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Der Sommer war also vorüber, und es begannen unser zweiter Herbst und Winter. Jedoch hatten wir uns jetzt mehr an die mit dieser Lebensweise verknüpften Geduldsproben gewöhnt, sodaß die Zeit uns rasch verging. Außerdem war ich auch von neuen Plänen und Vorbereitungen in Anspruch genommen.
Ich habe schon mehrfach erwähnt, daß wir im Laufe des Sommers alles in Bereitschaft gesetzt hatten für den Fall, daß wir über das Eis heimkehren müßten. Wir hatten sechs Doppel-Kajaks gebaut, die Schlitten waren in guten Zustand gesetzt, und wir hatten sorgfältig berechnet, wie viel wir an Nahrungsmitteln, Kleidungsstücken, Brennmaterial u. s. w. nothwendigerweise mitführen müßten. Aber ich hatte in der Stille auch Vorbereitungen zu treffen begonnen für die von mir geplante eigene Expedition nach Norden.
Im August hatte ich, wie erwähnt, an einem einfachen Kajak zu arbeiten angefangen, dessen Gerüst aus Bambus hergestellt war. Außer wenigen Worten zu Sverdrup hatte ich noch zu niemand von meinem Plane gesprochen, da ich ja nicht wissen konnte, wie weit nördlich die Drift uns bringen würde, und da sich vor dem Frühjahr noch vielerlei ereignen konnte.
Inzwischen ging das Leben an Bord seinen gewohnten Gang.
Wir hatten außer den regelmäßigen Beobachtungen noch mancherlei andere Beschäftigungen, und ich selbst war von meinen Plänen so vollständig in Anspruch genommen, daß ich für andere Dinge keine Zeit gefunden hätte.
So ersehe ich aus meinem Tagebuche, daß ich gegen Ende August und im September sehr stolz auf eine Erfindung gewesen sein muß, die ich für die Küche gemacht hatte.
Das letzte Jahr hatten wir auf einem Kupferherde gekocht, der durch Petroleumlampen erhitzt wurde. Es ging ganz gut; nur war das Unangenehme dabei, daß täglich mehrere Liter Petroleum verbrannt wurden. Ich konnte mich daher zuweilen der Befürchtung nicht entziehen, daß unser Vorrath von Leuchtmaterial auf die Neige gehen könne, wenn die Expedition länger dauerte, als wir erwartet hatten. Ich hatte immer über eine Aenderung nachgedacht und darüber, ob es nicht möglich sein würde, einen Apparat herzustellen, aus dem sich Theeröl – »Schwarzes Oel« nannten wir es an Bord – brennen lasse, von dem wir zwanzig Tonnen an Bord hatten, da es ursprünglich für die Maschine bestimmt war. Und es gelang mir, einen solchen Apparat herzustellen!
Am 30. August schrieb ich:
»Habe meinen neuerfundenen Theeröl-Apparat zum Heizen des Herdes probirt und über Erwarten Erfolg damit gehabt. Es ist prachtvoll, daß wir jetzt im Stande sind, in der Küche Theeröl zu brennen. Jetzt brauchen wir nicht zu befürchten, daß wir demnächst über Mangel an Licht zu klagen haben werden; das vermehrt unsern Oelvorrath um 20 000 Liter, und wir können all unser schönes Petroleum zu Beleuchtungszwecken behalten und haben auf viele Jahre Lampenlicht, selbst wenn wir etwas verschwenderisch damit umgehen. Die 20 Tonnen Theeröl müßten meiner Meinung nach den Herd vier Jahre im Gange halten.
»Die Einrichtung ist so einfach wie möglich. Aus einem Behälter führt ein Rohr hinab nach der Feuerstelle und in diese hinein; das Oel tropft vom Ende dieses Rohres in eine eiserne Schale und wird von einer Schichte Asbest oder Kohlenasche aufgesogen. Der Zufluß des Oels aus dem Rohr wird durch den Hahn eines feinen Ventils regulirt.
»Um guten Zug herzustellen, habe ich in der Nähe der Herdthür ein Luftzufuhrrohr angebracht, durch welches hindurch die Luft gerade auf die eiserne Schale geblasen wird, in der das Oel mit lebhafter, hellweißer Flamme brennt. Die Luft wird mit Hülfe des großen Windsegels auf Deck in den Kanal hineingetrieben.
»Wer morgens das Feuer anzündet, braucht nur an Deck zu gehen und nachzusehen, daß das Windsegel nach dem Winde gestellt ist, den Luftkanal zu öffnen, den Hahn so aufzudrehen, daß das Oel in gehöriger Weise zufließt, es mit einem Stück Papier anzuzünden und es im übrigen sich selbst zu überlassen, bis das Wasser in etwa zwanzig Minuten oder einer halben Stunde kocht.
»Man kann es, wie mir scheint, nicht leichter haben. Aber natürlich ist es bei uns wie in andern Gemeinwesen schwer, Reformen einzuführen; alles Neue wird mit Argwohn betrachtet.«
Etwas später schrieb ich über den Apparat:
»Wir benutzen jetzt wieder die Küche mit der Theeröl-Feuerung; vorgestern wurde der Apparat hinuntergeschafft Im Laufe des Sommers hatten wir aus dem Kartenraum auf Deck des dort herrschenden guten Tageslichtes wegen eine Küche gemacht; außerdem mußte auch die eigentliche Küche gereinigt und angestrichen werden. und gestern wurde er in Benutzung genommen. Derselbe functionirt vorzüglich; Wind von 1 Meter Geschwindigkeit genügt, einen prachtvollen Zug hervorzubringen.
»Als ich vorgestern Nachmittag mit einigen der anderen im Salon saß, vernahm ich draußen in der Küche einen dumpfen Knall und sagte sofort, daß es wie eine Explosion klinge. Gleich darauf steckte Pettersen Pettersen war vom Schmied zum Koch avancirt; er und Juell waren abwechselnd vierzehn Tage in der Küche. seinen Kopf, der so schwarz wie der eines Schornsteinfegers und überall mit großen Rußflecken bedeckt war, durch die Thür und berichtete, der Herd sei explodirt und ihm ins Gesicht geflogen; er habe nur nachsehen wollen, ob das Feuer ordentlich brenne, und da sei das ganze Teufelszeug ihm entgegen geflogen.
»Während ihm ein Strom von Worten, untermischt mit Flüchen, vom Munde floß wie Erbsen aus einem Sack, schrien wir Uebrigen vor Lachen laut auf.
»In der Küche war sofort zu sehen, daß etwas passirt war, da die Wände mit Rußflecken und nach dem Herde zeigenden Streifen bedeckt waren.
»Die Erklärung des Unfalls war sehr einfach. Da nicht genügend Zug gewesen war, hatte sich eine Menge Gas gebildet, das aber nicht hatte brennen können, bis Pettersen durch das Oeffnen der Thür Luft hatte hinzutreten lassen.
»Das ist ein guter Anfang! Abends sagte ich Pettersen, ich würde am nächsten Tage selber kochen und dann mit dem Apparat eine richtige Probe vornehmen, allein davon wollte er nichts wissen. Ich solle nicht glauben, sagte er, daß er nach einer solchen Kleinigkeit etwas früge; ich könne ihm vertrauen, daß alles in Ordnung sei.
»Von dem Tage an habe ich nichts als Lob über den neuen Apparat gehört, der gebraucht worden ist, bis die ›Fram‹ wieder draußen auf offenem Wasser war.«
Donnerstag, 6. September. 81° 13,7' nördlicher Breite.
Bin ich heute fünf Jahre verheirathet? Voriges Jahr, als die Eisfesseln bei der Taimyr-Halbinsel zerbarsten, war es ein Tag des Sieges. Jetzt ist kein Gedanke an Sieg. Wir sind nicht so weit nördlich, wie ich erwartet hatte; der Nordwestwind hat wieder eingesetzt; wir treiben nach Süden.
Und doch erscheint mir die Zukunft nicht so bang und düster, wie es zuweilen der Fall gewesen ist!
Ist es möglich, daß am nächsten 6. September jede Fessel gesprengt ist und wir beisammen sitzen und von unsern Fahrten im fernen Norden und von all unserm Verlangen plaudern, wie von etwas, das dermaleinst gewesen ist und nie wieder sein wird? Die lange bange Nacht ist vorüber; der Morgen bricht gerade an, und ein neuer herrlicher Tag liegt vor uns. Und was spricht dagegen, daß das im nächsten Jahre geschieht? Weshalb soll dieser Winter die »Fram« nicht nach Westen an einen Punkt im Norden von Franz-Joseph-Land bringen? ...
Dann ist meine Zeit gekommen, und ich mache mich mit Hunden und Schlitten auf nach Norden. Mir klopft das Herz schon vor Freude bei dem Gedanken daran. Der Winter wird mit all den Vorbereitungen für eine solche Expedition verbracht werden und schnell genug hingehen.
Ich habe die letzte Zeit mich schon immer mit diesen Vorbereitungen beschäftigt.
Ich denke darüber nach, was alles mitgenommen werden muß und wie es einzurichten ist, und je mehr ich die Sache von den verschiedensten Seiten betrachte, desto fester bin ich davon überzeugt, daß der Versuch erfolgreich sein wird, wenn die »Fram« zu gehöriger Zeit loskommt und wir nicht zu spät im Frühjahr nach Norden treiben.
Wenn sie nur 84° oder 85° erreichen könnte, würde ich mich gegen Ende Februar oder in den ersten Tagen des März aufmachen, sobald nach der langen Winternacht das Tageslicht kommt, und das Ganze würde wie im Tanze gehen.
Nur noch vier oder fünf Monate, dann ist die Zeit zum Handeln wieder gekommen. Welche Freude!
Wenn ich jetzt über das Eis hinausblicke, ist es mir, als ob meine Muskeln zitterten vor sehnsüchtigem Verlangen, endlich einmal im Ernste über das Eis zu schreiten – Ermüdung und Entbehrungen würden dann ein Vergnügen sein. Es mag thöricht erscheinen, daß ich mich entschlossen habe, diese Expedition zu unternehmen, während ich vielleicht in aller Ruhe wichtigere Arbeit hier an Bord vornehmen könnte, indeß werden die täglichen Beobachtungen auch ohne mich genau wie sonst angestellt.
Ich habe diesen Tag damit gefeiert, daß ich meinen Arbeitsraum für den Winter eingerichtet habe. Ich stellte einen Petroleumofen auf und hoffe, daß er den Raum selbst beim kältesten Wetter warm halten werde, im Verein mit den Schneemassen, die ich an der Außenseite aufzubauen beabsichtige, und einer tüchtigen Schneeschichte oben auf Deck.
Wenn diese Kabine im Winter benutzt werden kann, läßt sich mindestens das Doppelte an Arbeit leisten und ich kann hier oben sitzen, anstatt inmitten des Spektakels unten. Ich habe jetzt höchst gemüthliche Zeiten, Frieden und Ruhe, und kann meine Gedanken ungehindert schweifen lassen.
Sonntag, 9. September. 81° 4' nördlicher Breite.
Seit einigen Tagen ist die Mitternachtssonne verschwunden und die Sonne geht schon im Nordwesten unter; sie war gegen 10 Uhr abends fort, und es liegt wieder eine Röthe über dem ewigen Weiß. Der Winter naht rasch heran.
Wieder ein friedlicher Sonntag, mit Ausruhen von der Arbeit und etwas Lesen.
Auf einer Schneeschuhfahrt überschritt ich mehrere überfrorene Rinnen. Hier und dort haben leichte Eispressungen begonnen. Endlich wurde ich durch eine breite offene Rinne aufgehalten, welche sich in nordsüdlicher Richtung erstreckte und stellenweise 1200 bis 1500 Meter breit war. Weder nach Norden noch nach Süden war das Ende abzusehen. Die Schneeschuhbahn war gut, man kam rasch weiter; mit dem Winde ging es ohne jegliche Anstrengung.
Es ist unleugbar ein einförmiges Leben. Manchmal kommt es mir vor, wie eine lange, dunkle Nacht, die vom »Ragnarok«, der Götterdämmerung meines Lebens, in zwei Abschnitte getheilt wird ... »Die Sonne und mit ihr der Sommer ist verdunkelt, alles Wetter ist mit Weh belastet«, Schnee bedeckt die Erde, der Wind pfeift über die endlosen Schneeflächen, der Winter dauert drei Jahre, bis die Zeit für die große Schlacht kommt, und »die Menschen Hel's Weg wandeln«.
Das ist ein schwerer Kampf zwischen Leben und Tod, aber dann kommt das Reich des Friedens. Die Erde erhebt sich wieder aus dem Meer und bedeckt sich aufs neue mit Grün.
