Richard Muther
Geschichte der Malerei. V
Richard Muther

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10. Das bürgerliche und antike Schäferspiel.

Es ist mit den Jahrhunderten wie mit den einzelnen Menschen. Wenn sie ihrem Ende entgegengehen, halten sie innere Einkehr und bereuen die Verirrungen ihrer Jugend. So war es am Schlusse des Quattrocento, als in das genußfrohe Epikuräertum der mediceischen Epoche das Hagelwetter Savonarolas hereinplatzte. So am Schlusse des Cinquecento, als auf das stolze Heidentum der Renaissance die düstere Gegenreformation folgte; am Ausgang des 17. Jahrhunderts, als der Sonnenkönig aus den Prunksälen seines Schlosses nach dem Betstuhl schritt. Für das 18. Jahrhundert hat das Auftreten Rousseaus eine ähnliche Bedeutung.

Die Feinschmeckerei hatte um die Mitte des Jahrhunderts eine nicht zu überbietende Raffiniertheit erreicht. Alle Genüsse des Lebens waren ausgekostet. So kommt jetzt der Moment, wo nach dem prickelnden Sekt die Lust auf Schwarzbrot erwacht, wo man nach der Ueberfeinerung und Frivolität sich in den glücklichen Zustand der Einfachheit und der Tugend zurückträumt. Mitten in der Zeit der höchsten Kultur tritt ein Mann auf, der diese Kultur als etwas Nichtiges brandmarkt, im Vergleich zur Ueberreizung und Verweichlichung, die er um sich sieht, den Urzustand der Wilden in glühenden Farben preist. Wie Tacitus den Römern der Verfallzeit die alten Germanen, stellt Rousseau der vornehmen Welt des 18. Jahrhunderts den Naturmenschen vor Augen, der in seiner Tugend den Kulturmenschen beschämt. Nur wo Bedürfnislosigkeit und Ehrsamkeit wohnt, wo in natürlichen Zuständen natürliche Menschen in treuer Liebe aneinander hängen, ist wahres Glück zu finden. Mit Thränen im Auge schildert er das Leben der kleinen Leute, all jene Reize stiller Häuslichkeit, die der Strudel des Gesellschaftslebens vernichtete, jene süßen Sorgen um Haus und Kind, um Garten und Feld, die wohl Sorgen, aber auch Glückseligkeit sind. In diesen Zustand paradiesischer Unschuld muß die vornehme Welt zurückkehren, muß vom Volke wieder lernen, was ihr selbst im Strome der Ueberkultur verloren gegangen. Dringend ermahnt er die Mütter, dem Kinde selbst die erste Nahrung zu reichen, denn nur mit der Muttermilch werde die Kindesliebe eingesogen. Auch zur Frömmigkeit ruft er die Menschen zurück. Hatte Voltaire, der Mephisto des Jahrhunderts, für die Religion nur geistreiche Spöttereien gehabt, so setzt Rousseau an die Stelle des Zweifels wieder den Glauben.

