wohl that, an ihrer einfältigen Brust zu ruhen, es war mir, als besänftige sich mein Kummer, während sie flüsterte: »Und dann muss es doch so schön für ihn sein, zu wissen, dass sie nicht allein liegen soll, dass sie zu seiner Mutter hinauskommt. Die beiden werden so viel und so liebevoll von ihm reden, davon kann er überzeugt sein, und geschieht ihm ein grosses Leid oder ein schwerer Schicksalsschlag, so wird er fühlen, wie sie ihn tröstend umschweben.«

Der Pfarrer, die starke Geissel der Kirche über die Unwissenheit der Stadt, trat an Gretens Sarg. Er schaute forschend strenge auf die Versammlung, aber als ob er unwillkürlich verstünde, dass hier an dem Sarge dieses jungen Mädchens, gegenüber diesen weinenden alten Frauen und diesem hart betroffenen Fremden, die Strenge eine Entheiligung sein würde, so ergoss sich ein Schimmer bewegter Menschlichkeit über seine scharfen Züge, und als er zu reden begann, bebte seine Stimme.

»Ich kannte das junge Mädchen nicht, das Gott heimgerufen hat, als sie gerade an dem Eingang zu dem grössten Erdenglück zu stehen vermeinte. Aber es ist mir nur Gutes und Schönes von ihr erzählt worden. Sie scheint auf eigenen Wegen an dem hochgelegenen, einsamen Ort, an dem sie wohnte, Frieden mit Gott und der Welt gefunden zu haben. Sie scheint auch die Fähigkeit gefunden zu haben, andern Frieden mitzuteilen. Ich kenne nicht diejenigen, die ihr die Nächsten waren und für die ihr Tod ein so schwerer Schlag wurde. Ich weiss nicht, ob ihr Schmerz den einzigen Trost gesucht hat, den ich den rechten nenne. Aber mein Herz krümmt sich in teilnehmendem Verständnis ihres Schmerzes. Ich bitte Gott, ihr und ihnen seinen Frieden zu schenken. Amen.«

Allein mit dem Pfarrer wanderte ich hinter Gretens Sarg her nach dem Friedhof hinüber. Ich sehe, wie der Frühling begonnen hat, seinen Schmuck über den Tod zu breiten. Ich sehe die Blüten des Frühlings, und ich höre in meinem Ohr das Wort des Pfarrers von Gottes Frieden wiederhallen. Und meine Seele schreit voller Qual: »Du lügst, Pfarrer, so wie auch der Frühling auf den Gräbern lügt! Alle Blumen der Welt können das Grauen des Todes, dass sie, die ich liebte, von Würmern gefressen werden soll, nicht verdecken. Alle Geistlichen der Welt können nicht zu mir aus dem Grabe den Frieden aufsteigen lassen, der für ewig mit ihr zur Erde bestattet wurde.«

Der Sarg ist in das Grab gesenkt; der Pfarrer hat das Gebet gesprochen und mir die Hand gedrückt, – ich bin allein.

Aber so recht allein bin ich doch erst, als ich, kalt und zitternd von dem langen Stillsitzen in der scharfen Frühlingsluft, meine Gräber verlasse und auf den Mühlenberg hinaufgehe, der jetzt auch Gretens irdische Hülle nicht mehr beherbergt.

So allein, so allein.

XXXVII.

April.

Ich flüchtete ja hierher, um die Einsamkeit zu finden. Ich fand sie. Und wenn Grete nicht meinen Weg gekreuzt hätte, würde die Einsamkeit mich nicht geschreckt haben. Denn dann hätte ich das Entbehren nicht gekannt, das mich jetzt wie einen Friedlosen umher jagt.