»Bergströme tosen, über ihnen schweben Adler, die nach Fischen zwischen den Klippen spähen«, und dann kommt Walhall, schöner als die Sonne, und kommen glückliche Tage auf lange hinaus.
Heute Abend kam Pettersen, der diese Woche als Koch fungirt, zu mir herein, um sich wie gewöhnlich den Speisezettel für den nächsten Tag zu holen. Nachdem dies Geschäft erledigt war, blieb er noch einen Augenblick stehen und erzählte, er habe in letzter Nacht einen ganz seltsamen Traum gehabt; er habe eine neue Expedition als Koch begleiten, »aber Dr. Nansen hat mich nicht mitnehmen wollen«.
»Und weshalb nicht?«
»Ja, mir träumte, daß Dr. Nansen mit vier Leuten über das Eis nach dem Pole ginge, und da bat ich darum, mitgenommen zu werden; allein Sie sagten, Sie brauchten auf dieser Expedition keinen Koch; ich fand das sehr sonderbar, weil Sie doch sicherlich auch auf dieser Fahrt Nahrung nöthig hatten. Es kam mir so vor, als ob Sie angeordnet hätten, daß das Schiff an einer andern Stelle wieder mit Ihnen zusammentreffen solle; jedenfalls wollten Sie nicht hierher, sondern nach einem andern Lande zurückkehren. Es ist merkwürdig, was man im Schlafe zusammenfaseln kann.«
»Das war vielleicht doch kein so großer Unsinn, Pettersen; es ist sehr wohl möglich, daß wir eine solche Expedition zu unternehmen haben, doch würden wir in diesem Falle nicht nach der ›Fram‹ zurückkehren.«
»Nun, wenn das geschehen sollte, möchte ich Sie sehr bitten, mitgehen zu dürfen; das wäre gerade, was ich möchte. Ich bin zwar kein großer Schneeschuhläufer, ich würde es aber doch aushalten.«
»Das ist alles sehr schön, allein auf einem solchen Marsche gibt's eine Menge ermüdender, schwerer Arbeit; Ihr müßt nicht denken, daß alles nur Vergnügen ist.«
»Nein, niemand würde das erwarten; es würde aber alles schon zurechtkommen, wenn ich mir mitgehen könnte.«
»Vielleicht gibt es aber noch Schlimmeres als Strapazen, Pettersen. Mehr als wahrscheinlich ist, daß Ihr das Leben dabei riskiren würdet.«
»Ja, prost Mahlzeit! Einmal muß jeder sterben.«
»Ja, aber Ihr wollt Euer Leben doch nicht verkürzen?«
»Na ja, darauf würde ich es ankommen lassen. Man kann das Leben zu Hause ebenso gut verlieren, wenn auch vielleicht nicht ganz so leicht wie hier. Wenn ein Mann aber immer daran denken wollte, würde er nie etwas thun.«
»Das ist wahr. Jedenfalls brauchte er eine Expedition wie diese nicht mitzumachen. Aber ein solcher Marsch nach Norden über das Eis würde kein Kinderspiel sein.«
»Nein, das weiß ich sehr gut, aber bei Ihnen würde mir nicht bange sein. Wenn wir allein fertig werden sollten, würde es nie gehen. Es würde ganz sicher verkehrt gehen; es ist aber ganz etwas anderes, sehen Sie, wenn ein Führer da ist, von dem man weiß, daß er alles vorher schon durchgemacht hat.«
Es ist außerordentlich, welch blindes Vertrauen solche Leute zu ihrem Führer haben. Ich glaube, sie würden, ohne sich einen Augenblick zu bedenken, selbst jetzt, wo der dunkle Winter vor der Thür steht, aufbrechen, um sich einer Expedition nach dem Pol anzuschließen, wenn sie dazu aufgefordert würden. Dies ist gut, solange das Vertrauen anhält, aber Gott sei dem Führer gnädig, sobald es einmal schwinden sollte!
Sonnabend, 15. September. Heute Abend haben wir zum ersten male wieder den Mond gesehen, wundervollen Vollmond; auch waren einige wenige Sterne am nächtlichen Himmel, der noch ganz hell war.
Heute ließ ich an mehreren Stellen Bekanntmachungen anschlagen, welche folgendermaßen lauteten:
Da ein an Bord ausbrechendes Feuer von den schrecklichsten Folgen sein könnte, kann nicht genug Vorsicht angewendet werden, um solche zu vermeiden. Aus diesem Grunde wird jeder aufgefordert, die nachstehende Verordnung auf das gewissenhafteste zu befolgen:
Fridtjof Nansen.
»Fram«, 15. September 1894.
Einige dieser Bestimmungen mögen scheinbar gegen das Princip der Gleichheit verstoßen, das ich so ängstlich aufrecht zu erhalten gesucht habe; allein sie schienen mir das beste Mittel für unser aller Sicherheit zu sein, vor der alles andere zurücktreten muß.
Freitag, 21. September. Wir haben einige Tage fürchterlich starken Wind aus Nordwest und Nord gehabt mit einer zeitweiligen Geschwindigkeit von 12 bis 13 Meter in der Secunde. Während dieser Zeit müssen wir eine gute Strecke nach Süden getrieben sein.
»Die radikale Rechte hat das Ruder ergriffen«, sagt Amundsen; allein die Freude war nur kurz, gestern wurde es windstill, und jetzt gehen wir nach Norden, und es sieht aus, als ob nunmehr die »Linke« eine Zeit lang am Ruder bleiben würde, um den von der »Rechten« angerichteten Schaden wieder gut zu machen.
In dieser Woche haben wir Ställe für die Hunde gebaut, eine Reihe prachtvoller Eishütten an der Backbordseite des Schiffes entlang; in jeder der Hütten, die ein schönes warmes Winterquartier bilden, sind vier Hunde.
Inzwischen wachsen unsere acht jungen Hunde an Bord auf; sie haben eine großartige Welt, in der sie umherstreifen können – das ganze Vorderdeck mit einem Segeldach darüber. Dort hört man ihr dünnes Bellen und Heulen, wenn sie zwischen Hobelspähnen, Handschlitten, der Dampfwinde, der Mühlenwelle und anderen Gegenständen der verschiedensten Art umherjagen. Sie spielen und kämpfen ein bischen und suchen dann ihr Lager zwischen den Hobelspähnen unter der Back auf, wo »Kvik« sich mit der ganzen Majestät einer Löwin hingestreckt hat. Dort wälzen sie sich auf einem Haufen um die Mutter, schlafen, gähnen, fressen und zerren sich gegenseitig an den Schwänzen.
Das ist hier oben in der Nähe des Pols ein Bild der Heimat und des Friedens, das man stundenlang betrachten könnte.
Das Leben geht seinen regelmäßigen, ebenen, ereignißlosen Gang, so ruhig wie das Eis selbst; und doch ist es wunderbar, wie schnell die Zeit verfliegt. Die Tag- und Nachtgleiche ist gekommen, die Nächte fangen an, dunkel zu werden, und um Mittag steht die Sonne nur 9° über dem Horizont.
Ich verbringe den Tag mit Arbeit in der Arbeitskajüte und habe oft das Gefühl, als ob ich zu Hause in meinem Studirzimmer säße, von allen Bequemlichkeiten der Civilisation umgeben. Wenn die Trennung nicht wäre, könnte man sich hier ebenso wohl fühlen wie dort. Manchmal vergesse ich, wo ich bin.
Nicht selten bin ich abends, wenn ich von meiner Arbeit vollständig in Anspruch genommen war, aufgesprungen und habe, auf das Bellen der Hunde horchend, bei mir gedacht: wer nun wol kommen mag? Dann fällt mir ein, daß ich nicht zu Hause bin, sondern daß wir am Anfange einer zweiten langen arktischen Nacht stehen, daß wir mitten in dem gefrorenen Polarmeer treiben.
Die Temperatur war heute bis auf -17° C gesunken; der Winter naht rasch heran.
Augenblicklich ist nur wenig Drift, und doch sind wir in guter Stimmung. Bei der letzten Tag- und Nachtgleiche war es dasselbe; aber wie viele Enttäuschungen haben wir seitdem erlebt!
Wie schrecklich war es im letzten Herbst, als jede Berechnung zu trügen schien, da wir immer weiter nach Süden trieben! Kein einziger Lichtpunkt an unserm Horizont!
Aber eine solche Zeit wird nie wiederkehren. Vielleicht kommen große Rückschläge, vielleicht sind die Fortschritte zeitweilig nur langsam, aber über die Zukunft herrscht kein Zweifel: sie dämmert in röthlichem Scheine im Westen, jenseits der arktischen Nacht.
Sonntag, 23. September. Gestern war es ein Jahr, seitdem wir das Schiff zum ersten mal an dem großen Hügel auf dem Eise festmachten.
Hansen benutzte die Gelegenheit, um eine Karte der Drift während dieses Jahres herzustellen; sie sieht gar nicht schlecht aus. Obwol die Entfernung nicht groß ist, ist die Richtung fast genau so, wie ich sie erwartet hatte. Aber davon morgen mehr; es ist schon so spät, daß ich jetzt nicht mehr darüber schreiben kann.
Die Nächte werden immer dunkler; der Winter senkt sich auf uns herab.
Dienstag, 25. September. Ich habe mir die Berechnung unserer Drift während des letzten Jahres genauer angesehen.
Wenn wir von der Stelle, wo wir am 22. September 1893 eingeschlossen wurden, bis zu unserer Position am 22. September dieses Jahres rechnen, so beträgt die Distanz, welche wir getrieben sind, 189 Seemeilen (350 Kilometer), gleich 3° 9' Breite. Rechnet man von demselben Ausgangspunkte aber bis zum höchsten nördlichen Punkte, den wir im Sommer (am 16. Juli) erreicht haben, so macht das eine Drift von 226 Seemeilen (419 Kilometer) oder 3° 46'. Rechnen wir dagegen von unserm südlichsten Punkte im Herbst des vorigen Jahres (7. November) bis zu unserm nördlichsten Punkt in diesem Sommer, so beträgt die Drift 305 Seemeilen (566 Kilometer) oder 5° 5'. Wir sind volle 4° nördlicher gekommen, von 77° 43' bis 81° 53'.
Den Kurs der Drift in diesen Breiten zu geben, ist eine schwierige Aufgabe, da sich mit jedem Längengrade, den man nach Osten oder Westen kommt, die Angaben des Kompasses sehr merklich ändern; die Veränderung, in Graden angegeben, wird natürlich fast genau mit der Zahl der passirten Längengrade übereinstimmen.
Unser mittlerer Kurs würde ungefähr Nord 36° West sein. Die Richtung unserer Drift ist mithin weit nördlicher als diejenige der »Jeannette«, und das ist gerade, was wir erwartet hatten. Unsere Drift schneidet die ihrige in einem Winkel von 59°.
Die verlängerte Linie der diesjährigen Drift würde das Nordostland von Spitzbergen schneiden und uns nördlich bis 84° 7' auf 75° östlicher Länge, ungefähr nordnordöstlich von Franz-Joseph-Land, bringen. Die Entfernung auf diesem Kurse nach Spitzbergen beträgt 827 Seemeilen (1534 Kilometer).
Sollten wir unsern Weg nur mit der Geschwindigkeit von 189 Seemeilen (350 Kilometer) im Jahre fortsetzen, so würden wir zum Zurücklegen dieser Distanz 4 Jahre 4 ½ Monate brauchen. Angenommen unser Fortschritt wäre 305 Seemeilen (566 Kilometer) im Jahr, so würden wir sie in 2 Jahren 8 Monaten zurücklegen.
Daß wir mindestens mit dieser Geschwindigkeit treiben würden, erscheint wahrscheinlich, weil wir kaum noch in derselben Weise zurückgetrieben werden, wie es im October vorigen Jahres der Fall war, als wir das offene Wasser im Süden und die große Eismasse im Norden vor uns hatten.
Der verflossene Sommer scheint gründlich bewiesen zu haben, daß das Eis sehr ungern zurückgeht, während es sehr bereit ist, nach Nordwesten zu treiben, sobald der allergeringste östliche Wind ist, von dem südlichen gar nicht zu reden.
Ich glaube daher, wie ich stets angenommen habe, daß die Drift um so schneller werden wird, je weiter wir nach Nordwesten kommen, und ich halte es für wahrscheinlich, daß die »Fram« in zwei Jahren Norwegen wieder erreichen wird, nachdem die Expedition ihre vollen drei Jahre gebraucht hat, die sie dauern sollte, wie ich geahnt hatte.
