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I

Der Kavallerieoffizier Chevalier des Arcis quittierte im Jahre 1760 den Dienst. Er war noch jung, sein Vermögen hätte ihm die aussichtsreichste Hofkarriere verschafft; und doch war er jetzt schon das Junggesellenleben und die Pariser Vergnügungen leid. Er zog sich in ein hübsches Landhaus in die Nähe von Le Mans zurück. Nach kurzer Zeit aber wurde ihm die Einsamkeit, eben noch angenehm, zur Qual. Er fühlte, wie schwierig es sei, ganz mit einemmal mit den Gewohnheiten der früheren Jahre zu brechen. Nicht, daß er bereute, der Gesellschaft fern zu sein; er wollte nur nicht allein leben, entschloß sich zu heiraten und suchte eine Frau, die nicht weniger als er Ruhe und häusliches Leben schätzte.

Sie brauchte nicht schön zu sein, aber auch nicht häßlich, gut erzogen, intelligent und möglichst wenig geistreich. Vor allem fröhlich und nicht launenhaft.

Die Tochter eines früheren Kaufmannes, der in der Nachbarschaft wohnte, gefiel ihm. Er war persönlich von niemandem abhängig und kannte keinen Unterschied zwischen einem Aristokraten und der Tochter eines Händlers. Er wandte sich an die Familie und wurde herzlich aufgenommen. Ein paar Monate hofierte er sie, und dann wurde die Hochzeit beschlossen.

Die Verbindung geschah unter den günstigsten und glücklichsten Auspizien. Je mehr er seine Frau kennenlernte, desto schönere Eigenschaften entdeckte er: einen Charakter voller Sanftmut und Beständigkeit. Auch sie liebte ihn, lebte nur für ihn, wollte nur ihm gefallen, bedauerte nicht im geringsten, daß sie ihm die Freuden ihrer Jugend opferte, und wünschte, ihr Leben möge nie anders werden. Die Zurückgezogenheit wurde ihr täglich teurer.

Indessen lebten sie nicht einsam. Sie reisten in die Stadt, empfingen regelmäßig den Besuch einiger Freunde und hatten so allerlei Zerstreuung. Der Chevalier sah von Zeit zu Zeit gern die Eltern seiner Frau, und ihr schien es, als hätte sie noch gar nicht das elterliche Haus verlassen. Aus den Armen ihres Mannes glitt sie oft in die mütterlichen. Das Schicksal ließ ihr freundlich das alte und das neue Glück. Das geschieht selten.

Herr des Arcis war gütig und milde wie sie. Leidenschaften der Jugend, Erfahrungen, die ihm aus den Dingen dieser Welt geworden waren, gaben ihm zuweilen Melancholie. Cécile (so hieß Madame des Arcis) ehrte die Augenblicke seiner Schwermut andächtig. Sie dachte über sie noch nicht viel nach, ihr Gefühl aber riet ihr, sich nicht über kleine Wolken zu beklagen, die erst dann schwer wiegen, wenn man sie beachtet. Lasse sie vorbeiziehen, und sie sind nichts.

Ihre Familie war aus braven Leuten zusammengesetzt: Kaufleute, die durch ihre Arbeit reich geworden waren und deren Alter beständiger Sonntag schien. Der Chevalier liebte die fröhliche Ruhe, die durch Arbeit erkauft ist, und nahm gerne an ihr teil. Er war der Versailler Sitten müde, auch der Soupers des Fräulein Quinault. Die ein wenig laute Fröhlichkeit gefiel ihm; sie war frei und neu für ihn. Cécile hatte einen Onkel, einen prächtigen Menschen und Plauderer namens Giraud. Er war Maurermeister gewesen, dann nach und nach Architekt geworden und hatte sich mit alledem eine Rente von zwanzigtausend Pfund verdient. Das Haus des Chevalier war recht nach seinem Geschmack. Dort wurde er gut aufgenommen; auch wenn er zuweilen etwas Gips und Staub mitbrachte. Denn trotz seiner Jahre und der zwanzigtausend Pfund mußte er doch noch hin und wieder auf den Dächern umherklettern und die Maurerkelle schwingen. Hatte er ein paar Gläser Sekt getrunken, dann pflegte er zum Dessert etwa folgendermaßen zu reden:

»Sie sind glücklich, mein lieber Neffe. Sie sind reich, jung, haben eine gute kleine Frau und ein Haus, das nicht einmal schlecht gebaut ist. Es fehlt ihnen sozusagen an nichts. Um so schlimmer für den Nachbarn, der sich darüber giften muß. Ich sage und wiederhole: Sie sind glücklich.«

Als Cécile eines Tages wieder die Worte hörte, beugte sie sich zu ihrem Mann:

»Nicht wahr, das stimmt doch irgendwie, wenn du es dir so ruhig ins Gesicht sagen läßt?«

Nach einiger Zeit war sie schwanger. Hinter dem Haus war ein kleiner Hügel, von dem aus man das ganze Besitztum überschauen konnte. Die beiden Gatten spazierten oft gemeinsam dorthin. Eines Tages saßen sie auf dem Rasen.

»Du hast neulich dem Onkel nicht widersprochen«, sprach Cécile, »glaubst du also, er hat recht? Bist du vollkommen glücklich?«

»So sehr, wie es ein Mensch sein kann«, entgegnete der Chevalier, »und ich sehe nichts, was ich zu meinem Glück noch haben möchte.«

»Dann bin ich also ein wenig ehrgeiziger als du; denn ich kann dir leicht etwas sagen, was uns hier noch fehlt und absolut notwendig ist.«

Der Chevalier glaubte, es handle sich um irgendeine Bagatelle und sie mache einen kleinen Umweg, um ihm eine weibliche Laune anzuvertrauen. Ihr zu Gefallen vermutete er tausend Dinge und verstärkte durch jede Frage ihr Lachen. Scherzend standen sie auf und gingen den Hügel hinunter. Er wollte den Abhang hinabtollen und sie mitziehen. Sie aber sträubte sich leise und lehnte sich gegen seine Schulter.

»Sieh dich vor, mein Freund. Laß mich nicht so rasch laufen. Was ich dich fragte, suchst du zu weit. Ich trage es hier unter meinem Herzen.«

Von diesem Tage an sprachen sie von nichts anderem als von ihrem Kind, von der sorgfältigen Erziehung, die ihm zu geben sei, und machten schon Pläne für seine Zukunft. Der Chevalier wollte alle nur mögliche Vorsicht für seine Frau und den Schatz, den sie trug. Er steigerte Liebe und Aufmerksamkeit. Die Zeit ihrer Schwangerschaft war ein langer Rausch von Zärtlichkeit und Hoffnung.

Der Augenblick nahte, den die Natur bestimmt. Ein Kind kam zur Welt, schön wie der Tag. Eine Tochter. Man nannte sie Camilla. Ganz gegen die übliche Sitte und selbst gegen die Ansicht der Ärzte wollte Cécile sie selbst nähren. Ihr mütterlicher Stolz war durch die Schönheit des Kindes so geschmeichelt, daß sie es nicht von sich fortgeben mochte. So regelmäßige und ausdrucksvolle Gesichtszüge waren für ein neugeborenes Kind selten. Die Augen vor allem hatten einen ungewöhnlichen Glanz, als sie sich dem Licht aufschlossen. Cécile, im Kloster erzogen, war sehr fromm. Ihr erster Schritt nach dem Wochenbett war zur Kirche, um Gott zu danken.

Indessen fing das Kind an, zu Kräften zu kommen und sich zu entwickeln. Es überraschte, je größer es wurde, durch eine seltsame Unbeweglichkeit. Kein Geräusch schien zu ihm zu dringen. Es war zu den tausend mütterlichen Worten gefühllos. Selbst wenn man es schaukelte und dazu sang, blieben seine Augen starr und offen, guckten gierig nach dem Licht der Lampe und schienen nicht zu hören. Eines Tages, als es gerade eingeschlafen war, stellte das Dienstmädchen ein Möbel um. Die Mutter lief schnell hinzu und sah mit Staunen, daß das Kind nicht aufgewacht war. Der Chevalier erschrak über die nur zu deutlichen Anzeichen. Er begriff das Unglück, zu dem sein Kind verdammt war. Die Mutter wollte es nicht zugestehen und durch alle möglichen Mittel die Befürchtungen des Mannes als falsch beweisen. Der Arzt wurde gerufen. Die Untersuchung war nicht lang und nicht schwierig. Die arme Camilla war taub und darum auch stumm.

 

II

Ist es unheilbar? Das war der erste Gedanke der Mutter. Man antwortete ihr, daß es schon Fälle von Heilung gegeben habe. Ein Jahr hindurch hoffte sie; doch die Kunst der Ärzte versagte. Alles wurde versucht, aber das Ende hieß Resignation.

Zum Unglück war in ihrer Zeit, die so viele Vorurteile beseitigte, noch kein Platz für das Mitleid mit den Taubstummen. Philanthropen, bedeutende Gelehrte und viele fühlende Menschen hatten wohl schon gegen diese Barbarei protestiert. Seltsam ist es, daß zuerst ein spanischer Mönch des sechzehnten Jahrhunderts sich der damals für unmöglich gehaltenen Aufgabe annahm, die Stummen ohne Worte sprechen zu lehren. Seinem Beispiel folgten etliche in Italien, England und Frankreich. Bonnet, Wallis, Bulwer, Van Helmont schufen bemerkenswerte Werke. Doch die gute Absicht war stärker als der Erfolg. Selbst in Paris, dem Mittelpunkt der Zivilisation, betrachtete man die Taubstummen gleichsam als Außenseiter und mit himmlischem Zorn belastet. Weil sie ohne Sprache waren, sprach man ihnen den Verstand ab. Für die Reichen gab es das Kloster, für die Armen die Verlassenheit. Das war ihr Schicksal. Sie flößten mehr Abscheu ein als Mitleid.

Der Vater trug immer mehr an schwerem Leid. Am Tage blieb er zumeist allein in seinem Zimmer oder ging im Wald umher. Er strengte sich an, seiner Frau ein ruhiges Gesicht zu zeigen und Trost zu sagen. Doch umsonst. Sie litt nicht weniger als er. Verdientes Unglück kann weinen lassen, selbst wenn die Tränen zu spät kommen und zwecklos sind. Aber grundloses, sinnloses Unglück bedrückt die Vernunft und entmutigt die Frömmigkeit.

Es wurde für die beiden qualvoll, sich zu sehen. Sie mieden die gemeinsamen Wege, die noch eben die Worte naher, ruhiger, reiner Hoffnung gehört hatten. Er hatte nur Ruhe gewollt, als er sich freiwillig auf das Land verbannte. Das Glück hatte ihn überrascht. Sie hatte nur eine Vernunftehe gesehen. Und Liebe war gekommen, gegenseitige Liebe. Da drängte sich dieses Schreckliche zwischen beide. Und das Schreckliche war das Kind, das beiden ein heiliges Band hätte sein sollen.

Es geschah die Trennung, plötzlich und schweigend, die fürchterlicher war als Ehescheidung und grausamer als langsames Sterben. Die Mutter liebte allem Unglück zum Trotz das Kind leidenschaftlich. Der Vater wollte es, hatte Geduld und Güte und konnte doch nicht den Abscheu überwinden, den dieser Fluch Gottes erwirkte.

