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Im letzten Herbst ritten zwei junge Leute gegen acht Uhr abends die Straße von Noisy entlang, in der Nähe von Luzarches. Sie kamen von der Jagd; hinter ihnen führte der Bursche die Hunde. Die Sonne sank und umgoldete den schönen Wald von Carenelle, in dem der verstorbene Herzog von Bourbon zu jagen liebte. Der jüngere Reiter, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, trabte fröhlich seinen Weg und sprang keck über die Hecken. Der andere schien zerstreut und sorgenvoll. Das eine Mal trieb er sein Pferd ungeduldig an, dann wieder zügelte er es und blieb gedankenversunken zurück. Kaum daß er den lustigen Reden seines Gefährten entgegnete, der ihn wegen seines beharrlichen Schweigens aufzog. Er schien in das absonderliche Träumen des Weisen oder des Verliebten verstrickt, die selten dort sind, wo sie zu sein scheinen. An einem Kreuzweg sprang er vom Pferd, schritt auf einen Graben zu und zog aus dem Sand einen halb eingegrabenen Weidenzweig, brach ein Blatt, verbarg es ängstlich an seiner Brust und bestieg wieder das Pferd.
»Pierre«, sprach er zu dem Jägerburschen, »geh zur Herberge und dann durch das Dorf nach Clignets. Mein Bruder und ich werden durch den Park reiten; denn Gitana ist heute nicht artig und macht mir Dummheiten, wenn wir im Hohlweg einer Viehherde begegnen.«
Der Bursche gehorchte und ging mit den Hunden einen Felsensteig. Als der junge Armand de Berville – so hieß der jüngere der beiden Brüder – das sah, lachte er laut auf und rief:
»Weiß Gott, lieber Tristan, du bist heute abend von bewunderungswürdiger Vorsicht. Hast du nicht Angst, Gitana könne von einem Hammel zerrissen werden? Doch du mühst dich vergebens; denn ich möchte wetten, daß das arme Tier trotz deiner Vorsichtsmaßregeln und seiner gewöhnlichen Sanftheit dir in der nächsten halben Stunde irgendeinen schlimmen Streich spielen wird.«
»Warum das?« fragte Tristan kurz und ein wenig verlegen.
»Wahrscheinlich wohl«, antwortete Armand und ritt näher, »wahrscheinlich wohl, weil wir an der Auffahrt von Renonval vorbeireiten und deine Stute vor dem Gitter scheu werden wird. Zu deinem Glück«, fügte er, noch lauter lachend, hinzu, »ist ja Frau von Vernage da. Du wirst bei ihr ein Obdach finden, wenn dir Gitana ein Bein bricht.«
»Rede nicht so dumm«, erwiderte Tristan und mußte wider Willen lächeln. »Wenn man dir doch deine schlechten Späße abgewöhnen könnte!«
»Ich spaße gar nicht. Was Schlimmes wäre auch dabei? Die Marquise ist eine geistreiche Frau und liebt gestickte Litzen. Das liegt so in ihrem Alter. Du dienst im Königsregiment der Schwarzen Husaren. Sie liebt auch die Jagd und findet, daß das Waldhorn sich gut auf deiner roten Weste ausnimmt. Das ist doch keine Sünde?«
»Höre einmal, mein Bruder Leichtsinn, du magst meinethalben darüber scherzen, wenn wir unter uns sind. Aber hüte deine Zunge, sollte uns noch jemand zuhören. Frau von Vernage ist mit der Mutter befreundet, und ihr Haus ist das einzig amüsante, das wir hier auf dem Land haben. Dir gefällt ja das monotone Leben, du Advokat ohne Klienten, aber mich würde es auf die Dauer umbringen. Die Marquise ist fast die einzige Frau hier, die wir kennen ...«
»Und was für eine angenehme Frau!«
»Wie du meinst. Du bist ja auch nicht böse, wenn man dich nach Renonval einlädt. Es wäre nicht klug von uns, würden wir uns mit den Leuten überwerfen. Und das wäre schließlich das Ergebnis deiner Witzeleien, redest du sie weiter ins Blaue hinein. Du weißt sehr wohl, daß ich nicht mehr als andere der Marquise gefallen will ...«
»Paß auf Gitana auf!« rief Armand. »Sieh, wie sie die Ohren spitzt. Ich sage dir, sie wittert die Marquise auf eine Meile.«
»Nun aber Scherz beiseite. Behalte das, was ich dir eben sagte, und denke einmal ernst darüber nach.«
»Ich denke«, sprach Armand, »und sogar sehr ernsthaft, daß der Marquise glatte Ärmel sehr gut stehen und daß sie in Schwarz entzückend aussieht.«
»Wie kommst du darauf?«
»Eben wegen der Ärmel. Glaubst du, daß man blind durch dieses Leben geht? Neulich, als wir im Boot plauderten, habe ich dich sehr deutlich sprechen hören, daß Schwarz deine Lieblingsfarbe ist. Mir scheint, die gute Marquise hatte auf diese Äußerung hin die Güte, auf ihr Zimmer zu gehen und mit dem schwärzesten aller Kleider wieder herunterzukommen.«
»Und was ist dabei schon so erstaunlich? Man kann doch vor dem Essen das Kleid wechseln?«
»Paß auf Gitana auf, sage ich dir. Sie ist fähig und führt dich geradewegs, ob du willst oder nicht, in den Stall von Renonval. Und in der vergangenen Woche bei dem Fest hat doch diese nämliche und stets schwarzgekleidete Marquise, scheint mir, mich höchst selbstverständlicherweise mitsamt meinem Hund und Hochwürden, Herrn Pfarrer, in die große Kalesche gesteckt, auf daß sie auf deinen Tilbury klettern konnte, selbst auf die Gefahr hin, ihre Beine zu zeigen.«
»Und was beweist das? Einer von uns beiden mußte sich doch dieser Fron unterziehen.«
»Gewiß, aber dieser eine bin immer ich. Ich beklage mich gar nicht und bin nicht eifersüchtig. Gestern erst, beim Jagd-Treffen, bekam sie plötzlich den Wunsch, ihren Wagen stehen zu lassen und sich mein Pferd auszuborgen, das ich ihr mit bewunderungswürdiger Uneigennützigkeit überließ, damit sie an der Seite eines gewissen Herrn Offizier durch den Forst galoppieren konnte. Ist's nicht so? Du willst dich noch über mich beklagen, der ich deine Vorsehung bin? Statt dich hinter dein Leugnen zu verstecken, solltest du lieber ehrlich sprechen und mir dein Geheimnis anvertrauen.«
»Welches Vertrauen sollte ich wohl einem Leichtfuß, wie du es bist, entgegenbringen, und welche Geheimnisse soll ich dir erzählen, wenn in allen deinen Fabeln kein wahres Wort ist?«
»Paß auf Gitana auf, Bruder.«
»Du machst mich ungeduldig mit deinem Refrain; und wenn es wirklich so sein sollte, wenn ich wirklich daran dächte, heute abend noch einen Besuch in Renonval zu machen, was wäre daran so Außergewöhnliches? Oder müßte ich erst nach einem Vorwand suchen, daß du mit mir kommst oder allein nach Haus reitest?«
»Nein gewiß nicht. Es wäre noch nicht einmal gar so erstaunlich, wenn jetzt Frau von Vernage in der Auffahrt spazierte und wir sie träfen. Du machst zwar einen Umweg, aber was ist eine Viertelstunde mehr oder weniger im Vergleich zu der Ewigkeit? Die Marquise muß unser Horn gehört haben. Sie täte sehr gescheit, wenn sie gerade jetzt frische Luft schöpfte, natürlich in Begleitung ihres unvermeidlichen Nachbarn und Anbeters, Herrn von La Bretonnière.«
»Ich muß dir gestehen«, meinte Tristan und war froh, das Thema zu wechseln, »dieser Herr von La Bretonnière ist mir recht unsympathisch. Kannst du es verstehen, daß sich eine so geistvolle Frau wie die Marquise von einem solchen Dummkopf in Beschlag nehmen läßt und ihn wie einen Schatten hinter sich herzieht?«
»Du hast ganz recht, er ist ein Tölpel, ein richtiger Krautjunker im wahrsten Sinne des Wortes, nur dazu da, um Nachbar zu sein. Nachbar sein ist seine Bestimmung, wohl auch das einzige, was er kann; denn er pflegt die nachbarlichen Kontakte wie nur wenige. Ich habe noch nie einen Mann gesehen, der sich so zu Hause fühlt, wenn er nicht bei sich ist. Kommt man zum Essen zu Frau von Vernage, dann sitzt er mitten zwischen den Kindern am Ende des Tisches. Er flüstert leise mit der Gouvernante, gibt dem Kleinsten sein Mus. Und merke wohl, er ist durchaus kein gewöhnlicher klassischer Nassauer, der sich bei jedem Witzwort der Hausherrin zu lachen verpflichtet fühlt; im Gegenteil, er wäre viel eher imstande – hätte er nur den Mut – alle zu ärgern und vor den Kopf zu stoßen. Handelt es sich um eine Landpartie, so wird er immer finden, daß das Barometer auf veränderlich steht. Wenn jemand eine Anekdote oder irgend etwas Interessantes erzählt, weiß er immer etwas viel Besseres. Doch er sagt es nicht etwa, dazu würdigt er sich nicht herab, nein, er schüttelt nur mißbilligend und bescheiden den Kopf, daß man ihn ohrfeigen möchte. Ein unausstehlicher Kerl! Es ist wirklich nicht möglich, auch nur eine Viertelstunde mit Frau von Vernage zu plaudern: Schon ist er da und steckt seinen besorgten und erschreckten Kopf dazwischen. Er ist weiß Gott nicht schön, er ist dumm, dreiviertel der Zeit spricht er kein Wort; doch die Vorsehung ist ihm hold und läßt ihn, auch wenn er nicht den Mund auftut, unerträglicher sein als den größten Schwätzer; nur durch die Art, wie er den andern auf die Lippen starrt. Aber was kümmert ihn das? Er lebt ja gar nicht, er steht immer nur dabei und gibt sich Mühe, die Lebendigen zu stören, zu entmutigen, ungeduldig zu machen. Und trotz alledem erträgt ihn die Marquise, hört ihm geduldig zu, macht ihm noch Mut. Ich glaube wahrhaftig, sie liebt ihn und wird nie von ihm lassen.«
»Wie meinst du das?« fragte Tristan und schien durch den letzten Satz ein wenig bestürzt. »Glaubst du wirklich, man kann solch einen Menschen lieben?«
»Es ist vielleicht nicht Liebe«, entgegnete Armand mit spöttischem Gleichmut, »aber schließlich ist der arme Kerl doch kein Monstrum, er ist Junggeselle und durchaus nicht arm, hat wie wir ein kleines Schloß und eine Meute und eine große alte Karosse. Er ist uns vor allem durch die wichtige Tatsache voraus, daß er schon zehn Jahre und fast täglich bei der Marquise verkehrt. Ein frisch angekommener Offizier auf Urlaub, laß es dir ganz leise gesagt sein, kann wohl für den Moment blenden und gefallen. Aber wer jeden Tag da ist, hat seine vierzehn bis fünfzehn Prozent, den Umsatz ungerechnet, sagt Basile.«
Während die Brüder so plauderten, hatten sie den Wald hinter sich gelassen und ritten nun durch die Weinberge. Schon sahen sie über der Hügelkette den Kirchturm von Renonval.
»Frau von Vernage«, fuhr Armand fort, »hat hundert Vorzüge; aber sie ist sehr kokett. Sie gilt zwar als fromm und hat an ihrem Bücherschrank einen geweihten Rosenkranz hängen, aber sie ist durchaus nicht böse, wenn man ihr den Hof macht. Nimm es mir bitte nicht übel, aber sie ist meiner Ansicht nach eine schwer zu durchschauende Frau und vielleicht auch gefährlich.«
»Das kann schon möglich sein«, meinte Tristan.