Da unsere Drift volle 59° mehr nach Norden gerichtet ist als diejenige der »Jeannette« und Franz-Joseph-Land das Eis nach Norden drängen muß – als richtig angenommen, daß alles, was aus diesem großen Becken kommt, um den Norden von Franz-Joseph-Land herumtreibt –, so ist es wahrscheinlich, daß unser Kurs um so nördlicher werden wird, je weiter wir kommen, bis wir bei Franz-Joseph-Land vorbei sind, und daß wir infolgedessen eine höhere Breite erreichen würden, als unsere Drift bisjetzt andeutet. Ich hoffe auf mindestens 85°.
Alles ist bisjetzt richtig eingetroffen; die Richtung unserer Drift läuft genau parallel mit dem Kurse, den, nach meinen Schlüssen, die Scholle mit den Ueberbleibseln der »Jeannette« genommen hat und den ich auf der von mir für meinen Londoner Vortrag hergestellten Karte Vgl. » Geographical Journal« (London 1893) sowie die Karte in » Naturen« (1890) und in dem »Jahrbuch der Norwegischen Geographischen Gesellschaft« (Bd. 1, 1890). abgesteckt hatte. Dieser Kurs berührte 87 ½° nördlicher Breite. Ich habe nicht das Recht, eine noch nördlichere Drift als parallel hiermit zu erwarten und darf mich auch schon glücklich schätzen, wenn ich so weit komme.
Unser Zweck ist, wie ich schon so oft klar zu machen versucht habe, nicht so sehr, den Punkt zu erreichen, »an welchem die Erdachse aufhört«, als vielmehr das unbekannte Polarmeer zu durchqueren und zu erforschen. Und doch würde ich sehr gern auch den Pol erreichen und hoffe, daß es möglich sein wird, wenn wir nur bis zum März bis 84° oder 85° gelangen – und weshalb sollten wir das nicht?
Donnerstag, 27. September. Ich habe beschlossen, daß von morgen an, so lange das Tageslicht anhält, jeder täglich zwei Stunden, von 11 bis 1 Uhr, sich im Schneeschuhlaufen üben soll. Es ist dies nothwendig. Wenn etwas passiren sollte, das uns zwingt, den Rückweg über das Eis zu nehmen, so befürchte ich, daß einige von unserer Schar, so ungeübt, wie sie jetzt sind, ein großes Hinderniß für uns bilden würden.
Mehrere von ihnen sind Läufer ersten Ranges; fünf oder sechs würden ebenfalls bald Vergnügen daran finden, wenn sie es lernten; hätten sie einen weiten Marsch zu machen und wären ohne Schneeschuhe, so würde es mit uns allen vorbei sein.
Von da ab pflegten wir regelmäßig in corpore aufs Eis zu gehen. Abgesehen davon, daß es eine gute Uebung war, war es auch ein großes Vergnügen; jeder schien gute Fortschritte zu machen und alle gewöhnten sich an den Gebrauch der Schneeschuhe auf diesem Terrain, obwol dieselben auf den Unebenheiten zwischen den Eishügeln oft genug zerbrachen; wir flickten und nieteten sie dann zusammen, um sie bald wieder zu zerbrechen.
Montag, 1. October. Heute probirten wir einen Handschlitten mit einer Last von 120 Kilogramm; er ging ganz leicht, und doch mußten wir schwer ziehen, weil die Schneeschuhe auf der Fläche, die wir dort hatten, wegzugleiten pflegten. Ich glaube beinahe, daß indianische Schneeschuhe auf diesem Terrain, wo so viele Höcker und glatte Erhöhungen sind, über welche die Schlitten hinweggezogen werden müssen, besser wären.
Als Amundsen zuerst den Schlitten zu ziehen begann, glaubte er, das sei gar nichts; als er aber eine Zeit lang gezogen hatte, verfiel er in tiefes und anscheinend finsteres Sinnen und kehrte schweigsam nach dem Schiffe zurück. Als er an Bord war, vertraute er den andern an, bevor jemand eine solche Last ziehen solle, könne er lieber gleich sterben – das käme schließlich auf eins hinaus. So geht es mit den Uebungen.
Nachmittags spannte ich drei Hunde vor denselben, mit 120 Kilogramm beladenen kleinen Schlitten, und sie zogen ihn fort, als ob er nichts gewesen wäre.
Dienstag, 2. October. Schönes Wetter, aber etwas kalt; in der Nacht -27° C, was für den October, glaube ich, sicherlich viel ist.
Wenn das so weiter geht, wird es ein kalter Winter werden. Aber was fragen wir danach, ob wir 50° oder 70° Kälte haben?
Heute schöner Ausflug auf Schneeschuhen. Die Leute werden jetzt sämmtlich sehr geschickt, doch wird sehr bald die Dunkelheit da sein, und dann hört das Laufen auf. Das ist schade; diese Uebung thut uns gut, und wir müssen daher an Ersatz denken.
Ich habe das Gefühl, als ob dies mein letzter Winter an Bord wäre. Ob es wirklich dazu kommen wird, daß ich mich im Frühjahr nach Norden aufmache?
Der Versuch, einen beladenen Handschlitten auf diesem Eise zu ziehen, war sicherlich alles eher als vielversprechend, und wenn die Hunde nicht aushalten oder nicht so brauchbar sein sollten, wie wir erwarten, oder wenn das Eis anstatt besser noch schlechter würde – dann würden wir uns bald auf uns selbst zu verlassen haben. Wenn wir aber mit der »Fram« so weit kommen können, daß nur noch eine mäßige Entfernung zurückzulegen bleibt, dann halte ich es für meine Pflicht, den Versuch zu wagen; ich kann mir keine Schwierigkeit vorstellen, die nicht zu überwinden wäre, wenn wir die Wahl hätten zwischen Tod – und vorwärts und nach Hause!
Donnerstag, 4. October. Das Eis ist stellenweise ziemlich unpassirbar. Doch scheint sich dies auf einzelne Rinnen und Streifen zu beschränken, während es im großen und ganzen einigermaßen zu befahren ist. Die Oberfläche ist etwas weich, sodaß die Hunde ein wenig einsinken. Es ist wahrscheinlich die Folge davon, daß wir in der letzten Zeit keine starken Winde gehabt haben, sodaß der Schnee sich nicht ordentlich zusammengepackt hat.
Das Leben geht seinen regelmäßigen Gang weiter. Stets muß irgendein kleines Stück Arbeit ausgeführt werden.
Gestern hat die Anlernung der jungen Hunde zum Fahren begonnen; Es waren dies die am 13. December 1893 geborenen Hunde, von denen jetzt noch vier am Leben waren. es waren ihrer gerade drei, »Barbara«, »Freia« und »Susine«. »Gulabrand« ist ein solch jämmerlich magerer Wicht, daß er für den Augenblick von der Arbeit frei bleibt. Anfänglich waren sie ganz störrisch und rannten in allen Richtungen umher; nach einer Weile zogen sie aber wie die alten Hunde und machten sich im ganzen besser, als wir erwartet hatten. »Kvik« gab ihnen natürlich ein würdiges Beispiel.
Mogstad hatte das Los getroffen, mit dem Anlernen zu beginnen, da er in dieser Woche auf die Hunde aufzupassen hat. Diese Pflicht geht jetzt der Reihe nach um; jeder hat eine Woche lang morgens und abends für sie zu sorgen.
Es scheint mir jetzt eine sehr zufriedene Stimmung an Bord zu herrschen, da wir im Begriff stehen, in unsere zweite arktische Nacht einzutreten, die hoffentlich länger und vermuthlich auch kälter sein wird, als andere vor uns erfahren haben. Es ist täglich weniger Licht, und bald werden wir gar keins mehr haben, doch schwindet die gute Stimmung mit dem Lichte nicht dahin. Mir scheint, daß wir jetzt gleichmäßiger heiter sind als je vorher. Was der Grund davon ist, weiß ich nicht; vielleicht macht es gerade die Gewohnheit.
Sicherlich sind wir aber auch gut daran und leben wie die Perle im Golde, wie man bei uns sagt. Wir treiben langsam, aber hoffentlich sicher weiter, durch das unbekannte dunkle »Nivlheim«, das die furchtsame Phantasie mit allen möglichen Schrecknissen ausmalt. Und doch führen wir ein sybaritisches Leben, ein Leben des Ueberflusses, umgeben von allen Bequemlichkeiten der Civilisation. Ich glaube, es wird uns in diesem Winter besser gehen als im vorigen.
Der Kochapparat in der Küche functionirt vorzüglich, und selbst der Koch ist jetzt der Meinung, daß es eine ausgezeichnete Einrichtung sei, die der Vollendung nahe komme. Wir werden daher nur noch Theeröl brennen. Es durchwärmt den Raum sehr gut, während ein Theil der Hitze in den Arbeitsraum hinaufsteigt, wo ich manchmal sitze und schwitze, bis ich ein Kleidungsstück nach dem andern abwerfe, obwol das Fenster offen ist und wir draußen einige dreißig Grad Kälte haben.
Ich habe ausgerechnet, daß das Petroleum, das wir jetzt nur zur Beleuchtung verwenden, für wenigstens zehn Jahre ausreichen wird, obwol wir dreihundert Tage des Jahres reichlich davon brennen. Augenblicklich brauchen wir aber nicht so viele Petroleumlampen, wie ich in meiner Berechnung angenommen habe, weil wir oft elektrisches Licht haben; außerdem tritt der Sommer, oder was man Sommer nennen muß, sogar hier oben einmal im Jahre ein.
Selbst wenn man etwaige Unfälle, wie z. B. die Möglichkeit, daß ein Oelbehälter leck wird und das Oel herausfließt, berücksichtigt, ist gar kein Grund vorhanden, sparsam mit dem Lichte umzugehen, vielmehr kann jeder davon haben, soviel er will. Was das zu bedeuten hat, weiß am besten derjenige zu schätzen, der ein ganzes Jahr lang jedesmal Gewissensbisse gefühlt, wenn er sich zum Arbeiten und Lesen in seine Kabine begab und eine Lampe brannte, die nicht absolut nothwendig war, da er die im Salon befindliche allgemeine hätte benutzen können.
Unsere Steinkohlen sind noch nicht angerührt worden, außer für den Ofen im Salon, wo in diesem Winter nach Belieben davon gebrannt werden soll. Das dabei verbrauchte Quantum wird nur eine Kleinigkeit sein im Vergleich zu unserm Vorrath von ungefähr hundert Tonnen, für die wir eigentlich nicht eher Verwendung haben werden, als bis die »Fram« sich den Weg wieder auf der andern Seite aus dem Eise heraus gebahnt hat, natürlich sofern die Voraussetzungen auch zutreffen.
Was ferner nicht wenig dazu beiträgt, es uns warm und gemüthlich zu machen, ist das Segeldach, das jetzt über dem Schiffe ausgespannt ist. Im ersten Winter hatten wir keine Bedeckung über dem Schiffe, weil wir glaubten, daß dieselbe zu dunkel und es schwierig machen würde, den Weg längs des Decks zu finden. Als wir sie aber im zweiten Winter anbrachten, zeigte sich, daß sie eine Verbesserung war. Der einzige Theil des Decks, den ich offen gelassen habe, ist das Heck hinter der Brücke, damit man von dort einen Blick über das Eis rund herum hat.
Was mich persönlich betrifft, so kann ich wol sagen, daß es mir über alle Erwartung gut geht.
Die Zeit ist eine gute Lehrmeisterin; jenes zehrende Verlangen nagt nicht mehr so stark in mir wie früher. Sollte die Apathie beginnen? Werde ich nach zehn Jahren überhaupt nichts mehr fühlen? O, manchmal stellt es sich in seiner alten Stärke ein, als ob es mich innerlich in Stücke reißen wollte! Das ist aber eine prachtvolle Schule der Geduld, und es thut einem sehr gut, wenn man darüber nachgrübelt, ob zu Hause alles lebt oder todt ist; nur daß es einen fast verrückt macht.
Nichtsdestoweniger söhne ich mich nie ganz mit diesem Leben aus; es ist thatsächlich weder Leben noch Tod, sondern ein Zustand zwischen beiden. Es bedeutet, daß man nie und nirgends über etwas beruhigt ist, ein Warten auf das, was kommt, ein Warten, mit welchem vielleicht die besten Jahre der Manneskraft vergehen.
Es ist wie das Gefühl, welches ein junger Mann hat, wenn er seine erste Seereise antritt. Das Leben an Bord ist ihm verhaßt, er leidet unbarmherzig unter all den grausamen Qualen der Seekrankheit; eingeschlossen innerhalb der engen Schiffswände ist ihm schlimmer als im Gefängniß, aber es muß durchgemacht werden.