»Hasse ich denn mein Kind?« fragte er sich oft auf seinen einsamen Wegen. »Ist es ihre Schuld denn, daß der Zorn des Himmels sie traf? Muß ich sie nicht beklagen, muß ich nicht alles versuchen, um den Schmerz meiner Frau zu mildern, muß ich nicht verbergen, was ich leide, und bei meinem Kind sein? Wie traurig würde ihr Leben, wenn sogar ich, der Vater, sie verließe? Gott hat sie mir gegeben. Meine Pflicht heißt Ergebenheit. Wer sollte sich um sie sorgen, wer sie erziehen, sie beschützen, wenn nicht ich? Sie hat auf der Welt nur Vater und Mutter. Einen Mann wird sie nicht finden und Bruder und Schwester nicht bekommen. Es ist genug mit diesem einen Unglück. Ich hätte kein Herz, wollte ich mich nicht opfern und an ihrem Leben mittragen.«

Er fand das Kind bei der Mutter. Er kniete vor ihr nieder und nahm Céciles Hände in die seinen. Man habe ihm von einem berühmten Arzt gesprochen, der herkommen wolle. Noch wäre nichts entschieden. Man habe schon wunderbare Heilungen gesehen. Er nahm das Kind auf den Arm und trug es im Zimmer umher; doch schon kamen die furchtbaren Gedanken. Ihre Zukunft zu ahnen, ihr ewiges Schweigen, das Bild ihres unvollendeten Wesens, ihrer Sinne, die geschlossen blieben, Vorwürfe, Widerwillen, Mitleid, Verachtung der Welt! Er bekam keine Luft, wurde bleich. Mit zitternden Händen gab er das Kind der Mutter und wandte sich ab, um nicht die Tränen zu zeigen.

Jetzt preßte die Mutter das Kind um so zärtlicher ans Herz: mit dem erfüllten Blick der mütterlichen Liebe, die größer und stolzer ist als alles. Sie klagte niemals. Sie saß in ihrem Zimmer, legte Camilla in die Wiege und war so stumm wie sie; sah sie nur an.

Die leidenschaftliche Größe ihres Mitgefühls wurde so stark, daß sie nicht selten durch Tage hindurch schwieg. Dann sprach man sie umsonst an. Dann schien es, als wollte sie selbst erfahren, wie dunkel die Nacht sei, in der ihr Kind lebte.

Sie sprach mit der Kleinen durch Zeichen und war die einzige, die sie verstehen konnte. Die andern, selbst der Vater, blieben dem Kind fremd. Céciles Mutter, eine ziemlich gewöhnliche Frau, kam nur nach Chardonneux (so hieß das Gut), um über das Unglück zu lamentieren. Sie hielt es für den Beweis ihres Mitgefühls, wenn sie ohne Unterlaß das traurige Geschick des Kindes beklagte. Eines Tages entfuhren ihr die Worte: »Besser würde es sein, sie wäre nicht geboren.« »Was hätten Sie denn getan, wenn ich so wäre?« entgegnete Cécile fast zornig.

Onkel Giraud, der Maurermeister, indessen sah durchaus kein Unglück darin, daß seine kleine Nichte stumm war. »Ich hatte eine so geschwätzige Frau, daß ich schließlich jeden andern menschlichen Fehler vorzog. Die Kleine ist schon jetzt sicher, niemals unnützes Zeug zu reden, auch keinem Klatsch zuzuhören, auch nicht ein ganzes Haus mit alten Opernmelodien, die alle gleich sind, nervös zu machen. Sie wird niemals keifen und die Dienstboten nicht beschimpfen, wie meine Frau es immer tat. Sie wird nicht aufwachen, wenn der Ehemann hustet oder wenn er früher aufsteht als sie, um die Arbeiter zu überwachen. Sie wird nicht im Schlaf sprechen und diskret sein. Sie wird klar sehen mit den gütigen Augen der Tauben. Sie wird eine Rechnung begleichen können, wenn sie auch nur ihre Finger zählen kann, und richtig bezahlen, wenn sie Geld hat, und dabei nicht erst alle möglichen Schliche anwenden wie die Bauherren bei der geringsten Bauerei. Sie wird auch etwas sehr gut verstehen, was man für gewöhnlich kaum lernt, nämlich: daß Handeln besser ist als Reden. Wenn sie das Herz auf dem richtigen Fleck hat, wird man es merken, auch ohne daß sie einem Honig um den Bart schmiert. Sie wird nicht mit den anderen lachen, das ist wahr; aber sie wird auch nicht die Schwätzer hören, die das Mittagessen stören. Sie wird hübsch sein, Geist haben und nicht laut sein. Sie wird nicht wie ein Blinder einen Pudel nötig haben, um spazierenzugehen. Wäre ich jung, ich würde sie wahrhaftig sehr gerne heiraten, wenn sie einmal groß ist. Und heute, alt und kinderlos wie ich bin, nähme ich sie mit Freuden zu mir, sollte sie euch zufällig lästig sein.«

Bei seinen Worten huschte für Augenblicke ein Lächeln über die beiden. Sie mußten den guten Alten gern haben, seine rauhe Schale und seinen weichen Kern; den Gutmütigen, der nirgends etwas Böses sehen wollte. Doch das Übel war da. Die ganze Familie betrachtete dieses ausgefallene Unglück mit erschreckten und neugierigen Augen. Sie bildeten vor dem Essen einen Kreis, wenn sie mit der Kutsche von der Furt von Mauny kamen, besprachen sich, räsonnierten, prüften den Fall angelegentlichst, setzten ein gewichtiges Gesicht auf und konsultierten sich leise, was man sagen solle. Schließlich gaben sie dem Gespräch durch irgendeine dick aufgetragene Albernheit die beabsichtigte Wendung. Die Mutter saß vor ihnen, das Kind auf den Knien und mit bloßer Brust, aus der noch ein paar Tropfen Milch rannen. Wäre in der Familie Raffael gewesen, dann hätte der Madonna auf dem Stuhl eine Schwester entstehen können. Cécile wußte es nicht und war darum nicht weniger schön.

 

III

Die Kleine wuchs heran. Die Natur arbeitete ernst und treulich an ihrem Werk. Camilla hatte als Ausdruck für die Seele nur die Augen. Ihre ersten Gesten drängten gleich ihren ersten Blicken zum Licht. Der blasseste Sonnenstrahl verursachte ihr Freude.

Als sie sich aufrecht zu halten und zu laufen begann, ließ sie lebhafte Neugierde alle Dinge, die sie umgaben, prüfen und berühren. Sie tat es mit zarter Furcht und Freude, lebhaft wie ein Kind und doch schon mit der Scham des Weibes. In der ersten Bewegung lief sie auf alles zu, das ihr neu war, wie um es zu fühlen und zu greifen. Doch schon auf dem halben Wege stutzte sie und sah die Mutter an, wie um sie zu fragen. Sie glich einem Hermelin, das mitten im Lauf anhält, wenn es vor sich Schmutz oder Staub sieht und sein Fell beschmutzen könnte.

Ein paar Nachbarskinder wollten mit Camilla im Garten spielen. Es war seltsam, wie sie sie ansah, wenn sie sprachen. Die Kinder, ungefähr im gleichen Alter, versuchten schon die halben Worte ihrer Wärterinnen nachzulallen. Sie öffneten die Lippen und übten ihre Intelligenz am Geschrei. Für die Kleine war es nichts als eine Bewegung. Oft streckte sie, um ihr Verständnis zu beweisen, die Händchen gegen die kleinen Gespielen aus, die dann erschreckt vor diesem anderen Ausdruck ihrer eigenen Gedanken zurückprallten.

Frau des Arcis verließ das Kind nie. Sie beobachtete ängstlich seine geringfügigsten Handlungen und kleinsten Zeichen. Wie wäre sie glücklich gewesen, hätte sie den Abbé de L'Épée ahnen können, der bald sein Licht in die Schattenwelt dieser Unglücklichen tragen sollte. Doch sie wußte nichts und war kraftlos einem üblen Schicksal gegenüber, das der Mut und die Güte eines Mannes überwinden sollten. Seltsam, daß ein Priester mehr vermochte als eine Mutter, und ein Geist, der unterscheidet, mehr als ein Herz, das leidet.

Camillas kleine Freundinnen kamen in das Alter, den ersten Unterricht zu empfangen. Jetzt wurde die arme Kleine sehr traurig, daß sie nicht mit lernen durfte. Bei einem Nachbarn brachte eine alte englische Erzieherin mit großer Mühe und vieler Strenge einem Kinde das Buchstabieren bei. Camilla war bei dem Unterricht zugegen, sah erstaunt auf den kleinen Kameraden, verfolgte mit den Augen seine Anstrengungen und versuchte sozusagen, ihm beizustehen. Sie weinte mit ihm, wenn er gescholten wurde.

Die Musikstunden wurden für sie noch peinvoller. Sie hockte ganz dicht am Klavier, streckte und krümmte die Fingerchen und sah die Lehrerin mit ihren großen schönen schwarzen Augen an. Sie schien immer zu fragen: »Was tut ihr da?« und klopfte zuweilen anmutig und zugleich irritiert auf die Tasten.

Der Eindruck, den die Wesen oder die Außendinge auf die anderen Kinder hervorriefen, schien ihr nicht erstaunlich. Sie beobachtete und erinnerte sich an die Gegenstände wie die andern. Aber wenn sie sie mit dem Finger auf eben diese Dinge zeigen und ihre Lippen in jener unerklärlichen Bewegung sah, dann wieder begann ihr Leid. Dann verkroch sie sich in eine Ecke mit einem Stein oder einem Stück Holz und malte mechanisch irgendwelche Buchstaben in den Sand, die sie die andern hatte nennen sehen und die sie aufmerksam betrachtete.

Das Nachtgebet, das der Nachbar seine Kinder alle Tage sprechen ließ, war für Camilla ein Rätsel, ein Mysterium. Sie kniete mit den Freundinnen und faltete die Hände, ohne zu wissen, warum. Der Chevalier sah darin eine Entweihung: »Nehmt die Kleine weg«, sagte er dann. »Erspart mir eine Komödie.«

»Ich nehme es auf mich, Gott um Verzeihung zu bitten«, entgegnete die Mutter eines Tages.

Camilla zeigte schon frühzeitig die Fähigkeit des zweiten Gesichts, wie es die Schotten nennen, wie es die Anhänger des Magnetismus bewundern und die Ärzte zumeist als krankhaft ansehen. Die kleine Taubstumme fühlte jene kommen, die sie liebte, und ging ihnen oft entgegen, ohne daß sie ihre Nähe hätte wissen können.

Die anderen Kinder nahten sich ihr mit einer gewissen Furcht, zuweilen aber auch mit Verachtung. Es geschah, daß eines von ihnen mit der Mitleidslosigkeit, von der La Fontaine spricht, zu ihr kam, lange auf sie einredete, sie anstarrte, ihr ins Gesicht lachte, fragte und Antwort wollte. Den kleinen Kinderreigen, die getanzt werden, solange es Kinderbeinchen gibt, sah Camilla scheu und einsam an eine Bank gelehnt zu. Wenn der alte Vers kam:

Wir tanzen Ringelreihen
Schnell eins, zwei, drei –

folgte sie dem Takt und wiegte den hübschen Kopf. Sie mischte sich nie unter die Kinder und stand mit trauriger Anmut daneben.

Eine der gewichtigsten Bemühungen ihres gequälten Verstandes war das Rechnen. Sie wollte mit einer kleinen Gefährtin mitarbeiten, die Arithmetikstunden hatte. Die Aufgabe war sehr einfach und kurz. Das andere Kind plagte sich mit einer etwas schwierigen Zahl. Die Summe überstieg kaum zwölf oder fünfzehn Einheiten. Das Kind rechnete an den Fingern. Camilla begriff, daß die andere nicht zurecht kam, wollte ihr helfen und streckte ihr die beiden gespreizten Hände entgegen. Man hatte ihr einmal die ersten und einfachsten Anleitungen gegeben. Sie wußte, daß zwei mal zwei vier ist. Ein intelligentes Tier, selbst ein Vogel zählt auf seine Art, die wir nicht kennen, bis zwei oder drei. Eine Elster, sagt man, rechnet bis fünf. Camilla würde vielleicht viel weiter gerechnet haben, aber ihre Hände hatten nur zehn Finger. Sie hielt sie vor ihre kleine Freundin gespreizt und lächelte sie gütig an wie ein ehrlicher Mann, der nicht bezahlen kann.

