Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Im Anfang der Regierung Ludwigs XV. kehrte ein junger Mann namens Croisilles, eines Goldschmieds Sohn, von Paris in seine Vaterstadt Le Havre zurück. Der Vater hatte ihm geschäftliche Aufträge gegeben, die zur Zufriedenheit abgeschlossen waren. Die Freude, eine gute Nachricht mitzubringen, ließ ihn fröhlicher und rüstiger ausschreiten, als er es für gewöhnlich tat; denn obwohl er eine beträchtliche Geldsumme in der Tasche hatte, zog er es vor, auf Schusters Rappen zu reiten. Er war ein gutgelaunter Bursche, dem der Witz nicht fehlte, der aber so zerstreut und voller Übermut war, daß man ihn für ein wenig verrückt halten konnte. Die Weste schief zugeknöpft, die Haare windzerzaust, den Hut unter dem Arm, folgte er der Seine, träumend, singend, vom frühen Morgen auf den Beinen, in Schenken speisend und voller Lust, eine der schönsten Gegenden Frankreichs zu durchwandern. Unterwegs plünderte er nach Kräften die Apfelbäume der Normandie, suchte nicht weniger angestrengt nach Reimen (denn jeder Wirrkopf ist ein wenig Dichter) und versuchte, ein Madrigal für eine schöne Dame aus seiner Gegend zusammenzubekommen. Diese Dame war keine andere als die Tochter des Generalpächters, Fräulein Godeau, die Perle von Le Havre, eine reiche und sehr umworbene Erbin. Croisilles war allerdings nur durch Zufall bei Herrn Godeau eingeführt worden, das heißt, er hatte manchmal Schmucksachen hingetragen, die bei seinem Vater gekauft worden waren. Herr Godeau, dessen etwas gewöhnlicher Name sich nur schlecht mit seinem ungeheuren Reichtum vertrug, rächte sich durch heftigen Dünkel an dem Unrecht seiner Geburt und zeigte sich bei jeder Gelegenheit ganz unsäglich und unerbittlich reich. Er war nicht der Mann, dem Goldschmiedsohn seinen Salon zu öffnen. Aber Fräulein Godeau hatte die schönsten Augen von der Welt, Croisilles war auch nicht schief gewachsen: Was sollte ihn also hindern, sich in das schöne Kind zu verlieben? Er betete sie an, und sie schien darüber nicht böse. An sie also dachte er, als er in Le Havre ankam, und da er eigentlich noch nie über etwas nachgedacht hatte, so beschäftigte er sich, statt an die unüberwindlichen Widerstände zu denken, die ihn von der Heißgeliebten trennten, allein damit, einen Reim auf ihren Namen zu finden. Fräulein Godeau hieß Julie, und der Reim war nicht sehr schwer. Als er nach Honfleur kam, ließ er sich zufriedenen Herzens, das Geld und das Madrigal in der Tasche, hinübersetzen und lief, kaum am anderen Ufer, zum väterlichen Haus.
Er fand den Laden geschlossen, klopfte vergeblich und nicht ohne furchtsames Erstaunen; denn es war ja gar kein Festtag. Niemand kam. Er rief nach dem Vater; umsonst. Er fragte einen Nachbar, was geschehen sei; doch der antwortete nicht und drehte den Kopf weg, als wolle er ihn nicht kennen. Croisilles fragte noch einmal. Er erfuhr, sein Vater, schon lange in mißlicher Lage, habe Bankrott gemacht, sich nach Amerika geflüchtet und seinen Gläubigern den ganzen Besitz hinterlassen.
Noch fühlte Croisilles nicht sein ganzes Unglück. Der Gedanke nur peinigte ihn, er sähe den Vater vielleicht nie wieder. Es dünkte ihn unmöglich, mit einemmal so verlassen zu sein. Er wollte mit Gewalt in den Laden, doch man gab ihm zu verstehen, daß er versiegelt sei. Er setzte sich auf einen Eckstein, aufgelöst in Schmerz, weinte, hörte nicht auf den Trost der Umstehenden, rief immerfort nach dem Vater und wußte doch nur zu gut, daß er fern war. Endlich erhob er sich, voll Scham über die Menge, die um ihn herum war, und ging in tiefster Verzweiflung zum Hafen.
Dort trottete er vor sich hin wie ein Verstörter, der nicht weiß, woher und wohin. Er sah sich hilflos verloren, ohne Dach, ohne Mittel zum Leben und – wohl verstanden – ohne Freunde. Einsam irrte er am Strand herum, wollte ins Wasser gehen. In dem Augenblick, als er dem Gedanken nachgeben wollte und auf eine Mole stieg, kam der alte Diener Jean auf ihn zu, der in seiner Familie schon viele Jahre diente.
»Oh, mein armer Jean«, rief er, »du weißt, was seit meiner Abreise geschehen ist. Sollte es möglich sein, daß der Vater uns ohne Wort, ohne Lebewohl verläßt?«
»Er ist fort«, entgegnete Jean, »aber nicht ohne Lebewohl.«
Er zog einen Brief aus der Tasche und gab ihn seinem jungen Herrn. Der erkannte die Handschrift des Vaters und küßte ihn inbrünstig, bevor er ihn öffnete. Er enthielt nur wenige Worte und steigerte das Leid des Sohnes nur, anstatt es zu besänftigen. Ehrlich und geachtet kam der Vater durch ein unvorhergesehenes Unglück (durch den Bankrott eines Teilhabers) zum Ruin. Er ließ ihm nur ein paar banale Trostworte und keine andere Hoffnung als jene unbestimmte, ziel- und grundlose Hoffnung, von der es heißt, sie sei das letzte Gut, das man verlieren könne.
»Jean, mein Freund, du hast mich auf den Knien gewiegt«, sagte Croisilles. »Du bist gewiß heute der einzige, der mich noch ein wenig lieb hat. Das ist für mich ein Trost, für dich vielleicht nur ärgerlich; denn so wahr mein Vater fort ist, so werde ich mich in diese Wellen stürzen, die ihn tragen. Nicht jetzt vor dir, nicht gleich, aber morgen oder übermorgen. Ich bin verloren.«
»Was wollt Ihr tun?« entgegnete Jean und schien gar nichts gehört zu haben; aber er hielt ihn am Rockschoß fest. »Was wollt Ihr tun, mein teurer Herr? Euer Vater ist betrogen worden. Er erwartete Geld, das nicht kam. Und das will nicht wenig heißen. Konnte er also hier bleiben? Herr, ich habe ihn dreißig Jahre lang gesehen, wie er sein Vermögen gewann. Ich habe ihn arbeiten sehen, sein Geschäft führen, und die Taler kamen einer nach dem anderen zu ihm. Er war ein ehrlicher und geschickter Mann. Man hat ihn grausam ausgenutzt. Ich war auch die letzten Tage bei ihm, und ich habe die Taler gehen sehen, wie ich sie kommen sah. Euer Vater gab alles her, was er hatte, einen ganzen Tag lang. Als sein Schreibtisch leer war, konnte er sich nicht halten, zeigte mir die Lade, in der nur noch sechs Franken waren und sprach: ›Da lagen heute morgen noch hunderttausend Franken!‹ Herr, das ist kein Bankrott, das ist nichts Entehrendes!«
»Ich zweifle nicht an der Rechtschaffenheit meines Vaters«, antwortete Croisilles, »und nicht an seinem Unglück. Ich zweifle auch nicht an seiner Liebe zu mir; aber ich hätte ihn nur umarmen wollen. Denn, was meinst du, wird aus mir? Ich vermag nichts gegen das Unglück, habe nicht genügend Verstand, um mein Vermögen wiederzugewinnen. Und wenn ich ihn hätte, so ist doch der Vater fort. Er hat dreißig Jahre gebraucht, um wohlhabend zu werden, wieviel würde ich brauchen, um den Schlag wiedergutzumachen? Viel länger! Und wird er dann noch leben? Nein, gewiß nicht! Er wird dort drüben sterben, und ich kann nicht einmal zu ihm fahren. Ich habe ihn nur wieder, wenn ich auch sterbe.«