Jenseits liegt der Süden, das Land seiner Jugendträume, lockend mit sonnigem Lächeln. Endlich erhebt er sich halb todt. Findet er seinen Süden? Wie oft ist es nur eine öde Wüste, an welcher er strandet!
Sonntag, 7. October. Heute Abend hat es sich gut aufgeklärt; wir haben Sternhimmel und Nordlicht. Das ist eine kleine Veränderung gegen das beständig bewölkte Wetter mit den häufigen Schneeschauern, die wir während der letzten Tage gehabt haben.
Gedanken kommen und gehen; ich kann nicht vergessen, kann nicht schlafen. Alles ist still, jeder schläft. Ich höre nur den gleichmäßigen Schritt der Wache an Deck, der Wind rauscht in der Takelung und der Segelleinwand, und die Uhr dort an der Wand zerhackt leise die Zeit.
Wenn ich an Deck gehe, ist es schwarze Nacht, die Sterne funkeln hoch über mir; über dem düstern Gewölbe flackert schwach das Nordlicht, und draußen in der Dunkelheit sehe ich das Schimmern der großen einförmigen Eisfläche, das Ganze so unaussprechlich einsam, so weit, so weit von dem Lärm und der Unruhe der Menschen und all ihrem Streben. Hier haben die Gedanken Ruhe, hier können sie ihren eigenen Weg in die Unendlichkeit gehen.
Was ist ein solches Leben? Ein seltsamer, inhaltsloser Vorgang, der Mensch eine Maschine, die da ißt, schläft, aufwacht, um wieder zu schlafen und sich Träumen hinzugeben, aber niemals lebt.
Oder ist das Leben in Wirklichkeit etwas anderes? Ist es nur ein weiteres Kapitel des ewigen Märtyrerthums, ein neuer Fehltritt der irrenden Menschenseele, diese Selbstverbannung in diese hoffnungslose Wüste, nur um sich nach dem zu sehnen, was man zurückgelassen hat?
Bin ich ein Feigling? Fürchte ich mich vor dem Tode? O, nein, aber in diesen Nächten kann einen solches Sehnen überkommen nach der vollkommenen Schönheit, nach dem, was in einem einzigen Worte enthalten ist, und die Seele flieht aus dieser unbegrenzten, starren Eiswelt, wenn man daran denkt, wie kurz das Leben ist und daß man aus freiem Willen hierher gekommen ist, und daran denkt, daß noch jemand die beständige Pein der Sorge leidet, »getreu, getreu bis in den Tod«.
O, Menschheit, deine Wege sind wunderlich! Wir sind nur Schaumflocken gleich, die hülflos über das bewegte Meer getrieben werden.
Mittwoch, 10. October. Also genau 33 Jahre alt. Dazu läßt sich nichts weiter sagen, als daß das Leben fortschreitet und nie rückwärts gehen wird.
Sie sind heute alle rührend aufmerksam gegen mich gewesen, und wir haben den Tag festlich begangen. Zunächst überraschten sie mich heute Morgen damit, daß sie den Salon mit Flaggen geschmückt hatten. Die vereinigte schwedisch-norwegische Flagge hatten sie über Sverdrup's Platz Ohne Zweifel eine Anspielung auf dessen politische Gesinnung. angebracht; wir beschuldigten Amundsen, daß er es gethan habe, jedoch wollte er es nicht eingestehen. Ueber meiner Thür und bis über diejenige Hansen's hinaus war der Wimpel mit »Fram« in großen Buchstaben befestigt. Es sah sehr festlich aus, als ich in den Salon trat und alle aufstanden und mir zu dem Tage Glück wünschten. Als ich an Deck kam, wehte die Flagge am Topp des Besanmastes.
Vormittags unternahmen wir einen Ausflug auf Schneeschuhen nach Süden.
Es war windiges, bitterkaltes Wetter; ich habe lange nicht so gefroren. Das Thermometer ist abends bis auf -31° C gesunken; es ist sicherlich der kälteste Geburtstag, den ich erlebt habe.
Ein prächtiges Diner: 1. Fischpudding; 2. Würstchen und Zunge mit Kartoffeln, grünen Bohnen und Erbsen; 3. eingemachte Erdbeeren mit Reis-Crême; Kronen-Malzextract.
Dann begann unser Doctor zu unser aller Ueberraschung aus einer Tasche des Mantels, den er stets trägt, wunderlich aussehende kleine Gläser – Medicinflaschen, Meß- und Reagensgläser – eins für jeden von uns, und zum Schluß eine ganze Flasche Lysholmer Liqueur, wirklichen, echten Lysholmer, hervorzuziehen, der allgemeinen Enthusiasmus hervorrief. Zwei Schnäpse davon pro Mann waren nicht schlecht, dazu eine Viertelflasche Malzextract.
Nach dem Essen Kaffee mit einer Ueberraschung in Gestalt von Apfelkuchen, den unser ausgezeichneter Koch und früherer Schmied Pettersen gebacken hatte. Dann mußte ich meine Cigarren präsentiren, die ebenfalls große Freude bereiteten. Selbstverständlich feierten wir den ganzen Nachmittag.
Beim Abendessen gab es nochmals eine Ueberraschung: einen großen Geburtstagskuchen von demselben Bäcker, mit der Inschrift » T. l. m. d.« ( Til lykke med dagen = Viel Glück zum heutigen Tage) 10.10.94. Danach kamen Ananas, Feigen und Confect.
Mancher Geburtstag wird auf niedrigeren Breiten als 81° nicht so großartig gefeiert. Der Abend vergeht uns mit allerlei Scherzen, jeder befindet sich in bester Laune, der Salon widerhallt vom Lachen – wie oft ist er schon der Schauplatz fröhlicher Zusammenkünfte gewesen!
Hat man sich aber Gute Nacht gesagt und sitzt hier allein, dann stellt die Traurigkeit sich ein, und geht man an Deck, so stehen die Sterne hoch oben am klaren Himmel. Im Süden glänzt ein wallender Nordlichtbogen, von welchem von Zeit zu Zeit Streifen emporschießen, ein beständiges ruheloses Flackern.
Sverdrup und ich haben uns ein wenig über die Expedition unterhalten. Als wir nachmittags auf dem Eise waren, bemerkte er plötzlich:
»Ja, im nächsten October werden Sie vielleicht nicht mehr an Bord der ›Fram‹ sein.«
Worauf ich ihm erwiderte, daß das wahrscheinlich der Fall sein werde, wenn der Winter sich nicht gar zu schlecht mache. Und dennoch kann ich selbst so recht noch nicht daran glauben.
Jede Nacht bin ich in meinen Träumen zu Hause, aber wenn der Morgen anbricht, muß ich wieder, wie Helge, auf dem fahlen Rosse über die röthliche Dämmerung zurückjagen, nicht zu Walhalls Freuden, sondern in das Reich des ewigen Eises.
Für dich allein, Sigrun,
Von dem Berge Säve
Schwimmt Helge stets
Im Meer der Sorge.
Freitag, 12. October. Seit gestern Abend weht ein regelrechter Sturm aus Ostsüdost.
Gestern Nacht ging die Mühle in Stücke; von einem der Zahnräder brachen einige Zähne ab, die durch den einjährigen Gebrauch stark abgenutzt waren. Die Geschwindigkeit des Windes betrug heute Morgen über 13 Meter; es ist lange her, seitdem ich es so stark habe wehen hören wie heute Abend. Jetzt müssen wir gute Fortschritte nach Norden machen. Vielleicht ist der October doch kein so schlechter Monat, wie ich nach den Erfahrungen des vorigen Jahres erwartet hatte.
Vor dem Mittagessen war ich draußen auf Schneeschuhen, der Schnee wirbelte mir um die Ohren; die Rückkehr machte mir keine große Mühe, der Wind sorgte dafür. Gerade jetzt weht eine fürchterliche Schneeböe. Der Mond steht niedrig am südlichen Himmel und glänzt mit mattem Schimmer durch das Schneetreiben. Man muß seine Mütze festhalten.
Das ist eine wirklich entsetzliche Polarnacht, wie man sie sich vorstellt, wenn man weit im Süden zu Hause sitzt. Sie stimmt mich aber heiter, wenn ich an Deck komme, weil ich fühle, daß wir uns vorwärts bewegen.
Sonnabend, 13. October. Derselbe Wind heute; Geschwindigkeit bis zu 12 Meter und mehr, aber trotzdem hat Hansen heute Abend eine Beobachtung genommen. Der wackere Bursche ist, wie immer, unermüdlich.
Wir treiben nach Nordwest (81° 32,8' nördlicher Breite, 118° 28' östlicher Länge).
Sonntag, 14. October. Noch immer herrscht derselbe Sturm. Ich lese von den unendlichen Leiden, die frühere Polarforscher auf jedem Grade, ja auf jeder Minute ihres nördlichen Kurses auszustehen gehabt haben; es erweckt innerlich beinahe ein Gefühl der Verachtung für uns, die wir hier warm und behaglich auf dem Sopha liegen und unsere Zeit mit Lesen und Schreiben, Rauchen und Träumen verbringen, während der Sturm über uns die Takelung rüttelt und schüttelt und das ganze Meer ein einziges Schneetreiben ist, durch welches wir Grad für Grad nordwärts geführt werden, dem Ziele entgegen, dem auch unsere Vorgänger, ihre Kräfte vergebens vergeudend, entgegengestrebt haben. Und dennoch:
Die Sonne sinkt, es kommt die Nacht.
Montag, 15. October. Lief heute Morgen auf Schneeschuhen ostwärts; immer noch derselbe Wind und derselbe Schneefall.
Man muß in diesen Tagen sorgfältig auf seinen Weg Acht geben, da das Schiff in größerer Entfernung nicht mehr sichtbar ist, und sollte man den Rückweg nicht finden, nun dann – –. Aber die Spuren bleiben ziemlich deutlich, da die Schneekruste an den meisten Stellen blank ist und der treibende Schnee sich nicht darauf festsetzt. Wir bewegen uns nordwärts, und mittlerweile hält die arktische Nacht langsam und majestätisch ihren Einzug.
Die Sonne stand heute niedrig; ich sah sie wegen der im Süden befindlichen Wolkenbänke nicht, doch verbreitet sie ihr Licht über den fahlen Himmel. Dort hat die Herrschaft jetzt der Vollmond, der die große Eisfläche und das Schneetreiben in hellem Lichte badet.
Wie eine solche Nacht doch die Gedanken des Menschen erhebt! Wenn man das Gleiche auch schon tausendmal gesehen hat: es macht denselben feierlichen Eindruck, wenn es wiederkehrt, sodaß man den Geist von seinem Banne nicht frei machen kann. Es ist, als ob man in einen stillen, heiligen Tempel träte, wo der Geist der Natur auf glitzernden Silberstrahlen durch den Raum schwebt und die Seele niederfallen und anbeten die Unendlichkeit des Weltalls anbeten muß.
Dienstag, 16. October. Ich sah die ganze Sonnenscheibe gegen Mittag über dem Horizont als eine elliptische rothe Feuerkugel. Es ist wol das letztemal, daß wir Ihre Majestät in diesem Jahre gesehen haben – also Lebewohl!
Mittwoch, 17. October. Wir beschäftigen uns damit, Tiefsee-Temperaturen zu messen, ein zweifelhaftes Vergnügen zu dieser Jahreszeit.
Manchmal bedeckt sich der Wasserschöpfer mit Eis, sodaß er sich in der Tiefe nicht schließen will und daher jedesmal sehr lange unten im Wasser hängen muß; oder es gefriert während der Beobachtung der Inhalt, nachdem er heraufgebracht ist, sodaß das Wasser nicht in die Probeflaschen laufen will, von all den Mühen gar nicht zu reden, die es kostet, um den Apparat zum Hinablassen bereit zu machen. Wir schätzen uns glücklich, wenn wir nicht jedesmal den ganzen Apparat in die Küche zu bringen brauchen, um ihn aufzuthauen.
Es ist ein langsames Stück Arbeit. Manchmal müssen die Temperaturen beim Licht der Laterne abgelesen werden; auch sind die Wasserproben nicht sehr verläßlich, weil sie im Heben gefrieren, allein die Arbeit muß gethan werden, und wir müssen eben damit fertig werden.
Es weht noch immer derselbe östliche Wind, und wir treiben weiter. Heute Abend ist unsere Breite ungefähr 81° 47' Nord.
Donnerstag, 18. October. Ich setze die Temperaturbeobachtungen fort, ein ziemlich kühles Vergnügen, wenn das Thermometer bis -29° C gefallen ist und Wind weht.