Voltaire verspottete den Apostel mit den Worten: »Wenn man Ihr Werk liest, bekommt man Lust, auf allen vieren zu laufen. Da ich jedoch seit 60 Jahren diese Gewohnheit verloren, fühle ich leider, daß es mir unmöglich ist, sie wieder aufzunehmen, und überlasse dieses natürliche Benehmen denen, die dessen würdiger sind als Sie und ich.« Die übrige Welt begeisterte sich an Rousseaus Schriften. Namentlich die Damen bemächtigten sich der neuen Ideen. Der Flirt mit schöngeistigen Abbés, die so formvollendet und kühl den Hof machten, war auf die Dauer langweilig geworden. Man sehnte sich nach neuen Sensationen. Diesem Sehnen brachte Rousseau Befriedigung. Es war so hübsch, nachdem man so lange nur Modedame gewesen, zur Abwechselung die Hausmutter zu spielen; so pikant, inmitten glänzender Gesellschaften, angeschwärmt vom Auge der Kavaliere, das Kind zu stillen. Auch das religiöse Gefühl erwachte. Nach der Freigeisterei des Materialismus war es neu und vornehm, einer gefühlvollen Religiosität zu huldigen. Nachdem man bisher mit eitlen Vergnügungen die Zeit verbracht, schien es eine Forderung des guten Tones, Kinderzeug für Wohlthätigkeitsbazare zu stricken und Kuchen an hübsche Savoyardenbuben zu verteilen. Die elegantesten Weltdamen bestreuen ihr Haupt mit Asche, leisten Abbitte für das, was sie früher gesündigt. Sie gehen in die Wohnungen der armen Leute, nehmen die Kinder auf den Arm und überhäufen sie mit den seltsamsten Geschenken, mit abgelegten seidenen Shawls und gehäkelten seidenen Börsen. Sie knien an Altären und gehen mit den Prozessionen, Nicht mehr Scherzo vivace, sondern sentimental sind die Weisen die auf dem Klavier gespielt werden. Geistliche Konzerte und Glucksche Oratorien kommen in den Tuilerien zur Aufführung. Auf die Orgien des Palais Royal mußte eine Orgie der Sittsamkeit, auf die galanten Schäferspiele ein Schäferspiel der Tugend folgen. Diderot als erster gab den Gedanken Rousseaus dramatische Form. Mit seinen Familienstücken »le père de famille« und »l'honnête femme« brachte er die Tragédie bourgeoise und die Comédie larmoyante in Schwung. Hatte man sich vorher an den frivolen Gesellschaftsstücken Crébillons und an Grétrys opéras comiques, an Zemire und Azor, an Aucassin und Nicolette ergötzt, so lauschte man jetzt mit Entzücken diesen weinerlichen Dramen, die so rührselig, so tugendhaft erbaulich das bürgerliche Leben ausschmückten. Selbst die Wissenschaft wurde von der Strömung berührt. »La tendresse de Louis XIV. pour sa famille« ist das Thema der Preisaufgabe, die 1753 von der Akademie der Wissenschaften gestellt wurde. Die Aesthetik lenkte in die nämliche Bahn. Nicht ergötzen, sondern bessern soll die Kunst, Vorbilder schaffen den Guten zur Erhebung, zum warnenden Beispiel den Schlechten. Nur eine moralische Plastik, eine moralische Malerei könne man noch brauchen. Jedes Bild, jede Skulptur müsse der Ausdruck einer großen Maxime, eine Lektion für den Beschauer sein.

Für die älteren Künstler bedeutete das den Ruin. Boucher namentlich, der Maler der Grazien und des leichtsinnigen Hofes der Cythere, hatte die Wandlung des Geschmackes bitter zu fühlen. Auf dem Porträt, das der Schwede Roslin 1760 von ihm malte, ist er nicht mehr der brillante Kavalier, der Habitus der Oper, den Lundberg 1743 gemalt hatte. Müde Falten haben sich in das Gesicht geschrieben. Etwas Unsicheres, Unruhiges hat der Blick. Wie ein Tiger hatte sich Diderot auf ihn gestürzt. Es sei eine Schmach, noch Bilder eines Mannes sehen zu müssen, der sein Leben mit Prostituierten hinbrächte. Alle Ideen von Ehrbarkeit und Unschuld seien ihm abhanden gekommen. Nur als Menetekel moralischer Versumpftheit lebe er in die tugendsame Epoche herüber.