Doch den Trostlosen hielt die Religion. So hoffnungslos er war und sosehr er den Tod wünschte, er wagte nicht, ihn sich zu geben. Er stützte sich auf Jeans Arm, und beide kehrten in die Stadt zurück. In den Straßen und vom Meer entfernt, sprach Jean: »Aber lieber Herr, es scheint mir, jeder anständige Mensch hat ein Recht zu leben. Was beweist ein Unglück? Euer Vater hat sich nicht getötet, dem Himmel sei Dank; wie könnt Ihr daran denken? Er tat nichts Unehrenhaftes, die ganze Stadt weiß es. Aber was würde sie von Euch denken? Daß Ihr die Armut nicht habt ertragen können. Das wäre weder mutig noch christlich; denn was im Grunde ist es denn, das Euch erschreckt? Es gibt so viele, die arm geboren werden, die noch nicht einmal Vater und Mutter haben. Ich weiß wohl, die Menschen sind sich nicht gleich, aber bei Gott ist nichts unmöglich. Was wolltet Ihr zum Beispiel in einem solchen Fall tun? Euer Vater war nicht reich geboren, ohne Euch zu beleidigen, da fehlte noch viel dran. Das kann Euch vielleicht ein Trost sein. Wäret Ihr seit einem Monat hier, Ihr würdet mehr Mut haben. Ja, Herr, man kann sich ruinieren; niemand ist vor dem Bankrott sicher; aber Euer Vater war, ich kann es sagen, ein Mann, wenn er auch ein wenig rasch fort ist. Doch was wollt Ihr? Man findet nicht alle Tage ein Schiff nach Amerika. Ich habe ihn bis zum Hafen begleitet. Hättet Ihr seine Trauer gesehen! Wie er mich ermahnte, für Euch zu sorgen und ihm Nachricht zu geben! Herr, es ist ein häßlicher Gedanke von Euch, die Flinte ins Korn zu werfen. Jeden trifft es hier zu seiner Zeit. Ich war Soldat, bevor ich Diener wurde. Ich habe viel ausgehalten, aber ich war jung, so wie Sie, Herr; und damals schien es mir, daß die Vorsehung zu einem Fünfundzwanzigjährigen noch nicht das letzte Wort sprechen kann. Warum wollt Ihr den lieben Gott hindern, das Böse wiedergutzumachen, das er Euch antat? Laßt ihm Zeit; es wird alles wieder gut. Wenn es mir erlaubt ist, Euch einen Rat zu geben: Wartet nur zwei oder drei Jahre, und ich wette, Ihr seid wieder auf der Höhe. Es gibt immer noch Mittel, von dieser Welt zu gehen. Warum wollt Ihr einen so schlechten Augenblick wählen?«
Während Jean auf seinen Herrn einredete, schritt der still seinen Weg und sah, wie es Leidende oft tun, nach rechts und links, wie um irgend etwas zu suchen, an das sich das Leben klammern könnte. Der Zufall wollte, daß Fräulein Godeau, die Generalpächterstochter, mit ihrer Gouvernante des Weges kam. Das väterliche Haus lag ganz in der Nähe. Er sah sie hineingehen. Diese Begegnung hatte eine größere Wirkung als alle Vernunftgründe der Welt. Ich sagte schon, er war ein wenig wirrköpfig und gab fast stets irgendeiner raschen Regung nach. Ohne viel zu zögern und ohne sich zu erklären, ließ er den Arm des alten Dieners und klopfte an Herrn Godeaus Tür.
Will man sich heute einen Finanzmann von einst vorstellen, so denkt man an einen enormen Bauch, kurze Beine, an eine riesige Perücke und an ein dickes Gesicht mit dreifachem Kinn. Es ist auch nicht ohne Grund, daß man ihn sich so ausmalt. Alle Welt weiß, welchen Mißbrauch die königlichen Steuerpächter mit ihrem Geschäft trieben. Fast scheint es ein Naturgesetz, daß diejenigen, die sich nicht nur durch ihre eigene Faulheit, sondern selbst durch die Arbeit der anderen mästen, stets viel fetter sind als die übrige Menschheit. Herr Godeau gehörte zu den klassischen Steuerpächtern; denn er war außerordentlich dick. Er hatte gerade die Gicht, die damals ebenso Mode war wie jetzt die Migräne. Er lag auf einem Ruhebett in der Zimmerecke, hielt die Augen halb geschlossen und verhätschelte sich. Spiegelwände gaben majestätisch und von allen Seiten seine enorme Körperlichkeit wieder. Goldsäcke bedeckten den Tisch. Um ihn herum war alles Gold: die Möbel, das Getäfel, die Türen, die Schlösser, der Kamin, die Decke, seine Kleidung, – ich weiß nicht, ob sein Hirn nicht ebenfalls vergoldet war. Er überschlug eben den Profit eines Geschäftchens, das ihm so einige tausend Louis einbringen mußte. Er geruhte gerade, sich still zuzulächeln, als man ihm Croisilles meldete, der bescheiden, aber entschlossen eintrat; durchaus in der Verfassung eines Menschen, dem man die Lust, sich zu ertränken, anmerken konnte. Herr Godeau war ob dieses unerwarteten Besuches ein wenig überrascht. Seine Tochter habe wohl ein paar Einkäufe gemacht, glaubte er. Zumal, als er sie fast zu gleicher Zeit mit ihm eintreten sah. Er machte ihm ein Zeichen, nicht daß er sich setzen, wohl aber, daß er sprechen solle. Das Fräulein setzte sich auf ein Sofa, Croisilles blieb stehen und ließ sich ungefähr in diesen Sätzen aus:
»Mein Herr, mein Vater hat Bankrott gemacht. Der geschäftliche Zusammenbruch eines Teilhabers zwang ihn, seine Zahlungen einzustellen, und da er bei seiner Schande nicht zugegen sein wollte, floh er nach Amerika. Vorher hat er die Gläubiger bis zu seinem letzten Pfennig bezahlt. Ich war nicht hier, als es geschah. Es ist noch nicht zwei Stunden her, seit ich alles weiß. Ich bin vollkommen ohne Hilfe und zu sterben entschlossen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß ich ins Wasser gehe, wenn ich Euer Haus verlassen habe. Ich hätte es aller Wahrscheinlichkeit nach wohl schon getan, wenn mich der Zufall nicht hätte Eurer Tochter begegnen lassen. Mein Herr, ich liebe sie aus tiefster Seele. Ich liebe sie schon seit zwei Jahren, und ich schwieg nur um der Ehrerbietung willen, die ich für sie hege. Wenn ich es Euch heute sage, so erfülle ich eine Pflicht, die unaufschiebbar ist. Ich würde Gott beleidigen, wenn ich Euch vor meinem Tode nicht bäte, mir Fräulein Julie zur Gattin zu geben. Ich habe nicht die geringste Hoffnung, daß Ihr mein Verlangen erfüllt; aber ich muß Euch dennoch fragen. Denn ich bin ein guter Christ, Herr, und wenn ein guter Christ so tief im Unglück steht, daß er das Leben nicht mehr ertragen kann, dann muß er wenigstens, auf daß er seine Schuld mindere, alle Möglichkeiten erschöpfen, die ihm vor seiner letzten Reise bleiben.«
Zu Anfang der Rede vermutete Herr Godeau, jener wolle ihn um Geld angehen, und hatte schamvoll und heimlich sein Taschentuch über die Geldsäcke neben sich gebreitet, im voraus schon höfliche Abweisung präparierend. Er hatte nämlich immer einiges Wohlwollen für Croisilles' Vater gehegt. Doch als er ihn bis zum Ende hörte und begriff, um was es sich handelte, zweifelte er nicht einen Augenblick, daß der arme Bursche vollkommen verrückt geworden sei. Zuerst hatte er Lust zu läuten und ihn vor die Tür setzen zu lassen. Allein er sah sein sicheres Auftreten und das entschlossene Gesicht und mußte Mitleid mit so ruhigem Wahnsinn haben. Er begnügte sich, seiner Tochter zu sagen, sie möge sich zurückziehen, um sich nicht länger solchen Ungehörigkeiten auszusetzen.