Ein Friedloser bin ich in meiner Einsamkeit. Wo finde ich den Winkel, der mir eine Freistatt gewähren kann? Mag ich nun in den öden Gassen der alten Stadt umherschweifen oder meinen Fuss müde laufen auf den steilen Wegen des Mühlenberges, überall verfolgt mich das Entbehren gleich einem gierigen Raben, mir heiser ins Ohr schreiend, bereit, mir seinen Schnabel in das Herz zu schlagen. Da ist kein Fleck, kein Haus, kein Baum, der mir nicht mein Entbehren entgegenruft. »Weisst Du wohl noch, als Du das letzte Mal hier warst, kamst Du mit ihr! Jetzt bist Du allein, sie giebt Dir nie mehr das Geleite.« – »Hier sassest Du mit ihr. Ihr sprachet von Eurem Glück, Ihr träumtet Euch in die Zukunft hinein, alles, was Ihr sprachet, dachtet und träumtet, war Sommer und Sonne, eitel Lust und Leben. Jetzt ruht sie in der Erde, den Traum hat der eisige Hauch des Todes verweht.«

Ich habe den Frieden im Klostersaal der Bibliothek gesucht, dessen hoheitsvolle Stille ehedem meinen Sinn mit alten Erinnerungen in süsse Ruhe wiegte. Aber der Rabe sass auf meiner Schulter: »Du junger Mönch, weshalb weilt Dein Blick so sehnsuchtsvoll bei dem Baum da draussen hinter der Mauer? Bleibe nur, wo Du bist. Dich erwartet niemand mehr, wenn sich die Finsternis auf das Kloster herabsenket. Im Klostergarten sind die Nachtigallen verstummt. Und in dem alten Baum baut der Rabe sein Nest.«

Im Quellgarten bin ich gewesen, ich wage nicht wieder dahin zu gehen. Es war mir, als verstummten die Kinder, als ich mich blicken liess. Ich las in ihren Augen die betrübte Frage: »Wo ist sie. die sonst stets bei Dir war, und die uns so lieb hatte? Du darfst nicht allein kommen, Du musst sie holen.«

Meine Freundin im Stift trauert über meine Treulosigkeit. Gerade jetzt möchte sie mir so gern ihre Zuneigung beweisen. Sie versteht es nicht, und ich kann mich nicht dazu entschliessen, es ihr zu sagen; mein wundes Herz kann die mitleidsvollen Blicke nicht ertragen, durch die hindurch es Spiessruten laufen muss, sobald ich mich innerhalb der Thüren des Stiftes befinde; die mich auf Treppen und in Gängen verfolgen bis an ihre Thüre, und die mich in ihrem eigenen Zimmer empfangen, mir aus ihren treuen Augen entgegenschauen.

Am qualvollsten ist es aber doch, Gretens Vater zu besuchen. Sich in den Stuben zu bewegen, die sie mit ihrem Frieden und ihrer Anmut erfüllte, wo unter jedem Schritt, den man thut, das Entbehren jammert wie ein gequältes Tier, wo die Luft noch erzittert von ihrem Todesseufzer, wo endlich der alte Mann sitzt und mit den leeren Augen des Schicksals das Fürchterliche anstarrt, das er vollbracht hat. Was haben er und ich einander Trostreiches zu sagen? Er hört wohl kaum die Vernunftsbetrachtungen, mit denen ich seiner Selbstanklage zu begegnen suche und seinen verwirrten Reden von Gretens Unglück, das er als Rache der beleidigten, erzürnten Mühle ansieht. Bin ich denn aber selber ganz unbeeinflusst von seinen sonderlichen Grübeleien? Oder ist es allein die Erinnerung an jenen entsetzlichen Morgen, die das Grausen in meinem Sinn erweckt und mich erzittern macht, sobald ich an der Mühle vorüberkomme? Noch liegt sie da, noch hat ihr Herr das Urteil über sie nicht fällen wollen.

Wenn aber das Entbehren mich friedlos von einem Ort zum andern gejagt hat, suche ich Ruhe in meiner Arbeit, in meinem Buch. Während ich daran schreibe, vergesse ich, dass Grete tot ist. In diesem Buch lebt sie, in ihm ersteht sie wieder mit dem Gottesfrieden, den sie mir schenkte, als ich, ein müder Flüchtling, zu der Einsamkeit des Mühlenberges kam.