Greuze gab diesen Stimmungen das künstlerische Gewand. Hatten Boucher und Fragonard für die pikanten Freuden vornehmer Lebemänner gesorgt, so wurde unter Greuzes Händen das Bild zur Moralpredigt. Wie die Philosophen und die Romanciers verkündet er die Lehre, daß nur in den Hütten reine ungeschminkte Zärtlichkeit wohne, nur hier jene Liebe, die wahrhaft glücklich macht. Wie bei Diderot geht durch alles die pathetische Absichtlichkeit moralischer Rührung. Wie die Dramen des Schriftstellers enthalten seine Bilder stets die Nutzanwendung: haec fabula docet. Und da die vornehme Welt, nachdem sie den Cancan des Lebens getanzt, empfindsam thränenselig geworden war, gestaltete Greuzes Leben sich zum Triumph. Das ganze Zeitalter weinte mit ihm über die Belohnung des Guten und die Bestrafung des Bösen tugendhafte Thränen. Vorher war in dem aristokratischen Frankreich das Volksleben selten geschildert worden. Die niederen Kreise, die Canaille, waren mehr Gegenstand des Spottes, als der Verherrlichung. Noch Boucher hatte in den zwölf Radierungen, die er unter dem Titel »Cris de Paris« herausgab, die Typen der Großstadt – den Hausierer, den Drehorgelmann, die Milchfrau – nur als kuriose Wesen vorgeführt, über die man lachte, wenn ihre gellen Stimmen von der Straße herauftönten. Jetzt unter der Aegide der Rousseauschen Philosophie hält der »dritte Stand« seinen Einzug in die Kunst. Es wird entdeckt, daß das Arkadien, das man bisher auf der Insel des Robinson Crusoe gesucht, auch in unmittelbarer Nähe zu finden sei. Man war bezaubert, über die Ehrbarkeit des Volkes unterrichtet zu werden; war des Parfüms, das die Salons durchströmte, so überdrüssig, daß man mit Wollust den Geruch der Hündchen, Katzen und Hühner einatmete, die sich in den Stuben dieser braven Leute so ungeniert wie im Stalle bewegten.

Gleich sein erstes Bild, der »Familienvater, der seinen Kindern aus der Bibel vorliest«, machte ihn 1755 zu einem berühmten Meister. Die ganze vornehme Welt drängte sich vor dem Werk zusammen, weil es nach dem geistreichen Atheismus der Philosophen so nagelneu war, von der simplen Frömmigkeit solch ehrbarer Landbewohner zu hören. Auch die zahlreiche Nachkommenschaft dieses Familienvaters imponierte. Die Frau des Rokoko hatte sehr geringschätzig über die Mutterfreuden gedacht. Jetzt wurde, wie die Memoiren Marmontels zeigen, der »kleine Mann« auch wegen seines Kinderreichtums beneidet. Wie ein biblischer Patriarch schwingt er auf Greuzes Bildern inmitten einer hundertköpfigen Nachkommenschaft sein Scepter. Die brave Urahne und der biedere Großvater väterlicher- und mütterlicherseits leben ebenfalls noch. Selbst die Onkel, Tanten, Vettern und Basen haben in der Familie ihr Nest gebaut und hängen aneinander mit hingebender Zärtlichkeit. Oed und erzwungen erschienen den vornehmen Damen alle ihre gesellschaftlichen Vergnügungen gegenüber dem traulichen Familienleben dieser Leute. Nicht weniger erstaunt waren sie, zu sehen, mit welch biblischer Feierlichkeit in diesen Kreisen alle Vorgänge des Lebens sich abspielten. Eine Verlobung in der Aristokratie ist ein geschäftlicher, gleichgültiger Akt. Die Comtesse verlobt sich, um als junge Frau die Huldigungen anderer entgegenzunehmen. Mit der Festsetzung des Ehekontrakts und dem Handkuß des Verlobten ist die Sache abgethan. Im Volke weiß man noch, daß die Ehe ein heiliges Sakrament bedeutet. Zwölf Personen sind in dem Bilde der »Verlobung auf dem Lande«, das Greuze 1761 ausstellte, vereinigt. Mit erhabener Gebärde überreicht der Vater seinem Schwiegersohn die Mitgift und giebt ihm weise Ratschläge, ernste Lebensregeln auf den Weg. Verschämt und hingebungsvoll legt das junge Mädchen ihren Arm unter den des Geliebten. Ermutigende, tröstende Worte flüstert ihr die gute Mutter ins Ohr. In ehrfürchtigem Staunen, wie ein höheres Wesen, betrachten sie die jüngeren Schwestern.