Während Croisilles sprach, war Fräulein Godeau rot wie ein Pfirsich im August geworden. Auf des Vaters Befehl ging sie hinaus. Der junge Mann grüßte sie tief und ehrerbietig, ohne daß sie es zu bemerken schien. Herr Godeau hüstelte, als sie allein waren, richtete sich auf, ließ sich wieder in die Kissen zurückfallen und mühte sich um einen väterlichen Ton:
»Mein Junge, ich will gern glauben, daß du dich nicht über mich lustig machst und wirklich den Verstand verloren hast. Ich entschuldige dein Betragen und will es dir nicht im geringsten nachtragen. Es tut mir leid, daß dein Vater, der arme Teufel, Bankrott und sich aus dem Staub gemacht hat; das ist sehr traurig, und ich verstehe durchaus, daß so etwas ins Hirn gehen kann. Ich will etwas für dich tun. Nimm einen Sessel und setz dich dort hin.«
»Das hat gar keinen Zweck, mein Herr«, entgegnete Croisilles. »Im Moment Eurer Weigerung habe ich nichts anderes zu tun, als mich verabschieden zu dürfen. Ich wünsche Euch in allen Dingen Erfolg.«
»Und wohin willst du?«
»Meinem Vater ein Lebewohl schreiben.«
»Zum Teufel noch einmal! Man möchte schwören, du redest wahr. Du willst dich ersäufen, oder der Satan soll mich holen!«
»Ja, mein Herr; augenblicklich wenigstens will ich es, wenn mich der Mut nicht verläßt.«
»Schöne Aussicht! Pfui Teufel! Was für ein dummes Zeug! Setz dich hin, sage ich dir, und hör mir zu.«
Herr Godeau überlegte sehr richtig, daß es niemals recht angenehm ist, wenn man von einem Menschen, wer es auch sei, sagt, er sei ins Wasser gegangen, nachdem er uns verlassen habe. Er hustete noch einmal, griff nach der Tabakdose, warf einen zerstreuten Blick auf seinen Bauch und fuhr fort:
»Du bist blöd, du bist verrückt, ein Kind bist du; das ist doch ganz klar. Du weißt ja gar nicht, was du sagst. Du bist ruiniert, das ist die Geschichte. Aber mein lieber Freund, das genügt noch nicht. Man muß die Dinge auf dieser Welt gehörig bedenken. Willst du mich etwas fragen, ich weiß nicht was, um einen guten Rat vielleicht, schön, es sei. Aber was willst du denn eigentlich? Du bist in meine Tochter verliebt?«
»Ja, mein Herr, und ich bin zu glauben weit entfernt, ich wiederhole es, daß Ihr sie mir zur Frau geben werdet. Aber da es das einzige auf der Welt ist, das mich zu sterben hindern könnte, so werdet Ihr – Ihr glaubt doch an Gott – meine Gründe begreifen.«
»Ob ich an Gott glaube oder nicht, das geht dich gar nichts an. Ich lasse mich nicht verhören. Antworte mir zuerst mal: Wo hast du denn meine Tochter gesehen?«
»Im Laden meines Vaters und in diesem Haus, als ich für Fräulein Julie Schmucksachen herzubringen hatte.«
»Wer hat dir denn gesagt, daß sie Julie heißt? Man kennt sich nicht mehr aus, Gott verzeihe mir. Aber mag sie Julie oder Javotte heißen, weißt du denn überhaupt, was man braucht, um sich um die Hand einer Generalpächterstochter zu bemühen?«
»Nein, ich habe keine Ahnung. Aber Ihr wollt vielleicht sagen, daß man mindestens ebenso reich sein muß wie sie.«
»Man muß noch etwas anderes, mein Lieber, man muß auch einen Namen haben.«
»Aber gewiß doch! Ich heiße Croisilles.«
»Du heißt Croisilles, Unglückswurm! Ist das ein Name: Croisilles?«
»Meiner Treu, Herr, bei meiner Seele und meinem Gewissen, er ist ein ebenso schöner Name wie Godeau.«
»Du bist frech, und du wirst es mir büßen!«
»O Gott, lieber Herr, ärgert Euch doch nicht, ich habe nicht die geringste Lust, Euch zu beleidigen. Wenn Ihr irgend etwas darin seht, das Euch verletzt, und wenn Ihr mich bestrafen wollt, so braucht Ihr nur wütend zu werden. Schon verlasse ich Euch und gehe ins Wasser.«
Wohl hatte sich Herr Godeau versprochen, Croisilles so sanft wie möglich heimzuschicken, um jeden Skandal zu vermeiden. Aber seine Klugheit widerstand nicht der Ungeduld beleidigten Hochmutes. Die Unterhaltung, auf die er sich eingelassen hatte, schien ihm jetzt ungeheuerlich. Man mag sich denken, was er selbst empfand, als er sich noch einmal so sprechen hörte:
»Hör mal zu« (er war schon ganz außer sich und entschlossen, um jeden Preis zum Ende zu kommen). »Du bist noch nicht so verrückt, daß du nicht mehr ein vernünftiges Wort verstehen könntest. Bist du reich? Nein. Bist du von Adel? Noch viel weniger. Von welchem Wahnsinn also bist du besessen? Du kommst her, plagst mich, glaubst vielleicht, mir einen unerwarteten Streich zu spielen. Du weißt doch selbst, daß das ganz nutzlos ist. Willst du mich für deinen Tod verantwortlich machen? Hast du dich über mich zu beklagen? Bin ich deinem Vater auch nur einen Sou schuldig? Ist es meine Schuld, wenn es so weit mit dir gekommen ist? Herrgottsakrament! Man hält das Maul und ersäuft sich.«
»Was ich sogleich tun werde. Ich bin Euer ergebenster Diener.«
»Einen Augenblick noch. Man soll nicht sagen, du hättest mich vergeblich um Unterstützung gebeten. Hier, mein Junge. Da hast du vier Louis. Geh auch in die Küche und laß dir Essen geben; dann will ich nicht mehr von dir sprechen hören.«
»Sehr verbunden! Ich habe aber weder Hunger noch brauche ich Euer Geld!«
Croisilles verließ das Zimmer. Der Finanzmann hatte durch das Angebot sein Gewissen beruhigt, legte sich noch viel behaglicher in die Kissen und nahm seine Gedanken wieder auf.
Fräulein Godeau war währenddessen nicht so weit weg, wie man meinen könnte. Sie hatte dem Vater gehorcht und war hinausgegangen; aber nicht in ihr Zimmer. Sie blieb hinter der Tür und lauschte. Wohl schien auch ihr Croisilles' Überspanntheit unbegreiflich, aber sie sah nichts Beleidigendes darin; denn solange die Welt besteht, galt Liebe noch nicht als Beleidigung. Andererseits war an der Hoffnungslosigkeit des jungen Menschen nicht zu zweifeln, und sie fühlte die beiden gefährlichsten Empfindungen des Weibes zu gleicher Zeit: Mitleid und Neugierde. Als sie die Unterhaltung beendet und Croisilles zum Hinausgehen bereit sah, lief sie eiligst durch den Salon ihrem Zimmer zu, um nicht als Lauscherin ertappt zu werden. Aber schon machte sie halt. Zu denken, Croisilles ginge vielleicht wirklich in den Tod! Das griff ihr unwillkürlich ans Herz. Ohne zu wissen, warum, ging sie, ihn zu treffen. Der Salon war groß. Die jungen Leute kamen langsam aufeinander zu. Croisilles war bleich wie der Tod; sie suchte vergeblich nach irgendeinem Wort, das ihr Empfinden ausdrücken könnte. Als sie an ihm vorbeiging, ließ sie einen Veilchenstrauß zur Erde fallen. Er bückte sich sogleich, hob ihn auf und reichte ihn ihr hin. Sie aber nahm ihn nicht, ging wortlos ihres Weges und trat in das Zimmer ihres Vaters. Croisilles preßte den Strauß ans Herz und ging erregt aus dem Haus, nicht recht wissend, was er von dem Abenteuer halten sollte.
Er hatte kaum einige Schritte in die Straße getan, als er den treuen Jean herbeilaufen sah, mit einem Gesicht, das voller Freude war.
»Was ist denn geschehen?« fragte er ihn; »hast du eine Nachricht für mich?«
»Ja, Herr«, entgegnete Jean, »die Siegel sind entfernt worden, Ihr könnt jetzt wieder nach Hause gehen. Alle Schulden Eures Vaters sind bezahlt, und Ihr bleibt Eigentümer des Hauses. Es ist schon wahr: Sie haben alles Geld und alle Schmucksachen weggebracht, ja selbst die Möbel; aber schließlich gehört Euch das Haus, und Ihr habt nicht alles verloren. Seit einer Stunde laufe ich herum und weiß nicht, wo Ihr steckt. Jetzt hoffe ich, mein teurer Herr, Ihr werdet klug sein und einen vernünftigen Entschluß fassen.«
»Was für einen Entschluß meinst du denn?«
»Ihr müßt das Haus verkaufen, Herr; denn es ist Euer ganzes Vermögen. Es mag wohl seine dreißigtausend Franken wert sein. Damit braucht Ihr wenigstens nicht Hungers zu sterben; und warum solltet Ihr nicht ein kleines nutzbringendes Geschäft aufmachen können?«
»Nun, wir werden sehen«, antwortete Croisilles und ging rascher seines Weges. Es drängte ihn, das väterliche Haus wiederzusehen. Allein es war ein trauriger Anblick für ihn, als er es erreicht hatte; kaum fand er den Mut einzutreten. Der Laden war ein Chaos, die Zimmer leer, des Vaters Alkoven verödet und das Unglück nackt vor seinen Augen. Nicht ein Stuhl war geblieben, die Schubladen durchwühlt, der Ladentisch erbrochen, die Kasse fortgeschleppt. Nichts war den gierigen Blicken der Gläubiger und der Justiz verborgen geblieben. Sie hatten das Haus ausgeplündert und waren davongegangen, die Türen sperrangelweit geöffnet, wie um den Passanten zu bezeugen, daß ihr Zweck erreicht sei.