XXXVIIL

In den letzten Tagen des April

Ich hätte wohl Lust, eine Vorrede zu meinem Buch zu schreiben, das jetzt fertig ist. Freilich thut der moderne litterarische Katechismus Vorreden in den Bann, ebenso wie die alten vertraulichen Anreden des Verfassers an den lieben Leser mitten im Buche. Eines der ersten Gebote lautet: Der Verfasser darf niemals mit seiner Person hervortreten und auch seine Privatansichten nicht zu erkennen geben. Der Verfasser objektiviere sich in seinem Werk, das für sich zu reden hat.

Den Humbug, der hierin liegt, nachzuweisen, sollte u. a. der Zweck meiner Vorrede sein. Hat ein Schriftsteller seinen Lesern gegenüber etwas auf dem Herzen, so wird er es ihnen schon zu sagen wissen trotz des Verbots des Katechismus. Er lässt nur eine der Personen einen kleinen Vortrag halten. Und was nützt es, dass man ihm verbietet, persönlich in seinen Büchern aufzutreten? Die allermeisten Bücher handeln von den Verfassern selber. Die Folge des Verbots gegen die unmaskierten schwarzen Dominos wird dann sein, dass die Verfasser sich mehr oder weniger geschmackvoll, mehr oder weniger durchschaubar kostümieren. Nehmt die gesammelten Produkte eines unserer Autoren vor, und Ihr werdet ihn in einer Reihe wechselnder Verkleidungen vorbei paradieren sehen: als Geistlicher und als Arzt, als Ingenieur und als Architekt; bald als überlegener Vernunftsmensch, bald als tiefsinniger Grübler; bald als kindlicher Phantast, und bald als verzweifelter Aufwiegler gegen die staatliche Ordnung. Der naive Mann bildet sich ein, dass er in seiner sinnreichen Verkleidung wohl verwahrt ist. Aber nicht nur seine Berufsgenossen, die die Pfiffe kennen, schreiben ihm augenblicklich lachend in die Hand. Auch die Leser, die von der modernen kritischen Methode dressiert sind, deren Stolz gerade darin besteht, »die Katz' zu finden,« zeigen sofort mit Fingern auf ihn und rufen einander entzückt zu: »Habt Ihr den schiefbeinigen Herrn A... gesehen? Jetzt tritt er, weiss Gott, als unwiderstehlicher Ingenieur auf! Wie denkt Ihr über den immer vergnügten Herrn B.? Ist es nicht zum Totlachen, wenn er die Rolle des weltverachtenden Naturforschers spielt?«

Die Verkleidung führt niemand anders hinters Licht als den Verfasser selber. Er denkt, da ich nun doch einmal ein Kostüm anlegen soll, will ich mich auch gleich so schön machen, wie ich ja im Grunde bin. Welch eine lächerliche Galerie von Selbstporträts hat nicht die moderne Litteratur aufzuweisen. Wie haben die Verfasser nicht darin geschwelgt, sich zu konterfeien als Jünglinge mit schönen Gesichtern, mit schlanken, eleganten Gestalten, mit feurigen blauen oder braunen Augen, oder mit Augen, die berückend in allen Farben spielen! Oder sie haben sich selber in reifer Männlichkeit geschaut, mit Ernst und Sicherheit in dem willensstarken Blick, mit ergrauenden, aber noch ungelichteten Locken. Mit liebevoller Nachsicht retouchieren sie alle Bäuche und Mondscheine, alle Lächerlichkeiten und Hässlichkeiten weg. Und geschieht es ausnahmsweise einmal, dass sie, wenn sie sich im Spiegel erblicken, eine Ahnung davon bekommen, dass eine gewisse Bescheidenheit vielleicht angebracht sein würde, so kann man sicher daraufrechnen, dass die Schwächen oder Fehler, die sie sich mit edler Aufrichtigkeit eingestehen, in die vorteilhafte Beleuchtung einer Eigentümlichkeit gestellt werden, die jegliche gewöhnliche Schönheit bei weitem übertrifft. Oder sie entschädigen sich noch ferner für die kokett zugestandenen körperlichen Unzulänglichkeiten, indem sie die geistigen Vorzüge, an denen es in der Selbstschilderung eines Autors niemals gebricht, noch überwältigender darstellen.