»Glück auf, lieber Greuze, bleibe moralisch, und wenn der Moment kommt, wo du das Leben verlassen mußt, wird keine unter deinen Kompositionen sein, an die du mit Reue zu denken brauchst.« Mit diesen Worten begrüßte Diderot Greuzes nächstes Bild, den Paralytischen, der im Salon von 1763 erschien. Er berichtete hier, welch hingebende Pflege, treu den Vorschriften der Bibel, die guten Kinder des Bürgerstandes ihren kranken Eltern widmen. Freilich – wer Vater und Mutter nicht ehrt, dem wird es auch nicht gut gehen, und er wird nicht lange leben auf Erden. Dieses Thema hat er in den beiden Bildern »der väterliche Fluch« und »der bestrafte Sohn« behandelt. Donnernd, wie ein olympischer Zeus, schleudert der Alte seinen Fluch auf den mißratenen Sprößling, während die Mutter in Thränen vergeht und die jüngeren Geschwister scheu und furchtsam auf den Geächteten blicken. Dann vergeht die Zeit. Reumütig, nachdem er erfahren, daß nur des Vaters Segen den Kindern Häuser baut, kehrt der Sohn ins Vaterhaus zurück. Bittend, mit schlotternden Knieen, wie ein Bettler steht er in der Thür und will Verzeihung erflehen. Doch zu spät. Sein Vater ist tot. Mit tragischer Geste weist die Mutter auf den Leichnam, den schluchzend, weinend, stöhnend die Kinder und Enkel umgeben.

Nachdem Greuze mit solchen cyklischen Kompositionen begonnen, beabsichtigte er einen ganzen Roman von 26 Bildern zu schreiben, der unter dem Titel »Bazile und Thibaut« den Einfluß guter und schlechter Erziehung behandeln und mit der Verurteilung des Mörders Thibaut durch seinen Freund, den Richter Bazile, abschließen sollte. Zur Ausführung kam dieses Unternehmen nicht. Dagegen brachte er im nächsten Salon zwei Bilder, die das Thema der Mutterpflichten im Sinne Rousseaus behandelten. Eine junge Mutter übergiebt – trotz aller Lehren des Philosophen – ihr Kind einer Amme. Unter heißen Thränen der ganzen Familie vollzieht sich der Abschied. Aber Rousseau hat recht. Auf dem nächsten Bild kommt der Baby zwar als kräftiger Bub in das Elternhaus zurück. Doch er erkennt seine Mutter nicht und verlangt zur Amme. Nur Frauen, die selbst ihrer Mutterpflicht genügen, können die Liebe ihrer Kinder sich sichern.

Die junge Mutter, die mit ihren Kindern sich beschäftigt, ist also ein Lieblingsthema Greuzes. Er malt sie, wie sie ihrem Baby die Brust reicht, wie sie neben ihrem Gatten, zärtlicher Gedanken voll, an der Wiege sitzt. Ja, es braucht gar nicht um junge Mütter sich zu handeln – stets weist er darauf hin, daß die Bestimmung des Weibes die Mutterschaft, die Ernährung von Kindern ist. Das kleine Mädchen spielt mit der Puppe, denn es soll dafür gesorgt werden, daß schon im Baby das Gefühl der Mütterlichkeit erwacht. Es trägt kein beengendes Korsett, denn der Busen soll voll sich entfalten. Während die Frau des Rokoko zeitlebens das junge Mädchen blieb, sind Greuzes Mädchen schon als Backfische Frauen. »La Laitière« lautet zuweilen die Unterschrift. Es besteht ein enger psychologischer Zusammenhang zwischen dem Aeußeren der jungen Damen und ihrer ländlichen Freude, mit Marie Antoinette früh die Kühe zu melken. Blond oder brünett sind seine Mädchen, ein blaues oder rotes Band tragen sie im Haar. Schmollend oder ahnungsvoll fragend blicken die großen braunen Augen. Immer aber ist der Effekt auf diesen Gegensatz zugespitzt: auf den Kontrast zwischen den hellen, leuchtenden Kinderaugen, die noch so backfischhaft unerfahren blicken, und den vollentwickelten Formen reifer Weiblichkeit.