»Das ist also das Ergebnis von dreißig Jahren Arbeit und ehrlichem Dasein!« rief Croisilles. »Nur weil man der Verpflichtung irgendeiner unklugen Unterschrift an dem bestimmten Tag nicht nachkommen kann!«
Während er seine traurigen Gedanken kreuz und quer durch das Haus trug, schien Jean in starker Verlegenheit. Er vermutete, daß sein Herr ohne Geldmittel sei und nicht einmal gegessen habe. Er suchte nun nach irgendeiner Möglichkeit, ihn danach zu fragen und ihm im Notfall einen Teil seiner Ersparnisse anzubieten. Eine Viertelstunde lang zermarterte er sich das Hirn, um den richtigen Ausweg zu finden, näherte sich dann Croisilles und fragte ihn gedämpften Tones:
»Lieben der Herr noch immer Rebhuhn mit Kraut?«
Der arme Kerl sprach die Worte so drollig und rührend, daß Croisilles trotz seiner Traurigkeit lachen mußte.
»Und aus welchem Grunde fragst du?«
»Herr«, entgegnete Jean, »meine Frau macht mir das nämlich zum Mittagessen, und wenn Ihr es zufällig immer noch mögt ...«
Bis zu diesem Augenblick hatte Croisilles ganz den Betrag vergessen, den er seinem Vater hatte bringen wollen. Jeans Vorschlag ließ ihn sich erinnern, daß seine Taschen voll Gold waren.
»Ich danke dir von ganzem Herzen«, sagte er zu dem Greis, »und ich nehme mit Vergnügen die Einladung an. Aber beunruhige dich nicht über meine Geldverhältnisse. Sei versichert, ich habe mehr als genug für ein gutes Abendessen, an dem du deinerseits teilnehmen sollst.«
Mit diesen Worten legte er auf das Fensterbrett vier wohlgefüllte Börsen, die er entleerte und die je fünfzig Louis enthielten.
»Die Summe gehört mir zwar nicht«, fügte er hinzu, »aber ich werde sie für ein oder zwei Tage in Anspruch nehmen. An wen muß ich mich wenden, um sie meinem Vater zuzustellen?«
»Herr«, antwortete Jean eifrig. »Euer Vater hat mir wohl aufgetragen, Euch zu sagen, daß das Geld Euch gehört. Und wenn ich Euch davon noch nicht sprach, so geschah es, weil ich nicht wußte, wie Ihr die Pariser Geschäfte abgeschlossen habt. Eurem Vater wird drüben nichts fehlen. Er logiert bei einem Geschäftsfreund, der ihn mit Freuden aufnimmt. Übrigens hat er das Nötige bei sich; denn er wußte sehr wohl, daß er genug zurückläßt. Und was er zurückgelassen hat, Herr, gehört alles Euch. Er läßt es Euch in dem Brief wissen, und ich bin auch ausdrücklich beauftragt, es Euch zu wiederholen. Dieses Gold ist also ebenso gesetzmäßig Euer Eigentum wie das Haus, in dem wir sind. Ich kann Euch noch die Worte sagen, die Euer Vater vor der Abreise sprach: ›Mein Sohn verzeihe mir, daß ich ihn verlasse. Er erinnere sich meiner und behalte mich lieb und gebrauche das, was von den bezahlten Schulden übrigbleibt, als wäre es sein Erbteil.‹ Das, Herr, sind seine eigenen Worte. Also tut es wieder in Eure Tasche und kommt bitte mit mir zum Essen nach Hause.«
Freude und Aufrichtigkeit, die dem Alten aus den Augen sahen, ließen Croisilles keinen Zweifel. Die Worte des Vaters rührten ihn zu Tränen. Und zum andern waren in einem solchen Augenblick viertausend Franken keine Kleinigkeit. Das Haus war durchaus keine zuverlässige Hilfe. Denn um Nutzen aus ihm zu ziehen, mußte man es erst verkaufen. Das ist immer eine langwierige und schwierige Sache. Trotz alledem hatte sich die Situation beträchtlich zu seinen Gunsten gewandelt. Er fühlte sich mit einemmale ruhiger und seinem unheilvollen Vorhaben entrückt. Er war trauriger als zuvor, aber nicht mehr so trostlos. Er schloß den Laden, verließ mit Jean das Haus und ging von neuem durch die Stadt. Er bedachte, was für ein kleines Ding unser Kummer ist, der in der blassesten Hoffnung zuweilen ungeahnte Freude finden läßt. In diesen Gedanken speiste er Seite an Seite mit seinem treuen Diener, der ihn während des Essens nach Kräften aufzuheitern suchte.
Die Leichtsinnigen haben einen glücklichen Fehler: sie sind schnell verzweifelt, aber sie haben manchmal nicht einmal Zeit genug, sich Trost zu suchen, so leicht wissen sie sich zu zerstreuen. Man täuscht sich, hielte man sie für gefühllos oder für Egoisten. Sie fühlen vielleicht viel lebhafter als die andern und sind sehr gut fähig, sich in dem Moment der Verzweiflung den Hirnkasten einzurennen. Aber sind sie nach diesem Augenblick noch am Leben, so müssen sie essen und trinken, speisen wie gewöhnlich, vergießen dann Tränen und legen sich schlafen. Freude und Schmerz gleiten nicht über sie hinweg, sie schlagen durch sie hindurch wie Geschosse. Sie haben eine zugleich gute und heftige Natur, die zu leiden, nicht aber zu lügen versteht und in der man wie in einem offenen Buch lesen kann. Sie ist nicht zerbrechlich und leer wie das Glas, sondern voll und durchsichtig wie Bergkristall.
Er prostete Jean zu und ging dann nicht ins Wasser, sondern ins Theater. Im Parterre führt er den Strauß Fräulein Godeaus an die Lippen, atmete tief seinen Duft und konnte schon ruhiger über das morgendliche Abenteuer nachdenken. Bald sah er klar die Wahrheit und wußte, daß sie ihm, als sie die Blumen in seinen Händen ließ und nicht mehr wiedernahm, ein Zeichen ihres Interesses geben wollte. Denn sonst hätte Weigerung und Schweigen nur der Beweis von Verachtung sein können, und das war gar nicht möglich. Er urteilte also, sie habe ein weniger hartes Herz als der Herr Vater, und die Erinnerung, ihr Gesicht im Salon habe wahre und unwillkürliche Rührung gezeigt, kostete ihn nicht viel Mühe. Aber war diese Rührung Liebe oder nur Mitleid oder, noch weniger vielleicht, Menschlichkeit? Fürchtete sie, ihn, Croisilles, in den Tod gehen zu sehen, oder wollte sie nur nicht die Todesursache eines beliebigen Menschen sein? Der Strauß war schon welk und halbentblättert, aber er duftete noch köstlich und zart. Als er ihn ansah und seinen Duft einatmete, konnte er sich der Hoffnung nicht erwehren. Es war ein Kranz aus Rosen rings um ein Büschel Veilchen. Wieviel Gefühl und Geheimnis hätte ein Türke aus seiner Sprache gelesen. Aber manchmal braucht man gar kein Türke zu sein. Blumen von der Brust einer hübschen Frau sind niemals stumm, nicht in Europa und nicht im Orient. Würden sie nur von dem erzählen, was sie sahen, als sie an dem hübschen Hals ruhten, so wäre schon der Verliebte zufrieden. Und sie erzählen gern. Blumenduft gleicht sehr der Liebe. Ja, es gibt viele, die meinen, Liebe sei nichts als Duft. Und es ist wahr: Die duftende Blume ist der Schöpfung schönste Tat.