»Es ist sogar wahrscheinlich«, erwiderte sein Bruder. »Ich bin gar nicht böse, daß du so denkst wie ich, und will ganz offen mit dir reden. Seien wir ernst. Ich kenne sie schon lange Zeit und habe sie aus der Nähe studiert. Du kommst für einige Tage hierher, bist jung und hübsch, sie schön und geistreich, du weißt nicht, was du hier anfangen sollst, sie gefällt dir, du sagst es ihr, und sie läßt es sich sagen. Ich, der ich sie sommers und winters in Paris und auf dem Lande gesehen habe, ich bin weniger vertrauensvoll. Sie weiß es wohl. Deshalb auch nimmt sie mir mein Pferd und läßt mich mit dem Pfarrer allein. Sie kann ihre großen schwarzen Augen bescheiden und züchtig zur Erde senken, sie weiß sie aber auch zu dir aufzuheben, dessen bin ich sicher, wenn ihr durch den Wald reitet. Und diese Frau reizt, ich muß es zugeben. Sie hat drei oder vier jungen Leuten, die ich kenne, so die Köpfe verdreht, daß sie fast den Verstand verloren. Doch willst du, daß ich dir meine Meinung frei heraus sage? Gut, ich spreche im Stil der Scudéry; man dringt wohl leicht bis zum Vorzimmer ihres Herzens, aber das Innerste bleibt verschlossen, vielleicht, weil niemand darin ist.«
»Wenn du dich nur nicht täuschst; dann wäre sie ja ein sehr häßlicher Charakter.«
»Von ihrem Standpunkt aus nicht. Wer wollte ihr einen Vorwurf machen? Ist es ihre Schuld, wenn sich die Männer in sie verlieben? Obwohl sie noch kaum dreißig Jahre alt ist, erzählt sie es jedem, der es hören will, daß sie seit dem Tode ihres Mannes allen Freuden der Geselligkeit entsagt hat und daß sie so in Frieden auf ihrem Gute leben will, ein wenig reiten und zu Gott beten. Sie gibt Almosen und geht zur Beichte; und jede Frau, die nicht aufrichtig und wahrhaftig religiös ist und doch zum Beichtvater läuft, ist die schlimmste Kokette, die die Zivilisation gebar. Eine Frau wie sie, ihrer selbst sicher, schön noch und gerne mit den kleinen Privilegien ihrer Schönheit spielend, weiß alles zu vereinen, nicht mit ihrem Gewissen, wohl aber mit der nächsten Beichte. Wenn sie das entzückendste und ungezwungenste Schmeichelkätzchen ist, wird sie doch immer recht achtgeben, daß das Füßchen genügend vom Kleid versteckt wird, wird sich dabei das Plätzchen auf dem Handschuh ausrechnen, das ganz in Ehren einen Kuß empfangen wird. Wozu das alles, wirst du sagen? Wenn ihr der Glaube fehlt, warum dann nicht freimütig kokett sein? Wenn sie glaubt, warum dann sich der Versuchung aussetzen? Weil sie ihr trotzt und ihre Lust daran hat. Man kann auch durchaus nicht behaupten, sie sei nicht aufrichtig oder sie sei scheinheilig. Sie ist nun einmal so, und sie gefällt. Ihre Opfer kommen und gehen. Nur La Bretonnière, der Schweigsame, wird bis zu seinem Tod auf der Schwelle des Tempels bleiben, in dem diese Sphinx mit ihren großen Augen Orakel spricht und Weihrauch atmet.«
Bei diesen Worten des Bruders hielt Tristan das Pferd an. Das Schloßgitter von Renonval war kaum mehr hundert Schritte entfernt. Und wie Armand vorausgeahnt hatte, ging auf dem Rasenstück vor dem Tor Frau von Vernage auf und ab. Doch sie war gegen alle Gewohnheit allein. Tristan wechselte die Farbe.
»Höre, Armand«, sagte er. »Ja, ich liebe sie. Auch du bist ein Mann und hast ein Herz. Auch du weißt, daß vor der Leidenschaft nicht Gesetz noch wohlmeinender Rat bestehen. Du bist nicht der erste, der mir so von ihr spricht. Man hat mir all dies schon gesagt; aber ich kann es nicht glauben. Ich unterliege dieser Frau. Sie ist so schön, so liebenswert, so verführerisch, wenn sie will ...«
»Oh, ich weiß es«, sagte Armand.
»Nein«, rief Tristan, »ich kann es nicht glauben, daß sie, die so gütig ist, so sanft, so voller Mitleid, die Almosen gibt und ihre Christenpflicht tut, – nein, ich kann es nicht glauben, daß sie mit all ihrer Offenheit und Milde so sein kann, wie du es dir einbildest. Doch was kümmert mich das! Ich suchte nach einem Grund, mich von dir zu trennen und allein hier zu bleiben. Jetzt verlasse ich mich lieber auf dein Wort. Ich reite nach Renonval und du nach Clignets. Wenn sich die gute Mutter beunruhigt, kannst du ihr ja sagen, wir hätten uns auf der Jagd verloren oder mein Pferd sei lahm geworden oder was du willst. Ich will nur einen kurzen Besuch machen und komme bald heim.«
»Warum diese Heimlichkeit, wenn es nur das ist?«
»Weil die Marquise selbst es für das Klügste hält. Die Leute auf dem Lande sind schlimmere Schwätzer als drei Kleinstädte zusammen. Hüte mein Geheimnis; bis heute abend!«
Er wartete auf keine Antwort und galoppierte davon.
Armand verließ die Straße und schlug einen Seitenweg ein, der ihn schneller nach Hause führte. Er war nicht gerade vergnügt und fürchtete etwas um seinen Bruder. Trotz seiner Jugend war er von überlegener Reife, durchaus nicht leichtsinnig, wie er zuweilen schien, verständig und vernünftig. Während Tristan als ausgezeichneter Offizier sich in Algerien kriegerische Lorbeeren gesucht und sich manchmal den gefährlichen Verirrungen einer lebhaften und leidenschaftlichen Phantasie hingegeben hatte, war er zu Hause bei der alten Mutter geblieben. Tristan neckte ihn oft wegen seiner Seßhaftigkeit, hieß ihn Abbé und meinte, ohne die Revolution würde er als der jüngere Bruder eine Tonsur tragen. Aber das ärgerte ihn nicht. »Geh mir mit dem Titel«, erwiderte er, »aber gib mir die Pfründe«. Die Mutter war schon lange Witwe, wohnte im Winter im Pariser Marais-Viertel und in der warmen Jahreszeit auf ihrem kleinen Landgut in Clignets. Eine besonders üppige Ausstattung konnte man sich nicht leisten; aber die jungen Leute liebten die Jagd, und die Baronin betete ihre Söhne an. Man hatte sich aus England einige Foxhunde verschafft, ein paar Nachbarn folgten ihrem Beispiel, bald war eine kleine Meute beisammen und ganz beachtenswerte Jagden in den Wäldern von Carenelle möglich. Schnell ergaben sich so zwischen den Bewohnern von Clignets und zwei oder drei nahen Schlössern freundschaftliche und fast vertraute Beziehungen. Frau von Vernage war, wie schon erwähnt, die Königin des Kreises. Von dem Herrn von Franconville und dem Bürgermeister von Beauvais bis herunter zu den ein wenig zurückgebliebenen Dandys von Luzarches huldigten alle der schönen Marquise, der Pfarrer von Noisy nicht ausgenommen. Renonval war der Treffpunkt aller Honoratioren des Bezirks von Pontoise. Jedermann rühmte gleich Tristan die Anmut und Güte der Schloßherrin. Niemand widerstand ihrer souveränen Macht. Und gerade deshalb ärgerte sich Armand, daß der Bruder nicht mit ihm zum Abendessen heimkehrte.
Einen Vorwand zu finden, um Tristans Abwesenheit zu entschuldigen, war für ihn nicht schwer. Er sagte der Mutter, Tristan habe sich bei einem Pächter aufgehalten, um sich ein Ackerland anzusehen. Frau von Berville aß erst um neun Uhr, wenn die Söhne auf der Jagd gewesen waren, um in ihrer Gesellschaft zu sein. Auch jetzt wollte sie warten, bis ihr Ältester zu Hause sei. Armand hatte wie jeder Jäger gewaltigen Hunger und Durst und war von dem Aufschub sehr wenig erbaut. Vielleicht fürchtete er, der Besuch in Renonval möchte sich länger ausdehnen, als angegeben war. Für jeden Fall gewährte er sich einen Vorschuß auf das Essen, um seine Ungeduld zu bezähmen, besichtigte die Hunde, warf einen Blick in den Stall, legte sich dann auf ein Kanapee und war vor Müdigkeit schon halb eingeschlafen.
Die Nacht kam, und ein Unwetter stieg herauf. Die Mutter saß wie gewöhnlich über einer Stickerei, sah immer wieder auf die Uhr und dann zum Fenster, gegen das der Regen prasselte. Eine langsame halbe Stunde verrann. Sie wurde unruhig.
»Was tut er nur?« fragte sie. »Es ist doch gar nicht möglich, daß er zu dieser Stunde und bei einem solchen Wetter unterwegs ist. Wenn ihm nur nichts zugestoßen ist! Ob ich die Leute nach ihm schicken soll?«
»Das ist nicht nötig«, entgegnete Armand. »Ich versichere Ihnen, ihm geht es genauso gut wie uns, vielleicht sogar noch besser; denn er wird bei diesem Regen zweifellos zu Noisy in irgendeinem Wirtshaus abgestiegen sein und dort zur Nacht essen, während wir hier auf ihn warten.«
Das Unwetter wurde stärker, und die Zeit ging hin. Des Wartens müde ließen sie auftragen. Es war eine schweigsame Mahlzeit. Armand machte sich Vorwürfe, daß er seine Mutter in unnütz grausamer Ungewißheit ließ; aber er hatte sein Wort gegeben. Auch die Mutter sah auf seinem Gesicht Unruhe. Sie wußte zwar nicht den Grund, doch sie fühlte die Wirkung. Sie, von ihm an Zärtlichkeit und Vertrauen gewöhnt, ahnte den Zwang seines Schweigens. Doch warum? Sie wußte es nicht, aber sie respektierte seine Zurückhaltung, selbst um den Preis, daß sie litt. Sie sah ihn ängstlich und fast flehend an, hörte den Donner grollen, zuckte seufzend mit den Schultern. Ihre Hände zitterten vor Anstrengung, ruhig zu erscheinen. Je später es wurde, desto weniger Kraft fühlte Armand, sein Versprechen zu halten. Als sie mit dem Essen fertig waren, wagte er nicht aufzustehen. Beide blieben an dem abgeräumten Tisch und verstanden sich, ohne die Lippen zu öffnen.
Gegen elf Uhr kam das Zimmermädchen mit den Nachtleuchtern, die Mutter sagte dem Sohne gute Nacht und zog sich wie gewöhnlich zum Nachtgebet zurück.
»Was macht er wirklich nur, dieser leichtsinnige Junge?« fragte sich Armand und zog das Jagdwams aus. »Es ist wohl noch nicht Grund zur ernsthaften Beunruhigung. Er macht ihr verliebte Augen und erträgt das imposante Schweigen La Bretonnières. Aber ist das auch sicher? Denn es scheint mir, daß zu dieser Stunde La Bretonnière schon in seinem Wagen und zum Schlafen unterwegs sein müßte. Vielleicht ist auch Tristan schon unterwegs; doch ich möchte es bezweifeln, denn der Weg ist nicht gut, und es regnet zu stark, um reiten zu können. Auch gibt es in Renonval ausgezeichnete Betten, und eine so höfliche Marquise wird sicherlich nicht verfehlen, einem vom Unwetter überraschten Hauptmann Obdach zu gewähren. So scheint es nicht unwahrscheinlich, daß Tristan erst morgen früh zurückkommt. Das ist aus zwei Gründen ärgerlich: Erstens beunruhigt es die Mutter, und dann ist es immer ein gefährliches Ding, bei einer Nachbarin unterzuschlüpfen. Guter Rat kommt über Nacht; aber niemals, wenn man diese Nacht unter dem Dach einer hübschen Frau verbringt. Man schläft nie gut bei Leuten, von denen man träumt. Zuweilen auch schläft man überhaupt nicht. Was soll aus Tristan werden, wenn er sich ganz von dieser koketten Frau einfangen läßt? Er hat Herz für zwei. Um so schlimmer für ihn. Sie wird leichtes Spiel haben, zu leichtes Spiel vielleicht; und das ist meine Hoffnung. Sie wird nicht gegen seine Ehrlichkeit mit hinterlistigen Waffen kämpfen. Überhaupt mag er kommen, wann er Lust hat«, sagte sich schließlich Armand und blies die Kerze aus. »Er ist hübsch und hat Mut. Er hat sich in Constantine aus der Affäre gezogen, und er wird es auch in Renonval tun.«
Das Haus lag in tiefer Ruhe, und Schweigen herrschte über der Ebene. Da wurde auf der Straße Pferdegetrappel laut, eine helle Stimme rief, man solle öffnen. Es war gegen zwei Uhr morgens. Der Stalljunge schob die eisernen Stangen eine nach der andern von dem Portal zurück. Die Hunde winselten vor Freude. Armand fuhr aus tiefem Schlaf empor und sah seinen Bruder vor sich, der in regentriefendem Mantel an seinem Bett stand und eine Fackel hielt.
»Du kommst zu dieser Stunde?« fragte er ihn. »Es ist sehr spät oder sehr früh am Tage.«
Tristan drückte ihm die Hand und sagte mit zornbebender Stimme:
»Du hattest recht. Sie ist die schlechteste der Frauen. Ich will sie nicht mehr sehen.«
Dann ging er mit jäher Wendung hinaus.
Allen Fragen und Bitten des Bruders zum Trotz verstand sich Tristan auch nicht zu der kleinsten Erklärung der seltsamen Worte bei seiner Rückkehr. Am anderen Tag sagte er seiner Mutter, Geschäfte nötigten ihn, für ein paar Tage nach Paris zu fahren. Er habe vor, noch des Abends zu reisen.