Bouchers Schönheitsideal ist nicht unschuldiger, sondern raffinierter geworden. Nur bleibt Greuze sogar in solchen Bildern moralischer Künstler. Die Scene, wie ein junges Mädchen dem Amor Tauben opfert, hat stets als Gegenstück Maria Magdalena, die reuige Sünderin, die mit dem Augenaufschlag der Niobe die Verzeihung des Himmels erfleht. Nicht die Freuden der Sinnlichkeit malt er, sondern die Trauer um die verlorene Unschuld. Ratlos wie ein aufgescheuchtes Reh blickt das arme Baby, dessen Krug zerbrochen ist. Ratlos, untröstlich, blickt das junge Mädchen, das ihren Spiegel hat fallen lassen, auf die zerbrochene Scheibe. Alles Lebensglückes beraubt, thränenden Auges schaut ein anderes Kind auf ihr gestorbenes Vögelchen. »Glaubt nicht,« schrieb Diderot, »daß es um den Krug, den Spiegel oder das Vögelchen sich handelt. Die jungen Mädchen beweinen mehr, und sie weinen mit Recht.«

Greuze ist in dieser Mischung von thränenseliger Moral und perversem Hautgout der echte Maler seiner Zeit. Denn man darf nicht glauben, daß die Besserung eine tiefgehende gewesen wäre. Die Einfachheit und Sittsamkeit war nur Façade. Wohl bot Trianon, das »Klein-Wien« der Marie Antoinette, äußerlich einen sehr ländlichen Anblick. Am Fuße waldiger Hügel, am Ufer eines stillen Weihers zogen sich die bäuerlichen Häuser hin. Es gab einen Pachthof und eine Mühle, eine Milcherei und ein Taubenhaus. Fischer und Wäscherinnen arbeiteten in der Nähe. Die Damen trugen Strohhüte, die durch den Schäfergeschmack aufgekommen waren. Auf der Wiese spielten die Königskinder als Schäfer und Schäferinnen mit ihren Schafen und Ziegen. Doch im Innern von Trianon sah es gerade so aus wie in dem künstlichen Dorf, das der Prinz von Condé sich im Park von Chantilly hatte bauen lassen. Auch da gab es Bauernhäuser: eine Mühle, eine Scheune, einen Stall, eine Dorfschenke. Aber keines der Gebäude diente im Innern dem Zweck, den es äußerlich ankündigte. Das Wirtshaus enthielt die herrschaftliche Küche, der Stall eine Bibliothek, die Dorfschenke einen Billardsaal, die Scheune ein elegantes Schlafgemach mit zwei Boudoirs. Ebenso bestand in Trianon ein ganzes Gebäude aus Küchen. Es gab eine Küche für die kalten Speisen, eine andere für die Zwischengerichte, eine dritte für die Entrées, eine vierte für die Ragouts, eine fünfte für die Braten, eine sechste für die Pasteten, eine siebente für die Torten. Die Herren durften nur in scharlachroter Uniform mit weißer goldgestickter Weste erscheinen. Die Scheune hatte den Zweck eines großen Ballsaales. Zuweilen, wenn unter einem Zelt im Freien getanzt wird, macht man sich das Vergnügen, ein paar schmucke Bauernburschen aus der Umgegend kommen zu lassen und über ihre tölpelhaften Bewegungen zu lachen. Doch im übrigen ist durch den Anschlag »De par la reine« der Park im weitesten Umkreis für jeden Nichthoffähigen gesperrt. Selbst der König darf die Königin in Trianon nur nach vorhergegangener Einladung besuchen. Auch sonst hält man an allen Vorschriften der Etikette fest. Noch findet das Lever der Königin in Gegenwart aller Hofdamen statt. Ihr Hofstaat, 496 Chargen umfassend, kostete jährlich 45 Millionen. Die Summe, die für Spieldivertissements angesetzt war, betrug 300 000 Fr., die Summe für Toiletten 120 000 Fr., die aber gewöhnlich um 140 000 Fr. überschritten wurden. Etatsmäßig war die Anschaffung von zwölf großen Staatsroben, zwölf Phantasieanzügen und zwölf Paradekleidern für jede der vier Jahreszeiten. In einem einzigen Jahr wurden bei einer einzigen Modistin 300 Fichus für die Königin gekauft. Das Jahresgehalt des Friseurs einer Hofdame, der Madame Matignon, war 240 000 Fr. Und gerade damals war der Beruf der Coiffeure etwas so Wichtiges geworden, daß sie in einer Eingabe an die Regierung darum nachsuchten, gesellschaftlich den Künstlern gleichgestellt zu werden. Denn der Coiffeur gebrauche wie dieser »seine bildende Hand, seine Kunst verlange Genie, daher sie eine freie und liberale Kunst ist.« Straußenfedern und Rubinnadeln schmückten die meterhohen Coiffuren. In einem einzigen Jahre kaufte Marie Antoinette für 700 000 Fr. Diamanten und schenkte dem Dauphin einen Wagen, dessen Räder und Ornamente aus vergoldetem Silber, aus Rubinen und Saphiren bestanden. Der regelmäßige Kerzenverbrauch der Königin betrug jährlich 157 000 Fr. Die nicht abgebrannten wurden einer Kammerfrau überwiesen, die dadurch ein Jahreseinkommen von 50 000 Fr. bezog. Und daß die Sittlichkeit trotz alles äußeren Scheines nicht größer geworden war, erhellt aus einer Bemerkung des Journal des Modes, daß Ludwig XVI. zwar keine Maitressen, andere dagegen – Maitres unterhielten. Dieselbe erheuchelte Natürlichkeit, dieselbe moralische Unmoralität ist Greuzes Werken eigen.