Für gewöhnlich zeigt sich die weibliche Koketterie sehr früh. Aber bei Camilla sah man sie nicht. »Es ist doch drollig«, meinte der Vater, »daß ein kleines Mädel gar nicht eitel ist.« Dann lächelte Frau des Arcis wohl traurig. »Und doch ist sie schön!« sagte sie ihrem Mann. Sie führte die Kleine zärtlich ihrem Mann zu, damit er ihre kleine Gestalt sehe, die schon zarte Form bekam, und ihren anmutig kindlichen Gang.

Je älter sie wurde, desto leidenschaftlicher liebte sie die Kirchen, die sie sah; nicht die Religion, die sie nicht verstand. Vielleicht trug ihre Seele das starke Gefühl zehnjähriger Kinder, die inbrünstig nach groben Kleidern greifen und nach Armut und Leid verlangen, als wollten sie so ihr Leben verbringen. Es werden noch sehr viele Gleichgültige, noch sehr viele Philosophen sterben, bevor diese Sehnsucht erklärt wird.

»Als ich Kind war, sah ich nicht Gott, nur den Himmel.« Das ist ein erhabenes Wort, geschrieben von einem, der taubstumm war. Von soviel Kraft war das Kind noch weit entfernt. Das ungefüge Bild der Madonna, mit Bleiweiß auf eine blau gegipste Mauer gepinselt, das aussah wie das Schild eines Kramladens; ein Provinzchorknabe, die Soutane über dem alten Kittel, die zarte Silberstimme schwermütig an den Fensterscheiben vibrierend, ohne daß Camilla sie hätte hören können; der Gang des Kirchendieners, das Gesicht des Küsters: Wer kennt die Gründe, die Kinderaugen aufsehen lassen? Doch was tut es, wenn sie nur aufsehen?

 

IV

»Und doch ist sie schön!« wiederholte sich der Vater oft.

Das Kind war es in der Tat. In dem vollendeten Oval ihres Gesichts war wundervolle Reinheit und Frische, wie der Abglanz einer schönen Seele. Sie war klein, gar nicht blaß, nur ihre Haut schneeweiß, die Haare lang und schwarz. Ihr Wesen schien fröhlich und lebhaft; die sanfte und fast gleichmütige Schwermut kam von ihrem Unglück. Alle Bewegung war voller Anmut, Intelligenz und fast auch Energie in ihrer kleinen Pantomime. Sie gab sich absonderliche Mühe, sich verständlich zu machen, schnell aufzufassen und zu folgen, wenn sie begriffen hatte. Die Eltern sahen sie oft wortlos an. Soviel Anmut und Schönheit an Unglück gebunden! War es zu fassen? Der Vater umarmte das Kind oft leidenschaftlich. Er sagte ganz laut: »Ich bin kein schlechter Mensch.«

Im Wald hinter dem Garten war eine Allee, auf der er nach dem Frühstück gerne spazierte. Von dem Fenster ihres Zimmers aus sah Cécile ihn ruhelos hinter den Bäumen. Ihn aufzusuchen wagte sie nicht. Voller Leid blickte sie zu ihm, der für sie mehr als Gatte gewesen war. Nie hatte er ihr einen Vorwurf gemacht, nie hätte sie ihm einen machen können. Er hatte nicht mehr den Mut zur Liebe, weil sie Mutter war.

Doch an einem Morgen zögerte sie nicht mehr. Im Morgenmantel kam sie zu ihm, erregt und schön wie nur je. Es handelte sich um einen Kinderball, der in einem benachbarten Schloß stattfinden sollte. Sie wollte mit Camilla hin und die Wirkung wissen, die die Schönheit der Kleinen auf die Welt und ihren Mann machen würde. Sie hatte des Nachts nicht geschlafen, weil sie das Kleidchen für das Kind überlegte. Dabei waren freundliche Gedanken gekommen und sanfte Hoffnung.

»Er wird stolz auf seine Kleine sein müssen«, sagte sie sich, »und man wird sie beneiden. Sie wird nichts sprechen, aber sie wird die Schönste sein.«

Er sah sie kommen, ging auf sie zu und küßte ihre Hand mit der respektvollen Galanterie des Versailler Hofes, die er trotz seiner natürlichen Einfachheit nie ablegte. Sie sprachen zunächst Gleichgültiges und gingen einer neben dem anderen.

Sie suchte irgendeinen Vorwand für ihren Vorschlag, die Kleine auf den Ball zu bringen und mit einer Gewohnheit zu brechen, die er seit des Kindes Geburt geübt hatte. Alle Gesellschaft war ihm peinlich. Der Gedanke nur, sein Unglück gleichgültigen und mißgünstigen Augen auszusetzen, brachte ihn außer sich. Er hatte es oft und bestimmt ausgesprochen. So mußte sie irgendeine List, einen Vorwand finden, nicht nur, um ihren Plan auszuführen, sondern um überhaupt erst davon zu sprechen.

Auch der Chevalier schien sehr nachdenklich. Er brach zuerst das Schweigen. Ein überraschender Vorfall bei einem seiner Verwandten verursache große Vermögensveränderungen in der Familie. Es sei für ihn unumgänglich, die damit beauftragten Leute persönlich zu überwachen. Seine Interessen und folglich auch die ihren könnten geschädigt werden. Mit einem Wort, er sei gezwungen, eine kurze Reise nach Holland zu machen, um sich mit seinem Bankier auszusprechen. Die Angelegenheit sei so dringend, daß er wohl schon am nächsten Morgen abfahren müsse.

Es war für sie nur allzu leicht, das Motiv seiner Reise zu erkennen. Er hatte wohl nicht die Absicht, sie zu verlassen, doch ein unumgängliches Bedürfnis, ganz allein zu sein, zum wenigsten für einige Zeit; und sei es nur, um ruhiger wiederzukommen. Jeder große Schmerz zwingt den Menschen zur Einsamkeit, so wie das körperliche Leid die Tiere.

Sie war zuerst so überrascht, daß sie nur mit jenen nichtssagenden Redensarten zu antworten wußte, die man immer auf den Lippen hat, wenn man nicht sagen kann, was man denkt. Sie finde die Reise sehr richtig; er habe ganz recht, sie begreife die Wichtigkeit des Unternehmens und habe durchaus nichts dagegen. Während sie sprach, fühlte sie heftigen Schmerz; sie sagte, sie sei müde, und setzte sich auf eine Bank.

Dort blieb sie in tiefem Sinnen, die Augen irgendwo, und mit herabhängenden Händen. Bis zu dieser Stunde hatte sie weder ausgelassene Freude noch die großen Vergnügungen kennengelernt. Sie war keine Frau von überlegenem Geist, aber sie hatte starke Gefühle und war, aus ziemlich kleinen Verhältnissen kommend, oft ein wenig gedrückt. Die Ehe war für sie ein kaum geahntes Glück gewesen, ein Lichtstrahl nach langen kalten Tagen. Jetzt fühlte sie Nacht.

So saß sie lange. Er wandte den Kopf und schien ungeduldig. Er wollte wieder ins Haus, stand auf, setzte sich wieder. Endlich erhob sie sich und nahm seinen Arm. Gemeinsam kehrten sie um.

Zur Essensstunde ließ sie sagen, sie fühle sich krank und könne nicht hinunterkommen. In ihrem Zimmer stand ein Betstuhl, dort kniete sie bis zum Abend. Ihre Kammerzofe wagte sich einige Male zu ihr hinein, weil sie vom Chevalier heimlichen Auftrag hatte, auf sie achtzugeben. Sie antwortete auf keine Frage. Gegen acht Uhr abends läutete sie und verlangte das Kleidchen, das für die Kleine vorbereitet war. Man solle auch anspannen lassen. Ihren Mann ließ sie wissen, sie gehe zum Ball und wünsche, daß er sie begleite.

Camilla war schlanker und zierlicher, als Kinder für gewöhnlich sind. Ihr wohlgestaltetes Körperchen, das die ersten Formen ahnen ließ, bekleidete die Mutter mit einem einfachen und frischen Gewand. Ein Kleid von weißem gesticktem Musselin, weiße Atlasschuhchen, ein silbergeflochtenes Halskettchen und ein Kranz von Kornblumen auf dem Kopf: Das war ihr Schmuck. Sie bewunderte sich voller Stolz und hüpfte vor Freude in die Höhe. Die Mutter trug eine Samtrobe, wie jemand, der nicht tanzen will. Sie führte das Kind vor einen Spiegel und küßte es immer wieder: »Du bist schön! Du bist schön!« Ihr Mann trat ein. Sie fragte ohne merkliche Erregtheit den Diener, ob angespannt sei, und ihren Mann, ob er mitkomme. Er nahm ihre Hand. Dann gingen sie auf den Ball.

So bekam die Gesellschaft Camilla zum erstenmal zu sehen. Man hatte schon viel von ihr gehört. Die Neugierde zog alle Augen auf die Kleine. Frau des Arcis war weder unruhig noch verlegen, wie man es hätte erwarten können. Nach den gewohnten Höflichkeiten setzte sie sich mit ruhigem Gesicht. Die Blicke folgten erstaunt und mit übertriebenem Interesse ihrem Kind. Ohne sichtliche Besorgnis überließ sie Camilla sich selbst.

Camilla fand ihre kleinen Gespielinnen wieder und lief von einer zur anderen, als sei sie mit ihnen im Garten. Die Kinder nahmen sie mit Zurückhaltung und Kälte auf. Des Arcis stand abseits und litt sichtlich. Freunde kamen zu ihm und rühmten die Schönheit seiner Tochter. Fremde, Unbekannte sogar redeten ihn an und sagten Schmeichelhaftes. Er merkte, daß man ihn trösten wollte; das war durchaus nicht nach seinem Geschmack. Dennoch fühlte sein Herz den zweifellos bewundernden Blick, den alle dem Kinde schenkten, und freute sich seiner. Camilla sprach fast jeden mit ihren Gesten an, ging dann wieder zur Mutter und lehnte sich an ihre Knie. Von allen Seiten kam man, sie zu sehen; man erwartete irgend etwas Außergewöhnliches und zum mindesten Sehenswertes. Sie aber hatte nur alle ehrerbietig begrüßt, den englischen jungen Damen die Hand geschüttelt, den Müttern ihrer kleinen Freundinnen Kußhändchen geschickt. Vielleicht war alles auswendig gelernt, aber sie tat es mit kindlicher Anmut. Schon bewunderte man sie, als sie ruhig an ihren Platz zurückkehrte. Wahrlich, die Hülle war schön, aus der das arme Seelchen nicht herauskonnte. Ihre Gestalt, ihr Gesicht, ihr langes lockiges Haar, vor allem diese Augen mit ihrem unbeschreiblichen Glanz überraschten jedermann. Ihre Augen wollten alles ahnen, ihre Gesten alles sagen. Schwermütiges Besinnen war in den geringsten Bewegungen und den kindlichen Gebärden, fast wie eine Ahnung von Größe. Ein Maler oder ein Bildhauer wäre gefangen gewesen. Man kam der Mutter nahe, umringte sie, gestikulierte tausend Fragen an Camilla. Dem abwehrenden Erstaunen war aufrichtiges Wohlwollen gefolgt und freimütige Zuneigung. Bald waren die Leute begeistert, wie immer, wenn der Nächste zum Nachbarn das oft Besprochene wiederholt. Noch nie habe man ein so entzückendes Kind gesehen. Keines ähnele ihm, keines sei gleich schön. Zum Schluß feierte die Kleine einen vollkommenen Triumph, ohne ihn zu verstehen.

Ihre Mutter verstand ihn sehr wohl. Der äußerlich Ruhigen zersprang fast das Herz vor Freude. Sie fühlte den glücklichsten und reinsten Augenblick ihres Lebens. Sie und ihr Mann lächelten einander zu. Das wog viele Tränen auf.