»Ich muß gestehen«, meinte Armand, »du benimmst dich mir gegenüber nicht gerade kavaliermäßig. Du machst mich zur Hälfte zu deinem Vertrauten und fährst am nächsten Tag mit des Geheimnisses anderer Hälfte fort. Was soll ich denn von deiner etwas plötzlichen Abreise halten?«
»Was du willst«, antwortete Tristan mit so ruhigem Gleichmut, daß es fast echt schien. »Aber verliere nicht deine Zeit damit. Ich kam in Zorn um einer Bagatelle willen, Eigenliebe, üble Laune, wie du es nennen willst. La Bretonnière langweilte mich, und die Marquise war schlechter Stimmung; das Unwetter kam ja auch noch in die Quere. Ich ging fort, weiß nicht recht, warum. Ich habe zu dir gesprochen, ohne recht zu wissen, was ich sagte. Gewiß, ja, es gab vielleicht eine kleine Spannung zwischen der Marquise und mir; doch bei der nächsten Gelegenheit wirst du sehen, daß wir noch die alten Freunde sind.«
»Das ist ja alles gut und schön«, entgegnete Armand; »aber du sprachst gestern durchaus nicht in Rätseln, als du sagtest: ›Sie ist die schlechteste der Frauen.‹ Das sagt man nicht aus einer schlechten Laune. Da muß irgend etwas geschehen sein, das du mir verbirgst.«
»Ja, was soll mir denn geschehen sein?«
Jetzt senkte Armand den Kopf und antwortete nicht; denn jede Vermutung, selbst im Scherz gesagt, mußte den Bruder verletzen.
Gegen Mittag fuhr eine offene Kalesche in den Hof von Clignets. Ein kleiner Herr von schlechter und linkischer Haltung sprang in Sonntagskleidern heraus, senkte eigenhändig das Trittbrett und reichte einer stattlichen, schönen und mit geschmackvoller Einfachheit gekleideten Dame die Hand. Es waren Frau von Vernage und La Bretonnière, die die Baronin besuchten. Während sie die Freitreppe hinanstiegen, beobachtete Armand überrascht und aufmerksam das Gesicht des Bruders. Doch Tristan sah ihn lächelnd an, wie um zu sagen: »Jetzt merkst du, daß es nichts weiter gewesen ist.«
Aus der leichten Unterhaltung und kühlen, aber zwanglosen Höflichkeit zwischen ihm und ihr war in der Tat nichts Außergewöhnliches herauszuhören. Die Marquise brachte der Frau von Berville, die Vögel sehr liebte, ein Nest mit Rotkehlchen. La Bretonnière hielt es in seinem Hut. Sie gingen zum Vogelhaus im Garten. Selbstverständlich reichte La Bretonnière der Baronin den Arm. Die beiden jungen Leute blieben neben der Marquise, die fröhlicher schien als sonst. Ohne Respekt vor den Buchsbaumhecken ging sie rechts und links vom Wege und pflückte sich einen Strauß.
»Also, meine Herren, wann jagen wir wieder?«
Armand hatte auf diese Frage gewartet und wollte jetzt hören, ob Tristan von seiner Reise sprechen würde. Der sagte es ihr mit ganz ruhiger Stimme, aber sah sie dabei durchdringend und fast verletzend hart an. Sie achtete nicht darauf und fragte nicht einmal, wann er wiederkomme.
»Dann werden Sie, Herr Armand, der einzige Repräsentant der Bervilles sein, den wir in Renonval sehen werden; denn ich setze voraus, daß Sie kommen. La Bretonnière sagte, er habe mit dem Fernglas meines Waldhüters eine Art von Wildschweinen entdeckt, denen der Bart steht wie den Vögeln das Gefieder.«
»Durchaus nicht«, meinte La Bretonnière, »es sind schwarze chinesische Säue, sogenannte Tonkinschweine. Wenn diese Tiere die Höfe verlassen und im Wald leben ...«
»Ja«, unterbrach die Marquise, »dann werden sie wild, und durch das viele Eichelnfressen wachsen ihnen die Hauer aus der Schnauze.«
»Das stimmt ganz genau«, entgegnete La Bretonnière, »wenn auch nicht bei der ersten Generation und selbst nicht immer bei der zweiten; doch es kommt vor, und das genügt«, setzte er zufrieden hinzu.
»Ganz ohne Zweifel«, erwiderte Frau von Vernage, »und wenn sich ein Mann wie die Tonkineser Damen in einen Wald zurückzieht, so werden seine Enkelkinder mit Sicherheit Hörner auf den Kopf kriegen. Das bedeutet also«, schloß sie und schlug Tristan mit ihren Blumen auf die Hand, »daß es durchaus verfehlt ist, den Wilden zu spielen. Es nützt keinem etwas.«
»Auch dieses ist wahr«, sprach La Bretonnière; »wild zu leben ist ein großer Fehler.«
»Vielleicht immer noch besser als eine gewisse Art von Stubenhockerei«, meinte Tristan.
La Bretonnière machte große Augen und wußte nicht, ob er sich ärgern solle.
»Ja«, meinte Frau von Berville zur Marquise, »Sie haben schon ganz recht. Schimpfen Sie nur mit dem bösen Jungen, der immer auf Reisen ist und heute abend sogar uns verlassen und nach Paris will. Verbieten Sie ihm doch zu fahren.«
Frau von Vernage, die bisher auch nicht mit einem Wort versucht hatte, Tristan zurückzuhalten, drang sogleich in ihn mit aller Eindringlichkeit und freundlichen Anmut, deren sie fähig war. Sie sagte ihm mit dem sanftesten Blick und süßesten Lächeln, es sei doch wohl nicht sein Ernst, und er habe in Paris gar keine Geschäfte, und die Spannung einer tonkinesischen Jagd sei wichtiger als alles andere. Sie lade ihn offiziell für morgen zum Frühstück nach Renonval ein. Tristan antwortete mit Phrasen, wie Leute, die nicht wissen, was sie sagen sollen. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Frau von Vernage wartete gar nicht auf die Weigerung, die sie voraussah, und wandte sich, kaum daß sie gesprochen hatte, anderen Dingen zu; gleich einer Schauspielerin, die ihre Rolle fertig gespielt hat.
»Was bedeutet dieses alles«, fragte sich Armand immer wieder. »Wer zürnt nun eigentlich dem anderen? Mein Bruder? La Bretonnière? Und was will die Marquise hier?«
Sie war in der Tat nicht leicht zu verstehen. Das einemal zeigte sie Tristan Kälte und deutliche Gleichgültigkeit, und dann wieder behandelte sie ihn so vertraulich und kokett wie kaum je. »Brechen Sie mir doch diesen Zweig da«, sprach sie zu ihm. »Suchen Sie mir Maiglöckchen. Ich habe heute abend Gesellschaft und will ganz in Blumen sein, Blumen am Kleid, Blumen im Haar.«
Tristan gehorchte. Er mußte es wohl. Die Marquise hatte bald einen ganzen Korb voll Blumen; aber keine gefiel ihr. »Sie sind kein Kenner und ein schlechter Gärtner. Sie brechen alles ab und glauben, es schon gut zu tun, wenn Sie sich in die Finger stechen. Sie können nicht aussuchen.«
Sie entblätterte die Zweige, ließ sie auf die Erde fallen und stieß sie mit dem schreitenden Fuß beiseite, mit dieser sorglosen Verachtung, die auf so unschuldige Art verletzen kann.
Mitten durch den Park floß ein Bach. Die Holzbrücke war geborsten, nur ein paar Planken führten noch hinüber. La Bretonnière erklärte sofort, es sei gefährlich, hier hinüberzugehen, man müsse einen anderen Weg nehmen. Die Marquise wollte hinüber. Frau von Berville warnte sie, die Brücke sei in der Tat wurmstichig und sie riskiere, ins Wasser zu fallen.
»Ach was«, sagte Frau von Vernage, »Sie verleumden Ihre Brücke nur, um die Tiefe Ihres Flüßchens herauszustreichen. Und wenn ich täte wie Condé, was geschähe dann?«
Sie hielt eine Reitgerte in der Hand, weil sie zu Pferd heimkehren wollte. Sie warf sie über das Wasser auf eine kleine Insel. »Wohlan, meine Herren, mein Stock liegt beim Feind. Wer holt ihn mir?«
»Das war recht unklug«, meinte La Bretonnière; »denn die Reitgerte ist sehr hübsch und hat einen gut ziselierten Knauf.«
»Gibt es wenigstens eine ehrenvolle Belohnung?« fragte Armand.
»Pfui!« rief die Marquise, »Sie feilschen mit dem Ruhm! Und Sie, mein Herr Husar«, wandte sie sich an Tristan, »was sagen Sie dazu? Wagen Sie es?«
Tristan zögerte; nicht aus Furcht vor der Gefahr oder der Lächerlichkeit. Es empörte ihn, daß er wegen einer solchen Bagatelle bloßgestellt wurde. Er runzelte die Brauen und antwortete kalt:
»Nein, gnädige Frau.«
»Ach!« jammerte Frau von Vernage, »wäre nur mein braver Phanor hier, er hätte mir schon die Reitgerte gebracht.«
La Bretonnière prüfte die Brücke mit dem Stock und betrachtete sie mit nachdenklichem Gesicht. Die Marquise lehnte sich sorglos an den geborstenen Balken, der als Geländer diente, und vergnügte sich damit, auf den Brettern über dem Wasser auf- und niederzuwippen. Dann balancierte sie lebhaft und mit behender Anmut über die Brücke zur Insel. Armand wollte ihr zuvorkommen, aber sein Bruder hielt ihn am Arm und zog ihn in eine Seitenallee, wo sie allein waren.
»Meine Geduld ist am Ende«, sprach Tristan. »Du hältst mich hoffentlich nicht für so dumm, daß ich keinen Spaß verstünde; aber ihre Spaßigkeit hat eine Ursache. Weißt du, was sie hier will? Sie will mich reizen, mit meinem Zorn spielen, sie will sehen, wie weit sie ihre Kühnheit treiben kann, und sie weiß, was ihr kalter Spott bedeutet. Ich verachte diese Frau. Sie sollte lieber mein Schweigen respektieren und mich in Frieden lassen, als hier ihre kleinen Eitelkeiten spazierenzuführen und sich aus meiner Diskretion, die sie kaum verdient, so etwas wie einen Triumph zu verschaffen!«
»Erkläre dich, was hat es gegeben?«
»Du sollst alles wissen; denn du bist mein Bruder und dadurch auch betroffen. Gestern abend, als wir unterwegs plauderten und du mir soviel Schlechtes über diese Frau sagtest, stieg ich am Kreuzweg des Roches vom Pferd. Dort stak ein Weidenzweig in der Erde, den ich herausriß. Du sahst es nicht. Frau von Vernage hatte ihn bei ihrem Morgenspaziergang in den Sand gegraben. Eben lachte sie über mich, als sie mich andere abbrechen ließ. Aber der da hatte einen Sinn; er besagte, daß die Gouvernante und die Kinder der Marquise zu ihrem Onkel nach Beaumont gefahren seien, daß La Bretonnière nicht zum Essen komme und daß ich mein Pferd bei dem guten Heloy lassen könne, falls ich ein wenig später von Renonval aufbräche und die Leute zu wecken fürchtete.«
»Donnerwetter!« meinte Armand, »das alles auf einem Weidenzweig!«
»Jawohl. Hätte ich ihn nur mit dem Fuß weggeschleudert wie sie eben unsere Blumen! Doch ich sagte dir schon, und du sahest es ja selbst: Ich liebte sie, ich verfiel ihren Reizen. Wie wunderlich! Und doch, gestern noch betete ich sie an, war ich ganz Liebe, hätte ich für sie mein Leben geben können. Und heute ...«
»Nun! Heute?«
»Höre. Damit du mich ganz begreifst, muß ich dir ein kleines Abenteuer erzählen, das mir im vergangenen Jahr passierte. Du mußt wissen, daß ich auf dem Opernball so eine kleine Grisette, Modistin oder was weiß ich, traf. Ich lernte sie auf sehr seltsame Weise kennen. Sie saß neben mir; ich achtete nicht sehr auf sie. Da kam Saint-Aubin, den du doch kennst, auf mich zu, um mir guten Abend zu sagen. Im selben Augenblick schreckte die Kleine neben mir zusammen, barg den Kopf hinter meine Schultern und flüsterte mir ins Ohr, sie bitte mich inständigst, ich solle ihr aus großer Verlegenheit helfen, ihren Arm nehmen und mit ihr durch das Foyer spazieren. Ich konnte nicht nein sagen, ging mit ihr und ließ Saint-Aubin stehen. Sie erzählte mir dann, er sei ihr Geliebter, sie habe Furcht vor ihm, weil er so eifersüchtig sei, und sei ihm schließlich davongelaufen. Ich mußte also ganz mit einemmal in den Augen Saint-Aubins den glücklicheren Rivalen spielen; denn er hatte die Grisette erkannt und folgte uns mit bösem Gesicht. Es schien mir vergnüglich, fast ein wenig ernsthaft die Rolle zu spielen, die mir der Zufall bot, und ich dinierte mit der Kleinen. Saint-Aubin kam am nächsten Tag zu mir und wollte sich aufregen. Ich lachte ihm ins Gesicht und hatte nicht viel Mühe, ihn zur Vernunft zu bringen. Er war durchaus nicht unzufrieden, daß er sich nicht die Kehle durchgeschnitten hatte, zumal für eine junge Dame, die vor der Eifersucht des Liebhabers auf einen Maskenball ausriß. Alles löste sich in Wohlgefallen auf, und die Geschichte war bald vergessen. Du siehst, es war nicht so schlimm.«
»Weiß Gott nicht.«
»Dann geschah folgendes. Saint-Aubin sieht, wie du weißt, zuweilen die Marquise und kam auch hierher und nach Renonval. Als sie heute nacht neben mir saß und königlich alle Dummheiten anhörte, die mir durch den Kopf gingen, und lächelnd diesen Ring probierte, den ich Gott sei Dank noch auf meinem Finger trage: Weißt du, was sie sich da zu sagen unterfing? Ihr sei diese Ballgeschichte erzählt worden, sie wisse aus guter Quelle, daß Saint-Aubin die Grisette liebe, daß er verzweifelt sei, sie verloren zu haben, daß er sich habe rächen wollen und mich gefordert habe, daß ich aber seine Forderung nicht angenommen habe. Und daß dann ...«
Tristan stockte. Ein paar Minuten lang schwiegen die beiden.