So sehen wir denn unsere Schriftsteller, die Opfer des Verkleidungs-Humbugs, dem Spott einer leicht zum Lachen geneigten Mitwelt ausgesetzt.

Aber das ginge allenfalls noch an. Weit schlimmer ist es, dass die Verkleidung den Verfasser hemmt, die ungeschminkte Ansicht seines Herzens zu äussern. Die Maskeradenbücher erfordern ein peinliches Rücksichtnehmen auf ästhetische Sitten und Gebräuche, die als Humbug empfunden werden, weil der Verfasser weiss, woraus sie bestehen. Wir alle kennen die moderne Romanformel: ein erstes Kapitel, in dem wir perdautz in die Handlung hineinspringen, und ein zweites Kapitel, wo wir durch eine weitschweifende, langweilige Vorgeschichte, die der Verfasser mühsam für den Hintergrund seiner Maskerade zusammengestellt hat, an Land gezogen werden. Alle diese äusserlichen Rücksichten auf Garderobe, Maschinerie, Dekorationen und Personen, die nach einer stereotypen Kapitel-Regie gegen einander operieren sollen, saugen das Mark aus der Energie, die das Buch zu einem ganzen und echten Ausdruck für die Erlebnisse und Stimmungen und Gefühle machen sollte, die es in der Seele des Verfassers erzeugt haben. Das Gekünstelte, die Kunstfertigkeit ersticken das einfache, einfältige Herzens-Geständnis, das das Buch andern Herzen, die etwas Ahnliches erlebt und gefühlt haben, zu machen bezweckt.

Deswegen habe ich mein Buch so geradeaus erzählt, wie ich es gelebt habe. Deswegen wende »ich« mich selber an die Leser. »Ich« bin weder schön, noch hässlich, weder ein wohlgestalteter Troubadour, noch ein dämonischer Buckeliger. »Ich« bin nichts als ein Herz mit dem Bedürfnis, seine Freud' und sein Leid in die Welt hinauszusingen. »Das Kostüm« mag für die grossen Bücher passen, die die Maskerade des Lebens schildern. Die kleinen Bücher des Herzens werden am besten von dem geschrieben, der nichts weiter zu sein trachtet als »ich«.

XXXIX.

Den 30. April.

Ich habe mein Buch abgeschlossen; ich habe mit allem abgeschlossen, was hier für mich zu wirken war.

Gestern Abend, als ich auf dem letzten Blatt Gretens Augen mit einem Abschiedskuss geschlossen hatte und das leere, weisse Papier vor mir lag, da begriff ich, dass jetzt erst so recht die einsamen Tage auf dem Mühlenberg kommen würden. Und ich stand auf, sammelte alles zusammen, packte meinen Koffer und benachrichtigte meinen Wirt, dass ich morgen mit dem Schiffe reisen würde.

Was ich will? Vor allen Dingen fort von hier. Dann aber dorthin, wo mich die Arbeit erwartet. Müde, weil sie mir zu nichts zu führen schien, gab ich sie auf. Ich nehme sie wieder auf, ohne zu grosse Illusionen, aber mit dem Gefühl, dass sie auf alle Fälle ihren Wert in sich hat. Die Ruhe schenkt nur den Glücklichen Frieden. Uns anderen lindert die Arbeit das Unglück.

Ich kann es ja auch gestehen. Wenn ich in der letzten Zeit hin und wieder, um mich ein wenig zu zerstreuen, eines der Cafés der Stadt besucht und dort eine Zeitung in die Hand genommen habe, hat sich in mir die kribbelnde Lust geregt, von neuem eine Feder für oder wider das zu führen, was ich las. Ich fühlte, dass meine Mühle nur zeitweilig still stand, dass ein wenig Wind sie in Bewegung setzen könne. Und ich glaubte, dass das Verständnis für Gretens Vater in mir dämmerte. Nicht die Mühle, sondern er hatte das Bedürfnis, die Räder schnurren und die Flügel sausen zu hören. In seinem eigenen Innern erklang die Anklage gegen den Zustand der Ruhe. Es war mir, als verstünde ich noch mehr. Ich hörte den Warnungsruf: »Wehe dem, der die Mühle blindlings gehen lässt! – –«

Heute bin ich umher gewesen, um Abschied zu nehmen. Von der Stadt, von dem Mühlenberg, von alledem, was für mich die lichtesten und die bittersten Erinnerungen umschliesst.