Unterdessen setzte sich ein junges Mädchen ans Klavier und spielte einen Kontertanz. Die Kinder nahmen sich an den Händchen, stellten sich auf und zeigten die Schritte, die sie der Tanzlehrer des Ortes gelehrt hatte. Die Eltern machten einander Komplimente, fanden das kleine Fest reizend und nett und wiesen einander auf die Grazie ihrer Nachkommenschaft hin. Allmählich entstand großer Lärm: Die Kleinen kreischten, die jungen Leute plauderten beim Kaffee, die jungen Mädchen unterhielten sich über Kleider, die Papas politisierten und die Mamas wechselten bittersüße Höflichkeiten. Ein Kinderball in der Provinz.

Des Arcis ließ nicht die Augen von Camilla. Sie hatte selbstverständlich nicht mitgetanzt und sah dem Vergnügen aufmerksam und ein wenig traurig zu. Ein kleiner Junge wollte sie holen. Sie schüttelte den Kopf. Ein paar Kornblumen fielen aus ihrem Kranz, der nicht sehr fest gebunden war. Die Mutter las sie auf, befestigte sie mit ein paar Nadeln und brachte die Haare des Kindes in Ordnung. Jetzt sah sie sich vergeblich nach ihrem Mann um. Er war nicht mehr im Saal. Sie erkundigte sich, ob er fort sei und den Wagen genommen habe. Man sagte ihr, er sei zu Fuß heimgekehrt.

 

V

Des Arcis war entschlossen zu fahren, ohne seiner Frau Adieu zu sagen. Er fürchtete und floh alle peinlichen Erklärungen. Zudem wollte er ja in kurzer Zeit wiederkommen und hielt es für ausreichend, ihr einen Brief zu lassen. Es stimmte nicht ganz, daß ihn Geschäfte nach Holland riefen. Immerhin konnte ihm die Reise von Nutzen sein. Einer seiner Freunde hatte nach Chardonneux geschrieben und ihn zur Reise gedrängt. Es war ein willkommener Vorwand. Heimkehrend tat er wie einer, der Hals über Kopf abreisen müsse. Er ließ in aller Hast packen, schickte das Gepäck zur Stadt, stieg aufs Pferd und ritt davon.

Auf der Schwelle zögerte er wider Willen. Er empfand Bedauern und fürchtete, allzu rasch einer Laune nachgegeben zu haben, der er hätte Herr werden können. Vielleicht würde sie unnütz weinen, vielleicht nahm er ihr die Ruhe, ohne die seine anderswo zu finden. Doch wer weiß, überlegte er, vielleicht tue ich im Gegenteil etwas Nützliches und Verständiges? Wer weiß, ob uns nicht das kurze Leid meiner Abwesenheit die glücklichen Tage wiedergeben wird? Ich trage ein Unglück, und keiner als Gott weiß, warum. Ich gehe für wenige Tage von dem Ort meines Leidens. Die Abwechslung der Reise, allein nur, weil ich durch sie müde werde, gibt mir vielleicht ein wenig Ruhe. Ich werde mich mit materiellen Dingen beschäftigen, die für mich wichtig und notwendig sind. Ich werde ruhiger und zufriedener zurückkommen. Ich werde viel nachdenken und eher wissen, was mir zu tun bleibt. »Cécile aber leidet unterdessen«, sagte ihm das Gewissen. Doch der Entschluß war nun einmal gefaßt, und so setzte er seine Reise fort.

Seine Frau hatte gegen elf Uhr den Ball verlassen. Sie war mit dem Kinde in den Wagen gestiegen und hatte die Kleine bald schlafend auf den Knien. Sie wußte noch nichts von der überstürzten Abreise ihres Mannes; aber es schmerzte sie, daß sie allein das Fest verlassen mußte. Was in den Augen der Welt nichts ist als eine kleine Rücksichtslosigkeit wird doppelt schmerzlich für den, der das Motiv ahnt. Er hatte das Zurschaustellen seines Unglücks nicht ertragen können. Sie wollte dieses Unglück zeigen, um es zu besiegen. Eine Anwandlung von Trauer oder schlechter Laune hätte sie ihrem Mann durchaus verziehen. Man muß jedoch bedenken, daß es in der Provinz als unerhört gilt, Frau und Kind so zurückzulassen. Ein Mantel, den die Frau holen muß, weil der Mann nicht zur Stelle ist, und ähnliche Kleinigkeiten haben dort schon mehr Unheil angerichtet, als alle Ehrfurcht vor den Konventionen je Gutes tun könnten.

Der Wagen schleppte sich langsam über die frisch geschotterte Gemeindestraße. Cécile sah auf das eingeschlafene Kind und wurde sehr traurig. Sie hielt es so, daß die Erschütterungen des Wagens nicht seinen Schlummer stören konnten. Mit der Kraft, die nur die Nacht dem Gedanken gibt, erfaßte sie die Mißgunst ihres Lebens, die sie bis in die kleine Freude eines Kinderballes verfolgte. Mit einer befremdlichen Logik verglich sie die Zukunft des Kindes mit der eigenen Vergangenheit.

»Was soll nur werden? Mein Mann geht von mir; wenn nicht heute für immer, dann morgen. Mühen und Bitten von mir werden ihm nur lästig. Seine Liebe ist tot, nur Mitleid lebt noch, und sein Kummer ist stärker als er und als ich. Das Kind ist schön, doch unglücklich. Was soll ich tun? Was kann ich voraussehen und verhindern? Binde ich mich an das arme Kind, wie ich es muß und wie ich es tue, dann trenne ich ihn von mir. Er flieht uns, weil wir ihm schrecklich sind. Wollte ich ihm wieder nahekommen und ihn an die alte Liebe erinnern: Hieße das nicht, mich von meinem Kind zu trennen? Würde er es nicht von mir verlangen? Würde er nicht das Kind fremden Menschen geben und sich von seiner bedrückenden Gegenwart befreien wollen?«

Sie umarmte das Kind und küßte es.

»Mein Kind! Ich dich verlassen! Ich mit dem Preis deiner Geborgenheit, deines Lebens vielleicht den Schein von Glück erkaufen! Nicht mehr Mutter sein, um wieder Gattin zu werden! Wäre auch nur der Gedanke möglich, ist es dann nicht besser zu sterben?«

Dann spann sie ihre Gedanken weiter: »Was wird noch geschehen? Was bestimmt uns die Vorsehung? Gott wacht über alle, er sieht uns wie die anderen. Was will er mit uns? Was wird aus dem Kind?«

Nicht weit von Chardonneux war eine Furt zu passieren. Viel Regen seit etwa einem Monat hatte den Fluß aus den Ufern treten lassen. Der Fährmann weigerte sich, den Wagen auf die Fähre zu nehmen. Man müsse ausspannen, sagte er, dann würde er Menschen und Pferde hinüberschaffen, den Wagen aber nicht. Cécile drängte es, ihren Mann zu sehen; sie wollte nicht aussteigen. Sie befahl dem Kutscher, auf die Fähre zu fahren. Es war eine Überfahrt von wenigen Minuten, die sie schon hundertmal gemacht hatte.

Mitten auf der Furt kam das Schiff durch die Strömung von der Fahrtrichtung ab. Der Fährmann holte den Kutscher zu Hilfe, damit sie nicht in die Schleuse gerieten. Denn dreihundert Schritt flußabwärts lag eine Mühle mit einer Schleuse aus kleinen Balken, Pfählen und angesammelten Planken; doch sie war alt, durch die Strömung zerbrochen und eine Art Wasserfall geworden oder eher noch ein Strudel. Wurde man hineingezogen, so war Schreckliches zu erwarten.

Der Kutscher war von seinem Sitz gestiegen. Er hätte gern irgendwie geholfen; doch es war nur eine Stange auf der Fähre. Der Fährmann arbeitete aus Leibeskräften; allein die Nacht war finster, und ein feiner Regen behinderte die Sicht der beiden Männer, die, sich ablösend und dann wieder mit gemeinsamer Kraft, die Strömung zu überwinden und das Ufer zu gewinnen suchten.

Das Toben der Schleuse kam näher und mit ihr die fürchterliche Gefahr. Das schwer beladene Schiff, auf dem zwei kräftige Männer mühsam gegen die Strömung kämpften, kam nur langsam vorwärts. Sooft sie die Ruderstange tief nach vorne tauchten, blieb die Fähre stehen, ging seitwärts oder drehte sich um sich selbst. Aber die Flut war zu stark. Cécile, die mit dem Kinde im Wagen geblieben war, öffnete zu Tode erschreckt das Fenster und schrie:

»Sind wir verloren?«

In diesem Augenblick brach die Stange entzwei. Die beiden Männer fielen erschöpft und mit zerschundenen Händen ins Schiff.

Der Fährmann konnte schwimmen, der Kutscher nicht. Es war keine Zeit zu verlieren.

»Vater Georgeot«, rief Cécile dem Fährmann zu, »kannst du das Kind und mich retten?«

Vater Georgeot sah auf das Wasser und auf das Ufer, hob die Schultern wie beleidigt, daß man ihn überhaupt fragen könne, und antwortete:

»Aber gewiß doch!«

»Was müssen wir tun?« fragte sie.

»Ich will Sie auf meine Schultern nehmen. Achten Sie auf ihr Kleid, damit sie sich besser halten können. Legen Sie mir beide Arme um den Hals, haben Sie keine Angst und klammern Sie sich nicht zu fest an mich. Sonst ertrinken wir. Schreien Sie nicht, sonst müssen Sie zuviel Wasser schlucken. Die Kleine greife ich mit einer Hand um die Taille und schwimme auf der Seite. Ich werde sie durch die Luft tragen, ohne daß sie einen Tropfen abbekommt. Von hier bis zu dem Kartoffelfeld drüben sind es keine fünfundzwanzig Stöße.«

»Und Johann?« fragte Cécile und wies auf den Kutscher.

»Johann wird ein bißchen Wasser schlucken, aber er kommt schon wieder hoch. Und wenn er an die Schleuse gerät und sich dort festhält, werde ich ihn schon kriegen.«

Vater Georgeot schwang sich mit der doppelten Last ins Wasser. Aber er hatte seine Kraft überschätzt. Er war nicht mehr jung, das Ufer weiter, als er dachte, und die Strömung stärker. Er mühte sich unendlich, an Land zu kommen; aber er wurde fortgerissen. Plötzlich stieß er an einen vom Wasser bedeckten Weidenstrunk, den er in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Er verletzte sich die Stirn. Blut rann ihm hinab. Er konnte nichts mehr sehen.

»Hängen Sie mir das Kind um den Hals oder um Ihren«, stöhnte er; »ich kann nicht mehr.«

»Könntest du sie retten, wenn du nur sie trügest?« fragte die Mutter.

»Ich weiß nicht recht, aber ich glaube ja.«

Cécile öffnete die Arme, löste sie von seinem Hals und ließ sich in die Tiefe gleiten.

Der Fährmann brachte die Kleine gesund und ohne Schaden ans Ufer, der Kutscher wurde von einem Bauern herausgezogen. Beide suchten dann die Leiche der Frau des Arcis. Man fand sie am nächsten Tage ganz nahe am Ufer.

 

VI

Ein Jahr nach diesem Unglück saß in einem Pariser Hotelzimmer in der Rue du Bouloi, nahe der Poststation, ein junges Mädchen in Trauer an einem Tisch neben dem Kamin. Auf dem Tisch stand eine halbgeleerte Weinflasche und ein Glas. Ein Mann, vom Alter gebeugt, aber offenen und freien Gesichts, angezogen wie ein Arbeiter, ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Hin und wieder blieb er vor dem jungen Mädchen stehen und sah es an, liebevoll wie ein Vater. Dann hob die Schwarzgekleidete die Hand, griff fast wie mit Widerwillen nach der Flasche und füllte das Glas. Der Greis trank einen kleinen Schluck, lief wieder herum und gestikulierte sehr seltsam und fast lächerlich. Das Mädchen lächelte traurig und folgte ihm aufmerksam mit den Augen.