»Was antwortetest du?« fragte endlich Armand.
»Sehr einfach. Ich sagte ihr höchst wohlwollend: ›Frau Marquise, einen Mann, der es leidet, daß ein anderer Mann ungestraft die Hand gegen ihn erhebt, nennt man für gewöhnlich einen Feigling. Sie wissen es wohl. Aber einer Frau, die das weiß oder glaubt und trotzdem die Geliebte dieses Feiglings wird, gibt man einen anderen Namen, den ich Ihnen wohl nicht zu sagen brauche.‹ Dann nahm ich meinen Hut.«
»Und sie hat dich nicht zurückgehalten?«
»O doch; zuerst wollte sie die Geschichte ins Lächerliche ziehn und mir einreden, ich rege mich über Hirngespinste auf. Dann bat sie mich um Verzeihung, daß sie mich ohne Absicht verletzt habe. Ich glaube sogar, sie versuchte zu weinen. Ich ging auf nichts ein, sagte, das alles könne mich gar nicht treffen, sie könne von mir meinen, was sie wolle, und ich würde mir nicht die geringste Mühe geben, sie von etwas anderem zu überzeugen. Ich sei Soldat seit zehn Jahren, meine Kameraden kennten mich und würden einige Mühe haben, ihre Geschichte zu glauben. Folglich würde ich mich nicht weiter beunruhigen, sondern die ganze Geschichte höchstens verachten.«
»Ist das wirklich deine Meinung?«
»Was denkst du denn? Ich bin Soldat und habe nur eine Möglichkeit. Soll ich eine herzlose Frau mit meiner Ehre spielen lassen? Willst du, daß sie morgen ihren Klatsch an eine andere Kokette weitergibt oder einem jener kleinen Jungen sagt, denen sie den Kopf verdreht? Soll mein Name, dein Name, unserer Mutter Name zum Gespött werden? Heiliger Gott! Das macht mich schaudern!«
»Schon«, meinte Armand, »und doch sind es nur kleine harmlose Scherze, mit denen sich die Damen die Langeweile vertreiben. Aus einer Kleinigkeit einen pechschwarzen und recht pikanten Roman zu machen, das ist die Unterhaltung ihrer hohlen Köpfchen. Doch was willst du jetzt tun?«
»Ich will noch heute abend nach Paris. Saint-Aubin ist auch Soldat und kein Feigling. Ich bin überzeugt, daß kein Wort von ihm diese Fabel verursacht hat, die von irgendeiner Kammerzofe fabriziert scheint. Doch auf jeden Fall bring ich ihn hierher; dann muß er ganz laut die Wahrheit sagen. Es wird ihm nicht schwerer fallen als mir, sie zu hören. Ärgerlich und peinlich ist es, was ich da tun muß – ohne Zweifel –, und unangenehm, zu einem Kameraden zu gehen und ihm zu sagen: ›Man beschuldigt mich der Feigheit!‹ Doch was hilft es? In einem solchen Fall ist alles recht und erlaubt. Ich wiederhole, es ist unser Name, den ich verteidige, und wenn er nicht rein wie Gold aus dieser Angelegenheit hervorgehen sollte, dann reiße ich mir selbst das Kreuz ab, das ich trage. Die Marquise muß in meiner Gegenwart von ihm hören, daß man ihr ein albernes Märchen aufgebunden hat und daß die Schwätzer logen. Und dann muß die Marquise mich hören. Ich muß ihr sehr diskret und sehr höflich unter vier Augen eine Lektion geben, die sie niemals vergessen wird. Ich will mir das kleine Vergnügen machen und ihr freundlich meine Meinung über ihren Hochmut und ihre lächerliche Prüderie sagen. Ich will nicht so handeln wie Bussy d'Amboise, der das Bukett, für das er sein Leben wagte, der Geliebten ins Gesicht warf. Ich werde höflicher sein; aber ein gutes Wort hat zuweilen eine gute Wirkung, gleichgültig, wie es gesprochen ist; und du wirst sehen, daß die Marquise in einiger Zeit viel weniger stolz und kokett und heuchlerisch sein wird.«
»Gehen wir zur Gesellschaft zurück«, sagte Armand. »Abends fahre ich mit dir. Selbstverständlich lasse ich dich allein handeln; doch wenn du erlaubst, werde ich hinter den Kulissen sein.«
Die Marquise wollte gerade aufbrechen. Sie wußte wahrscheinlich sehr gut, daß die Brüder von ihr sprachen; doch ihr Gesicht war ruhig und zufrieden wie nie zuvor. Wie schon erwähnt, kehrte sie zu Pferde heim. Tristan half ihr in den Sattel. Da sie über nassen Boden gegangen war, blieben die Spuren ihres feuchten Stiefels auf seinem Handschuh. Als sie fort war, zog er ihn aus und warf ihn zur Erde:
»Gestern noch hätte ich ihn geküßt«, sprach er zu seinem Bruder.
Des Abends nahmen die beiden Brüder die Post nach Paris. Am nächsten Morgen war ihr erster Gang, wie man sich denken kann, zu dem Dragonerhauptmann Saint-Aubin, der im Urlaub gewöhnlich in einem Hotel der Rue Neuve-Saint-Augustin wohnte.
»Gebe Gott, daß wir ihn treffen«, meinte Armand. »Vielleicht ist er irgendwo weit entfernt in Garnison.«
»Und wenn er in Algier ist«, entgegnete Tristan, »er muß sprechen oder schreiben. Ich bleibe sechs Monate hier, wenn es sein muß, aber ich finde ihn.«
Der Hotelkellner war ein Engländer, was vielleicht für die Untertanen der Königin Victoria sehr angenehm ist, wenn sie neugierig nach Paris kommen, aber viel weniger angenehm für die Pariser selbst. Bei Tristans erstem Wort antwortete er mit dem allerenglischsten Ausruf:
»Oh!«
»Der ist gut«, meinte Armand, der noch ungeduldiger war als sein Bruder. »Doch ist Herr von Saint-Aubin hier?«
»Oh! no.«
»Wohnt er nicht in diesem Hotel?«
»Oh! yes.«
»Also ist er ausgegangen!«
»Oh! no!«
»So erklären Sie sich doch genauer; kann man ihn sprechen?«
»No, Sir, unmöglich.«
»Warum denn unmöglich?«
»Weil er ist ... Wie sagt ihr doch?«
»Krank?«
Es ist nicht leicht, die Bestürzung zu beschreiben, die Tristan und seinen Bruder bei der Nachricht vom Tode jenes Mannes befiel, den sie so sehr zu sehen wünschten. Der Tod ist niemals etwas Gleichgültiges. Man muß Mut haben, um ihm entgegenzutreten, man wird erschrecken, wenn man ihn sieht, und ich bezweifle, daß selbst eine große Erbschaft sein häßliches Gesicht angenehm erscheinen läßt, wenn er vor uns steht. Aber wenn er uns plötzlich Gut oder Hoffnung nimmt, wenn er sich in unsere Angelegenheiten mischt und in die Hand nimmt, was wir zu halten glauben, dann fühlen wir seine Macht besonders stark. Vor der Ewigkeit des Schweigens bleibt der Mensch stumm.
Saint-Aubin war in Algerien bei einem Streifzug gefallen. Die beiden Brüder ließen sich von den Hotelleuten Einzelheiten erzählen, soweit jene sie wußten, und gingen dann traurig nach Hause.
»Was tue ich jetzt?« sagte Tristan. »Ich glaubte, ich brauchte nur ein Wort zu einem Ehrenmann zu sagen, um über aller Peinlichkeit zu sein. Jetzt lebt er nicht mehr, der arme Junge. Ich bin mir fast böse, daß irgendein persönliches Interesse sich in das Leid um seinen Tod drängt. Er war ein tapferer und tüchtiger Offizier. Oft haben wir gemeinsam biwakiert und getrunken. Welchen Sinn hat es, dreißig Jahre anständig zu leben, einen guten Kopf zu haben und einen Säbel zu tragen, damit irgendein Beduine dich hinterlistig meuchelt. Alles ist nun zu Ende; ich mag an nichts mehr denken und mich mit nichts beschweren, wenn ich einen Freund zu beklagen habe. Mögen alle Marquisen der Welt sagen, was sie wollen.«
»Ich teile und respektiere deinen Schmerz«, antwortete Armand; »aber bei allem Leid um den Freund und bei aller Verachtung für eine Kokette darf man nicht die Welt vergessen, die mit ihren Gesetzen vorhanden ist. Man sieht deine Verachtung nicht und auch nicht deine Klagen. Du mußt in ihrer Sprache antworten oder sie zum wenigsten zum Schweigen zwingen.«
»Und wie soll ich es beginnen? Wo soll ich einen Zeugen finden, einen Beweis, ein Wesen, ein Ding, das für mich spricht? Du wirst doch begreifen, daß Saint-Aubin nicht sein ganzes Regiment bei sich hatte, als er zu mir wegen seines Abenteuers mit der Grisette kam. Wir sprachen unter vier Augen. Wäre es ernst geworden, gewiß, dann gäbe es Zeugen; aber wir drückten uns die Hand und frühstückten gemeinsam und ohne Gesellschaft.«
»Aber es ist doch kaum wahrscheinlich«, meinte Armand, »daß solche Art Streit und Versöhnung ganz geheim bleibt. Irgendwelche gemeinsamen Freunde müssen doch davon gewußt haben. Denke einmal darüber nach.«
»Zu was wäre das gut? Selbst wenn ich einen fände, der sich an die alte Geschichte erinnerte, könnte ich nicht zu ihm gehen, zu irgendeinem ersten besten, und mir das Zeugnis ausstellen lassen, daß ich keine Memme bin. Bei Saint-Aubin brauchte ich nichts zu fürchten; der war mein Freund. Doch welche komische Figur würde ich abgeben, ging ich zu einem Kameraden und spräche zu ihm: ›Erinnern Sie sich vielleicht an ein Mädelchen, an einen Ball, an einen Streit, irgendwann im vergangenen Jahr?‹ Sie würden sich über mich lustig machen und hätten recht.«
»Das stimmt; und doch ist es schade, eine Frau, zumal eine so hochmütige, rachsüchtige und beleidigende Frau ungestraft intrigieren zu lassen.«
»Ja, es ist unsagbar schade. Dem beleidigenden Mann antwortet man mit dem Degen. Gegen alle Arten Unrecht, offen oder nicht, selbst gegen Gedrucktes kann man sich verteidigen. Doch welche Waffe hat man gegen seichte Verleumdung, im Dunkel geflüstert, und von einer böswilligen Frau, die dir schaden will. Dies ist der Triumph der Niedertracht! Hier mordet dich eine Kreatur mit den Nadelstichen ihrer Perfidie. Sie lügt mit allem Hochmut und der Lust der Schwachheit, die sich rächt; und sie träufelt zum Zeitvertreib einem geschmeichelten Dummen die gewollte und vom Urheber übertriebene Gemeinheit ins Ohr; sie macht ihren Weg, wiederholt sich, kommentiert sich: Und die Ehre, das Gut des Soldaten, das Erbe der Ahnen, der Besitz der Kinder, ist um einer Jämmerlichkeit willen in Gefahr.«
Tristan sann vor sich hin und sagte dann halb ernst und halb scherzhaft:
»Ich hätte Lust, mich mit La Bretonnière zu schlagen.«
»Und zu was?« fragte Armand, der lachen mußte. »Was hat dir dieser arme Teufel getan?«
»Er ist höchstwahrscheinlich über mich sehr auf dem laufenden. Er ist über alles orientiert und von Natur aus neugierig. Ich wäre gar nicht überrascht, wenn die Marquise ihn zum Vertrauten wählte.«
»Aber du wirst doch zugeben, daß es nicht seine Schuld ist, wenn man ihm einen Klatsch erzählt, und daß er nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann.«
»Bah! Und wenn er der Verbreiter ist? Dieser Mensch, diese Stubenfliege ist auf Frau von Vernage hundertmal eifersüchtiger als ein Ehemann. Nehmen wir an, daß sie ihm diesen schönen Roman erzählt. Glaubst du, es macht ihm Freude, das Geheimnis für sich zu behalten?«
»Das wäre was! Aber vorerst müßte man sicher sein, daß er schwatzt. Und selbst dann sehe ich noch immer keinen Grund, mit ihm einen Streit zu suchen, nur weil er Gehörtes weitererzählt. Was für ein Ruhm wäre es übrigens auch, einen La Bretonnière ins Bockshorn zu jagen. Außerdem wird er sich wohl nicht schlagen und, offen gesagt, mit Recht.«
»Er würde sich schon schlagen. Der Bursche ärgert mich. Er ist langweilig und überflüssig auf der Welt.«
»Wahrhaftig, mein lieber Tristan, du redest wie einer, der nicht weiß, an wen er sich halten soll. Hört man dir zu, so meint man, du suchst Händel, um deine Ehre wiederherzustellen, oder du willst deiner Geliebten ein Bravourstückchen zeigen wie ein deutscher Student.«
»Ich bin aber auch in einer unerträglichen Lage. Man klagt mich an, geht mir an die Ehre, und ich habe noch nicht einmal die Möglichkeit zur Satisfaktion! Ich möchte wirklich glauben ...«
Die beiden jungen Leute gingen gerade über den Boulevard und an einem Juwelierladen vorbei. Tristan blieb plötzlich stehen und betrachtete ein Armband in der Auslage.