Ich habe meiner Freundin im Stift Lebewohl gesagt. Ihrer Treue übergab ich Gretens Grab zur Obhut und Pflege. Denn ich weiss, dass der alte Müller nicht da hinauskommen wird, ehe man ihn selber zur ewigen Ruhe dorthin trägt. Ich sagte zu meiner Freundin: »Schmücke das Grab nicht mit den vergänglichen Blumen, deren Trost eine armselige, prahlende Lüge ist; bedecke es mit den bescheidenen Pflanzen der stets lebenden Erinnerung, mit Epheu und Immortellen.« Weinend gelobte meine Freundin mir das: »Ihr Grab soll geschmückt werden, so wie er es will, so lange mich Gott am Leben lässt. Und gehe ich davon, so werden die andern hier drinnen thun, was ich gethan habe. So lange nur noch eine übrig ist, die ihr liebes Antlitz gesehen hat, soll ihr Grab nicht verfallen, darauf kann er sich verlassen.«

Bei Gretens Vater war ich. Ich fand ihn zugänglicher als bisher seit dem Unglück. Die Nachricht von meiner Abreise schien keinen weiteren Eindruck auf ihn zu machen. Was war ich denn für ihn ausser in Verbindung mit Grete? Er erzählte mir, dass er die alte Frau, die früher im Hause zur Hand ging, gedungen habe, sie solle bei ihm wohnen und ihn pflegen. Für ihn sei also gesorgt. Von einem Verlassen des Mühlenberges wollte er nichts hören; jetzt weniger denn je. Denn jetzt – so erzählte er mir – wäre es mit der Mühle »in Ordnung«. Statt sie niederzureissen, habe er sie zu einem Trauerdenkmal für Grete eingerichtet. Alles Maschinenwerk habe er zerhauen lassen, und, an das Gebäude festgenagelt, stünden die Flügel als aufrechtes Kreuz da, nach dem Fjord hinauszeigend. »Weder sie noch ich,« sagte er, »können jetzt noch Unheil im Leben anrichten. Wir bleiben hier beieinander an der Stelle, wo wir uns versündigt haben. Und dann ist es ja mein Gedanke, dass die Mühle, wenn ich sterbe, als Seezeichen eingesetzt und auf der Karte als ›Gretens Andenken› verzeichnet werden soll.«

Aus dem Müllerhause tretend, durchschritt ich den Garten, der in seiner ganzen Frühlingspracht prangte, aber es war deutlich zu merken, dass niemand mehr daran dachte, ihn zu pflegen. Das Gras auf den Rasenplätzen wuchs wild und ungemäht, auf den Beeten wucherte das Unkraut üppig zwischen den Blumen. Ich sah den Tag kommen, wo der Garten zur Wildnis werden und dann dem unfruchtbaren Westwind wieder zur Beute fallen würde. Die milde Hand der Liebe und des Friedens war von der Oase des Mühlenbergs gewichen.

Zuletzt war ich auf dem Friedhof. Bei ihr, die die Sonne meiner Kindheit war, und bei ihr, die diese Sonne einen kurzen, aber unvergesslichen Tag wieder aufleuchten liess über meinem Mannesalter.

Ihr beiden guten Mütter, schlaft in Frieden, Seite an Seite, auf dem Friedhof meiner alten Stadt.

– – Mein Koffer ist gepackt. Obenauf liegt eines der kleinen Hemdchen, die Grete für unsern Sohn genäht hat.

XL.

Den 1. Mai. An Bord.