Wer die beiden so gesehen hätte, hätte sicher nicht leicht erraten, wie sie zusammengehörten. Sie war unbeweglich, kalt wie Marmor, voller Anmut und Adel. Ihr Gesicht und ihre kleinsten Gebärden trugen Schönheit. Der Mann sah gewöhnlich aus; seine Kleider waren in Unordnung, den Hut behielt er auf dem Kopf. Er trank gemeinen Schoppenwein und ließ die Nägel seiner Stiefel auf dem Parkett klirren. Ein seltsamer Kontrast.

Und doch waren diese beiden Menschen, Camilla und der Onkel Giraud, in zärtlicher und lebhafter Freundschaft verbunden. Der alte Herr war nach Chardonneux geeilt, als man Cécile in die Kirche trug. Dann wurde sie begraben. Jetzt stand Camilla allein in der Welt. Die Mutter war tot und der Vater fort. Der Chevalier hatte das Haus verlassen, fand Zerstreuung auf der Reise, wurde von geschäftlichen Dingen in Anspruch genommen und fuhr in Holland von Stadt zu Stadt. Von dem Tod seiner Frau erfuhr er erst nach einem Monat. Camilla lebte während dieser Zeit wie eine kleine Waise. Wohl hatte sie eine Gouvernante, die sie behüten sollte, aber die Mutter duldete, solange sie lebte, keine Unterstützung. Die Stellung war eine Sinekure; kaum daß die Gouvernante das Kind kannte. So konnte sie ihm in seinem Leid nicht beistehen.

Camillas Schmerz war so groß, daß man lange Zeit für ihr Leben fürchtete. Als Céciles Leiche aus dem Wasser gezogen und ins Haus getragen wurde, schrie sie so furchtbar hoffnungslos und zerreißend, daß die Leute fast Furcht bekamen. Es war unsäglich grauenhaft, als das sanfte Kind, das in stummer Ruhe gelebt hatte, in der Gegenwart des Todes sein Schweigen zerschrie. Die unartikulierten Töne, die sich von ihren Lippen drängten und die sie selbst nicht hörte, hatten etwas Wildes. Sie waren nicht Wort und Seufzen, sondern eine Sprache unendlichsten Schreckens, die vom Schmerz selber erfunden schien. Einen Tag und eine Nacht hindurch füllte ihr fürchterlicher Jammer das Haus. Das Kind lief wie besessen umher, raufte sich die Haare, rannte gegen Mauern. Vergeblich suchte man sie zu halten; selbst Gewalt schien nutzlos. Schließlich machte die Natur selbst ein Ende; das Kind fiel an dem Bett nieder, auf dem die Leiche aufgebahrt war.

Zugleich fast schien sie die frühere Ruhe wiedergewonnen, alles vergessen zu haben. Sie lief ziellos umher, mit langsamem, zerstreutem Schritt, und wehrte keine Pflege ab. Schon glaubte man, sie sei wieder zu sich gekommen; auch der herbeigerufene Arzt täuschte sich. Doch ein Nervenfieber folgte mit den schwersten Symptomen. Tag und Nacht mußte bei ihr gewacht werden, ihr Geist schien sich zu trüben.

Da hatte Onkel Giraud den Entschluß gefaßt, um jeden Preis dem Kind zu helfen. Er sagte zu den Hausleuten:

»Nun hat sie weder Vater noch Mutter. Ich bin ihr richtiger Onkel, muß für sie sorgen und verhindern, daß sie ein Unglück trifft. Das Kind hat mir immer gefallen. Oft habe ich seinen Vater gebeten, es mir zu geben, damit ich meine Freude habe. Ich will es ihm nicht rauben, es ist seine Tochter; doch für den Augenblick muß ich mich ihrer annehmen. Wenn er zurückkommt, bekommt er sie unversehrt wieder.«

Onkel Giraud hatte kein großes Zutrauen zu den Ärzten. Er glaubte an keine Krankheiten, schon aus dem guten Grunde, weil er niemals krank war. Und ein Nervenfieber schien ihm ein Hirngespinst, eine Gedankenverwirrung, die mit ein wenig Zerstreuung geheilt werden könne. Deshalb also entschied er sich, Camilla nach Paris zu bringen. »Sie sehen ja das Leid der Kleinen. Sie muß immerzu weinen; und sie hat recht. Eine Mutter stirbt einem nicht zweimal. Aber ein Kind darf nicht von der Erde gehen, nur weil die Mutter gegangen ist. Es muß an andere Dinge denken. Man sagt, Paris ist für so etwas sehr gut. Ich kenne Paris gar nicht, sie auch nicht. Also bringe ich sie hin: Es wird für uns beide gut sein. Schon die Reise wird ihr wohltun. Wenn ich, der ich mich abgerackert habe wie jeder andere, einen Postillion mit der Peitsche knallen höre, dann freue ich mich wieder meines Lebens.«

So waren Camilla und der Onkel nach Paris gekommen. Der Vater war durch einen Brief benachrichtigt worden und hatte seine Erlaubnis gegeben. Nach seiner Heimkehr aus Holland trug er eine so tiefe Melancholie mit nach Chardonneux, daß er keinen Menschen sehen wollte, selbst nicht die Tochter. Er schien alles Lebende, sich selbst fliehen zu wollen. Er war immer allein, ritt durch die Wälder, ermüdete maßlos den Körper, um seiner Seele etwas Ruhe zu geben. Das tiefe, unheilbare Leid zerriß ihn. Er warf sich vor, seine Frau unglücklich gemacht und ihren Tod verschuldet zu haben. »Wäre ich da gewesen, so lebte sie noch. Und ich hätte hier sein müssen.« Dieser Gedanke verließ ihn nicht mehr und vergiftete sein Leben.

Nur Camilla sollte glücklich sein; das war der Wunsch, für dessen Erfüllung er zu allen Opfern bereit war. Nach seiner Heimkehr war es sein erster Gedanke, ihr die furchtbare Lücke mit aller Hingabe auszufüllen und mit Zinseszins die Schuld seines Herzens zu begleichen. Doch das Bewußtsein der Ähnlichkeit von Mutter und Kind schmerzte ihn schon im voraus unerträglich. Sich darüber hinwegzutäuschen war unmöglich; er konnte sich auch nicht davon überzeugen, daß es seinen Augen Trost sein könne, Balsam seinem Leid, auf einem geliebten Gesicht die Züge der anderen und unendlich Betrauerten wiederzufinden. Camilla blieb für ihn der lebende Vorwurf, Beweis seiner Schuld und seines Unglücks. Sie zu ertragen hatte er nicht Kraft genug.

Onkel Giraud dachte nicht so viel. Für ihn war die Hauptsache, seine Nichte aufzuheitern und ihr das Leben angenehm zu machen. Leider war das nicht leicht. Camilla hatte sich widerstandslos mitnehmen lassen; aber sie schlug jedes Vergnügen aus, das ihr der Alte vorschlug. Sie mochte keine Spaziergänge, keine Feste, kein Theater. Statt aller Antwort zeigte sie auf ihr schwarzes Kleid.

Der alte Maurermeister war hartnäckig. Er hatte, wie wir gesehen haben, in einer Herberge der Personenpost ein möbliertes Zimmer gemietet, das erste, das man ihm anbot, und rechnete mit einem Aufenthalt von ein bis zwei Monaten. Er blieb mit Camilla fast ein Jahr dort. Während der ganzen Zeit hatte sie seine Vorschläge, sich zu zerstreuen, abgelehnt. Der Alte war nicht nur hartnäckig, sondern auch gutmütig und geduldig und wartete ohne Klage. Er liebte sie von ganzem Herzen, ohne recht zu wissen, warum. Er liebte sie aus der unerklärlichen Sympathie, die die Güte mit dem Leid verbindet.

»Aber schließlich weiß ich wirklich nicht«, sagte er und leerte die Flasche, »was dich hindern sollte, mit mir in die Oper zu fahren. Sie ist recht teuer, und ich habe das Billett schon in der Tasche. Gestern war doch deine Trauer zu Ende. Du hast zwei neue Kleider. Du brauchst dir nur noch deinen Umhang zu nehmen und ...«

Er unterbrach sich:

»Zum Teufel! Du hörst ja gar nichts! Ich habe nicht daran gedacht. Doch was tut es? Das ist dort ja gar nicht nötig. Du hörst nicht, und ich höre nicht zu. Wir werden dem Ballett zuschauen; und das genügt schon.«

Also sprach der gute Onkel, der nie bedachte, daß seine Nichte weder hören noch antworten konnte, was Interessantes er auch sprach. Trotzdem plauderte er mit ihr. Denn wenn er es mit Gesten versuchte, war es noch schlimmer, und sie verstand ihn noch weniger. So hatte er sich auch angewöhnt, zu ihr wie zu jedermann zu sprechen, nur daß er aus Leibeskräften gestikulierte. Camilla verstand schließlich diese Sprechpantomime und wußte auf ihre Art zu antworten.

Das Trauerjahr war in der Tat zu Ende. Der Alte hatte ihr zwei schöne Kleider machen lassen und präsentierte sie ihr so zärtlichen und flehentlichen Blickes, daß sie ihm dankend um den Hals fiel. Dann setzte sie sich wieder mit der ruhigen Traurigkeit, die er an ihr kannte.

»Aber das ist noch nicht alles«, sprach der Onkel, »man muß die schönen Kleider auch anziehen. Dazu sind sie nämlich gemacht. Und sie sind hübsch, die Kleider.« Er spazierte im Zimmer umher und ließ die Kleider wie Marionetten tanzen.

Camilla hatte genug geweint. Ein Augenblick der Freude war ihr wohl erlaubt. Das erstemal seit dem Tode der Mutter trat sie vor den Spiegel, nahm eines der Kleider, betrachtete es glücklich, gab ihm die Hand und nickte mit dem Kopf das kleine Zeichen Ja.

Jetzt sprang der gute Giraud samt seinen großen Stiefeln wie ein Kind in die Höhe. Er triumphierte. Endlich war die Stunde gekommen, seinen Plan auszuführen. Camilla würde sich putzen, mit ihm ausgehen, die Oper besuchen, Menschen sehen. Er konnte sich vor Freude kaum halten, umarmte sie, schrie nach Kammerzofe, Dienstboten, nach allen Hausleuten.

Als sie angezogen war, sah sie so schön aus, daß sie es selbst bemerkte und ihr eigenes Bild anlächelte.

»Der Wagen steht unten«, sprach Onkel Giraud und machte dabei mit den Armen die Geste eines Kutschers, der die Pferde anpeitscht, und mit dem Munde das Geknarr eines Wagens.

Camilla lächelte wieder, nahm das abgelegte Trauerkleid, legte es sorgfältig zusammen, küßte es, tat es in den Schrank und ging mit.

 

VII

War Onkel Giraud auch nicht gerade elegant, so verstand er doch sehr wohl, gut zu leben. Ihn bekümmerte es wenig, daß seine Anzüge nach ihrem eigenen Willen an seinem Körper saßen. Sie mußten nur neu und möglichst weit gearbeitet sein, damit sie ihn nicht beengten. Auch die Strümpfe waren nie straff gezogen, und die Perücke fiel ihm über die Augen. Doch war er einmal spendabel, mußte es das Teuerste und Beste sein. So hatte er für diesen Abend für sich und Camilla eine schöne offene Loge genommen, von der aus seine Nichte von jedermann gut gesehen werden konnte.