»Das ist sonderbar«, meinte er.
»Was denn? Willst du dich auch mit dem Ladenmädchen schlagen?«
»Das nicht; aber du rietest mir, in meinem Gedächtnis zu forschen. Und da finde ich etwas. Du siehst dieses goldene Armband, das gar nicht außergewöhnlich ist: eine Schlange mit zwei Türkisen. Saint-Aubin hatte gerade vor unserem Disput bei diesem Juwelier, in diesem Laden, ein gleiches Armband bestellt. Es war eben für diese Grisette bestimmt, um deretwillen wir uns fast gezankt hatten. Er sprach lachend zu mir: ›Donnerwetter, du machst mir meine Königin gerade in dem Augenblick abspenstig, da ich für sie ein Geschenk erstand, ein kleines Armband mit meinem eingravierten Namen. Aber, weiß Gott, sie bekommt es nicht. Wenn du es ihr geben willst, trete ich es dir ab. Du bist der Glücklichere und mußt dich für ihre Gunst erkenntlich zeigen.‹ ›Wir können uns doch das Geschenk teilen‹, entgegnete ich. ›Du hast recht; mein Name steht schon drin, du brauchst nur noch den deinen daneben gravieren zu lassen und als Zeichen unserer Freundschaft das Datum.‹ Gesagt, getan. Das Armband mit Datum und den beiden Namen wurde dem Fräulein zugesandt. Javotte (so hieß die Heldin) muß es noch haben, wenn sie es nicht versetzt hat, um einmal gut zu Mittag zu essen.«
»Das ist ja prachtvoll!« rief Armand; »jetzt haben wir den Beweis. Das Armband muß zum Vorschein kommen und die Marquise die beiden Namen und das Datum lesen. Fräulein Javotte selbst muß notfalls die Wahrheit und die Identität des Armbandes bezeugen. Ist dann nicht ganz klar bewiesen, daß nichts Ernsthaftes zwischen dir und Saint-Aubin vorgefallen ist? Denn wenn zwei Freunde zum Vergnügen ein solches Geschenk einer Frau machen, um die sie sich beide bemühen, dann ist doch wohl offensichtlich, daß sie nicht allzu böse aufeinander sein können.«
»Ja, da hast du wohl recht«, meinte Tristan. »Dein Kopf denkt schneller als der meine. Doch bevor wir das Armband wieder haben können, müssen wir erst Javotte finden. Es scheint mir leider beides gleich schwierig. Wenn das Mädchen so leicht ihre Schmucksachen verliert, dann ist sie durchaus fähig, sich selbst abhandenkommen zu lassen. Nach einem Jahr in dem großen Paris eine Grisette zu finden und in ihrer Schublade ein metallenes Liebespfand, das, scheint mir, geht über menschliche Kraft; das ist ein Traum, der kaum zu verwirklichen ist.«
»Warum denn nicht?« fragte Armand. »Man kann es doch versuchen. Du siehst doch, wie dir der Zufall den nötigen Hinweis gibt. Du hattest das Armband vergessen; er hält es dir vor Augen oder erinnert dich zumindest daran. Du suchtest einen Zeugen; hier ist er. Und er ist einwandfrei. Das Armband sagt alles, deine Freundschaft für Saint-Aubin, seine Achtung für dich und das Unwesentliche der ganzen Geschichte. Fortuna ist ein Weib, mein Lieber; wenn es dir geneigt ist, mußt du davon profitieren. Bedenke doch, du hast nur dieses Mittel, um Frau von Vernage zum Schweigen zu bringen. Fräulein Javotte und ihr Türkisenarmband sind deine einzige Hilfe. Paris ist groß, das ist wohl wahr, aber wir haben ja Zeit, nützen wir sie! Die erste Frage: Wo wohnte das Fräulein damals?«
»Ich kann es dir beim besten Willen nicht mehr sagen. Es war, glaube ich, in irgendeiner Passage, einer Art abgeschlossenem Häuserblock.«
»Gehen wir zu dem Juwelier und fragen wir ihn. Die Kaufleute haben manchmal ein unglaubliches Gedächtnis, sie erinnern sich noch nach Jahren an bestimmte Leute, vor allem an solche, die nicht gut zahlen.«
Tristan ließ sich von seinem Bruder mitziehen. Sie gingen in den Laden. Es war nicht leicht, dem Kaufmann ein Schmuckstück von so geringem Wert in Erinnerung zu bringen, das vor so langer Zeit bei ihm gekauft worden war. Er hatte es aber wegen der seltsamen Gravierung nicht vergessen.
»Ja, ich erinnere mich«, meinte er schließlich; »es war ein kleines Armband, und zwei junge Herren kauften es im letzten Winter. Den einen Herrn erkenne ich wohl. Aber wohin das Armband gebracht wurde und zu wem, das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen.«
»Zu einem Fräulein Javotte«, sagte Armand; »sie wohnte in irgendeiner Passage.«
»Warten Sie einen Augenblick«, meinte der Goldschmied. Er öffnete sein Buch, blätterte drin herum, überlegte und sprach schließlich: »Das ist sie; aber in meinem Buch steht nicht Javotte. Sie heißt Frau von Monval, Cité Bergère 4.«
»Sie haben recht«, sagte Tristan, »sie nennt sich auch so. Der Name war mir nur entfallen. Vielleicht trägt sie ihn sogar mit Recht, denn Javotte ist, glaube ich, nur ihr Spitzname. Arbeiten Sie noch gelegentlich für sie? Hat sie wieder einmal etwas anderes von Ihnen gekauft?«
»Nein, im Gegenteil. Sie hat mir einmal eine zerbrochene silberne Kette verkauft.«
»Aber kein Armband?«
»Nein.«
»Also Monval«, sagte Armand. »Vielen Dank. Und wir, Tristan, eilen nach der Cité Bergère.«
»Ich glaube«, meinte Tristan, als sie aus dem Laden waren, »wir täten gut, einen Fiaker zu nehmen. Ich fürchte nämlich, Frau von Monval hat etliche Male ihr Domizil gewechselt, und unser Gang wird lang sein.«
Die Vermutung war begründet. Die Hausmeisterin in der Cité Bergère sagte den Brüdern, Frau von Monval sei schon seit langer Zeit fortgezogen, sie nenne sich jetzt Fräulein Durand, arbeite bei einer Schneiderin und wohne Rue Saint-Jacques.
»Geht es ihr gut? Hat sie etwas zum Leben?« fragte Armand in seiner Angst um das Armband.
»O gewiß, mein Herr. Sie gibt viel aus. Sie hat hier eine vollständige Einrichtung gehabt, Mahagonimöbel und eigenes Küchengeschirr. Sie empfing viele Herren vom Militär bei sich, alles dekorierte und sehr feine Leute. Sie gab manchmal sehr hübsche Diners, die sie vom Café Vachette kommen ließ. Die Herren waren alle sehr lustig, und einer von ihnen hatte sogar eine sehr schöne Stimme. Er sang wahrhaftig wie ein Künstler von der Akademie. Man hat übrigens niemals etwas Schlechtes über Frau von Monval sagen können. Sie wollte auch Künstlerin werden und studierte fleißig. Ich besorgte ihren Haushalt, und sie fuhr immer mit der Droschke aus.«
»Sehr schön«, meinte Armand. »Also gehen wir zur Rue Saint-Jacques.«
»Fräulein Durand wohnt nicht mehr hier«, antwortete die zweite Hausmeisterin. »Es sind schon sechs Monate her, daß sie ausgezogen ist, und wir wissen nicht, wohin. Ein Schloß aber wird es kaum sein; denn sie fuhr in keiner Karosse und hatte nicht viel Gepäck.«
»Lebte sie denn so armselig?«
»Guter Gott! Es ging ihr schon recht schlecht. Da am Ende des Ganges wohnte sie, auf den Hof hinaus, hinter der Obstfrau. Sie arbeitete den ganzen Tag, und es kam nichts dabei heraus. Zudem war sie noch krank. Morgens ging sie selbst zum Markt, und ihre Suppe kochte sie sich auf ihrem kleinen Ofen. Sie war nicht eigentlich liederlich, man roch nur immer den Kohl bei ihr. Dann ist irgendeine Dame in Trauer gekommen, eine Tante von ihr, und hat sie mitgenommen. Wir glauben zu den Schwestern vom guten Hirten. Die Wäschenäherin an der Ecke kann Ihnen vielleicht mehr sagen. Dort hat sie gearbeitet.«
»Also gehen wir zur Wäschenäherin«, meinte Armand. »Aber der Kohl ist ein schlechtes Zeichen.«
Die dritte Auskunft über Javotte war zunächst nicht erschöpfender als die beiden ersten. Sie war wirklich mit der kleinen Summe, die ihre Familie für sie aufgetrieben hatte, in das Kloster der Schwestern vom Guten Hirten eingetreten und dort ungefähr drei Monate geblieben. Ihr Betragen war gut gewesen, und die Schwestern hatten sie auf die Protektion einiger mildherziger Personen hin freundlich aufgenommen, ihr viele Liebe gezeigt und ihren Gehorsam gelobt. »Zum Unglück«, sagte die Weißnäherin, »ist das Kind so lebhaft, daß es nirgends lange aushalten kann. Es war eine große Vergünstigung, daß sie von den Nonnen als Pensionärin aufgenommen wurde. Sie alle sprachen gut von ihr; sie erfüllte regelmäßig ihre religiösen Pflichten und arbeitete auch viel; denn sie ist sehr behende. Doch mit einemmal hatte sie sich in den Kopf gesetzt wegzugehen. Sie wissen, mein Herr, daß ein Kloster heutzutage kein Gefängnis ist. Die Tore öffneten sich, und sie flog davon.«
»Und Sie wissen nicht, was aus ihr geworden ist?«
»Nicht besonders viel«, meinte jene lachend. »Eine meiner Fräuleins hat sie einmal im Ranelagh getroffen. Sie nennt sich jetzt Amelina Rosenval, wohnt, glaube ich, Rue de Bréda und ist Statistin in den Folies-Dramatiques.«
»Geben wir's doch auf«, sprach er zum Bruder. »Wie die Dinge stehen, werden wir sie niemals finden. Wer weiß denn, ob Fräulein Durand, Frau von Monval, Frau Rosenval nicht schon in China oder Quimper-Corentin weilt?«
»Und doch müssen wir es versuchen«, sagte Armand immer wieder. »Wir haben schon zuviel getan, um jetzt aufzuhören. Wer sagt dir, daß wir nicht gerade jetzt auf dem Wege sind, sie zu entdecken? Ob Arbeiterin oder Künstlerin, Nonne oder Statistin; ich werde sie finden. Tun wir doch nicht wie jener Mann, der gewettet hatte, im Januar mit nackten Füßen über ein zugefrorenes Bassin zu gehen, und der in der Mitte umkehrte, weil es ihm zu kalt war.«
Armand behielt recht. Frau Rosenval wurde höchstpersönlich in der Rue de Bréda entdeckt. Aber es war nichts mehr vom Kloster zu spüren, auch nicht vom Kohl, selbst nicht vom Ranelagh. Von einer Statistin war sie ganz plötzlich zur Primadonna eines Provinztheaters aufgestiegen, dank dem Schicksal und einem alten Präfekten, der eine gewichtige Persönlichkeit war und Beschützer aller Künste. Sie wohnte seit einiger Zeit in einer ziemlich großen Stadt Südfrankreichs, wo ihr neuentdecktes und großzügig gefördertes Talent das Entzücken der Kenner und die Bewunderung der Garnison erregte. Sie war gerade vorübergehend in Paris, um möglicherweise ein Engagement in der Hauptstadt abzuschließen. Man sagte zwar den beiden Brüdern, man wisse nicht, ob sie empfange; aber eine Bedienstete führte sie doch in ein ziemlich reich, aber kaum geschmackvoll eingerichtetes Zimmer, mit Statuetten, Spiegeln und Stuck ausgestattet wie ein Café. Die Herrin des Hauses war bei der Toilette; sie ließ ausrichten, man möge warten, sie würde Herrn von Berville empfangen.