Während Croisilles also abschweifte und recht wenig auf die Tragödie achtete, erschien Fräulein Godeau selbst in einer Loge ihm gegenüber. Es kam ihm gar nicht der Gedanke, sie könnte es merkwürdig finden, ihn nach dem Geschehenen hier zu sehen. Er strengte sich im Gegenteil sehr an, in ihre Nähe zu kommen; aber es gelang ihm nicht. Eine Pariser Schauspielerin spielte die Mérope. Und es waren soviel Menschen da, daß er sich kaum rühren konnte. Er mußte sich also begnügen, seine Schöne anzustarren und sie nicht aus den Augen zu verlieren. Er merkte, daß sie zerstreut und unfreundlich war und zu allen mit einer Art Widerwillen sprach. Ihre Loge war, wie man sich denken kann, von allen Stutzern der Stadt umlagert. Jeder versuchte, an die Logenbrüstung zu kommen; denn hineinzugelangen war nicht möglich, alldieweil sie der Herr Vater allein mit seiner Person zu mehr als zwei Dritteln ausfüllte. Croisilles bemerkte auch, daß sie nie auf die Bühne schaute oder auf das Stück hörte. Sie hatte den Arm auf der Ballustrade, das Kinn in der Hand, den Blick irgendwo und sah in ihrer Umgebung aus wie eine Statue der Venus, die sich als Marquise verkleidet hat. Das Kleid und die Frisur, das Rouge, unter dem man ihre Blässe ahnte: Die ganze Pracht ihrer Erscheinung machte ihre Unbeweglichkeit noch augenscheinlicher. Niemals hatte er sie so schön gesehen. In der Pause gelang es ihm, durch die Menge zu dringen. Er schaute durch das Logenfenster und staunte, als er sie, die sich seit einer Stunde nicht bewegte, den Kopf wenden sah. Sie zitterte leicht, da sie ihn bemerkte, und warf auf ihn nur einen kurzen Blick. Dann hatte sie wieder ihre frühere Haltung. Aber ihr Blick drückte Überraschung, Unruhe, Freude oder Liebe aus. Meinte sie: »Was! Du bist nicht tot!« oder: »Dem Himmel sei Dank! Du lebst!« – Ich möchte es nicht entscheiden. Sicher aber ist, daß auf diesen Blick hin Croisilles sich leise schwor, zu sterben oder ihre Liebe zu erringen.
Von allen Widerständen der Liebe ist ohne Zweifel die falsche Scham der gewichtigsten einer. Croisilles war mit diesem Fehler, den Hochmut und Furchtsamkeit verschulden, nicht behaftet. Er gehörte nicht zu den Leuten, die Monate hindurch um die geliebte Frau wie die Katze um den Vogel im Käfig schleichen. Kaum hatte er es aufgegeben, sich zu ertränken, gab es für ihn nur eines: seine Julie wissen zu lassen, daß er nur für sie lebe. Aber wie es ihr sagen? Würde er sich ein zweitesmal im Hause des Generalpächters zeigen, so war es durchaus sicher, daß ihn Herr Godeau vor die Tür setzen ließe. Julie ging stets mit ihrer Kammerzofe aus, wenn sie einmal nicht den Wagen benutzte. Ihr zu folgen war also zwecklos. Die Nächte unter dem Fenster der Geliebten zu verbringen, ist für die Anbeter eine liebe und gewohnte Torheit; in seinem Fall aber war sie noch zweckloser als sonst. Croisilles war, ich sagte es bereits, fromm. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, die Schöne in der Kirche treffen zu wollen. Er tat, was alle tun, denen die Möglichkeit der Aussprache versagt ist; er tat das gefährlichste: Er schrieb ihr. Der Brief war ziemlich ohne Sinn und Verstand und hatte etwa diese Sätze:
»Mein Fräulein!
Sagt mir genau, ich flehe Euch darum an, was ein Mann an Vermögen besitzen muß, um Euch heiraten zu können. Ich frage seltsam; aber ich liebe Euch so sehr, daß ich es nicht anders kann; und Ihr seid die einzige, die ich es zu fragen vermag. Gestern abend im Theater schien es mir, als hättet Ihr mich angeblickt. Ich hatte sterben wollen. Wollte Gott, ich wäre tot, wenn ich mich täusche und wenn der Blick nicht mir galt. Sagt mir, könnte das Schicksal so grausam sein und einen Mann so süß und traurig narren? Ich glaubte, Ihr befahlet mir zu leben. Ihr seid reich, seid schön; ich weiß es. Euer Vater ist hochmütig, ein Geizhals, und Ihr habt das Recht, stolz zu sein. Aber ich liebe Euch, und alles andere ist unwichtig. Seht mich mit Euren Augen an, die schön sind; denkt an die Liebe und was sie vermag. Denkt, daß ich alles fürchten muß und daß ich mich doch unsäglich freue, Euch diesen törichten Brief zu schreiben, um dessentwillen Ihr mir vielleicht zürnt. Aber bedenkt auch, mein Fräulein, Ihr seid nicht ohne eine kleine Schuld. Warum habt Ihr mir den Blumenstrauß gelassen? Versucht einen Augenblick lang so zu fühlen wie ich. Ich wage zu glauben, daß Ihr mich liebt, und Euch zu bitten, es mir zu sagen. Verzeiht mir, ich beschwöre Euch. Ich würde meine letzten Blutstropfen geben, wüßte ich Euch nur zufrieden, könnte ich Euch zu meiner Leidenschaft lächeln sehen, wie ein Engel lächeln, wie nur Ihr lächelt. Doch was Ihr auch tut, Euer Bild bleibt mir. Ihr könnt es nur auslöschen, wenn Ihr mir das Herz herausreißt. Solange mir Euer Blick Erinnerung sein wird, solange der Blumenstrauß noch eine Ahnung von Duft hat, solange noch ein Wort sagen kann: Ich liebe, – solange will ich hoffen.«
Croisilles steckte den Brief in einen Umschlag, ging zum Haus Godeau und promenierte die Straße auf und ab, auf daß er einen Bediensteten der Familie träfe. Der Zufall – er hilft den Liebenden im geheimen solange, als er sich nichts vergibt – wollte es, daß sich Julies Kammerzofe gerade für diesen Tag vorgenommen hatte, ein Häubchen zu besorgen. Sie ging in das Modegeschäft, als Croisilles sie anhielt, einen Louis in ihre Hand gleiten ließ und sie den Brief zu befördern bat. Der Handel wurde rasch geschlossen. Das Mädchen konnte mit dem Geld die Haube bezahlen und versprach dankbar, den Auftrag zu erfüllen. Croisilles kehrte voller Freude heim, setzte sich an die Tür und wartete auf die Antwort.
Bevor ich weitererzähle, muß ich ein Wort über Fräulein Godeau sagen. Sie war von der Überheblichkeit des Vaters nicht ganz frei; ihr gesunder Menschenverstand schützte sie aber vor Übertreibung. Sie war im wahrsten Sinne des Wortes ein verwöhntes Kind. Es wurde ihr Gewohnheit, nicht viel zu sprechen. Noch kein Mensch hatte sie eine Nadel halten sehen. Sie verbrachte die Tage mit ihrer Toilette, die Abende auf einem Sofa, ohne der Unterhaltung zu folgen. Sie war, wollte man nach ihrer Kleidung urteilen, erstaunlich kokett, und ihr eigenes Gesicht schien durchaus sicher, das begehrenswerteste auf der Welt zu sein. Eine Falte in der Halskrause oder ein Tintenfleck am Finger machten sie untröstlich. Gefiel ihr aber ihr Kleid, so war der Blick, den sie in den Spiegel warf, unnachahmlich. Für die Vergnügungen, die die jungen Mädchen für gewöhnlich lieben, zeigte sie weder Neigung noch Widerwillen. Sie ging gern zum Ball, verzichtete aber ebenso gern und zuweilen grundlos. Das Theater langweilte sie; sie schlief beständig ein. Wenn ihr Vater, der sie anbetete, ihr ein Geschenk vorschlug, brauchte sie eine Stunde, um sich zu entscheiden; und fand doch keinen Wunsch. Manchmal erschien sie nicht im Salon, wenn Herr Godeau Gäste empfing oder ein Essen gab. Dann blieb sie den ganzen Abend allein in ihrem Zimmer, in großer Toilette, spazierte hin und her, mit dem Fächer in der Hand. Sagte man ihr eine Schmeichelei, wandte sie den Kopf ab, und versuchte man, ihr den Hof zu machen, dann antwortete sie mit einem so funkelnden und zugleich so ernsten Blick, daß auch der Keckste den Mut verlor. Niemals ließ sie ein Witz lachen. Niemals hatte sie eine Oper oder der bewegteste Monolog einer Tragödie rühren können. Ihr Herz hatte noch nie bewiesen, daß es schlug. Sah man sie in dem Glanz ihrer lässigen Schönheit, man hätte sie für eine feenhafte Schlafwandlerin halten können, die träumend durch die Welt geht.