Die Finger werden einem leicht ein bischen steif und gefühllos, wenn man die nassen oder mit Eis bedeckten Metallschrauben mit den bloßen Händen reguliren, das Thermometer mit einem Vergrößerungsglase ablesen will, um eine Genauigkeit bis auf den hundertsten Theil eines Grades zu erzielen, und dann die Wasserproben in Flaschen füllen soll, die man dicht an die Brust halten muß, um den Inhalt am Gefrieren zu verhindern. Ich danke!
Heute Abend um 8 Uhr hatten wir hübsches Nordlicht. Es schlängelte sich wie eine feurige Schlange in einer Doppelwindung über den Himmel; der Schweif war etwa zehn Grad über dem Horizont im Norden, von wo er sich in vielen Windungen in östlicher Richtung ausbreitete, worauf er umkehrte und in Gestalt eines Bogens von 30-40° über dem Horizont sich westwärts wandte, um im Westen hinabzusinken und sich in eine Kugel aufzurollen, aus welcher sich mehrere Aeste über den Himmel ausbreiteten.
Die Bogen waren in lebhafter Bewegung, während von Westen nach Osten glänzende Strahlenbüschel schossen und die ganze Schlange unaufhörlich in neuen Windungen sich bewegte. Allmählich stieg sie über den Himmel bis fast zum Zenith empor, während gleichzeitig die oberste Biegung oder der oberste Bogen sich in mehrere schwächere Wellen theilte, die Kugel im Nordosten intensiv leuchtete und an mehreren Stellen aus den Bogen, und namentlich aus der Kugel und der am weitesten entfernten Biegung im Nordosten glänzende Streifen zum Zenith empor schossen.
Die Beleuchtung hatte jetzt ihren Höhepunkt erreicht; die Farbe war hauptsächlich ein kräftiges Gelb, obwol sie an einzelnen Stellen sich einem Gelblichroth näherte und an anderen grünlich-weiß war. Als der obere Bogen den Zenith erreichte, verlor die Erscheinung etwas von ihrer Helligkeit und vertheilte sich allmählich, bis nur noch am südlichen Himmel eine schwache Andeutung von Nordlicht übrig war.
Als ich im Laufe des Abends wieder an Deck kam, hatte sich fast das ganze Nordlicht auf der südlichen Hälfte des Himmels angesammelt; man sah einen niedrigen Bogen von fünf Grad Höhe im Süden tief unten über dem dunkeln Abschnitt des Horizonts. Zwischen dieser Stelle und dem Zenith befanden sich noch vier weitere unbestimmte wallende Bogen, deren oberster gerade über den Zenith lief, wobei hier und dort, namentlich aber aus dem untersten Bogen im Süden, lebhafte Streifen aufwärts schossen.
Am nördlichen Theile des Himmels waren keine Bogen zu sehen, sondern nur Strahlenbündel hier und dort. Heute Abend sind wie gewöhnlich Spuren von Nordlicht am ganzen Himmel zu beobachten; oft sind auch leichte Nebel oder Streifen deutlich sichtbar und der Himmel scheint beständig mit einem leuchtenden Schleier Dieser leuchtende Schleier, der sich stets über den Himmel ausbreitete, war im Zenith weniger zu sehen, wurde aber in der Nähe des Horizonts immer deutlicher, wenn er auch nie ganz zu ihm hinab reichte. In der That endete er im Norden und Süden meist in einem niedrigen, schwach angedeuteten Bogen über einer Art dunkeln Segments. Die Leuchtstärke des Schleiers war so groß, daß ich durch denselben die Milchstraße niemals mit Bestimmtheit habe unterscheiden können. bedeckt zu sein, in dem sich da und dort dunkle Löcher befinden.
Es ist kaum eine Nacht, ja, ich kann wol mit Sicherheit sagen, es ist keine Nacht, in welcher man nicht Spuren von Nordlicht unterscheiden kann, sobald der Himmel klar wird oder in den Wolken selbst nur ein Spalt ist, groß genug, mir erkennbar zu sein. In der Regel haben wir aber starke Lichterscheinungen, welche in unaufhörlicher Ruhelosigkeit über das Firmament tanzen, hauptsächlich jedoch am südlichen Theile des Himmels erscheinen.
Freitag, 19. October. Frische Brise aus Ostsüdost. Wir treiben mit guter Geschwindigkeit nordwärts.
Bald werden wir wahrscheinlich den schon so lange erwarteten 82. Grad passirt haben, und dann ist es nicht mehr weit von 82° 27', worauf die »Fram« dasjenige Schiff sein wird, das auf dieser Erde am weitesten nach Norden vorgedrungen ist.
Allein das Barometer fällt, und der Wind wird vermuthlich nicht lange in diesem Viertel bleiben, sondern nach Westen herumgehen. Ich hoffe nur, daß das Barometer sich dies eine mal als falscher Prophet erweisen möge.
Ich bin ziemlich sanguinisch geworden; alles ging bisjetzt recht gut, und der October, den wir nach den Erfahrungen des vorigen Jahres gefürchtet haben, ist ein entschiedener Fortschrittsmonat gewesen, – wenn er nur nicht schlecht endet.
Heute sollte der Wind uns jedoch ein Leben kosten. Die Mühle, die nach dem Unfall an dem Zahnrad vor einigen Tagen wieder ausgebessert war, war wieder in Gang gesetzt worden.
Nachmittags begannen ein paar von den jungen Hunden sich über einen Knochen zu streiten, wobei ein Hund unter ein Zahnrad der Mühlenwelle gerieth und zwischen diese und das Deck gezogen wurde. Der arme kleine Körper brachte den ganzen Apparat beinahe zum Stillstand, und leider war gerade niemand zur Stelle, um die Mühle anzuhalten.
Als ich den Lärm hörte, stürzte ich an Deck, wo man soeben den Hund halbtodt herausgezogen hatte; der ganze Leib war aufgerissen. Der Hund ließ noch ein schwaches Wimmern hören und wurde sofort von seinen Leiden befreit.
Armes kleines, vergnügtes Geschöpf! Noch vor kurzem spieltest du und freutest dich an der unschuldigen Balgerei mit deinen Brüdern und Schwestern; dann kam der Bärenknochen von der Küche her über das Deck geflogen, du stürztest mit den anderen ungestüm darauf los und nun liegst du da, grausam zerrissen und todt wie ein Hering. Das Schicksal ist unerbittlich!
Sonntag, 31. October. 82° 0,2' nördlicher Breite, 114° 9' östlicher Länge.
Es ist spät am Abend; es ist mir so wirr im Kopfe, als ob ich an einem regelrechten Trinkgelage teilgenommen hätte, und doch war es ein Gelage sehr unschuldiger Natur.
Um den 82. Breitengrad zu feiern, hatten wir heute ein »großartiges Bankett«.
Die Beobachtung von gestern Abend ergab 82° 0,2', und seitdem sind wir sicher noch etwas weiter nach Norden getrieben. Zu dieser Gelegenheit wurden Honigkuchen gebacken, Honigkuchen bester Sorte, wie man mir aufs Wort glauben möge, und dann kam, nach einem erfrischenden Schneeschuhlauf, das Festbankett.
Im Salon war eine Bekanntmachung angeschlagen, die die Gäste aufforderte, sich pünktlich zur Mittagszeit einzustellen, da der Koch sich die allergrößte Mühe gegeben habe. Ebenso waren auf einem Plakate die folgenden tiefgefühlten Verse eines anonymen Dichters zu lesen:
Stellt pünktlich zum Essen ein jeder sich ein.
Wird sicher gerathen die Suppe auch sein;
Doch Fische und Fleisch, oder was sonst es sei,
Die liegen – kommt spät ihr – im Magen wie Blei;
Und was von Conserven gelangt auf den Tisch,
Schmeckt – wartet zu lang ihr – gewiß nicht mehr frisch;
Vom Ochsen das Fleisch, auch vom Hammel und Schwein,
Wird sicher nicht weich und nicht saftig mehr sein;
Ramormic und Armour, auch Thorne und Thiis,
Die gaben uns Fleisch mit, so zart und so süß.
Jedoch wenn ihr wollt, daß es schmackhaft auch sei,
Kommt pünktlich um ein Uhr, und nicht erst um zwei.«
Die sich hier äußernde lyrische Melancholie muß der Ausfluß manch bitterer Enttäuschungen gewesen sein und liefert einen werthvollen und tiefen Einblick in das Gewerbe des anonymen Verfassers.
Inzwischen versammelten sich die Gäste mit ziemlicher Pünktlichkeit; die einzige Ausnahme bildete der Unterzeichnete, der bei dem rasch schwindenden Tageslichte noch einige photographische Aufnahmen zu machen gezwungen war.
Das Menu war prachtvoll:
Nach dem Essen Kaffee und Honigkuchen.
Nach dem Abendessen, das ebenfalls vorzüglich war, wurde Musik verlangt, die den ganzen Abend in reichem Maße von verschiedenen geübten Spielern geliefert wurde. Bentsen zeichnete sich unter ihnen besonders aus, da er in letzter Zeit auf dem Eise reiche Gelegenheit zum Kurbeldrehen Beim Aufwinden der Lothleine. gehabt hatte.
Erst ging es langsam, schleppend bis auf 2000 und 3000 Meter tief hinab, dann wurde die Musik wieder schneller und lebhafter, als ob sie zur Oberfläche zurückkehrte. Endlich erreichte die Aufregung einen solchen Höhepunkt, daß Pettersen und ich aufstanden und einen Walzer und eine oder zwei Polkas tanzten.
Wir haben wirklich in dem beschränkten Raume des Salons einige sehr geschmackvolle pas de deux ausgeführt. Schließlich wurde auch Amundsen von der Tanzlust mit fortgerissen, während die Uebrigen Karten spielten.
Mittlerweile waren Erfrischungen in Gestalt von eingemachten Pfirsichen, gedörrten Bananen, Feigen, Honigkuchen u. s. w. gereicht worden; kurz, die Zeit verging, und wir waren lustig. Weshalb sollten wir nicht? Wir schreiten ja fröhlich unserm Ziel entgegen, sind bereits auf dem halben Wege zwischen den Neusibirischen Inseln und Franz-Joseph-Land, und keine Seele an Bord bezweifelt, daß wir das Ziel erreichen werden, um dessentwillen wir ausgezogen sind; es lebe daher die Fröhlichkeit!
Oben aber hat die unendliche Stille der Polarnacht die Herrschaft. Der Mond, halb voll, scheint auf das Eis herab, die Sterne erglänzen hell über uns; es ist kein ruheloses Nordlicht sichtbar, und der südliche Wind streicht mit leichter Klage durch die Takelung. Ueberall herrscht tiefe, friedliche Stille, es ist die unendliche Schönheit des Todes – Nirvana.
Montag, 22. October. Es fängt an, kalt zu werden; das Thermometer stand letzte Nacht auf -34,6° C und heute Abend auf -36° C.
Hübsches Nordlicht heute Abend 11 ½ Uhr. Eine glänzende Krone umgab den Zenith mit einem Strahlenkranz in mehreren Ringen übereinander; dann breiteten sich größere und kleinere Strahlengarben über den Himmel aus, die nach Südwest und Ostsüdost besonders tief hinabreichten, jedoch alle aufwärts nach der Krone wiesen, die wie ein Glorienschein erglänzte.
Ich beobachtete sie lange. Hin und wieder konnte ich in der Mitte einen dunkeln Fleck unterscheiden, den Punkt, wo alle Strahlen zusammentrafen. Derselbe lag etwas südlich vom Polarstern und näherte sich der Kassiopea. Jedoch wallte und wehte der Glorienschein fortwährend, als ob er ein Spiel des Sturmes in den oberen Schichten der Atmosphäre sei.
Gleich darauf schossen neue Strahlen aus der Dunkelheit der innern Glorie heraus, gefolgt von anderen hellen Lichtstrahlen in noch weiterem Kreise. Inzwischen war der dunkle Raum in der Mitte deutlich sichtbar, während er zu anderen Zeiten von Lichtmassen vollständig bedeckt war. Darauf schien es, als ob der Sturm nachließe; das Ganze erblaßte und erglühte eine kurze Weile mattweiß, um dann wieder plötzlich wild empor zu schießen und dasselbe Spiel von neuem zu beginnen.