Der erste Blick auf Bühne und Raum berauschte sie. Wie sollte es auch anders sein, wenn eine Sechzehnjährige, auf dem Lande erzogen, sich mit einemmale mitten in Luxus, Künsten und Vergnügen sieht; fast schien es ihr, als ob sie träume. Man gab ein Ballett. Camilla folgte neugierig den Gebärden, Gesten und Schritten der Schauspieler. Sie begriff sehr wohl, daß es eine Pantomime war, und da sie sich darin auskannte, suchte sie den Sinn zu erfassen. Alle Augenblicke drehte sie sich mit verdutztem Gesicht zum Onkel um, wie um ihn zu befragen. Aber er verstand nicht mehr als sie. Sie sah seidenbestrumpfte Schäfer ihren Schäferinnen Blumen überreichen; Amoretten wiegten sich auf geknüpften Schaukeln, Götter thronten über Wolken. Alles drängte sie in sanftes Erstaunen; die Dekorationen, die Lichter, der prächtige Kronleuchter vor allem, die Gewänder der Frauen, Spitzen, Federn, der ganze Pomp des unbekannten Spieles.

Bald wurde sie Gegenstand der allgemeinen Neugierde. Ihr Kleid war einfach, aber von gutem Geschmack. Neben dem etwas einfältigen Onkel Giraud allein in der Loge, schön wie ein Stern, wie eine Rose frisch, mit ihren großen schwarzen Augen und dem kindlichen Wesen mußte sie notwendig die Blicke auf sich ziehen. Die Männer wiesen einander auf sie hin, die Damen beobachteten sie. Marquis schlenderten heran und riefen nach der Sitte der Zeit ganz laut in die Richtung der Unbekannten schmeichelhafteste Komplimente. Leider wurden sie nur von Onkel Giraud empfangen, der sie mit Entzücken genoß.

Camilla indes wurde bald wieder ruhig und traurig. Sie fühlte mitten in dieser Menge ihre grausame Einsamkeit. Die Leute, die da in ihren Logen plauderten, drängten sie aus ihrem Kreis, die Musiker, deren Instrumente dem Schritt der Schauspieler den Takt gaben, das Hin und Her von Gedanken zwischen Bühne und Zuschauerraum; alles rief: »Wir sprechen, und du sprichst nicht. Wir hören, wir lachen, wir singen, wir lieben uns, wir freuen uns. Du nur freust dich nicht, du nur hörst nicht, du nur bist wie eine Statue, das Trugbild eines Wesens, das nur dabeisteht, wenn wir leben.«

Sie schloß die Augen, um von dem Anblick loszukommen. Sie dachte an den Kinderball, wo sie die Gespielen hatte tanzen sehen und wo sie bei der Mutter bleiben mußte. Sie dachte an das elterliche Haus, an das Unglück ihrer Jugend, langes Leid, heimliches Weinen, Tod der Mutter, Trauerjahr, eben vergangen. Sie wollte wieder trauern, wenn sie zu Hause wäre. Was sollte sie, die ewig Verdammte, noch einmal versuchen, weniger zu leiden? Sie wußte bitter, aller Widerstand gegen den Fluch des Himmels wäre nutzlos. Sie mußte weinen. Onkel Giraud merkte es und fragte sie, warum. Sie wolle nach Hause. Der Alte, überrascht und beunruhigt, zögerte und wußte nicht, was er tun solle. Sie stand auf und wies auf die Logentür, daß er ihren Mantel hole.

In diesem Augenblick sah sie unten im Gang einen gutaussehenden und reichgekleideten jungen Menschen, der, in der Hand eine kleine Schiefertafel, mit Kreide Buchstaben und Figuren schrieb. Dann zeigte er es seinem um vieles älteren Nachbarn, der das Geschriebene zu verstehen schien und ihm in der gleichen Art und sehr rasch antwortete. Beide gaben einander zudem, die Finger öffnend oder schließend, Zeichen, durch die sie ihre Gedanken besser zu vermitteln schienen.

Camilla verstand nichts, weder die Buchstaben, die sie kaum erkennen konnte, noch die Zeichensprache, die sie nicht kannte. Aber sie hatte mit dem ersten Blick gesehen, daß der junge Mann die Lippen nicht bewegte. Sie war schon an der Tür, da blieb sie stehen; denn sie sah, jener wußte eine Sprache, die niemandem eigen war. Jener konnte sich ohne das fatale und unbegreifliche Mittel des Wortes verständlich machen, das ihren Gedanken so qualvoll erschien. Was war das für eine seltsame Sprache? Sie fühlte unsägliches Erstaunen und wünschte, mehr darüber zu erfahren, setzte sich wieder, beugte sich über die Loge und beobachtete aufmerksam den Unbekannten. Sie sah ihn wieder auf die Schiefertafel schreiben und sie dem Nachbarn reichen. Ganz unwillkürlich bewegte sie sich, wie um danach zu greifen. Bei dieser Bewegung drehte sich der junge Mann um und sah sie an. Ihre Augen ruhten unbeweglich und suchend ineinander, als wollten sie sich erkennen. Dann errieten sie sich und sagten sich mit einem Blick: »Wir sind beide stumm.«

Onkel Giraud trug Mantel, Stock und Pelz herbei. Doch jetzt mochte sie nicht gehen und blieb über die Balustrade gebeugt.

Zu jener Zeit begann der Abbé de l'Épée bekannt zu werden.

Als er einmal eine Dame in der Rue des Fossés-Saint-Victor besuchte, sah er zufällig zwei taubstumme Näherinnen, die ihn rührten. Nächstenliebe, seine Seele ausfüllend, wurde wach und wirkte schon Wunder. In der ungelenken Pantomime dieser beiden Armseligen und Verachteten fand er Keime zu einer segensreichen Sprache, die, wie er glaubte, universaler und jedenfalls wahrer werden könnte als die Leibnizsche. Wie die meisten Genies schoß er über das Ziel hinaus, weil er es zu groß sah. Indes, es hieß schon viel, seine Bedeutung zu erkennen. Welches ehrgeizige Ziel seine Güte auch hatte, er lehrte die Taubstummen lesen und schreiben. Er gab sie wieder der Menschheit zurück. Allein und ohne Hilfe, nur mit seiner eigenen Kraft unternahm er es, aus allen diesen Unglücklichen eine Familie zu gründen. Er setzte sein Leben und sein Vermögen dafür ein und hoffte, der König würde auf sie aufmerksam.

Jener junge Mann war einer seiner Schüler, ein Edelmann aus altem Hause, von starker Intelligenz und doch ein Halbtoter, hätte er nicht als einer der ersten denselben Unterricht erhalten wie der berühmte Graf von Solar. Mit dem Unterschied nur, daß er reich war und nicht Gefahr lief, Hungers zu sterben, weil der Herzog von Penthièvre keine Pension zahlte. Unabhängig von den Stunden des Abbés hatte man ihm einen Gesellschafter gegeben, einen weltlichen Lehrer, der ihn überallhin begleiten konnte und beauftragt war, über seine Handlungen und Gedanken zu wachen. Das war der Nachbar, der die Schiefertafel las. Der junge Mann studierte eifrig, übte seinen Geist täglich, las viel, ritt, ging in die Oper und zur Messe.

Zugleich sträubten sich ein angeborener Stolz und eine gewisse Selbständigkeit seines Charakters gegen diese mühevolle Lebensweise. Er wußte nichts von der Not, die seiner geharrt hätte, wäre er arm oder – wie Camilla – nicht in Paris geboren worden. Eines der ersten Dinge, die man ihm beigebracht hatte, als er anfing zu buchstabieren, war der Name seines Vaters gewesen, des Marquis von Maubray. Er wußte also, daß er sich von den anderen Menschen einerseits durch das Privileg einer vornehmen Geburt und andererseits durch eine Benachteiligung der Natur unterschied. Stolz und Demut machten sich so gegenseitig einen edlen Geist streitig, dem das Glück oder vielleicht die Notwendigkeit seine Einfachheit bewahrt hatten.

Dieser taubstumme Marquis, der die anderen beobachtete und verstand und nicht weniger stolz war als sie, der an der Seite seines Gesellschafters mit seinen roten Hacken ebenso wie sie über das Parkett von Versailles geschritten war, wurde von mehr als einer schönen Frau durch das Lorgnon betrachtet. Er aber ließ Camilla nicht aus den Augen. Auch sie sah ihn genau, ohne ihn länger anzublicken. Nach der Oper nahm sie des Onkels Arm, eilte nachdenklich davon und wagte nicht, sich umzudrehen.

 

VIII

Selbstverständlich hatten weder Camilla noch der Onkel Giraud je etwas von dem Abbé de l'Épée gehört; sie kannten nicht einmal seinen Namen; noch weniger ahnten sie die Entdeckung einer neuen Wissenschaft, die die Stummen das Sprechen lehrte. Der Chevalier hätte von dieser Entdeckung wissen können, und seine Frau hätte es sicherlich getan, wäre sie noch am Leben gewesen. Aber Chardonneux ist weit von Paris; der Chevalier hielt keine Zeitung oder las sie jedenfalls nicht. So können ein paar Meilen Entfernung, ein wenig Faulheit und der Tod dieselbe Wirkung erzielen.

Camilla hatte, nach Hause gekommen, nur den einen Gedanken: Sie mühte sich, so gut sie das mit ihren Gesten und Blicken konnte, ihrem Onkel auseinanderzusetzen, daß sie vor allem eine Schiefertafel und einen Stift nötig habe. Der Alte ließ sich nicht in Verlegenheit bringen, wenngleich es spät und Essenszeit war; er lief in sein Zimmer und brachte ihr, überzeugt, daß er richtig geraten hatte, triumphierend ein kleines Brett und ein Stück Kreide, kostbare Reliquien seiner alten Liebe für das Mauern und Zimmern.

Camilla schien sich nicht über diese Auslegung ihres Wunsches zu beklagen. Sie tat das Brettchen auf das Knie, hieß den Onkel sich neben sie setzen, die Kreide nehmen und faßte seine Hand, wie um sie zu führen. Ihre unruhigen Augen eilten jeder seiner Bewegungen nach.

Onkel Giraud begriff wohl, er solle irgend etwas hinschreiben. Aber was? Er wußte es nicht. »Den Namen deiner Mutter? Meinen Namen? Deinen Namen?« Um sich verständlich zu machen tippte er sie ganz leise auf die Brust. Sie nickte. Er schrieb also in großen Lettern: »Camilla«. Dann ging er, mit sich selbst und dem Abend zufrieden und weil das Essen bereit stand, zu Tisch und wartete nicht auf seine Nichte, die nicht in der Lage war, ihren Willen durchzusetzen.

Camilla ging niemals früher auf ihr Zimmer, als bis der Onkel die Flasche geleert hatte. Auch heute sah sie ihm zu, dann wünschte sie ihm einen guten Abend und ging mit dem Brettchen unter dem Arm.

Sie riegelte sich ein und versuchte nun selbst zu schreiben. Von Kleid und Frisur befreit, begann sie mit unendlicher Mühe das Wort nachzumalen, das der Onkel aufgezeichnet hatte. Sie schmierte den großen Tisch voll, der in ihrem Zimmer stand. Nach vielen Versuchen und Korrekturen gelang es ihr, die Buchstaben nachzumalen. Dann zählte sie die Buchstaben der Vorlage, um sich der Genauigkeit ihrer Kopie zu vergewissern. Mit frohem Herzen hüpfte sie um den Tisch, als hätte sie einen Sieg errungen. Dieses Wort: »Camilla«, von ihr geschrieben, dünkte sie bewunderungswürdig und mußte sicherlich die herrlichsten Dinge von der Welt bedeuten. In ihm schien ihr eine Vielheit von Gedanken enthalten, von ganz zarten, ganz geheimnisvollen und anmutigen. Sie glaubte nicht, daß es nur ihr Name sei.