In seinen Bildern lebt der tugendhafte, empfindsame Mensch, wie das ausgehende 18. Jahrhundert ihn träumte. Selbst die Künstlichkeit, die theatralische Affektiertheit seiner Bilder lag im Sinne der Zeit. So herrlich weit glaubte man es in der Tugend gebracht zu haben, daß man das Ergebnis mit deklamatorischem Pathos verkündete. So stolz war man, sich der Enterbten erinnert zu haben, daß man über die eigene Herzensgüte Thränen der Rührung vergoß. Ebenso salbungsvoll, ebenso phrasenhaft wie Greuze sprechen die Schriftsteller, reden die Staatsmänner von der Güte des Volkes. Das ganze menschliche Leben ist ihnen ein Melodrama, das mit dem Sieg der Tugend, der Bestrafung des Lasters endet. Und es war eine grausame Ironie des Schicksals, daß die Weltgeschichte in anderem Sinne die Bestrafung vornahm: daß dieser ganze rosafarbene Traum von Einfalt und Unschuld mit einem Blutsturz endete; der »Mann aus dem Volke« sich später keineswegs als so lammfromm entpuppte, wie diese vornehme Gesellschaft sich ihn vorstellte.

Sogar ein antikes Schäferspiel folgte noch auf das bürgerliche: es ging durch das Zeitalter schließlich doch ein Sehnen nach Einfachheit. Und indem sich das Rousseausche Streben nach Einfachheit der Sitten mit dem Streben nach einfacher Form verband, gelangte man vom Rokoko zu den Griechen, träumte sich in jene bukolische Zeit zurück, als es noch keinen Puder, keine Mieder, keine Reifröcke gab, sondern die Frauen schön wie Göttinnen dahergingen, die Männer mit der Syrinx neben Herden rasteten. Sittsam war man auch geworden. Darum erhielt die Coiffure die Form »à la Diane«. Und ganz Paris verwandelte sich in Athen, seit des Abbé Barthélemy »Voyage du jeune Anacharsis« erschienen war. Nun gab es keine Bälle mehr, nur »anakreontische Feste«. Die Damengürtel wurden mit roten Figuren auf schwarzem Grund, im Stil der griechischen Vasenbilder geschmückt. Die Herren trugen »boîtes à la grecque«. Aus den Putzläden wanderte die Mode in die Werkstätten der Künstler. Die Architekten begannen Vitruv zu Rate zu ziehen und ihren Bauten die ruhige Linienschönheit griechischer Tempel zu geben. 1755 baut Soufflot das Pantheon. 1763 schreibt Grimm: »Seit einigen Jahren beginnt man antike Ornamente und Formen aufzusuchen. Die Vorliebe dafür ist so allgemein, daß jetzt alles à la grecque gemacht wird. Die innere und äußere Dekoration der Häuser, die Möbel, die Goldschmiedearbeiten tragen sämtlich den Stempel des Griechischen.« Selbst Diderots Vorliebe für das moralische Rührstück, wie es Greuze malte, verband sich seit dem Anfang der sechziger Jahre mit der Begeisterung für die Antike. Er hält Vorlesungen über den antiken Geschmack, verlangt plastische Schönheit, reine einfache Linien.