Bald wiegte sich die ganze Lichtmasse oberhalb der Krone in mächtigen Wellen über dem Zenith und dem dunkeln Mittelpunkt, bald nahm der Sturm wieder zu und die Strahlenbündel wirbelten ineinander; das Ganze war eine leuchtende Nebelmasse, die sich um die Krone wälzte und alles in einer Flut von Licht ertränkte, sodaß weder die Krone, noch die Strahlen oder der dunkle Mittelpunkt zu sehen waren, nichts als ein Chaos von leuchtendem Nebel. Dann verblaßte es wieder, und ich ging nach unten. Um Mitternacht war kaum noch etwas von dem Nordlicht zu sehen.
Freitag, 26. October. Gestern Abend waren wir auf 82° 3' nördlicher Breite.
Heute ist die »Fram« zwei Jahre alt.
Während der letzten beiden Tage war der Himmel bezogen, und um Mittag war es so dunkel, daß ich fürchtete, wir müßten unsere Schneeschuhausflüge bald einstellen. Der heutige Morgen brachte uns aber klares, windstilles Wetter, und ich machte daher eine prachtvolle Tour nach Westen, wo wieder ziemlich viel neue Pressungen stattgefunden hatten, die aber nicht von Bedeutung waren.
Zur Feier der Gelegenheit hatten wir ein besonders gutes Diner, bestehend aus gebratenem Heilbutt, Schildkröte, Schweinsrippen mit grünen Bohnen und Erbsen, Plumpudding (zum ersten male richtigen, brennenden Plumpudding) mit Eiersauce, und zum Schluß Erdbeeren. Wie gewöhnlich bestand das Getränk aus Wein, d. h. Citronensaft mit Wasser und Zucker, und Kronen-Malzextract.
Allgemeine Magenüberladung. Nach Tische Kaffee und Honigkuchen, wozu Nordahl Cigaretten spendirte. Allgemeiner Feiertag.
Heute Abend hat es aus Norden zu wehen begonnen, doch hat das wahrscheinlich nicht viel zu bedeuten. Jedenfalls muß ich das hoffen und darauf bauen, daß wir bald wieder Südwind bekommen.
Wir verlangen aber keinen milden Zephyr, keinen Hauch der Morgenröthe, nein, einen kalten, schneidenden, mit der ganzen Gewalt des Polarmeeres wüthenden Südwind, damit die »Fram«, die zweijährige »Fram«, im Schneesturm begraben wird und alles ringsum nichts als dampfenden Frost bildet. – Das ist es, worauf wir warten, was uns vorwärts, unserm Ziele entgegen treibt.
Heute also, »Fram«, bist du zwei Jahre alt. Ich sagte beim Mittagsmahle, daß, wenn wir vor einem Jahre einstimmig der Ansicht gewesen seien, daß die »Fram« ein gutes Schiff sei, wir heute noch viel bessere Gründe für diese Ueberzeugung hätten, da sie uns, wenn auch nicht gerade mit übermäßiger Schnelligkeit, so doch wohlbehalten und sicher weiterbringe. Wir tranken daher auf das Wohl der »Fram«.
Ich sagte nicht zu viel. Hätte ich alles gesagt, was ich auf dem Herzen hatte, so würden meine Worte nicht so gemessen gewesen sein, denn, um die Wahrheit zu sagen: wir alle liebten das Schiff so sehr, wie man unpersönliche Dinge nur zu lieben vermag.
Und weshalb sollten wir sie nicht lieben? Keine Mutter kann ihrem Jungen unter ihren Flügeln mehr Wärme und Sicherheit geben, als sie uns bietet; sie ist uns in der That wie ein Heim. Wir alle sind froh, wenn wir von draußen auf dem Eise zu ihr zurückkehren, und wie oft hat mein Herz ihr nicht warm entgegengeschlagen, wenn ich weit fort war und ihre Masten über die ewige Schneedecke emporsteigen sah.
In den stillen Nächten schweifen die Gedanken oftmals dankbar zu dem Erbauer dieses Heims hinüber. Ich bin überzeugt, er sitzt in der Ferne zu Hause und denkt ebenfalls oft an uns, wenn er auch nicht weiß, wo seine Gedanken die »Fram« in der großen weißen Wüste um den Pol suchen sollen. Aber er kennt sein Kind, und wenn auch alle andern das Vertrauen zu ihr verlieren, er wird der Ueberzeugung bleiben, daß sie aushalten wird. Ja, Colin Archer, sähest du uns jetzt, du würdest finden, daß dein Vertrauen nicht übel angebracht ist!
Ich sitze allein in meiner Kabine, und meine Gedanken gleiten über die verflossenen beiden Jahre zurück.
Welcher Dämon ist es, der die Fäden unseres Lebens zusammenwebt, der uns selbst täuschen läßt und uns stets auf Wege hinausschickt, die wir nicht selbst gewählt haben, die wir nicht zu gehen wünschen? War es nur das Pflichtgefühl, das mich drängte? O nein! Ich war einfach ein Kind, das Abenteuer in unbekannten Gegenden suchte, das so lange davon geträumt hat, bis es schließlich glaubte, es habe das Abenteuer wirklich gefunden.
Und es ist mir in der That beschieden, dieses große Abenteuer des Eises: tief und rein wie das unendliche All, die schweigsame sternblinkende Polarnacht, die Natur selbst in ihrer ganzen Tiefe, das Geheimniß des Lebens, der unaufhörliche Kreislauf des Weltalls, das Fest des Todes, ohne Leiden, ohne Noth, ewig in sich selbst. Hier in der großen Nacht stehest du in all deiner nackten Einfalt, von Angesicht zu Angesicht vor der Natur; du sitzest andächtig zu Füßen der Ewigkeit und lauschest und du lernst Gott kennen, den Allwaltenden, den Mittelpunkt des Alls. Alle Räthsel des Lebens scheinen dir klar zu werden, und du verlachst dich selbst, daß du dich hattest mit Grübeln verzehren können; es ist alles so klein, so unaussprechlich klein ... Wer Jehovah sieht, muß sterben.
Sonntag, 4. November. Mittags machte ich einen Ausflug auf Schneeschuhen und nahm einige Hunde mit.
Bald darauf hörte ich, daß die an Bord zurückgebliebenen zu bellen anfingen, sodaß die bei mir befindlichen die Ohren spitzten und mehrere von ihnen, »Ulenka« an der Spitze, zurückrannten. Die meisten blieben bald stehen, horchten und blickten sich um, um zu sehen, ob ich nachkäme. Nachdem ich eine Weile überlegt hatte, ob es ein Bär sein könne, setzte ich meinen Weg fort; endlich konnte ich die Neugier aber nicht länger ertragen und machte mich auf den Rückweg, auf dem die Hunde wild vor mir herstürmten.
Als ich mich dem Schiffe näherte, sah ich, daß einige von den Leuten mit ihren Büchsen fortrannten; es waren Sverdrup, Johansen, Mogstad und Hendriksen, die nach der Richtung hin, wo die Hunde bellten, einen guten Vorsprung vor mir bekamen, ehe auch ich eine Flinte holen und mich hinter ihnen hermachen konnte. Plötzlich sah ich in der Dunkelheit eine Salve der Leute vor mir aufblitzen, der dann eine weitere und darauf mehrere Schüsse folgten; es klang wie regelrechtes Pelotonfeuer.
Was zum Henker konnte das sein? Sie blieben immer an derselben Stelle und schossen unaufhörlich. Weshalb gingen sie nicht näher hinan? Ich hastete weiter in der Meinung, es sei hohe Zeit, daß ich aus meinen Schneeschuhen käme, um das Wild zu verfolgen, das offenbar in voller Flucht sein müsse. Inzwischen gingen sie ein wenig vor, und es blitzte in der Dunkelheit nochmals auf, was sich ein paar mal wiederholte.
Endlich stürmte einer von ihnen über das Eis und schoß gerade vor sich nieder, während ein zweiter hinkniete und nach Osten feuerte. Probirten sie ihre Flinten? Dazu war doch sicherlich die Zeit seltsam gewählt, und außerdem fielen auch so viele Schüsse.
Mittlerweile rannten die Hunde mit wüthendem Gebell auf dem Eise herum und sammelten sich dann in einzelnen Gruppen. Endlich hatte ich sie eingeholt und sah nun drei Bären an verschiedenen Stellen auf dem Eise, eine Bärin und zwei Junge, auf welche die Hunde sich geworfen hatten, und die sie wie wahnsinnig zerzaust und an Klauen, Gurgel und Schwanz gezerrt hatten. Namentlich »Ulenka« war ganz außer sich; sie hatte eins der Jungen an der Kehle erfaßt und zerzauste es wie wüthend, sodaß es Mühe kostete, sie zu entfernen.
Die Bären hatten sich ganz gemächlich von den Hunden entfernt, die ihnen nicht zu nahe zu kommen und zu beißen wagten, bis die alte Bärin verwundet und gefallen war. Die Thiere waren in der That in Argwohn erregender Weise zu Werke gegangen, und es schien, als ob die Bärin einen tief angelegten Plan, eine böse Absicht gehabt habe, wenn es ihr nur gelungen wäre, die Hunde nahe genug an sich heranzulocken.
Plötzlich hatte sie halt gemacht; sie ließ die Jungen an sich vorbei gehen, schnupperte eine Zeit lang und kehrte dann um, um sich gegen die Hunde zu wenden, die wie auf Commando im selben Augenblick die Flucht ergriffen und nach Westen davon liefen. Damals war der erste Schuß abgefeuert worden, nach welchem die alte Bärin getaumelt und der Länge nach hingefallen war, worauf sofort einige der Hunde sie angegriffen und angepackt hatten. Nunmehr wurde eins der Jungen abgethan; das andere machte sich, während man nach ihm schoß, über das Eis davon, von drei Hunden verfolgt. Diese holten es bald ein und rissen es nieder, sodaß Mogstad vor allen Dingen die Hunde entfernen mußte, ehe er zu schießen wagen durfte.
Es war eine richtige Metzelei, jedoch uns keineswegs unwillkommen, da wir gerade an diesem Tage beim Mittagessen die Ueberreste unseres letzten Bären in Gestalt von Fleischpasteten verzehrt hatten. Die beiden jungen Bären lieferten uns einen vorzüglichen Weihnachtsbraten.
Aller Wahrscheinlichkeit nach waren dies dieselben Bären, deren Spuren wir früher gesehen hatten. Sverdrup und ich hatten die Spur von drei Thieren am letzten October verfolgt, sie aber nordnordwestlich vom Schiffe verloren. Anscheinend waren sie jetzt aus dieser Richtung zurückgekehrt.
Als die anderen schießen wollten, ging Peder's Gewehr wie gewöhnlich nicht los, weil es wieder mit Vaseline getränkt war. Er rief fortwährend:
»Schießt doch! Schießt doch! Meins will nicht losgehen.«
Als ich später das Gewehr untersuchte, welches ich selbst zu dem Gefechte mitgenommen hatte, fand ich, daß keine Patronen darin waren. Jedenfalls hätte ich eine hübsche Schilderung geben können, wenn ich allein mit dieser Waffe die Bärin angetroffen hätte.
Montag, 5. November. Während ich gestern Abend bei der Arbeit saß, hörte ich einen der Hunde an Deck fürchterlich heulen. Als ich hinauf eilte, fand ich, daß es eins der jungen Thiere war, welches mit der Zunge an einem eisernen Bolzen geleckt hatte und daran festgefroren war. Da quälte das arme Thier sich nun ab, um wieder frei zu kommen, streckte die Zunge so weit heraus, daß sie wie ein dünnes Tau aus dem Halse ragte, und heulte zum Erbarmen.
Bentsen, der die Wache hatte, war schon dazu gekommen, wußte aber nicht, was er anfangen sollte; er ergriff jedoch den Hund beim Nacken und hielt ihn dicht an den Bolzen, sodaß die Zunge nicht so weit ausgereckt wurde. Nachdem ich das Eisen mit der Hand etwas erwärmt hatte, kam die Zunge von selbst frei.
Das arme kleine Thier schien sich über seine Befreiung überaus zu freuen und leckte, um seine Dankbarkeit zu beweisen, Bentsen mit der blutigen Zunge die Hand; es schien seinem Befreier nicht dankbar genug sein zu können. Hoffentlich wird einige Zeit vergehen, bis wenigstens dieser Hund in derselben Weise wieder festgeräth; jedoch kommt so etwas hin und wieder vor.
Sonntag, 11. November. Ich gehe Tag für Tag meinen Studien nach, wodurch ich ebenfalls immer tiefer in das unlösbare Geheimniß aller dieser Fragen hineingelockt werde.
Nein, weshalb sich in solchen fruchtlosen Gedanken im Kreise drehen? Besser, man geht in die Winternacht hinaus! Der Mond steht groß, gelb und ruhig hoch am Himmel, die Sterne funkeln durch den herabrieselnden Schneestaub ... Weshalb sich nicht in einen Winternachtstraum einwiegen und des Sommers gedenken?