Es war Juli. Die Luft war rein und die Nacht wundervoll. Sie hatte das Fenster geöffnet und lehnte sich hinaus, hinträumend, die Haare offen, die Arme ineinander verschränkt, mit heißen Augen und der blassen Schönheit, die klare Nächte den Frauen geben. Sie hatte einen der traurigsten Ausblicke, die man haben kann: den rechteckigen Hof des langen Hauses einer Poststation. In das kalte, enge und ungesunde Loch drang niemals ein Sonnenstrahl. Die hohen Stockwerke, eines auf das andere getürmt, verteidigten es gegen das Licht. Vier oder fünf große Wagen, unter einen Schuppen gezerrt, spreizten ihre Deichsel von sich. Zwei, drei andere waren im Hof gelassen, weil Platz fehlte, und schienen auf die Pferde zu warten, die von abends bis morgens im Stall nach Hafer stampften und scharrten. Über dem Tor, das sich strikt um Mitternacht für die Bewohner schloß, aber zu jeder Stunde und mit Geknarr sich auf den Peitschenknall eines Kutschers öffnete, erhoben sich gewaltige Wände mit wohl fünfzig Fenstern, die niemals nach zehn Uhr Licht zeigten; es sei denn bei außerordentlichen Ereignissen.

Camilla wollte das Fenster schließen, als sie plötzlich in dem Schatten eines breiten Postwagens die Umrisse einer menschlichen Gestalt sah, deren kostbarer Anzug aufblitzte. Der Fremde ging mit langsamen Schritten hin und her. Furcht durchschauerte sie. Sie wußte nicht warum; war doch der Onkel nebenan und seine Wachsamkeit, die sich gerade durch lautes Schnarchen bewies. Wie sollte auch ein Dieb oder ein Mörder in einem solchen Aufzug spazierengehen?

Immerhin, der Mann war da, und Camilla sah ihn. Er trat hinter den Wagen und blickte zu ihrem Fenster hinauf. Nach ein paar Augenblicken bekam sie wieder Mut, griff nach dem Licht, streckte den Arm aus dem Fenster und leuchtete mit halb drohendem und halb furchtsamem Blick in den Hof. Der Wagenschatten wich, und der Marquis von Maubray sah sich entdeckt. Als Antwort beugte er ein Knie, faltete die Hände und blickte zu Camilla mit tiefer Ehrfurcht auf.

Eine kleine Spanne Zeit blieben sie so: Camilla am Fenster mit dem Licht in der Hand und auf den Knien der Marquis. Als sich Romeo und Julia den Abend auf dem Maskenball gesehen hatten, tauschten sie schon beim ersten Wiedersehen die vielen Worte von Liebe und Treue. Die ersten Gesten und ersten Blicke von Pierre und Camilla, die einander ihre Liebe nicht sagen konnten, drückten dieselben und vor Gott ewigen Gedanken aus, die Shakespeares Genie auf der Erde unsterblich gemacht hat.

Vielleicht ist es ein wenig lächerlich, auf zwei oder drei Trittbretter zu steigen, um auf ein Wagendeck zu klimmen, zumal da man stets anhalten muß, um sich zu vergewissern, ob es noch weitergeht. Auch dürfte sich ein Herr in seidenen Strümpfen und gesticktem Rock vielleicht nicht sehr graziös bewegen, wenn er von diesem Verdeck auf ein Fensterbrett springen würde. Aber wenn man liebt, ist dies alles ganz egal.

Als der Marquis von Maubray in Camillas Zimmer war, grüßte er sie so feierlich, als träfe er sie in den Tuilerien. Hätte er sprechen können, so hätte er ihr vielleicht erzählt, wie er der Wachsamkeit seines Begleiters entwischte; wie er einen Lakai mit ein paar Silberstücken bestach und so nachts unter ihr Fenster gelangen konnte; wie er ihr nach der Oper gefolgt sei; wie der eine Blick von ihr sein ganzes Leben gewandelt habe; daß er nur sie auf Erden liebe und für sich kein schöneres Glück wisse, als ihr seine Hand und sein Vermögen anzubieten. Alles dieses stand auf seinen Lippen. Doch Camillas Dank auf seinen Gruß ließ ihn ahnen, daß ein solcher Bericht gar nicht nötig gewesen wäre und daß es sie jetzt herzlich wenig interessierte, wie er hergekommen sei, wenn er nur da war.

Er war trotz der Kühnheit, mit der er die geliebte Frau zu erreichen suchte, von einfacher Zurückhaltung. Jetzt wußte er nicht recht, wie er seinen Heiratsantrag vorbringen sollte: Sie verstand ja nichts, was er ihr begreiflich zu machen suchte. Er sah auf dem Tisch das Brettchen mit dem Namen »Camilla«, nahm die Kreide und schrieb daneben: »Pierre«.

»Was soll denn das alles heißen?« schrie eine schwere Baßstimme; »was treibt ihr denn da? Wie sind Sie denn hier hereingekommen, mein Herr? Und was wünschen Sie?«

Onkel Giraud trat wütend im Schlafrock ins Zimmer.

»Das ist ja wundervoll!« schimpfte er weiter. »Gott weiß, daß ich schlief und daß ihr mit Sprechen keinen Lärm gemacht habt. Was sind das nur für komische Wesen, die es ganz natürlich finden, die Wände hinaufzuklettern, und was haben Sie denn eigentlich vor? Einen Wagen kaputtmachen, alles zerbrechen, Schaden verursachen, und dann? Eine Familie entehren! Schmach und Schande auf ehrliche Menschen ... Der versteht mich ja auch nicht«, unterbrach er sich verzweifelt. Doch der Marquis nahm einen Bleistift und ein Stück Papier und schrieb:

»Ich liebe Fräulein Camilla, ich will sie heiraten, ich habe zwanzigtausend Pfund Rente. Wollen Sie sie mir geben?«

»So eilig können es auch nur Leute haben, die nicht sprechen«, meinte Onkel Giraud.

Nach einigen Sekunden der Überlegung: »Aber hören Sie einmal, ich bin ja nicht der Vater, nur der Onkel. Da muß man erst den Papa um Erlaubnis fragen.«

 

IX

Es war nicht leicht, die Einwilligung des Chevalier für diese Heirat zu erlangen. Nicht, als ob er sich dem Glück seines Kindes entgegenstemmen wollte. Aber hier war für ihn eine fast unüberwindliche Schwierigkeit. Es sollte eine Frau, die von schwerem Unglück getroffen war, mit einem Mann verbunden werden, der das gleiche Schicksal trug. War es da nicht nur allzu wahrscheinlich, daß sich das Unglück vererben würde, kämen aus diesem Bund Kinder?

Der Chevalier hatte sich ganz zurückgezogen und lebte seinem einsamen Schmerz. Cécile war im Park begraben worden, unter Trauerweiden, die dem Wanderer schon von weitem den stillen Platz ihrer Ruhe zeigten. Dorthin ging er jeden Tag und verbrachte seine Stunden, zerrissen von Trauer und Schuldgefühl und sich an alle Erinnerungen klammernd, die seinen Schmerz nähren konnten.

Dort auch überraschte ihn Onkel Giraud eines Morgens. Am Tag, nachdem er die beiden Liebenden überrascht hatte, war er mit Camilla von Paris weggefahren und hatte sie in seinem Haus in Le Mans zurückgelassen. Dort sollte sie das Ergebnis seiner Reise erwarten.

Pierre, den man von der Reise benachrichtigt hatte, hatte gelobt, treu zu seinem Wort zu stehen. Er war schon seit langem Waise und Herr seines Vermögens; er brauchte nur das Gutachten des Vormunds einzuholen und hatte keinen Widerstand zu fürchten. Der alte Giraud vermittelte sehr gern und hätte die beiden jungen Leute mit Freuden verheiratet. Aber er duldete nicht, daß das einigermaßen absonderliche erste Zusammentreffen sich wiederhole, außer mit der Erlaubnis des Vaters und des Notars.

Bei seinen ersten Worten zeigte der Vater sprachloses Erstaunen. Als ihm der Alte das Zusammentreffen in der Oper, die bizarre nächtliche Szene, den noch merkwürdigeren Heiratsantrag erzählte, glaubte er, einen Roman zu hören. Er erkannte bald, daß es sich um keinen Scherz handelte, und brauchte nicht lange nach den erwarteten Einwänden gegen diese Verbindung zu suchen.

»Was wollen Sie?« sprach er zu Giraud. »Zwei Menschen zusammenbringen, die gleich unglücklich sind? Genügt es nicht, daß wir dieses arme Wesen in der Familie haben, dessen Vater ich bin? Muß man das Unheil noch vermehren, indem man Camilla einen Mann gibt, der dasselbe Gebrechen hat? Soll es mein Schicksal sein, Verdammte um mich zu haben, die verächtlich oder erbarmungswürdig sind? Soll ich mein Leben mit Stummen hinbringen, alt werden in ihrem furchtbaren Schweigen und in ihren Armen die Augen schließen? Soll ich meinen Namen, auf den ich mir, weiß Gott, nichts einbilde, aber der das Geschenk meines Vaters ist, soll ich ihn an Unglückliche geben, die ihn nicht schreiben und nicht sprechen können?«

»Sprechen nicht«, meinte Giraud, »aber schreiben, das ist etwas anderes.«

»Ihn schreiben!« rief der Chevalier. »Haben Sie den Verstand verloren?«

»Ich weiß schon, was ich sage. Der junge Mann kann schreiben. Ich bezeuge es und versichere Ihnen, daß er sehr gut und sehr rasch schreibt, wie es seine Liebeserklärung beweist. Sie ist sehr manierlich. Ich habe sie in der Tasche.« Er zeigte ihm das Papier, auf dem Maubray zwar mit lakonischen, doch klaren Worten seinen Antrag formuliert hatte.

»Was bedeutet das?« fragte der Vater. »Seit wann können Taubstumme die Feder führen? Was für Märchen erzählen Sie mir da, Giraud!«

»Meiner Treu«, entgegnete der Alte, »ich weiß ja auch nicht, wie das möglich ist. Ich hatte nur die beste Absicht, Camilla zu zerstreuen. Wir sahen uns also diese Drehtänzer an. Der kleine Marquis war auch da und benutzte behende eine Schiefertafel und Kreide. Ich hatte, wie Sie, immer geglaubt, daß man nichts sagen könne, wenn man stumm ist. Aber das stimmt ganz und gar nicht. Es soll heutzutage irgend etwas erfunden worden sein, vermittels dessen sich auch solche Menschen verständigen und recht gut unterhalten können. Der Entdecker soll irgendein Abbé sein, dessen Namen ich nicht mehr weiß. Ich persönlich, Sie verstehen doch, glaubte bisher, daß die Schiefer nur auf das Dach gehört. Aber diese Pariser sind Teufelskerls!«

»Sprechen Sie im Ernst?«

»Ganz gewiß. Der kleine Marquis ist reich und ein hübscher Junge, Aristokrat und galant. Ich bürge für ihn. Ich bitte Sie, bedenken Sie doch: Was soll aus der armen Camilla werden? Sie kann nicht sprechen, das ist wahr, aber nicht ihre Schuld. Was soll aus ihr werden? Sie kann nicht immer ledig bleiben. Und hier ist einer, der sie liebt. Geben Sie sie ihm; er wird ihrer nie überdrüssig werden, weil ihr die Sprache fehlt. Denn er weiß von sich selbst, was das bedeutet. Die Kinder verstehen sich, hören sich und haben zu schreien nicht nötig. Der kleine Marquis kann lesen und schreiben. Auch Camilla wird es lernen; für sie kann es nicht schwerer sein. Gewiß, schlüge ich Ihnen vor, Ihr Kind mit einem Blinden zu verheiraten, Sie hätten das Recht, mir ins Gesicht zu lachen. Doch ich empfehle einen Taubstummen, und das ist verständig. Die sechzehn Jahre, die Sie die Kleine haben, haben Sie sich nie trösten können. Wie soll ein normaler Mann mit ihr zurechtkommen, wenn selbst Sie, ihr Vater, es nicht können?«

Der Chevalier blickte auf Céciles Grab und war in tiefem Sinnen.