»Jetzt lasse ich dich allein«, sagte Armand zu seinem Bruder. »Du siehst, wir sind am Ziel unseres Feldzuges. Das übrige überlasse ich dir. Bring sie dazu, daß sie dir dein Armband wiedergibt. Sie könnte noch ein paar Zeilen dazuschreiben, damit deine Rechtfertigung noch mehr Gewicht hat. Wenn du bewaffnet mit diesen authentischen Beweisen heimgekehrt bist, können wir die Marquise auslachen.«
Dann ging er, und Tristan blieb allein in Javottes luxuriösem Salon. Nach einer Viertelstunde öffnete sich die Schlafzimmertür. Ein großer dicker Herr mit gewichtigem Tritt und graumeliertem Haar, Augengläsern und einem Kneifer und einer Uhrkette mit verschiedenem Gehänge, alles aus Gold, kam mit leutseliger Würde zum Vorschein. »Mein Herr«, sprach er zu Tristan, »wie ich höre, sind Sie ein Verwandter von Frau Rosenval. Wenn Sie die Liebenswürdigkeit hätten einzutreten, wird sie Sie in ihrem Zimmer empfangen.«
Er grüßte leicht und verschwand.
»Teufel noch einmal!« sagte sich Tristan; »Javotte scheint jetzt bessere Gesellschaft zu sehen als auf dem Gang der Rue Saint-Jacques.«
Er hob einen seidenen Vorhang, auf den der Herr mit den goldenen Augengläsern gewiesen hatte und drang in ein Boudoir, das in rosa Musselin gehalten war. Dort lag Frau Rosenval auf einem Sofa und empfing ihn mit lässiger Gebärde. Man sieht stets gerne eine Frau wieder, die man geliebt hat, sei sie nun Amelina oder Javotte; vor allem, wenn es so viel Mühe gekostet hat, sie zu finden. Tristan küßte mit Nachdruck die sehr weiße Hand seiner einstigen Geliebten, setzte sich dann neben sie und begann pflichtgemäß zu sagen, daß sie viel schöner geworden sei und noch nie so entzückend ausgesehen habe, usw. ... (Wie man eben zu einer Frau spricht, wenn man sie wiedersieht, und sollte sie auch häßlich geworden sein wie die Sünde.)
»Und dann müssen Sie mir erlauben, meine Liebe«, fügte er hinzu, »Ihnen zu der günstigen Veränderung Glück zu wünschen, die mir bei Ihnen eingetreten zu sein scheint. Sie logieren hier wie ein Grandseigneur.«
»Sie sind doch immer noch ein böser Spötter, Herr von Berville«, entgegnete Javotte. »Das alles hier ist doch sehr einfach. Es ist ja nur ein Absteigequartier. Aber ich will hier allerlei zustande bringen; denn Sie wissen, ich sitze dem Teufel gerne auf.«
»Ja, ich hörte, Sie wären am Theater.«
»Mein Gott, ja, ich habe mich dafür entschieden. Sie wissen ja, die große Musik, die ernsthafte Musik hat mein ganzes Leben erfüllt. Der Herr Baron, den Sie, vermute ich, eben gesehen haben, einer meiner guten Freunde, überredete mich, ein Engagement zu nehmen. Was sollte ich tun? Ich nahm eines. Wir spielen alles: Dramen, Possen und Opern.«
»Man hat es mir berichtet«, entgegnete Tristan; »aber ich bin zu Ihnen wegen einer ernsten Angelegenheit gekommen. Ihre Zeit wird kostbar sein, und so lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, Ihnen etwas Vertrauliches zu sagen. Erinnern Sie sich vielleicht an ein Armband ...«
Tristan hatte zerstreut auf den Kamin geblickt. Das erste, was er sah, war eine Visitenkarte von La Bretonnière, die am Spiegelrahmen steckte.
»Kennen Sie den da?« fragte er überrascht.
»Ja; er ist ein Freund des Barons. Ich sehe ihn von Zeit zu Zeit, und ich glaube sogar, daß er heute hier ißt. Aber, bitte, reden Sie doch weiter.«
Das Kapitel der Ablenkungen dürfte für den Philosophen oder Psychologen ein interessantes Studium sein. Man denke sich einen Mann, der gerade im angeregtesten Gespräch mit der Person ist, von der er am meisten zu befürchten oder zu erhoffen hat, einem Advokaten oder einer Frau oder einem Minister. Dann sticht ihn mitten in einem Satz eine Nadel, oder ein Knopf springt ab, oder jemand spielt nebenan Flöte. Wer weiß, wie sehr es ihn beeinflussen kann? Was mag ein Schauspieler denken, der auf einmal mitten im Monolog einen Gläubiger im Parkett bemerkt? Bis zu welchem Grad kann man von einer Sache reden und zu gleicher Zeit an ganz etwas anderes denken?
So war es mit Tristan. Die Zeit drängte, der Herr mit den goldenen Augengläsern konnte jeden Augenblick wieder erscheinen. Andererseits muß man die Stimmung einer Frau, die einen anhört, im rechten Moment zu erfassen wissen. Denn wenn es nicht mehr zu früh ist, um etwas bei ihr zu erreichen, dann ist es meistens schon zu spät. Tristan wußte genug auf dem Spiel, um sich alle Mühe zu geben. Je wunderlicher und ungewöhnlicher sein Vorhaben erschien, desto mehr sah er die Notwendigkeit ein, zum raschen Ende zu kommen. Andererseits kamen seine Augen nicht von der Visitenkarte La Bretonnières los, und während er um den Zweck seines Besuches herumredete, sagte er sich immer wieder: »Diesen Menschen muß ich auch überall treffen!«
»Also was wollen Sie eigentlich?« meinte Javotte. »Sie sind zerstreut wie ein Dichter im Kindbett.«
Tristan wollte natürlich nicht die eigentliche Ursache verraten und auch nicht den Namen der Marquise nennen.
»Ich kann Ihnen gar nichts erklären«, entgegnete er. »Ich kann Ihnen nur das eine sagen, daß Sie mich unendlich verpflichten würden, wenn Sie mir das Ihnen von Saint-Aubin und mir geschenkte Armband wiedergeben. Vorausgesetzt, daß Sie es noch haben.«
»Aber was wollen Sie denn damit anfangen?«
»Nichts, was Sie beunruhigen könnte. Ich gebe Ihnen mein Wort.«
»Ich glaube Ihnen, Berville, Sie sind ein Ehrenmann. Der Teufel soll mich holen, ich glaube Ihnen.«
(Madame Rosenval hatte trotz ihres neuen Glanzes noch einige Ausdrücke aus der Kohlzeit beibehalten.)
»Ich freue mich sehr, daß Sie von mir eine so gute Meinung haben. Sie vergessen Ihre Freunde nicht.«
»Ich meine Freunde vergessen! Niemals. Sie haben mich gesehen, als ich keinen Sou hatte. Ich denke gerne daran. Ich hatte zwei Paar Strümpfe, die ich abwechselnd trug, ich aß die Suppe mit einem Holzlöffel. Jetzt speise ich aus massivem Silber, einen Lakai hinter mir und mehrere Verehrer vor mir. Doch mein Herz ist das gleiche geblieben. Wissen Sie noch, wie herrlich wir uns damals amüsiert haben? Jetzt langweile ich mich wie ein König. Erinnern Sie sich noch eines Tages ... in Montmorency ... Nein, das waren nicht Sie, ich irre mich, doch das ist ja gleich, es war entzückend. Ach, die guten Kirschen! Und die Kalbskoteletts, die wir beim Vater Duval aßen, im Jagdschlößchen. Und der alte Hahn, der arme Koko, pickte die Krümel vom Tisch. Und zwei dumme Engländer gaben dem armen Vieh so viel Schnaps zu trinken, daß es daran gestorben ist. Wußten Sie das?«
Das sprach sie lustig und natürlich. Doch kaum hatte sie wieder ihre Vornehmheit gepackt, lispelte sie Phrasen, versonnen und zerstreut.
»Ja, wahrhaftig«, säuselte sie wie eine erkältete Herzogin; »ich erinnere mich oft und mit Freuden an die Vergangenheit.«
»Das ist ja wunderschön, meine liebe Amelina; aber bitte antworten Sie mir auf meine Frage. Haben Sie noch das Armband?«
»Welches Armband, Berville? Was wollen Sie damit sagen?«
»Das Armband, um das ich Sie bat und das Saint-Aubin und ich Ihnen gegeben hatten.«
»Pfui! Ein Geschenk zurückzuverlangen! Das ist wenig kavaliermäßig, mein Lieber.«
»Es handelt sich hier gar nicht um Galanterie. Ich sagte Ihnen schon, Sie würden mir einen sehr wichtigen Dienst erweisen, wenn Sie es mir wiedergäben. Bedenken Sie es, ich bitte Sie inständig, und antworten Sie mir ernst. Wenn Ihnen das Armband etwas gilt, so kaufe ich Ihnen sehr gerne ein anderes, ja, für jeden Arm eines, als Entschädigung.«
»Das ist sehr liebenswürdig.«
»Nein, das ist gar nicht liebenswürdig, sondern nur selbstverständlich; denn es ist in meinem eigenen Interesse«,
»Doch zuvor«, meinte Javotte und spielte aufstehend mit ihrem Fächer, »zuvor müßte ich wissen, was Sie mit dem Armband tun wollen. Ich kann nicht einem Manne vertrauen, der mir selber so wenig Vertrauen schenkt. Da steckt irgendeine Frau, irgendeine Betrügerei dahinter. Also los, beichten Sie mir ein bißchen. Ich möchte wetten, es ist irgendeine verflossene Mätresse von Ihnen oder Saint-Aubin, die mir meine paar Sachen abknöpfen will. Da ist irgendein Zank, Eifersucht, irgend etwas Böses. Also los, sprechen Sie.«
»Wenn ich nun absolut mein Motiv bekennen muß«, entgegnete Tristan und wollte sich aus der Enge ziehen: »Saint-Aubin ist tot. Wir waren sehr befreundet, Sie wissen es, und ich möchte das Armband haben, weil unsere beiden Namen darin stehen.«
»Ach, was für ein Märchen binden Sie mir da auf! Saint-Aubin tot? Seit wann denn?«
»Er ist in Afrika vor kurzer Zeit gefallen.«
»Wahrhaftig? Armer Junge! Auch ich hatte ihn sehr lieb. Er war ein vornehmer Kerl, und ich erinnere mich, daß er mich zu jener Zeit seine Rosenschönheit nannte. ›Da ist meine Rosenschönheit‹, sagte er immer, und ich fand das sehr nett. Sie erinnern sich doch, wie drollig er damals mit uns in Ermenonville war und wie wir alles im Gasthaus kaputtmachten. Es blieb kaum mehr ein Teller übrig. Die Stühle warfen wir aus dem Fenster, und am nächsten Morgen traf ausgerechnet eine umfangreiche Provinzlerfamilie ein, die die Natur genießen wollte. Da fand sie nicht eine ganze Tasse, um ihren Milchkaffee zu trinken.«
»Tollkopf!« sagte Tristan. »Können Sie nicht einmal zuhören? Haben Sie das Armband, ja oder nein?«
»Ich weiß überhaupt nichts, und ich mag es nicht, wenn mich jemand so auf den Kopf zu fragt.«
»Aber Sie werden doch einen Koffer oder eine Schublade oder irgendeinen Kasten haben, in den Sie Ihren Schmuck legen? Machen Sie doch einmal diesen Kasten auf oder diese Schublade. Ich will ja nichts weiter von Ihnen.«
Javotte dachte ein wenig nach, rückte dann näher an ihn heran und nahm seine Hand:
»Hören Sie, ich klammere mich nicht an diese Bagatelle, wenn sie Ihnen wichtig ist; das wissen Sie. Ich bin Ihnen gut, Berville, und ich möchte Ihnen nützlich sein. Aber Sie begreifen auch, daß mir meine Position Pflichten auferlegt. Es kann von einem Tag zum andern möglich werden, daß ich in die Oper komme, zum Chor. Der Herr Baron hat mir zugesagt, seinen ganzen Einfluß aufzuwenden. Ein alter Präfekt wie er kann bei den Ministern etwas ausrichten, auch Herr von La Bretonnière ...«
»La Bretonnière!« rief Tristan ungeduldig. »Was zum Teufel tut der hier? Scheinbar bekommt er es fertig, zugleich in Paris und auf dem Land zu sein. Draußen hat er uns nicht verlassen, und hier bei Ihnen finde ich ihn!«
»Ich sagte Ihnen doch, er ist ein Freund des Barons. Herr von La Bretonnière ist ein sehr vornehmer Mann. Es stimmt auch, daß sein Landgut neben dem Ihren liegt und daß er oft zu einer Dame geht, die Sie wahrscheinlich kennen, einer Marquise oder Gräfin. Ich weiß nicht ihren Namen.«
»Hat er zu Ihnen von ihr gesprochen? Was soll das bedeuten?«
»Gewiß erzählt er von ihr. Er sieht sie alle Tage, nicht wahr? Er hat sein Gedeck an ihrem Tisch. Sie heißt Vernage oder so ähnlich. Unter uns gesagt, wir wissen doch, was es bedeutet, wenn Nachbar und Nachbarin ... Nanu! Was haben Sie denn?«
»Die Pest soll ihn holen!« rief Tristan und zerknittere La Bretonnières Visitenkarte. »Ich muß doch einmal mit ihm ein Wörtchen reden.«
»Oho! Berville, Sie fangen Feuer, Teurer. Sie sind in die Vernage verliebt, ich merke es. Also schließen wir den Handel. Ihr Vertrauen gegen mein Armband.«
»Sie haben es also noch?«
»Sie lieben also die Marquise?«
»Scherzen wir nicht. Haben Sie es?«
»Nein, ich sag es Ihnen nicht und wiederhole Ihnen, meine Stellung ...«
»Schöne Stellung! Sie führen einen an der Nase herum. Gehen Sie zur Oper, werden Sie Statistin für zwanzig Sous täglich ...«
»Statistin!« schrie Javotte im Zorn. »Für was halten Sie mich eigentlich! Ich singe im Chor, verstehen Sie!«
»Sehr wohl. Man leiht Ihnen ein Trikot und eine Samtkappe und steckt Sie ins Gefolge der Prinzessin Isabella. Oder man gibt Ihnen sonntags eine kleine Gratifikation, damit Sie im Sylphiden-Ballett auf einer Rolle daherschweben. Was wollen Sie nur mit Ihrer Position?«
»Um alles in der Welt nicht darf der Herr Baron meinen Namen mit einer üblen Geschichte verbunden wissen. Darum habe ich Sie ja auch für meinen Verwandten ausgegeben. Ich weiß nicht, was Sie mit meinem Armband vorhaben, und Sie wollen es mir ja auch nicht sagen. Der Herr Baron hat mich nie anders gekannt als unter dem Namen Rosenval. So hieß ein Landgut, das mein Vater verkaufte. Ich habe Lehrer, mein Lieber, ich studiere, ich will mir nicht meine Zukunft verderben.«
Je länger sich das Gespräch hinzog, desto mehr litt Tristan unter ihrer Hartnäckigkeit und dem befremdlichen Leichtsinn, mit dem sie manövrierte. Augenscheinlich war das Armband da, vielleicht in diesem Zimmer; aber wie sollte er es finden? Tristan fühlte für einen Augenblick Lust, es wie ein Dieb mit Drohungen zu versuchen. Doch schließlich blieb er bei Güte und Geduld.