Soviel Gleichgültigkeit und Koketterie waren nicht leicht zu begreifen. Die einen sagten, sie liebe nichts; die anderen, sie liebe nur sich. Ein einziges Wort aber genügt, um ihr Wesen zu erklären: Sie wartete. Seit ihrem vierzehnten Jahr hatte sie es jeden Tag gehört, daß nichts so reizend sei wie sie. Und sie war davon überzeugt. Deshalb auch die große Sorgfalt auf das Äußerliche. Hätte sie es an Aufmerksamkeit für ihre Person fehlen lassen, es wäre für sie ein Sakrileg gewesen. Sie ging in ihrer Schönheit wie ein Kind in seinen Sonntagskleidern. Aber sie glaubte ganz und gar nicht, diese Schönheit müsse zwecklos bleiben. Unter ihrer scheinbaren Sorglosigkeit barg sich geheimes Wünschen, unbeugsam und um so stärker, als es verleugnet war. Die Koketterie der gewöhnlichen Frauen, die sich in Blicken, Ziererei und Lächeln erschöpft, dünkte sie kindische List, unnütz und fast verächtlich. Sie fühlte, daß sie Köstliches besaß, und sie würdigte sich nicht herab, es spielerisch zu vertun. Der Gegner mußte ihrer würdig sein; aber sie, der alle Wünsche im voraus erfüllt wurden, bemühte sich nicht, ihn zu finden. Mehr noch, es wunderte sie, daß man sie warten ließ. In den vier oder fünf Jahren, da sie zur Gesellschaft gehörte und gewissenhaft den Schmuck ihres Reifrockes und ihrer schönen Schultern zur Schau trug, hatte sie noch keine große Leidenschaft entfacht. Das schien ihr unbegreiflich. Hätte sie innerste Gedanken ausgesprochen, so hätte sie ihren Schmeichlern oft geantwortet: »Gut! Wenn ich wirklich so schön bin, warum bringt ihr euch denn nicht für mich um?« Diese Antwort könnten die meisten jungen Mädchen geben. Doch keine wagt sie, wenn sie sie auch in ihrem Innern, zuweilen schon auf den Lippen trägt.
Es gibt vielleicht nichts Beunruhigenderes für eine Frau, die schön, jung, reich ist, die geschmückt ihr Spiegelbild betrachtet und es zu gefallen für würdig befindet, die zudem bereit ist, sich lieben zu lassen, – als wenn sie sich sagt: »Man bewundert mich, man schmeichelt mir, alle Welt findet mich reizend, und keiner liebt mich. Mein Kleid ist von der besten Schneiderin, meine Spitzen köstlich, meine Frisur ohne Tadel, mein Gesicht so schön wie nur wenige, meine Figur gut, mein Fuß wohl beschuht, und alles das nur, um in irgendeiner Salonecke zu gähnen! Wenn ein junger Mann mit mir spricht, behandelt er mich wie ein Kind. Will man mich zur Frau, so ist es wegen meiner Mitgift. Drückt mir einer beim Tanz die Hand, dann ist es ein Provinztölpel. Komme ich irgendwo hin, dann ist ringsherum gemurmelte Bewunderung; aber keiner sagt mir, mir allein, ein Wort, das bis zum Herzen dringt. Ich höre Unverschämtheiten, die mich ganz laut rühmen, zwei Schritte von mir; doch kein bescheidener und aufrichtiger Blick sucht den meinen. Meine Seele brennt vor Leben, und ich bin nichts als eine hübsche Puppe, die man herumzeigt, die man auf dem Ball hüpfen läßt, die eine Gouvernante des Morgens an-, des Abends auszieht, damit es am andern Tag wiederholt werden kann.«
Das hatte sich Fräulein Godeau oft genug gesagt. Es gab Tage, an denen dieser Gedanke für sie zum tiefen Kummer wurde; sie blieb dann stumm und fast unbeweglich. Als ihr Croisilles schrieb, trug sie wieder an ihrem Leid. Sie trank Schokolade und träumte in einem Sessel vor sich hin, als die Kammerzofe eintrat und ihr mit geheimnisvollem Gesicht den Brief übergab. Sie sah auf die Adresse, erkannte die Handschrift nicht und sann weiter. Die Kammerzofe mußte ihr erst erklären, um was es sich handelte. Sie war einigermaßen verwirrt, weil sie nicht wußte, wie das junge Fräulein die Sendung aufnehmen würde. Fräulein Godeau hörte bewegungslos zu, öffnete dann den Brief und warf einen Blick hinein. Schon verlangte sie nach einem Stück Papier und schrieb nachlässig die Worte:
»Guter Gott, mein lieber Herr, nein, ich bin nicht stolz. Wenn Ihr nur hunderttausend Taler habt, dann heirate ich Euch gerne.«
Diese Antwort brachte die Zofe sogleich zu Croisilles, der ihr noch dankbar einen Louis für ihre Mühe gab.
Hunderttausend Taler findet man nicht alle Tage auf der Straße. Wäre Croisilles mißtrauisch gewesen, so hätte ihn ihr Brief glauben machen können, sie sei verrückt oder sie mache sich über ihn lustig. Er aber dachte weder das eine noch das andere. Er sah nur, daß seine geliebte Julie ihn liebe und daß er hunderttausend Taler haben müsse. Sie sich zu beschaffen, war jetzt seine ganze Sorge.
Er besaß zweihundert Louis in bar und ein Haus, das ungefähr dreißigtausend Franken wert war. Was tun? Wie sollte er mit einemmale diese vierunddreißigtausend Franken in dreihunderttausend wandeln? Sein erster Gedanke war, sein ganzes Vermögen irgendwie auf eine Karte zu setzen; doch dazu mußte er erst das Haus verkaufen. Er hing also über seine Tür ein Schild, daß das Haus zu verkaufen sei. Dann überlegte er, was mit dem Erlös zu tun sei, und erwartete einen Käufer.
Es verging eine Woche und wieder eine. Kein Käufer kam. Er jammerte gemeinsam mit Jean. Beide waren schon ohne Hoffnung. Da läutete ein Trödeljude an der Tür.
»Dieses Haus ist zu verkaufen? Seid Ihr der Besitzer?«
»Und wieviel kostet es?«
»So dreißigtausend Franken, glaube ich. Wenigstens hörte ich es meinen Vater sagen.«
Der Jude besah sich alle Zimmer, stieg in den ersten Stock, in den Keller, beklopfte die Mauern, zählte die Treppenstufen, ließ die Türen sich in den Angeln drehen und die Schlüssel in den Schlössern, öffnete und schloß die Fenster. Als er endlich alles durchgeprüft hatte, ging er, ohne ein Wort oder den geringsten Vorschlag zu sagen, mit einem Gruß davon.
Croisilles war ihm eine Stunde lang nachgelaufen, mit klopfendem Herzen, und wurde durch diesen schweigsamen Rückzug nicht wenig enttäuscht. Er meinte, der Jude brauche Zeit zum Überlegen und würde sehr bald wiederkommen. Acht Tage lang wartete er auf ihn, wagte kaum auszugehen, aus Furcht, ihn zu verfehlen, und schaute vom Morgen bis zum Abend nach ihm aus dem Fenster. Aber umsonst, der Jude erschien nicht. Jean, getreu seiner Rolle als Räsoneur und als Verkörperung der Moral, redete auf seinen Herrn ein, das Haus nicht so überstürzt und nicht zu einem so absonderlichen Ziel zu verkaufen. Da griff Croisilles eines Morgens, halb tot vor Ungeduld, Ärger und Liebe, nach seinen zweihundert Louis und ging weg, entschlossen, sein Glück mit dieser Summe zu versuchen, die nun einmal nicht mehr werden wollte.