»Daß mein Kind menschliche Vernunft begriffe!« sagte er nach langem Schweigen. »Sollte es möglich sein? Sollte es Gott gewähren wollen?«

In diesem Augenblick trat der Pfarrer vom Nachbardorf in den Garten. Er war zum Mittag auf das Schloß eingeladen. Des Arcis grüßte ihn zerstreut. Dann mit einemmale riß er sich aus seinen Gedanken:

»Herr Abbé, Sie wissen doch oft Neuigkeiten und bekommen Zeitungen. Haben Sie schon von einem Priester sprechen hören, der die Erziehung der Taubstummen unternommen hat?«

Leider war der Gefragte ein echter Landpfarrer seiner Zeit, ein simpler, guter Mensch, der aber nichts wußte und in den vielen, unseligen Vorurteilen seines Jahrhunderts befangen war.

»Ich weiß nicht, was der gnädige Herr sagen wollen«, entgegnete er (für ihn war der Chevalier der Herr des Dorfes), »es sei denn, es handele sich um den Abbé de l'Épee.«

»Richtig«, sagte der Onkel Giraud, »das ist der Name, den man mir nannte. Ich hatte ihn nur vergessen.«

»Also«, meinte des Arcis, »was soll man davon halten?«

»Ich möchte nur mit der größten Vorsicht von einer Angelegenheit sprechen«, antwortete der Pfarrer, »von der ich durchaus nicht sehr erbaut bin. Aber ich meine, nach den wenigen Informationen, die ich bisher darüber erhalten konnte, die Ansicht haben zu dürfen, daß dieser Herr de l'Épée, der übrigens persönlich ein sehr ehrenwerter Mann sein kann, auch nicht im entferntesten das Ziel erreicht hat, das er sich steckte.«

»Was wissen Sie davon?« fragte Giraud.

»Ich weiß nur, daß die reinsten Absichten zuweilen sehr enttäuschende Ergebnisse haben. Es steht außer Zweifel, nach allem, was ich zu hören bekam, daß die löblichsten Anstrengungen getan worden sind. Ich habe aber allen Grund zu glauben, daß die Behauptung, die Taubstummen lesen zu lehren, ein Märchen ist.«

»Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen«, sprach Giraud. »Ich sah einen schreibenden Taubstummen.«

»Ich bin weit davon entfernt, Ihnen irgendwie widersprechen zu wollen«, erwiderte der Pfarrer. »Aber ausgezeichnete Wissenschaftler, ich könnte unter ihnen selbst Doktoren der Pariser Fakultät nennen, haben mir ganz entschieden versichert, daß es unmöglich ist.«

»Etwas, das man sieht, ist nicht unmöglich«, entgegnete ungeduldig der Alte. »Ich reiste fünfzig Meilen mit dem Beweis in der Tasche, um ihn dem Chevalier zu zeigen. Da ist er, klar wie der Tag.«

Mit diesen Worten zog der alte Maurermeister wieder sein Papier aus der Tasche und hielt es dem Pfarrer unter die Augen. Der, überrascht und etwas ärgerlich, prüfte den Zettel, wandte ihn hin und her, las ihn sich ein paarmal laut vor, gab ihn dem Onkel wieder und wußte nicht recht, was er sagen sollte.

Der Chevalier hatte die Diskussion kaum beachtet und ging schweigend umher. Seine Ungewißheit wuchs von Augenblick zu Augenblick.

Hat Giraud recht, dachte er, und sage ich nein, dann fehle ich wider meine Pflicht. Dann ist es fast ein Verbrechen. Jetzt reicht sich dem armen Kind, dem ich nur den Schein eines Lebens gegeben habe, eine Hand und sucht es in dem Dämmer seines Seins. Sie wird nicht aus ihrer ewigen Nacht heraustreten, aber sie wird träumen, sie sei glücklich. Mit welchem Recht darf ich sie daran hindern? Was würde ihre Mutter sagen, wenn sie noch lebte?«

Sein Blick suchte wieder das Grab. Dann zog er den Onkel Giraud beiseite und flüsterte ihm zu:

»Tun Sie, was Sie meinen.«

»Das lasse ich mir gefallen«, rief der Onkel, »ich hole sie her, sie ist bei mir zu Hause, wir sind gleich wieder da.«

»Niemals!« sprach der Vater. »Wir wollen beide alles tun, damit sie glücklich ist. Aber ich kann sie nicht wiedersehen.«

Pierre und Camilla wurden in Paris in der Petits-Pères-Kirche getraut. Der Begleiter und Giraud waren die einzigen Zeugen. Als der amtierende Priester die üblichen Fragen an sie richtete, entledigte sich Pierre der für ihn nicht leichten Aufgabe recht gut. Er hatte genügend gelernt, um zu wissen, in welchem Augenblick er das Zeichen seiner Zustimmung geben mußte. Camilla versuchte nicht erst, zu raten oder zu begreifen. Sie sah auf ihn und senkte den Kopf, als er es tat.

Sie hatten sich angesehen und geliebt, und das genügt, könnte man sagen. Als sie aus der Kirche kamen, in der sie die Hände für immer ineinander gelegt hatten, kannten sie sich kaum. Der Marquis hatte ein ziemlich geräumiges Haus. Nach der Messe stieg Camilla in eine prachtvolle Equipage, die sie wie ein Kind anstaunte. Auch das Haus, in das sie geführt wurde, bewunderte sie. Die Räume, die Pferde, Diener, die alle nun ihr gehören sollten, schienen ihr wie aus einem Märchen. Die Hochzeit fand ganz im stillen statt. Ein einfaches Mahl war die ganze Feier.

 

X

Camilla wurde Mutter. Eines Tages, als der Chevalier seinen schwermütigen Gang durch den Park machte, brachte ihm der Diener einen Brief von unbekannter Hand. Die Schrift war eine absonderliche Mischung von Bestimmtheit und Unbeholfenheit. Sie kam von Camilla und hatte diesen Inhalt:

»O mein Vater! Ich spreche; nicht mit dem Mund, aber mit meiner Hand. Die armseligen Lippen sind für immer geschlossen und doch, ich kann sprechen. Jener, der mein Herr ist, hat mich gelehrt, Ihnen zu schreiben. Er hat mich wissen lassen, was er weiß. Er hat mich durch denselben Mann unterweisen lassen, der ihn erzogen hatte. Auch er lebte wie ich, Sie wissen es, lebte lange so. Das Lernen war sehr mühsam. Zuerst muß man mit den Fingern sprechen können, dann lernt man Figuren zeichnen, von jeder Art; die Furcht ausdrücken, Zorn und alles andere. Es ist sehr langwierig, alles zu erkennen, und noch schwerer, für die Figuren Worte zu setzen (das ist wahrhaftig nicht dasselbe); aber endlich kommt man zum Ziel. Sie sehen es. Der Abbé de l'Épée ist ein gütiger und sanfter Mann, ebenso wie der Pater Vanin von der Bruderschaft der Christlichen Lehre.

Ich habe ein sehr schönes Kind. Ich mochte Ihnen nicht von ihm schreiben; denn ich wußte nicht, ob es sein wird wie wir. Aber die Freude ist zu groß, ich muß Ihnen schreiben, trotz unserer Sorge. Mein Mann und ich sind beunruhigt, vor allem, weil wir nichts hören. Das Kindermädchen zwar kann hören, aber wir haben Angst, sie könnte sich irren. So warten wir mit vieler Ungeduld, daß sich seine Lippen öffnen und Sprechlaute bilden. Sie können sich denken, daß wir Ärzte konsultierten, ob das Kind zweier Unglücklicher nicht ebenfalls stumm sein muß. Sie sagten uns wohl, das brauche durchaus nicht zu sein; allein wir wagten es nicht zu glauben.

Ermessen Sie, mit welcher Angst wir das kleine Wesen beobachten und wie ungeduldig wir sind, wenn sich seine kleinen Lippen öffnen und wir nicht wissen, ob sie Laute von sich geben. Glauben Sie mir, mein Vater, ich denke oft an die Mutter; denn sie hatte sich nicht weniger sorgen müssen als ich. Sie hatten sie sehr lieb, und ich liebe mein Kind; aber ich war für Sie nichts als ein langer Schmerz. Jetzt, da ich zu lesen und schreiben vermag, begreife ich, wie sehr meine Mutter hat leiden müssen.

Wenn Sie mir noch gut sind, lieber Vater, dann kommen Sie zu uns nach Paris. Das wäre Grund zur Freude und Dankbarkeit für Ihre Sie verehrende Tochter Camilla.«

Des Arcis zögerte lange. Er hatte Mühe, seinen Augen zu trauen und zu glauben, daß es Camilla war, die dies geschrieben hatte. Aber er mußte sich der Gewißheit ergeben. Was sollte er tun? Gab er ihr nach und fuhr er wirklich nach Paris, so lief er Gefahr, alle Erinnerungen alten Leidens wiederzufinden. Das Kind, ihm jetzt noch unbekannt, das Kind seiner Tochter konnte ihn wieder leiden lassen. Camilla gemahnte ihn an Cécile; wieder mußte er die Unruhe der jungen Mutter teilen, die auf das erste Wort des Kindes wartet.

»Wir müssen hin«, sagte Onkel Giraud, als ihn der Chevalier fragte. »Ich habe diese Ehe geschlossen, und ich halte sie für gut und dauerhaft. Wollen Sie Ihr eigenes Fleisch und Blut in Not lassen? Ist es nicht genug, ich spreche ohne Vorwurf, daß Sie Ihre Frau auf dem Ball vergaßen, worauf sie ins Wasser fiel? Wollen Sie auch die Kleine vergessen? Ihr ganzes Leben vertrauern? Gewiß, Sie hätten Grund genug; aber meinen Sie, man hat auf der Welt nichts anderes zu tun? Sie bittet Sie zu kommen. Also reisen wir! Ich fahre mit Ihnen und bedaure nur, daß sie nicht auch mich gerufen hat. Es ist nicht nett von ihr, daß sie nicht an meine Tür klopfte, die für sie stets offen stand.«

Er hat recht, dachte des Arcis. Unnütz und grausam ließ ich die beste Frau leiden, ließ sie eines fürchterlichen Todes sterben, wo ich sie hätte schützen müssen. Ich darf mich nicht beklagen, wenn ich jetzt durch das Unglück der Tochter bestraft werde. Wie furchtbar dieser Anblick auch für mich ist, ich muß mich dazu entschließen und verurteilen. Diese Züchtigung muß sein. Die Tochter soll mich bestrafen, weil ich die Mutter verließ! Ich fahre nach Paris, ich will das Kind sehen. Die ich liebte, habe ich verlassen und mich vor dem Unglück gedrückt. Jetzt will ich das bittere Vergnügen kosten, es zu betrachten.

Die beiden jungen Leute saßen in einem hübschen, getäfelten Zimmer im unteren Stockwerk ihres Hauses, das im Faubourg Saint-Germain gelegen war, als Vater und Onkel eintraten. Auf einem Tisch lagen Zeichnungen, Bücher und Stiche. Er las, sie stickte, das Kind spielte auf dem Teppich.

Jetzt erhob sich der Marquis. Camilla lief auf den Vater zu, der sie zärtlich küßte und die Tränen nicht zurückhalten konnte. Der Blick des Chevaliers drängte sich gleich zum Kind. Das Entsetzen, das ihm Camillas Gebrechen früher eingeflößt hatte, ergriff ihn wider Willen auch jetzt, beim Anblick dieses Wesens, das den Fluch erben sollte, den er ihm hinterlassen hatte. Er schauderte zurück, als man ihm das Kind entgegenhob.

»Noch ein Stummer!« schrie er.

Camilla nahm das Kind in den Arm. Sie hörte die Worte nicht und hatte sie doch verstanden. Sie hob es hoch, strich leise mit dem Finger über die kleinen Lippen, wie um es zu bitten, daß es spräche. Das Kind ließ sich einige Minuten Zeit; dann sprach es deutlich die Worte aus, die die Mutter ihm hatte beibringen lassen:

»Guten Tag, Papa.«

»Und jetzt sehen Sie, Gott verzeiht immer und alles«, sprach der Onkel Giraud.

 


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