»Meine liebe Javotte, wir wollen uns nicht ärgern. Ich glaube ja jedes Wort von Ihnen und will Sie ja wirklich nicht kompromittieren. Singen Sie in der Oper so viel Sie wollen, tanzen Sie meinetwegen, wenn Sie Lust haben. Meine Absicht ist wahrlich nicht ...«
»Tanzen! Ich, die ich die Célimène, ja, Kleiner, die Célimène in Belleville gespielt habe, bevor ich in die Provinz ging. Und mein Direktor, der Herr Poupinel, der bei der Vorstellung dabei war, engagierte mich auf der Stelle als dritte Sängerin vom Dugazon-Fach, und dann bin ich zweite große erste Salondame geworden, erste Charakterschauspielerin und allererste Sängerin. Und Brochard selbst, der Operettentenor, veranlaßte mich, vom Vertrag zurückzustehen, und Gustave, der Sänger vom Laruette-Fach, reiste mit mir in die Auvergne. Wir machten vier- bis fünfhundert Franken mit ›La Tour de Nesle‹ und ›Adolphe und Clara«. Wir spielten nur diese beiden Stücke. Ich und tanzen!«
»Aber, so regen Sie sich doch nicht auf, ich beschwöre Sie.«
»Und wissen Sie denn, daß ich mit Frédérick gespielt habe? Ja, mit Frédérick, in der Provinz, bei der Wohltätigkeitsvorstellung für einen Literaten. Gewiß, ich hatte nicht gerade eine große Rolle; ich spielte einen Pagen in ›Lucrezia Borgia‹. Aber immerhin, ich spielte mit Frédérick.«
»Ja, gewiß doch, ich glaube Ihnen aufs Wort. Niemals werden Sie tanzen. Bitte verzeihen Sie mir. Aber, Verehrte, die Zeit vergeht, und Sie antworten mir auf alles Mögliche, nur nicht auf meine Frage. Kommen wir doch zum Ende. Sagen Sie mir: Darf ich jetzt zu Fossin gehen und Ihnen ein Armband, eine Kette, einen Ring, irgend etwas, das Ihnen Freude macht, kaufen und es Ihnen schicken oder bringen? Dafür geben Sie mir jene Kleinigkeit, um die ich Sie bitte und an der Sie gewiß nicht hängen.«
»Wer weiß?« meinte sie schon ganz sanft. »Wir hängen nun einmal an solchen Dingen, und ich habe meine Sachen lieb.«
»Aber dieses Armband ist ja keine zehn Louis wert; denn höchstwahrscheinlich ist es nicht die Gravierung, die es Ihnen kostbar macht.«
Die Eitelkeit des Mannes und weibliche Koketterie sind zwei so natürliche Dinge, daß sie immer auf ihre Rechnung kommen. Also konnte es sich Tristan nicht versagen, ihr bei seiner letzten Frage etwas näher zu rücken. Ganz sacht legte er den Arm um sie, und Javotte, das Gesicht hinter dem Fächer, lächelte und seufzte, dieweil der Husarenschnurrbart ihre blonden Haare streichelte. Erinnerung an einst und der Gedanke an das neue Armband machten das Herz klopfen.
»So sprechen Sie doch, Tristan, sprechen Sie ganz frei. Ich bin ein braves Mädchen. Haben Sie keine Angst, sagen Sie mir, wo mein blaues Schlangenarmband hinkommt.«
»Also mein liebes Kind, ich bekenne Ihnen ganz offen: Ich bin verliebt.«
»Ist sie schön?«
»Sie sind hübscher, sie ist eifersüchtig, sie will das Armband. Es ist ihr irgendwie hinterbracht worden, daß ich Sie geliebt habe ...«
»Lügner!«
»Nein, es ist die Wahrheit. Sie waren so lieb, frisch und reizvoll und sind es noch: eine kleine Blume, Ihre Zähne sind wie Perlen, die in eine Rose fielen, Ihre Augen, Ihr Fuß ...«
»Ach Gott!« seufzte Javotte.
»Ach Gott!« echote Tristan. »Und unser Armband?«
Javotte wollte vielleicht gerade zärtlichsten Tones antworten: »Wohl, mein Freund, gehen Sie zu Fossin.« Doch sie schrie auf einmal:
»So nehmen Sie sich doch in acht, Sie kratzen mich ja!«
Denn die Visitenkarte La Bretonnières, noch in Tristans Hand, hatte eine umgebogene Ecke und ritzte leicht die Schulter der Frau Rosenval. Im selben Augenblick klopfte es leise an die Tür, die Tapetentür ging auf und La Bretonnière in höchst eigener Person trat ins Zimmer.
»Beim Himmel, mein Herr!« rief Tristan, der seinen Ärger nicht verbergen konnte, »Sie passen hier wie die Faust aufs Auge!«
»Die Faust ist manchmal unentbehrlich«, sagte La Bretonnière und war von seinem Wortspiel entzückt.
»Das wird man ja noch sehen«, sagte Tristan.
»Wie es Ihnen gefällt.«
»Morgen werden Sie von mir mehr hören.«
Tristan stand auf und nahm Javotte beiseite:
»Ich kann auf Sie rechnen, nicht wahr? In einer Stunde werde ich wieder hier sein.«
Dann ging er ohne Gruß und wiederholte noch einmal:
»Auf morgen.«
»Was will er damit sagen?« fragte Javotte.
»Meiner Treu, ich weiß von nichts«, sprach La Bretonnière.
Armand hatte den Bruder ungeduldig erwartet, um das Resultat seiner Unterredung mit Javotte zu erfahren. Tristan kam freudig heim.
»Sieg, mein Lieber! Wir haben gewonnen. Mehr noch. Morgen werden wir einen Heidenspaß haben.«
»Was gibt es denn? Du siehst ja so fröhlich aus, daß man sich mitfreuen muß.«
»Nicht mit Unrecht fröhlich und nicht ohne Mühe. Javotte zögerte, schwatzte, hielt Reden, daß man stehend hätte einschlafen können. Aber endlich gab sie nach, und ich glaube, ich kann auf sie rechnen. Heute abend haben wir das Armband, und morgen früh werden wir uns zu unserer Zerstreuung ein wenig mit La Bretonnière schlagen.«
»Wieder dieser arme Teufel! Du mußt ziemlich wütend auf ihn sein.«
»Nein, wirklich nicht, ich bin ihm gar nicht mehr böse. Ich habe ihn getroffen und ihm einen Spaziergang verschafft. Ich werde ihm einen kleinen Degenstich verabreichen und ihm verzeihen.«
»Wo hast du ihn denn gesehen? Bei deiner Schönen?«
»Weiß Gott, ja. Muß dieser Herr nicht überall seine Nase hineinstecken?«
»Und wie ist es denn zum Streit gekommen?«
»Es gab gar keinen Streit. Zwei Worte, sage ich dir, das war alles. Wir werden noch darüber sprechen. Doch jetzt wollen wir zu Fossin gehen und etwas für Javotte kaufen, ein Tauschobjekt; denn für nichts ist nichts, wenn man Javotte heißt, und selbst wenn man anders heißt.«
»Also los«, meinte Armand, »ich freue mich mit dir, daß du ans Ziel gelangt bist und es der Marquise heimzahlen kannst. Aber, lieber Freund, den zweiten Teil deiner geplanten Rache wollen wir uns doch noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Denn er scheint mir ein wenig sonderlich.«
»Laß das sein«, antwortete Tristan, »das ist beschlossene Sache. Was tut es, ob ich recht habe oder nicht. Wir können morgen darüber diskutieren. Der Wein ist entkorkt, wir müssen ihn trinken.«
»Und ich werde nicht aufhören, dir zu sagen, daß ich nicht begreife, wie ein Mann wie du, ein anerkannt tapferer Soldat, an solchen grundlosen Duellen Gefallen finden kann. Das sind Kindereien, schülerhafte Bravourstücke, die vielleicht einmal Mode waren; aber heute macht man sich über sie lustig. Ich verstehe Parteistreitigkeiten in politischen Krisenzeiten, Duelle um die Kokarde. Einem Republikaner mag es Spaß machen, mit einem Royalisten zu raufen, nur weil er ihm in die Quere kommt. Dann sind Leidenschaften im Spiel, und dann vermag man es zu entschuldigen. Aber hierzu kann ich dir nicht raten, ja, ich tadele dich, und sollte dir dein Plan ernst sein, so müßte ich dir sagen, daß ich dann auch nicht meinem besten Freund Zeuge sein würde.«
»Ich verlange es ja auch nicht von dir, du sollst nur den Mund halten. Und jetzt zu Fossin.«
»Wohin du willst, aber ich lasse nicht locker. Daß man einen unangenehmen Menschen nicht leiden kann, geschieht oft und jedem. Man soll ihn meiden oder auslachen oder links liegen lassen. Aber ihn töten wollen, das ist schrecklich.«
»Ich will ihn ja gar nicht töten; ich verspreche es dir. Einen kleinen Degenstich, weiter nichts. Er soll seinen Arm in der Binde tragen, wenn er zur Marquise kommt und ich ihr dann untertänigst das Grisettenarmband überreiche.«
»Aber bedenke doch, das ist ja unnütz. Wenn du dich um deiner Ehre willen schlägst, zu was dann brauchtest du das Armband? Und wenn das Armband genügt, hast du doch diesen Streit nicht nötig. Wenn du mich ein wenig liebst, dann lasse das.«
»Ich liebe dich sehr, aber ich lasse es nicht.«
Unterdessen gelangten die Brüder zu Fossin. Tristan wollte nicht, daß Javotte ihren Handel bereue, und wählte ein hübsches Halsband, das er sorgfältig einschlagen ließ. Er wollte es selbst hintragen und auf Antwort warten, falls er nicht empfangen würde. Armand hatte noch etwas anderes vor. Er sah seines Bruders Freude, bald das Armband zu besitzen, und begleitete ihn nicht weiter. Sie verabredeten, sich abends zu treffen.
Als sie sich trennen wollten, rasselte eine offene Kalesche lärmend die Rue Richelieu herunter und streifte fast den Bürgersteig. Die ungewöhnliche Livree des Kutschers zog die Augen der Passanten auf sich. Im Wagen saß Frau von Vernage, allein und bequem zurückgelehnt. Sie bemerkte die beiden jungen Leute und grüßte sie mit leichtem Kopfnicken und lässiger Gönnermiene.
»Ah«, meinte Tristan und erblaßte wider Willen; »der Feind scheint das Gelände zu beobachten. Die schöne Frau hat also ihre Jagd abgesagt, um durch die Champs-Élysées zu fahren und den Pariser Staub zu schlucken. Sie fahre in Frieden. Sie kommt gerade recht. Ich müßte eigentlich geschmeichelt sein, sie hier zu sehen. Wäre ich ein Geck, dann könnte ich glauben, sie käme meinetwegen. Doch durchaus nicht. Sieh nur, mit welch aristokratischer Lässigkeit sie uns zu bemerken geruhte. So schön kann es selbst Javotte nicht. Wollen wir wetten, sie weiß gar nicht, was sie tut? Diese Frauen suchen die Gefahr wie die Schmetterlinge das Licht. Ihr Schlaf heute nacht möge leicht sein. Ich werde mich morgen früh bei ihr zum Lever einfinden und ihr einige Neuigkeiten sagen. Es ist für mich ein Fest, ihren Hochmut mit solchen Waffen zu besiegen. Wenn sie wüßte, daß ich hier in meinen Händen das kleine Geschenk für ein kleines Mädchen habe, durch das ich ihr sagen kann: ›Ihre schönen Lippen haben gelogen, und Ihre Küsse sind Heuchelei‹ – wenn sie es wüßte, was würde sie sagen? Vielleicht würde sie ein bißchen weniger stolz sein, nicht aber weniger schön ... Adieu, mein Lieber, auf heute abend!«
Wenn Armand nicht länger in seinen Bruder drang, von dem Duell abzulassen, so tat er es nicht, weil es ihn zwecklos dünkte. Aber er wußte, wie reizbar sein Bruder in solchen Augenblicken war, und wollte es nicht länger mit Vernunftgründen versuchen. Er hatte einen anderen Plan. La Bretonnière kannte er schon seit langem als einen ruhigen und leicht zu beeinflussenden Menschen. Er hatte seine Vorsicht auf der Jagd beobachten können. Jetzt wollte er zu ihm gehen und zusehen, ob nicht von seiner Seite mehr Vernunft zu erreichen sei. La Bretonnière war allein in seinem Zimmer vor aufgehäuften Papieren, wie einer, der seine Angelegenheiten in Ordnung bringt. Armand sagte ihm sein Bedauern, daß irgendein Wort (er wisse übrigens nicht, welches) zwei beherzte Leute auf den Kampfplatz gehen lasse und von dort ins Gefängnis.