Die letzten Jahre der Marie Antoinette bedeuten den Höhepunkt dieses antiken Schäferspiels. Sie will »natürlich« werden, und die Muster dieser Natürlichkeit sind ihr die Griechen. Daher verbannt sie aus Trianon die Etikette, wählt die Harfe zu ihrem Lieblingsinstrument und bestimmt für ihre Kleider griechischen Schnitt. In einer einfachen weißen Musselinrobe, ein weißes Fichu lose um den Hals geschlungen, einen schlichten Strohhut auf dem Kopf, einen Spazierstock in der Hand sieht man sie, von nur einem Diener begleitet, durch die Laubgänge des Trianon wandeln. So groß war ihre Einfachheit, daß auf die Klagen über die Putzsucht der Königin nun die Beschwerden der Kaufleute folgten: durch die neue Mode werde die Industrie des Landes, besonders die Lyoner Seidenindustrie geschädigt.

Vien, der seinen Bildern das Aussehen antiker Gemmen zu geben suchte, ist der erste dieser Anakreontiker, und noch feiner spiegelt das antike Schäferspiel in den Werken der Frau Vigée-Lebrun sich wider. Ihr Atelier war in diesen Jahren der künstlerische Mittelpunkt von Paris, wo alle Größen der Diplomatie, der Litteratur und des Theaters zusammenkamen. Es war pikanter, von einem jungen Mädchen als von einem würdigen Akademiker sich malen zu lassen. Das schöne Weib wurde von den hohen Herren fast mehr als die geistvolle Malerin geschätzt. Auch Marie Antoinette und die Damen des Hofes saßen ihr, und Fräulein Vigée pflegte sie als Göttinnen, als Musen oder Sibyllen zu malen. Später verheiratete sie sich mit dem reichen Kunsthändler Lebrun, und es begannen in ihrem Hause jene schöngeistigen »Soupers à la grecque«, die so fein die ganze Epoche beleuchten. »Alles – Kleider, Sitten, Speisen, Plaisirs und Tafel – war Atheniensisch. Madame Lebrun selbst war Aspasia, Herr Abbé Barthélemy in einem griechischen Chiton, einen Lorbeerkranz auf dem Kopf, las ein Gedicht, Herr von Cubières spielte als Memnon die goldene Leyer, und junge Knaben warteten als Sklaven bei Tische auf. Die Tafel selbst war mit lauter antiken Gefäßen besetzt und alle Speisen echt altgriechisch.« Dieser Verheiratung dankt man auch die schönsten Bilder, diejenigen, die sie selbst mit ihrem Töchterchen darstellen. Das Louvrebild namentlich, aus dem sie dasitzt, von ihrem Kind umarmt, scheint die Inspiration eines göttlichen Augenblickes zu sein. Wie manche Thonfiguren aus Tanagra aussehen, als wären sie direkt aus Paris bezogen, hat hier die weiche Grazie des Rokoko sich mit hellenischer Einfachheit zu einer bestrickenden Harmonie verwoben. Es liegt über den Werken die Stimmung eines theokritischen Zeitalters, das sich vor dem Hinscheiden an der Sonne einer alten Schönheitswelt wärmt, traumverloren den weichen Klängen der Syrinx lauscht, während von unten schon die Trommelwirbel eines neuen Weltalters herauftönen.


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