Zu jener Zeit gab es noch keine öffentlichen Spielhöllen. Man hatte diese Verfeinerung der Kultur noch nicht erfunden, die es jedwedem erlaubt, sich zu jeder Stunde zu ruinieren, falls ihm gerade Spiellust durch den Kopf fuhr. Auf der Straße blieb er stehen; denn er wußte nicht, wo er sein Geld riskieren könne. Er prüfte die Häuser ringsum, sah sich eines nach dem andern an und wollte aus ihnen irgend etwas Verdächtiges ahnen. Ein junger, gutaussehender Mann, prächtig gekleidet, ging vorbei. Seinem Äußeren nach mußte er aus guter Familie sein. Croisilles redete ihn höflich an.
»Mein Herr, verzeiht meine Freiheit. Ich habe zweihundert Louis in der Tasche und begehre nichts mehr, als sie zu verlieren oder sie zu vermehren. Könnt ihr mir nicht irgendeinen ehrlichen Ort sagen, wo man solche Dinge macht?«
Diese befremdliche Rede beantwortete der junge Mann mit Lachen.
»Meiner Treu, Herr! Wenn Ihr so ein schlimmes Lokal sucht, braucht Ihr mir nur zu folgen; denn ich gehe selbst hin.«
Croisilles ging mit ihm, und nach wenigen Schritten traten sie in ein schönes Haus, wo sie auf das Vornehmste von einem alten Edelmann empfangen wurden. Mehrere junge Herren saßen schon rund um einen grünen Tisch. Croisilles nahm bescheiden Platz und hatte nach einer knappen Stunde seine zweihundert Louis verloren.
Er ging so bekümmert nach Haus, wie es nur ein Verliebter vermag, der sich wiedergeliebt glaubt. Es blieb ihm kaum etwas zum Essen; aber das beunruhigte ihn gar nicht.
»Wie beschaffe ich mir jetzt Geld? An wen in der Stadt soll ich mich wenden? Wer würde mir nur hundert Louis auf das Haus geben, das ich nicht verkaufen kann?«
In seiner Bedrängnis traf er den Trödeljuden. Er wandte sich sofort an ihn und gestand ihm, leichtsinnig wie er war, seine Lage. Der Jude hatte zu dem Kauf keine große Lust. Er war nur aus Neugierde gekommen oder, besser gesagt, um sein Gewissen zu beruhigen, gleich einem Hund, der im Vorüberlaufen in eine Küche rennt, weil die Tür offen ist und er sehen muß, ob es nichts zum Stehlen gibt. Aber als er Croisilles so verzweifelt sah, so traurig, so aller Hilfe bloß, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, aus seiner Misere Profit zu schlagen, auf die kleine Gefahr hin, für das Haus eine Zahlung zu leisten. Er bot ihm also ein Viertel des eigentlichen Wertes an. Croisilles fiel ihm um den Hals, nannte ihn Freund und Retter, unterzeichnete blind den Kaufvertrag und ließ sich tüchtig einseifen. Am nächsten Morgen war er Besitzer von vierhundert nagelneuen Louis und eilte wiederum zum Spielsaal, wo er so höflich und so rasch um sein Geld gebracht worden war.
Auf dem Weg dorthin passierte er den Hafen. Ein Schiff sollte auslaufen. Der Wind war sanft und der Ozean ruhig. Überall kamen und gingen Kaufleute, Matrosen, Marineoffiziere. Hafenarbeiter schleppten ungeheure Warenballen. Die Passagiere sagten Lebewohl. Leichte Barken kreuzten die Wellen. Auf allen Gesichtern war Furcht, Ungeduld und Hoffnung. Zwischen aller Erregtheit ringsum wiegte sich das majestätische Schiff und schwellte die stolzen Segel.
Wie wunderbar, dachte Croisilles, so seinen Besitz zu riskieren und jenseits des Meeres ein gefährliches Glück zu suchen! Wie schön ist dieses Schiff anzusehen, das soviel Reichtum trägt und das Gut so vieler Familien! Und welche Freude, wenn es zurückkommt, das Doppelte des ihm Anvertrauten tragend, stolzer und reicher als zuvor! Warum bin ich nicht einer dieser Kaufleute! Warum spiele ich nicht so mit meinen vierhundert Louis! Das Meer ist wahrlich ein ungeheurer Spieltisch und würdig, kühn auf ihm sein Glück zu versuchen. Warum kaufe ich nicht ein paar Ballen Leinen oder Seide? Wer will mich daran hindern, da ich doch Gold habe? Warum soll dieser Kapitän sein Schiff nicht mit meinen Waren beladen wollen? Und wer weiß? Anstatt mein armseliges und einziges Geld in einer Spielhölle zu verlieren: Vielleicht verdoppele ich es, verdreifache es im ehrlichen Handel. Wenn Julie mich wahrhaft liebt, wird sie auch einige Jahre warten und mir treubleiben, bis ich sie heiraten kann. Der Handel bringt zuweilen größeren Nutzen, als man denkt. Es fehlt doch nicht an Beispielen von plötzlichem Vermögen, auf diesen schwankenden Wellen überraschend gewonnen. Warum sollte die Vorsehung nicht einen Versuch segnen, der so Löbliches zum Ziel hat und ihres Schutzes so würdig ist? Unter diesen Kaufleuten, die so viel zusammengebracht haben und ihre Schiffe an die beiden Enden der Welt schicken, hat mehr als einer mit einer kleineren Summe angefangen als ich. Sie haben mit Gottes Hilfe Erfolg gehabt. Warum sollte ich keinen haben? Es scheint mir ein guter Wind in den Segeln, und dieses Schiff atmet Vertrauen. Los! Die Würfel sind gefallen! Ich wende mich an diesen Kapitän, der ein sehr freundliches Gesicht hat, und dann schreibe ich an Julie und werde ein geschickter Handelsmann.
Für die ein wenig Verrückten bedeutet die größte Gefahr, es zeitweise ganz zu werden. Der arme Junge überlegte nicht weiter und führte seine Laune aus. Wenn man Geld hat und nichts versteht, kann man leicht Waren kaufen; das ist das allereinfachste auf der Welt. Der Kapitän wollte sich ihm verbindlich zeigen und führte ihn zu einem befreundeten Fabrikanten, der ihm soviel Leinen und Seide verkaufte, wie er bezahlen konnte. Die Waren wurden dann auf einem Karren rasch an Bord gefahren. Croisilles war entzückt und voller Hoffnung und schrieb eigenhändig mit großen Lettern seinen Namen auf die Ballen. Er sah mit unaussprechlicher Freude zu, wie sie eingeladen wurden. Bald kam die Stunde der Abfahrt, und das Schiff verließ die Küste.
Brauche ich noch zu betonen, daß Croisilles bei diesem Geschäft auch nicht das geringste zurückbehalten hatte? Andererseits war auch das Haus verkauft. Es blieb ihm von seinem Eigentum nichts als die Sachen, die er auf dem Leib trug. Er besaß kein Dach über dem Kopf und keinen Silberling. Jean hätte beim besten Willen nicht ahnen können, daß es mit seinem Herrn so schlimm kommen würde. Croisilles zwar sagte ihm nichts; nicht aus Stolz, sondern weil er sich nicht sorgte. Er schlief unter freiem Himmel und berechnete die Auskommensmöglichkeit. Sein Schiff müßte in sechs Monaten nach Le Havre zurückkehren. Er verkaufte also, nicht ohne Bedauern, eine goldene Uhr, die er von seinem Vater hatte und bisher wohlverwahrt hielt. Er bekam dafür sechsunddreißig Pfund. Das machte bei sechs Monaten für den Tag vier Sous zu leben. Er glaubte ganz bestimmt, daß er auskommen würde, und schrieb, für den Augenblick beruhigt, einen Brief an Fräulein Godeau, in dem er sie von allem benachrichtigte. Er hütete sich wohl, ihr von seiner Not zu sprechen, und meldete ganz im Gegenteil, er habe ein großartiges Handelsunternehmen begonnen. Das Resultat werde sich in kurzer Zeit als voller Erfolg erweisen. Er erklärte ihr, daß »La Fleurette« ein Frachtschiff von hundertfünfzig Tonnen sei und sein Leinen und seine Seide über den Ozean trage. Er bat sie flehentlich, ihm ein Jahr lang treu zu bleiben; dann könne sie ruhig weiteres von ihm verlangen. Er für seinen Teil schwöre ihr ewige Liebe.