Uff, nein, der Wind pfeift allzu scharf über die öden Eisflächen, es sind 33 Grad Kälte, und der Sommer mit seinen Blumen ist weit, weit weg. Ich würde ein Jahr meines Lebens darum geben, sie fassen zu können; sie erscheinen mir in so weiter Ferne, als ob ich nie zu ihnen zurückkehren sollte.
Aber jeden Tag und jede Nacht flammt das Nordlicht in seiner ewig sich ändernden Schönheit am Himmel auf.
Schaut es an und schöpft Vergessenheit und Hoffnung aus ihm, es ist wie die aufstrebende Menschenseele. Rastlos wie diese umspannt es das ganze Himmelsgewölbe mit seinem glitzernden, wallenden Licht, in seinem wilden Spiel alles an Schönheit übertreffend, schöner selbst als die Morgenröthe; aber müssig wirbelt es durch den leeren Raum, und keine Botschaft bringt es von dem kommenden Tage. Der Seemann richtet seinen Kurs nach den Sternen. O, könntest doch auch du dich sammeln, du Nordlicht, um den verirrten Wanderer führen zu helfen! Aber tanze nur weiter und laß auch mich an dir mich erfreuen; baue eine Brücke zwischen der Gegenwart und der Zukunft und laß mich weit, weit hinaus in die Zukunft träumen!
O, du geheimnißvoller Glanz, was bist du und woher kommst du? Aber weshalb fragen? Genügt es nicht, deine Schönheit zu bewundern und dann halt zu machen? Können wir im besten Falle über das äußere Aussehen der Dinge hinauskommen?
Was würde es selbst nützen, wenn wir sagen könnten, das Nordlicht sei eine elektrische Entladung oder ein elektrischer Strom in den oberen Luftregionen, und im Stande wären, mit den geringsten Einzelheiten zu beschreiben, wie es entsteht? Es würden nur Worte sein. Wir wissen nicht besser, was elektrischer Strom ist, als was das Nordlicht ist. Glücklich ist das Kind... Mit all unseren Meinungen und Theorien sind wir der Wahrheit nicht um eines Haares Breite näher als jenes.
Dienstag, 13. November. -38° C. Das Eis schiebt sich bei Tage in mehreren Richtungen zusammen, und das Getöse ist ziemlich laut, seitdem es kälter geworden ist. Man hört es von weit her – ein seltsames Geräusch, das jedem unheimlich klingen würde, der nicht weiß, woher es rührt.
Ein genußreicher Schneeschuhlauf im Vollmondschein.
Ist das Leben ein Thränenthal? Ist es ein beklagenswerthes Schicksal, von all den einherjagenden Hunden umgeben in einer Nacht wie diese und in der frischen, knisternden Kälte dem Winde gleich über die unbegrenzte Eisfläche zu fliegen, wobei die Schneeschuhe über die glatte Oberfläche gleiten, daß man kaum weiß, ob man die Erde berührt, während die Sterne hoch oben am blauen Gewölbe hängen? Das ist in der That mehr, als man vom Leben zu erwarten das Recht hat, es ist ein Märchen aus einer andern Welt, aus einem zukünftigen Leben.
Und dann zurückzukehren in den behaglichen Arbeitsraum, im Ofen Feuer zu machen, die Lampe anzuzünden, sich eine Pfeife zu stopfen, auf das Sopha zu klettern und bei den kräuselnden Rauchwolken in die Welt hinaus zu träumen – heißt das Leiden?
So ertappe ich mich dabei, wie ich stundenlang sitze und in das Feuer starre und mich in die Ferne träume – eine nette Art und Weise, die Zeit nützlich hinzubringen. Wenigstens aber trägt sie dazu bei, die Zeit unmerklich vorüberrollen zu lassen, bis die Träume durch einen eisigen Windstoß der Wirklichkeit fortgeweht werden und ich hier wieder inmitten der Oede sitze und mich nervös aufs neue an die Arbeit mache.
Mittwoch, 14. November. Wie wunderbar sind doch diese Schneeschuhfahrten durch die schweigsame Natur!
Die vom silbernen Mondlicht übergossenen Eisfelder dehnen sich nach allen Richtungen aus, hier und dort dunkle, kalte Schlagschatten der Eishügel, deren Seiten das Zwielicht schwach wiederspiegeln. In der äußersten Ferne bezeichnet eine dunkle Linie den von dem zusammengeschobenen Eise gebildeten Horizont, über welchem ein wie Silber schimmernder Dunst lagert, und über allem wölbt sich der unbegrenzte tiefblaue, sternenbesäete Himmel, an welchem der Vollmond durch den Aether segelt.
Aber im Süden liegt tief unten das Tageslicht wie ein schwacher Schimmer von dunkler, rothglühender Färbung, und höher hinauf ein klarer gelber und blaßgrüner Bogen, der sich in das Blau darüber verliert. Das Ganze verschmilzt zu einer reinen Harmonie, einzig und unbeschreiblich.
Zeitweilig verlangt mich danach, diese Natur in Musik übertragen zu können; welch mächtige und doch schlichte Accorde würden es nicht sein, die allein ihr Wesen wiedergeben könnten!
Still, o so still! Du hörst die Schwingungen deiner eigenen Nerven; es kommt mir vor, als ob ich immer weiter über diese Ebenen glitte, in den unendlichen Raum hinein.
Ist das nicht ein Bild von dem, was kommen soll? Hier sind Ewigkeit und Frieden. Nirvana muß kalt und klar wie eine solche ewige Sternennacht sein. Was ist all unsere Forschung und all unsere Kenntniß inmitten dieser Unendlichkeit?
Freitag, 16. November. Vormittags war ich mit Sverdrup auf Schneeschuhen im Mondlicht draußen. Wir unterhielten uns ernstlich über die Aussichten unserer Drift und der für das Frühjahr geplanten Expedition über das Eis nach Norden.
Abends sprachen wir in seiner Kabine die Sache noch gründlicher durch. Ich theilte ihm meine Ansichten mit, denen er vollständig zustimmte.
Ich habe in letzter Zeit sehr viel darüber nachgesonnen, welches der richtige Kurs sein würde, den wir einschlagen müßten für den Fall, daß die Drift uns bis zum März nicht so weit nördlich bringen sollte, wie ich erwartet hatte. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto fester rede ich mir ein, daß die Sache sich machen läßt.
Denn wenn es richtig ist, von 85° aus aufzubrechen, so müßte es nicht weniger richtig sein, sich von 82° oder 83° aus aufzumachen. In beiden Fällen würden wir in nördlichere Regionen eindringen, als wir sonst erreichen könnten, und es wird um so wünschenswerther, je weniger weit nach Norden die »Fram« selbst gelangt.
Wenn wir den Pol selbst nicht erreichen können, so müssen wir eben umkehren, ehe wir so weit gekommen sind. Worauf es hauptsächlich ankommt, ist nicht, wie ich beständig wiederholen muß, genau jenen mathematischen Punkt zu erreichen, sondern die unbekannten Gegenden des Polarmeeres zu erforschen, mögen dieselben dem Pole näher oder ferner liegen. Ich habe dies schon vor unserer Abfahrt gesagt und muß es beständig im Gedächtniß behalten.
Sicherlich sind während der weitern Drift des Schiffes auch an Bord viele wichtige Beobachtungen anzustellen, von denen ich manche sehr gern selbst ausführen möchte; die wichtigeren werden aber sämmtlich ebenso gut vorgenommen werden, auch wenn zwei von unserer Schar das Schiff verlassen; und es kann kaum ein Zweifel darüber sein, daß die Beobachtungen, welche wir weiter nördlich vornehmen, diejenigen, welche ich während des Restes der Zeit an Bord würde machen können, um ein Vielfaches an Werth übertreffen werden. Bisjetzt ist es also absolut wünschenswerth, daß wir aufbrechen.
Dann kommt die Frage: Welches ist die beste Zeit zum Aufbruch? Daß das Frühjahr, spätestens der März, die einzige Jahreszeit für ein solches Wagniß ist, kann überhaupt nicht bezweifelt werden. Aber soll es im nächsten Frühjahr losgehen?
Selbst den schlimmsten Fall angenommen, daß wir nicht weiter als bis 83° nördlicher Breite und 110° östlicher Länge vorgedrungen wären, dann würde etwas dafür sprechen, daß wir bis zum Frühjahr 1896 warten; allein ich kann nicht umhin zu glauben, daß wir auf diese Weise aller Wahrscheinlichkeit nach den günstigsten Augenblick vorübergehen lassen. Die Drift kann nicht so verzweifelt langsam gehen, daß wir nicht nach Verlauf eines weitern Jahres weit über den Punkt hinaus wären, von wo die Schlittenexpedition aufbrechen müßte.
Wenn ich die Entfernung, die wir seit November vorigen Jahres getrieben sind, mit dem Zirkel messe und dieselbe Distanz noch einmal auftrage, so müßten wir im nächsten November nördlich von Franz-Joseph-Land und etwas darüber hinaus sein. Natürlich ist es denkbar, daß wir im Februar 1896 auch noch nicht weiter gekommen sein werden als heute; aber nach allem, was ich sehen kann, ist es wahrscheinlicher, daß die Drift in dem Maße, als wir nach Westen kommen, zu- aber nicht abnehmen wird und wir infolgedessen im Februar 1896 zu weit gelangt sein würden, während, auch wenn man sich einen noch bessern Abgangspunkt denken könnte als denjenigen, den die »Fram« uns möglicherweise am 1. März 1895 bieten wird, es jedenfalls ein Punkt sein wird, den zu erreichen möglich ist. Infolgedessen würde es am sichersten sein, nicht noch ein weiteres Frühjahr abzuwarten.
Die Aussichten für unser Durchkommen führe ich hier an.
Die Entfernung von dem in Aussicht genommenen Abgangspunkte nach Kap Fligely auf dem nächsten bekannten Lande schätze ich auf ungefähr 600 Kilometer, Hier muß ein Irrthum in meinem Tagebuche vorliegen, da die Entfernung von dem in Aussicht genommenen Punkte, 83° nördlicher Breite und 110° östlicher Länge, nach Kap Fligely volle 750 Kilometer beträgt; ich habe bei der Berechnung die Länge wahrscheinlich mit 100° anstatt 110° angenommen. also nicht viel mehr als die Distanz, die wir in Grönland zurückgelegt haben; diese würde auf diesem Eise, selbst wenn es sich nach dem Lande zu etwas verschlechtern sollte, eine leichte Arbeit sein. Ist erst einmal die Küste erreicht, dann wird es einem vernünftigen Menschen sicherlich gelingen, durch die Jagd auf großes oder kleines Wild, Bär oder Sandhüpfer, sein Leben zu fristen.
Wir können uns also stets nach Kap Fligely oder dem nördlich davon liegenden Petermann-Land wenden, falls unsere Lage unhaltbar wird. Selbstverständlich wird die Entfernung sich vergrößern, je weiter nördlich wir vordringen; an keinem Punkte zwischen hier und dem Pole ist sie aber größer, als wir sie mit Hülfe der Hunde bewältigen können und werden.
Es ist daher eine »Rückzugslinie« gesichert, obwol es ohne Zweifel Leute gibt, nach deren Behauptung eine öde Küste, an der man die Lebensmittel erst zusammensuchen muß, ehe man sie verzehren kann, ein schlechter Zufluchtsort für Hungernde ist; aber das ist in Wirklichkeit nur ein Vortheil, denn ein Zufluchtsort soll nicht allzu verlockend sein. Für Leute, die vorwärtszudringen wünschen, ist eine »Rückzugslinie« wahrlich eine erbärmliche Erfindung, eine ewige Anreizung zurückzublicken, während sie mit dem Vorausblicken vollauf zu thun haben sollten.
Nun zur Expedition selbst. Sie wird aus 28 Hunden, 2 Männern und 1050 Kilogramm Proviant und Ausrüstungsgegenständen bestehen. Die Entfernung vom 83. Grade nach dem Pol beträgt 420 Seemeilen (780 Kilometer). Ist es zu viel, wenn ich rechne, daß wir diese Distanz in 50 Tagen werden zurücklegen können?
Ich weiß natürlich nicht, welche Ausdauer die Hunde haben; aber daß sie unter Mithülfe von zwei Männern im Stande sein sollten, mit 37½ Kilogramm in den ersten Tagen täglich 8½ Seemeilen (15 Kilometer) zurückzulegen, klingt ganz vernünftig, selbst wenn es keine sehr guten Thiere sind.