Das Schiff glitt aus dem Hafen hinaus, vorüber an dem Schloss mit der alltäglichen, grauen Fassade, um den Brückenkopf herum, wo meine alte Freundin stand und mir ein letztes Lebewohl zuwinkte. Hinter mir lag nun die Stadt, lächelnd rot zwischen frühlingsgrünen Feldern und Hügeln, mit munterm Rauch aus allen Schornsteinen und Storchengeklapper über den Dächern. Langsam verblasste sie im Abendnebel. Das Schiff bog um eine Landzunge, verschwunden war die Stadt.

Ich erwachte, als habe sich der Vorhang vor einem Schauspiel herabgelassen, in dessen ferner Traumwelt ich für eine kurze Zeit gelebt hatte. Da folgte das Schiff einer neuen Biegung des Fjords, und einen einzigen Augenblick gewahrte ich, fern am Horizont, den Gipfel des Mühlenberges und hoch oben die Mühle, – ein schwarzes Kreuz auf weissem Grunde.

So ist die alte Stadt unwiderruflich entschwunden. Und ich kehre dorthin zurück, von wannen ich kam. Zu alten Freunden und alten Feinden.

Ist denn dieses Jahr vergebens gewesen, ist es spurlos verschwunden wie die märchenhafte Traumwelt, vor der der Vorhang herabfällt?

Gewiss nicht. Es hat mir das Treuga Dei gebracht, nach dem die ganze Erde seufzt, jenen Gottesfrieden, den selbst unsere kriegerischen Vorfahren einander gönnten, der die Seele läutert und den Willen veredelt. Ich kehre zurück, von wannen ich kam, aber nicht als derselbe. Ich habe, was mir bisher fehlte, ein hohes, sicheres Wahrzeichen für meine Fahrt: Gretens Andenken. Meine Freunde werden mich vielleicht mit einem mitleidsvollen Achselzucken empfangen, meine Feinde werden mir vielleicht ein spöttisches Lächeln zusenden. Sie werden erfahren, dass weder zum Mitleid, noch zur Freude Grund vorhanden ist. Der Gottesfriede, der meine Seele berührt hat, bedurfte keiner Umkehr, das Seezeichen, das mein Leben genommen hat, führt mich nicht in einer neuen Richtung. Nur sicherer verfolge ich jetzt einen geraderen Weg.

Auf Deinem Totenbette, Grete, machtest Du Dir den Vorwurf, dass Du als Jungfrau in meinen Armen stürbest. Ich zweifelte niemals an Deiner bereitwilligen Freigiebigkeit. Jungfrau oder Nicht-Jungfrau, Du wärest dieselbe geblieben. Ich weiss auch, dass keine Seligkeit grösser gewesen wäre, denn als Bräutigam an Deiner Seite zu ruhen. Aber Du, meine jungfräuliche Braut, hast mich das bisher ungekannte Glück des Entsagens gelehrt. Du hast mich das Glück gelehrt, auf dem Wege zum Glücke zu sein, selbst wenn man es niemals erreicht.

Ich setze die Mühle wieder in Gang. Es muss so sein. Sie fordert ihr Recht von meiner Jugend und von meinen Fähigkeiten. Und ich denke daran, dass der Mühlenflügel, der Dich tötete, vielleicht keinen Fluch verdient. Vielleicht handelte er weit eher milde und gut, als er Dich blindlings aus dem Leben nahm, ehe die entsetzliche Stunde hereinbrach, in der ich, ohne sehen zu wollen, meine Mühle, an deren Flügeln Du Ruhe gesucht hattest, in Gang setzte. »Gretens Andenken« hat mich gelehrt, vorsichtig zu sein.

Mein Traum ist aus. In der Frühlingsnacht trägt mich das Schiff zurück aus meiner alten Stadt, der Wirklichkeit und der Arbeit entgegen. Der Traum ist aus. Gottes Friede ist verronnen. Grete ist tot.

Oder war es kein Traum? Oder träume ich noch? Ich meine, während ich dies schreibe, Gretens Hand auf meiner Schulter zu fühlen, zu hören, wie sie mir ins Ohr flüstert:

»Gottes Friede verrinnt nimmer für den, der liebt.«


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