Fräulein Godeau las den Brief an der Kaminecke und hielt gerade statt eines Lichtschirmes eines jener Hafenblätter in der Hand, die den Ein- und Auslauf der Schiffe und zugleich auch Unglücksfälle registrieren. Es war ihr noch niemals eingefallen, an diesen Dingen Interesse zu finden. Sie hatte noch nie einen Blick in die Seiten getan. Croisilles' Brief ließ sie das Blatt lesen. Das erste Wort, das ihr ins Auge fiel, war »La Fleurette«. Das Schiff war an der französischen Küste gestrandet, in der Nacht nach seiner Ausfahrt. Die Besatzung war mit Mühe gerettet worden, aber die Fracht war verloren.
Fräulein Godeau erinnerte sich bei dieser Nachricht nicht mehr, daß Croisilles ihr schon einmal seine Armut gestanden hatte. Sie war verzweifelt, als handle es sich um eine Million. Schrecken der Wetter, rasende Winde, Schreie der Ertrinkenden, das Unglück eines Mannes, der sie liebte; wie in einem Roman sah sie die Szenen. Zeitung und Brief fielen ihr aus den Händen. Sie stand stark erschüttert auf, das Herz schlug ihr bis zum Hals, und die Augen wollten weinen. Mit großen Schritten ging sie umher und war zum Handeln entschlossen. Aber was tun?
Je stärker, klarer, einfacher und unanfechtbarer, mit einem Wort, je vernünftiger die Gründe sind, die gegen die Liebe sprechen, desto heftiger erhitzt sich die Leidenschaft und desto mehr liebt man. Vielleicht gibt es nichts Schöneres unter dem Himmel als diese Unvernunft; vielleicht wären wir nicht viel wert ohne sie. Julie durchmaß das Zimmer, vergaß nicht den teuren Fächer, auch nicht, von Zeit zu Zeit den Spiegel mit dem Blick zu streifen, und ließ sich wieder in den Sessel fallen. Wie schön war sie in diesem Augenblick! Mit blanken Augen und erregten Wangen flüsterte sie Freude und zarten Schmerz:
»Armer Junge! Er hat sich für mich ruiniert!«
Außer dem Vermögen, das sie von dem Vater zu erwarten hatte, verfügte sie über das Erbe ihrer Mutter. Sie hatte noch niemals daran gedacht. Jetzt zum erstenmal in ihrem Leben erinnerte sie sich, daß sie über fünfhunderttausend Franken verfügen konnte. Sie lächelte. Ein wunderlicher Gedanke, kühn, ganz weiblich und fast schon so verrückt wie jene Croisilles', ging ihr durch den Kopf. Sie erwog ihn eine kurze Zeit und war dann ihn auszuführen entschlossen.
Zunächst erkundete sie, ob Croisilles irgendeinen Verwandten oder Freund hatte. Ihre Zofe wurde dazu ausgeschickt. Sie prüfte genau und entdeckte in dem vierten Stock eines alten Hauses eine halblahme Tante, die sich nie von ihrem Stuhl rührte und seit vier oder fünf Jahren nicht ausgegangen war. Die bedauernswerte und betagte Frau schien auf der Welt gelassen, um alle Menschenleiden an sich zu erfahren. Sie war blind, gichtisch, fast taub und lebte in einer Dachkammer. Doch ein Frohsinn, der stärker war als Unglück und Krankheit, hielt sie durch achtzig Jahre aufrecht und ließ sie noch das Leben lieben. Die Nachbarn gingen niemals an ihrer Türe vorbei, ohne bei ihr einzutreten, und die altmodischen Melodien, die sie summte, erfreuten die Mädchen des ganzen Viertels. Sie besaß eine kleine Leibrente, die für ihren Unterhalt genügte. Tagsüber strickte sie. Im übrigen wußte sie nicht, was seit dem Tode Ludwig XIV. geschehen war.
Zu dieser ehrwürdigen Dame ging Julie heimlich. Sie schmückte sich mit allen Federn, Spitzen, Bändern, Diamanten, die sie hatte. Nichts wurde gespart. Sie wollte verführen. Doch das schönste, was sie mitbrachte, war ihre gute Laune. Sie stieg die winklige, finstere Treppe hoch, die zu der guten Alten führte, grüßte anmutig und sprach:
»Gnädige Frau, Ihr habt einen Neffen namens Croisilles, der mich liebt und um meine Hand angehalten hat. Ich liebe ihn auch und will ihn heiraten. Aber mein Vater, Herr Godeau, Generalpächter dieser Stadt, verweigert seine Einwilligung, weil Euer Neffe nicht reich ist. Ich möchte um alles in der Welt nicht der Grund zu einem Skandal sein und auch keinem wehe tun. Ich würde also nicht daran denken, ohne die Einwilligung meiner Familie über mich zu verfügen. Ich bin hierher gekommen, weil ich Euch um eine Gefälligkeit bitten möchte. Ihr selber müßt meinem Vater die Ehe vorschlagen. Ich habe Gott sei Dank ein kleines Vermögen, das zu Eurer Verfügung steht. Ihr erhaltet, wenn es Euch gefällt, von meinem Notar fünfhunderttausend Franken und sagt, daß sie Eurem Neffen gehören. Sie gehören ihm in der Tat; ich schenke ihm nichts, es ist nur eine Schuld, die ich ihm bezahle. Denn ich bin die Ursache, daß er zugrunde gerichtet ist, und es ist nur billig, wenn ich es wiedergutmache. Mein Vater wird nicht leicht ja sagen. Ihr müßt darauf dringen und ein wenig Mut haben. An mir wird es nicht fehlen. Kein Mensch außer mir hat ein Recht auf die genannte Summe, und kein Mensch wird wissen, wie sie in Eure Hände gelangt ist. Ihr seid auch nicht reich, ich weiß es, und Ihr könntet fürchten, daß man sich über Euer Geschenk an den Neffen wundert. Aber bedenkt, mein Vater kennt Euch nicht, Ihr zeigt Euch sehr wenig in der Stadt, folglich wird es Euch leicht sein, so zu tun, als kämet ihr von irgendeiner Reise. Der Weg wird Euch zweifellos Anstrengung kosten, Ihr müßt Euern Stuhl verlassen und ein wenig Mühe auf Euch nehmen. Aber Ihr macht zwei Leute glücklich, liebe Frau, und wenn Ihr je gewußt habt, was Liebe ist, dann werdet Ihr, hoffe ich, nicht nein sagen.«
Die gute Frau war durch die Rede überrascht und beunruhigt, dann aber gerührt und entzückt. Das letzte Wort überredete sie.
»Doch, doch, mein Kind«, sagte sie immer wieder, »ich weiß, was das ist, ich weiß, was das ist!«
Mit diesen Worten wollte sie aufstehen; aber ihre schwachen Beine trugen sie kaum. Julie kam ihr rasch entgegen und streckte die Arme aus, um sie zu stützen. Durch eine fast unwillkürliche Bewegung lagen sie einander einen Moment in den Armen. Der Bund wurde geschlossen und durch einen herzlichen Kuß besiegelt. Bald waren sie miteinander vertraut.
Dann zog die Alte aus dem Schrank ein ehrwürdiges Taftkleid, ihr Hochzeitsgewand. Das antike Stück zählte an die fünfzig Jahre; doch kein Fleck, kein Stäubchen war darauf. Julie betrachtete es mit Bewunderung. Man schickte nach der schönsten Mietskarosse, die in der Stadt aufgetrieben werden konnte. Die Alte präparierte ihre Rede, und Julie lehrte sie, wie sie das Herz des Vaters weich machen könne. Sie gestand ihr auch ohne weiteres, daß die Eitelkeit seine verwundbarste Stelle sei.
»Wenn Ihr dieser Schwäche irgendwie schmeicheln könntet, haben wir das Spiel gewonnen.«
Die gute Dame sann tief nach, vollendete ihre Toilette wortlos, drückte der zukünftigen Nichte die Hand und bestieg den Wagen. Bald kam sie zum Hause Godeau. Als sie hineinging, bewegte sie sich so geschickt, als wäre sie um zehn Jahre jünger geworden. Sie durchschritt majestätisch den Salon, in dem Julie den Blumenstrauß hatte fallen lassen, und sagte, als sich die Tür des Arbeitszimmers öffnete, mit fester Stimme dem voranschreitenden Lakai:
»Meldet die Baronin-Witwe von Croisilles.«
Dieses Wort entschied das Glück der beiden Liebenden. Herr Godeau war geblendet. Gewiß, die fünfhunderttausend Franken dünkten ihn nur eine Kleinigkeit. Aber er stimmte zu, daß seine Tochter eine Baronin würde. Und sie wurde es. Wer hätte gewagt, ihr den Titel abzustreiten? Ich glaube, sie hatte ihn verdient.