Es kann dies mithin kaum eine leichtsinnige Rechnung genannt werden, immer vorausgesetzt, daß das Eis so ist wie hier, und es ist kein Grund vorhanden, weshalb es nicht so sein sollte. Es bessert sich in der That beständig, je weiter wir nach Norden gelangen, und bessert sich ebenfalls beim Herannahen des Frühlings.
In 50 Tagen müßten wir also den Pol erreichen. (In Grönland haben wir auf dem Inlandeise in einer Höhe von mehr als 2500 Meter ohne Hunde und mit mangelhaftem Proviant 300 Seemeilen (550 Kilometer) in 65 Tagen gemacht und hätten sicherlich noch beträchtlich weiter gehen können.)
In 50 Tagen werden wir, täglich ein halbes Kilogramm Pemmikan für jeden Hund Während der Expedition mußten die Hunde sich dann aber mit einer weit geringern täglichen Ration, durchschnittlich kaum mehr als 300–350 Gramm, begnügen. gerechnet, insgesammt 700 Kilogramm verbraucht haben, und ferner macht 1 Kilogramm Proviant für jeden Mann 100 Kilogramm aus.
Da während dieser Zeit auch etwas Feuerungsmaterial verbraucht werden wird, so wird die Fracht auf dem Schlitten sich auf weniger als 250 Kilogramm verringert haben; doch ist eine solche Last nichts für 26 Hunde, die während des letzten Theils der Zeit damit wie ein Sturmwind dahin sausen und also die Fahrt in weniger als 50 Tagen machen müßten.
Aber angenommen, man brauchte diese Zeit. Wenn alles gut gegangen ist, werden wir unsern Kurs nunmehr nach den Sieben Inseln im Norden von Spitzbergen richten; das sind 9° oder 540 Seemeilen (1000 Kilometer). Sind aber die Umstände uns nicht so günstig, so würde es sicherer sein, wenn wir uns nach Kap Fligely oder dem nördlich davon liegenden Lande wenden.
Nehmen wir an, wir entschieden uns für diese Route.
Wir brechen am 1. März (wenn die Verhältnisse günstig sind, werden wir noch früher aufbrechen) von der »Fram« auf und treffen daher am 30. April am Pol ein. Wir werden dann noch 100 Kilogramm von unserm Proviant, genug für weitere 50 Tage, übrig haben, haben aber für die Hunde keinen mehr. Wir müssen daher anfangen, einige von ihnen zu tödten, sei es zum Futter für die übrigen, sei es für uns selbst, wenn wir ihnen von unsern Vorräthen geben. Auch wenn meine Ziffern etwas zu niedrig gegriffen sind, kann ich doch annehmen, daß zur Zeit, wenn 23 Hunde getödtet sind, wir 41 Tage unterwegs gewesen sein und noch 5 Hunde übrig haben werden.
Wie weit südlich werden wir dann gekommen sein?
Das Gewicht des Gepäcks betrug im Anfang weniger als 250 Kilogramm, d. h. nicht ganz 9 Kilogramm, die jeder Hund zu ziehen hatte. Nach 41 Tagen wird sich dieses Gewicht mindestens auf 140 Kilogramm verringert haben, durch den Verbrauch von Proviant und Feuerungsmaterial, sowie durch Zurücklassen gewisser Gegenstände unserer Ausrüstung, wie Schlafsäcke, Zelt u. s. w., die überflüssig geworden sind.
Es bleiben dann noch 28 Kilogramm für jeden der 5 Hunde, wenn wir selbst nichts ziehen; doch könnte, falls das wünschenswerth erschiene, unsere Ausrüstung noch weiter verringert werden. Mit einer Last von 9–18 Kilogramm für jeden Hund (eine Last von 18 Kilogramm würde erst am Schlusse eintreten) würden die Thiere im Stande sein, täglich 12 Seemeilen (22 Kilometer) zu machen, selbst wenn die Schneefläche etwas beschwerlicher werden sollte.
Das heißt, wir werden am 1. Juni 492 Seemeilen (913 Kilometer) nach Süden zurückgelegt haben oder 12 Seemeilen (22 Kilometer) über Kap Fligely hinaus sein und noch 5 Hunde und für 9 Tage Proviant übrig haben.
Zunächst ist jedoch wahrscheinlich, daß wir schon lange vorher Land erreicht haben werden, da die Oesterreicher schon in der ersten Hälfte des April bei Kap Fligely offene Teiche und Ueberfluß an Vögeln gefunden haben. Infolgedessen würden wir im Mai und Juni bezüglich der Lebensmittel keine Schwierigkeiten haben, ganz abgesehen davon, daß es in der That seltsam sein würde, wenn wir vorher nicht einen Bären, einen Seehund oder einige verirrte Vögel getroffen hätten.
Daß wir nunmehr ziemlich sicher sein würden, halte ich für gewiß, und wir könnten wählen, welche Route wir einschlagen wollen: entweder an der Nordwestküste von Franz-Joseph-Land entlang an Gillis-Land vorbei nach dem Nordostland und Spitzbergen (wenn die Verhältnisse sich günstig erweisen, würde ich entschieden diese wählen) oder südwärts durch den Austria-Sund nach der Südküste von Franz-Joseph-Land und von dort nach Nowaja Semlja oder Spitzbergen, von denen letzteres den Vorzug verdient. Selbstverständlich können wir auf Franz-Joseph-Land Engländer treffen, doch darauf dürfen wir nicht bestimmt rechnen.
Das ist also meine Berechnung. Habe ich sie leichtfertig aufgestellt? Ich glaube nicht.
Das einzige Schlimme würde sein, wenn wir während des letzten Theiles des Marsches im Mai die Eisoberfläche so finden, wie wir sie im vorigen Frühjahr, gegen Ende Mai, hier gehabt haben, und dadurch beträchtlich aufgehalten werden würden. Jedoch würde das erst ganz gegen Ende der angenommenen Zeit sein, und ganz unpassirbar könnte das Eis auch nicht sein. Außerdem müßte es wunderlich zugehen, wenn es uns nicht gelingen sollte, im Durchschnitt des ganzen Marsches und bei einer Durchschnittslast von 15 bis 20 Kilogramm für jeden Hund täglich 2 Seemeilen (3½ Kilometer) zurückzulegen – mehr brauchten wir nicht.
Wenn unsere Berechnungen sich indeß als fehlerhaft herausstellen sollten, können wir, wie schon früher bemerkt, jeden Augenblick umkehren.
Welche unvorhergesehenen Hindernisse können sich uns nun entgegenstellen?
1. und 2. Daß das Eis weiter nach Norden unpassirbarer werden kann, ist gewiß möglich, aber kaum wahrscheinlich.
Ich sehe gar keinen Grund, weshalb es beschwerlicher werden sollte, es sei denn, daß wir unbekanntes Land im Norden haben. Aber wenn das der Fall sein sollte, auch gut, dann müssen wir die Gelegenheit benutzen, wie sie sich uns bietet.
Das Eis kann nicht völlig unpassirbar sein. Selbst Markham konnte mit seinen skorbutkranken Leuten vordringen. Und die Küsten dieses Landes sind möglicherweise auch vortheilhaft für das Vordringen; das hängt einzig von ihrer Richtung und Ausdehnung ab. Es ist schwer, im voraus etwas darüber zu sagen, ausgenommen, daß nach meiner Ansicht die Tiefsee, die wir gehabt haben, und die Eisdrift es unwahrscheinlich machen, daß wir überhaupt Land von größerer Ausdehnung nahe bei der Hand haben.
In jedem Falle muß irgendwo, hier oder dort, ein Durchgang für das Eis sein, dem wir schlimmstenfalls folgen könnten.
3. Die Möglichkeit, daß die Hunde uns im Stiche lassen, ist immer vorhanden. Allein ich habe, wie man gesehen haben wird, keine übermäßige Arbeit für sie in Aussicht genommen. Alle können nicht unbrauchbar werden, und einige schaden nichts. Bei dem Futter, welches sie bisjetzt gehabt haben, sind sie ohne Unfall durch den Winter und die Kälte gekommen, und auf dem Marsche werden sie noch besseres Futter erhalten. Außerdem habe ich in den Berechnungen gar nicht berücksichtigt, was wir selbst ziehen werden. Aber selbst wenn uns sämmtliche Hunde im Stiche ließen, würde es uns gelingen, auch allein ganz gut vorwärtszukommen.
4. Der schlimmste Fall würde unleugbar der sein, daß wir selbst am Skorbut erkrankten, und ein solcher Fall ist ungeachtet unserer ausgezeichneten Gesundheit sehr gut denkbar. Man erinnere sich nur, wie alle Leute der englischen Nordpolexpedition, mit Ausnahme der Offiziere, am Skorbut litten, als mit dem Frühling die Schlittenreisen begannen, obwol ihnen, solange sie sich an Bord befunden hatten, nicht der entfernteste Verdacht gekommen war, daß etwas derartiges ihrer warten könne. Soweit wir jedoch in Betracht kommen, halte ich den Fall für sehr fernliegend.
Erstens war die englische Expedition besonders unglücklich, und es kann kaum irgendeine andere Expedition ähnliche Erfahrungen aufweisen, wenn sie auch, wie z. B. die M'Clintock's, Schlittenreisen von gleicher Länge unternommen hat. Während des Rückzuges der »Jeannette«-Leute ist, soviel ich weiß, niemand vom Skorbut befallen worden; Peary und Astrup haben nicht an Skorbut gelitten u. s. w.
Dann ist unser Proviant auch viel sorgfältiger ausgewählt und bietet größere Mannichfaltigkeit, als es auf früheren Expeditionen der Fall gewesen ist, von denen nicht eine sich so vortrefflicher Gesundheit erfreut hat, wie es die unsrige beständig thut.
Ich glaube daher kaum, daß wir Skorbutkeime von der »Fram« mit uns nehmen würden, und was den Proviant für die Schlittenreise selbst anlangt, so habe ich dafür gesorgt, daß er in jeder Beziehung aus guten, nahrhaften Lebensmitteln besteht. Ich nehme also nicht an, daß sie einen Anfall von Skorbut herbeiführen können.
Selbstverständlich muß man einiges Risico laufen, aber nach meiner Meinung habe ich alle nur möglichen Vorsichtsmaßregeln getroffen, und wenn das geschehen ist, hat man auch die Pflicht, vorwärtszudringen.
Es gibt noch eine andere Frage, die in Erwägung gezogen werden muß.
Habe ich das Recht, das Schiff und die Zurückbleibenden der Hülfsmittel zu berauben, welche die Expedition erheischt? Die Thatsache, daß zwei Mann weniger an Bord sein werden, ist von geringer Bedeutung, weil die »Fram« ebenso gut mit elf Mann manövriren kann. Ein wichtigerer Punkt ist, daß wir alle Hunde, mit Ausnahme der sieben jungen, werden mit uns nehmen müssen; aber man ist an Bord mit Schlitten-Proviant und allerbesten Schlitten-Ausrüstungen, reichlich versehen, und es ist nicht denkbar, daß, wenn der »Fram« etwas zustoßen sollte, die Mannschaft nicht im Stande sein würde, Franz-Joseph-Land oder Spitzbergen zu erreichen. Es ist kaum wahrscheinlich, daß, falls sie das Schiff verlassen müßte, dies nördlicher als auf 85° geschehen würde; selbst dies kann ich mir nur schwer denken.
Aber angenommen, sie wäre gezwungen, das Schiff auf 85° zu verlassen, so würde das wahrscheinlich ungefähr im Norden von Franz-Joseph-Land sein, wo die Mannschaft ungefähr 180 Seemeilen (334 Kilometer) von Kap Fligely wäre; oder wenn der Fall weiter östlich einträte, so würden es 240 Seemeilen (445 Kilometer) nach den Sieben Inseln sein, und es ist schwer zu glauben, daß es ihr bei ihrer Ausrüstung nicht gelingen sollte, diese Entfernung zu bewältigen.
Ich bin jetzt wie früher der Meinung, daß die »Fram« aller Wahrscheinlichkeit nach quer durch das Polarbecken und auf der andern Seite wieder heraus treiben wird, ohne aufgehalten oder zerstört zu werden. Aber selbst wenn ein Unfall einträte, sehe ich nicht ein, weshalb die Mannschaft nicht im Stande sein sollte, ihren Weg sicher zurückzulegen, vorausgesetzt, daß die geeigneten Vorsichtsmaßregeln beobachtet werden.
Ich glaube daher, ich kann es verantworten, daß eine Schlitten-Expedition die »Fram« verläßt und daß sie, weil sie so gute Resultate verspricht, unter allen Umständen versucht werden muß.