»Was haben Sie denn mit meinem Bruder gehabt?«
»Ich habe wirklich keine Ahnung«, sagte La Bretonnière, stand auf, setzte sich wieder, mit bestürztem Gesicht und zugleich um seine Würde bemüht. Er fuhr fort: »Ihr Bruder scheint schon lange etwas gegen mich zu haben; doch, offen gestanden, ich weiß absolut nicht, was.«
»Besteht nicht zwischen Ihnen beiden irgendeine Rivalität? Hofieren Sie vielleicht dieselbe Frau? ...«
»Nein, wahrhaftig nicht, ich persönlich hofiere überhaupt keine Frau und sehe durchaus keinen vernünftigen Grund, daß es Ihr Bruder mir gegenüber so an Höflichkeit hat fehlen lassen.«
»Haben Sie beide niemals einen Streit gehabt?«
»Niemals; doch einmal vielleicht, es war zur Cholerazeit. Herr von Berville behauptete einmal beim Dessert, daß eine ansteckende Krankheit stets epidemisch sei. Und er begründete mit dieser falschen Ausnahme den Unterschied zwischen epidemisch und endemisch. Ich konnte natürlich nicht seiner Ansicht sein und bewies ihm klar, daß eine epidemische Krankheit auch ohne direkte Ansteckung sehr gefährlich werden könnte. Wir gerieten bei der Diskussion ein wenig in Hitze, das gebe ich zu ...«
»Das ist alles?«
»Soweit ich mich erinnere. Vielleicht hat er sich noch geärgert, daß ich vor einiger Zeit zwei Dackel, die er mochte, Verwandten schenkte. Doch was hätte ich tun sollen? Mein Verwandter besuchte mich ganz zufällig, ich zeige ihm die Hunde, er findet die Dackel ...«
»Wenn es nichts weiter ist, deswegen kratzt man sich nicht die Augen aus.«
»Bei meiner Seele, nein. Und ich sage Ihnen ganz offen, ich begreife seine Forderung gar nicht.«
»Doch wenn Sie auch keine Frau hofieren, so ist er vielleicht verliebt, in jene Marquise vielleicht, bei der wir jagen.«
»Wohl möglich, aber ich glaube es nicht ... Ich kann mich nicht erinnern, daß die Marquise von Vernage unerlaubte Annäherungen gelitten oder gar ermutigt hätte.«
»Wer spricht denn von Unerlaubtem? Ist es denn ein Verbrechen, verliebt zu sein?«
»Ich will darüber nicht diskutieren. Ich sage nur, daß ich es nicht bin und folglich auch niemandes Rivale sein kann.«
»Dann brauchen Sie sich doch auch nicht zu schlagen.«
»Verzeihen Sie: ich bin ganz öffentlich provoziert worden. Er sagte mir, als ich eintrat, ich würde passen wie die Faust aufs Auge. So etwas kann nicht geduldet werden und verlangt nach Genugtuung.«
»Sie wollen sich also wegen eines Wortes gegenseitig den Hals abschneiden.«
»Die Umstände kommen erschwerend hinzu. Ich gab nicht den geringsten Anlaß und bin über alles sehr erstaunt; aber ich kann nicht anders als annehmen.«
»Ein solches Duell sollte möglich sein? Sie sind doch nicht verrückt und Berville auch nicht. Wir wollen doch überlegen, La Bretonnière. Glauben Sie, es macht mir Spaß, Sie so leichtsinnig zu sehen?«
»Ich bin wirklich kein Schwächling, aber auch kein Sanguiniker. Wenn Ihr Bruder sich entschuldigte, wirklich und gültig entschuldigte, dann wäre ich zur Versöhnung bereit. Wenn nicht: Hier ist mein Testament. Ich schreibe es gerade, wie es sich gehört.«
»Was verstehen Sie unter gültigen Entschuldigungen?«
»Eine, die alles aufklärt.«
»Und dann noch?«
»Überhaupt eine richtige Entschuldigung.«
»Gewiß ja, aber sagen Sie doch ungefähr, wie?«
»Schön! Er sagte, ich würde passen wie die Faust aufs Auge. Ich glaube, meine Antwort war würdig. Er muß das Wort zurücknehmen und mir vor Zeugen sagen, ich hätte ganz einfach gepaßt wie Herr von La Bretonnière.«
»Das, glaube ich, ist verständig und annehmbar.«
Armand ging zwar nicht sehr zufrieden, aber etwas beruhigt. Zwischen elf Uhr und Mitternacht wollte er sich am Boulevard de Gand mit seinem Bruder treffen. Der kam mit aufgeregten Schritten auf ihn zu. Als ihm Armand von den annehmbaren Forderungen Bretonnières berichten wollte, packte ihn Tristan am Arm und rief:
»Alles ist vergebens! Javotte spielt mit mir. Ich habe das Armband nicht.«
»Warum denn nicht?«
»Warum denn nicht? Was weiß ich? Eine Laune. Ich ging pünktlich zu ihr; man sagte mir, sie sei ausgegangen. Ich vergewisserte mich, ob sie wirklich nicht da sei, und fragte, ob sie nichts für mich hinterlassen habe. Das Zimmermädchen sieht mich nur erstaunt an, und nach etlichen Fragen erfahre ich, Frau Rosenval habe mit ihrem Brillenbaron und noch einem andern, sicherlich diesem verdammten La Bretonnière, diniert; dann hätten sie sich getrennt, La Bretonnière sei heim und Javotte und der Baron ins Theater gefahren. Sie wollten nicht etwa in den Zuschauerraum, sondern auf die Bühne. Ich wurde aus dem Wortschwall des Mädchens nicht mehr recht klug ...: ›Gnädige Frau bekam gute Nachricht. Gnädige Frau schien sehr zufrieden. Sie hatte es eilig und ließ sich kaum Zeit, das Dessert zu speisen, aber sie ließ aus dem Keller Champagner holen.‹ Ich ziehe Fossins Schächtelchen aus der Tasche, gebe es der Zofe und bitte sie, es abends heimlich ihrer Herrin zu geben. Zu dem Geschenk schrieb ich hastig ein paar Zeilen. Ich komme heim, zähle die Minuten; die Antwort kommt nicht. So stehen die Dinge. Weiß Gott, was dem Mädchen in den Kopf gefahren ist und welcher Wind die Wetterfahne drehte!«
»Das Theater wird spät aus sein«, bemerkte Armand. »Die Wetterfahne braucht ihre Zeit zum Lesen, Antworten, Armbandsuchen und Schicken. Mit einemmal wird es dann bei dir sein. Bedenke doch auch, daß Javotte das neue Geschenk nicht behalten kann, ohne das alte abzugeben. Und an dein Duell brauchst du überhaupt nicht mehr zu denken.«
»Mein Gott! Ich denke auch nicht daran. Ich gehe hin ...«
»Tollkopf! Und die Mutter?«
Tristan senkte den Kopf und antwortete nicht. Sie gingen heim.
Javotte war nicht so schlecht, wie man glauben könnte. Sie hatte den Tag in großer Aufregung verbracht. Das Armband, das Tristan zurückverlangte, sein Drängen, das Duell: Sie begriff nichts, fragte sich, was zu tun sei, und hielt es für das Klügste, Ereignissen gegenüber, die sie nicht übersehen konnte, gleichgültig zu bleiben. Wenn auch Frau Rosenval allen Stolz einer Theaterkönigin hatte, so behielt Javotte im Grunde ihr gutes Herz. Berville war jung und liebenswert, dazwischen immer wieder diese Marquise, ein Geheimnis und halbe Vertraulichkeiten. Das alles nährte die Phantasie einer reich gewordenen Grisette.
»Vielleicht liebt er mich noch ein wenig«, überlegte sie. »Vielleicht ist die Marquise eifersüchtig auf mich. Was wäre es dann schon gefährlich, das Armband zu geben? Weder der Baron noch irgendwer anders würden es merken, denn ich trage es ja nie. Warum keinen Gefallen tun, wenn er niemandem schadet?«
Sie öffnete einen kleinen Sekretär, dessen Schlüssel sie um den Hals trug. Dort waren im bunten Durcheinander alle ihre Kronschätze aufbewahrt: ein Simili-Diadem für »La Tour de Nesle«, Halsbänder aus Glas, Edelsteine aus Glas, die nur im Rampenlicht zweifelhaften Glanz auszustrahlen brauchten. Und mitten aus diesen Schätzen zog sie Tristans Armband und betrachtete aufmerksam die beiden eingravierten Namen:
»Die Schlange ist sehr hübsch. Weshalb will er eigentlich das Armband wiederhaben? Er glaubt, er opfert mich. Wenn die Unbekannte mich kennt, bin ich kompromittiert. Die beiden Namen nebeneinander sind nicht recht gutzuheißen. Selbst wenn ich für Berville nur eine Laune war ..., ist das ein Grund? Doch was tut es, er gibt mir ein anderes. Das wird drollig.«
Javotte hätte vielleicht das Armband sogleich weggeschickt, wenn nicht ein kurzes Läuten ihre Überlegung unterbrochen hätte. Es war der Herr mit den goldenen Augengläsern.
»Mein Fräulein«, sagte er, »ich melde Ihnen einen Erfolg. Sie sind Choristin. Das ist fürs erste natürlich noch keine sehr hervorragende Sache. Dreißig Sous, wie Sie wissen; aber das macht nichts. Ihr hübscher Fuß steht auf der ersten Sprosse. Von heute abend ab werden Sie ein Dominokostüm tragen: Im Maskenball von ›Gustave‹.«
»Das nenne ich eine Nachricht!« rief Javotte und hüpfte vor Freude in die Höhe. »Choristin an der Oper! Ganz plötzlich Choristin! Ich habe gerade geübt, ich bin bei Stimme. ›Gustave‹ heute abend! ... Großer Gott!«
Nach den ersten Freudenausbrüchen fand Frau Rosenval die Würde wieder, die einer Sängerin zukommt:
»Baron, Sie sind ein charmanter Mann. Es erreicht Sie keiner. Ich fühle meine Berufung. Jetzt wollen wir essen und dann zur Oper, zum Ruhm. Dann kehren wir heim und soupieren. Und ich werde auf meinen Lorbeeren schlafen.«
Man eilte mit dem Essen. Javotte wollte noch viel früher weg, als es nötig war. Das Herz schlug ihr, als sie durch den Eingang für Schauspieler schritt, durch den alten dunklen Korridor, durch den vielleicht auch die Taglioni gegangen war. Als das Ballett Beifall fand, fühlte Frau Rosenval in ihrer rosa Kappe den Anteil am Erfolg. Sie kam sehr bewegt nach Hause. Im Taumel des Triumphes waren die Gedanken hundert Meilen von Tristan entfernt. Da überreichte ihr das Zimmermädchen das kleine, sorgfältig eingewickelte Paket von Fossin und ein Billett, das diese Worte trug: »Die Freude darf Sie nicht einen alten Freund vergessen lassen, der ihre Gefälligkeit nötig hat. Seien Sie so lieb, wie Sie es einst waren. Ich erwarte ungeduldig Ihre Antwort.«
»Der arme Junge! Ich hatte ihn ganz vergessen. Er schickt mir dieses Halsband. Es hat viele Türkise ...«
Javotte ging zu Bett und fand keinen Schlaf. Sie dachte viel mehr an ihr Engagement und die glänzende Zukunft als an Tristan. Doch der Tag brachte ihn ihr wieder in Erinnerung.
»Jetzt muß ich handeln. Der Tag gestern hat mir Glück gebracht. Darum soll auch alle Welt zufrieden sein.«
Morgens um acht Uhr nahm Javotte das Armband, griff nach Schal und Hut und ging weg, mit vollem Herzen und fast noch Grisette. Vor dem Hause Tristans sah sie in der Portierloge eine dicke tränenüberschwemmte Frau.
»Herr von Berville?« fragte Javotte.
»Ach Gott!« antwortete die dicke Frau.
»Bitte schön, ist er zu Hause?«
»Ach Gott, Gnädigste ... er hat sich geschlagen ... Man bringt ihn eben ... Er ist tot ...«
Am nächsten Abend sang Javotte zum zweitenmal im Opernchor und unter einem vierten Namen, den sie gewählt hatte, nämlich: Frau Amaldi.