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Glauben Sie, gnädige Frau, man kann zu gleicher Zeit in zwei Frauen verliebt sein? Wenn man mir diese Frage stellte, so würde ich antworten, daß ich es ganz und gar nicht für möglich halte. Und dennoch geschah es einem meiner Freunde. Ich will Ihnen seine Geschichte erzählen, damit Sie selbst urteilen können.
Soll eine zweifache Leidenschaft gerechtfertigt werden, so berufen wir uns für gewöhnlich auf die Kontraste. Die eine ist groß und die andere klein, die eine fünfzehn Jahre und die andere dreißig. Kurz, wir versuchen zu beweisen, daß zwei Frauen, die sich in nichts gleichen – nicht im Alter, nicht im Aussehen, nicht im Wesen –, zu gleicher Zeit zwei unterschiedliche Leidenschaften zu erregen imstande sind. Dieser Vorwand indes kann mir hier gar nichts nützen, im Gegenteil, denn die beiden Frauen, um die es sich handelt, ähnelten sich sogar ein wenig. Allerdings war die eine verheiratet und die andere Witwe, die eine reich und die andere sehr arm, doch sie waren fast gleichaltrig, beide brünett und recht klein. Wenn sie auch weder Schwestern noch Kusinen waren, so bestand zwischen ihnen doch so etwas wie eine Familienähnlichkeit: beide hatten große schwarze Augen und zierliche Figuren. Man hätte sie für Doppelgängerinnen halten können. Bekommen Sie vor dem Wort keine Angst; es geschieht in meiner Geschichte kein Quiproquo, keine Verwechslung.
Bevor ich Ihnen von den Damen mehr sage, muß ich Ihnen den Helden beschreiben. Ungefähr um das Jahr 1825 herum lebte in Paris ein junger Mann, den wir Valentin nennen wollen. Er war ein recht sonderbarer Bursche, dessen seltsame Lebensweise einem Philosophen mancherlei Stoff zum Studium der menschlichen Seele gegeben hätte. Er vereinigte in sich sozusagen zwei verschiedene Personen. Das eine Mal hätten Sie ihn vielleicht für einen Stutzer aus der Zeit der Regentschaft gehalten. Leichter Ton, schiefer Hut und das Gesicht eines fröhlichen Verlorenen Sohnes: Irgendein rothackiger Hofherr aus vergangenen Zeiten wäre Ihnen in den Sinn gekommen. Am andern Tag wiederum hätten Sie ihn womöglich als bescheidenes Studentlein aus der Provinz spazierengehen sehen, mit einem Buch unter dem Arm. Heute rollte er in Karossen und warf das Geld aus dem Fenster; morgen aß er für vierzig Sous. Dabei suchte er in allem eine Art Vollendung und verabscheute jede Unvollkommenheit. Wollte er Vergnügen, so mußte alles vergnüglich sein; er war nicht der Mann, Freude durch einen Augenblick des Mißbehagens zu erkaufen. Hatte er eine Loge im Theater, so mußte der Wagen, der ihn hintrug, schön gepolstert, das Diner vorher gut sein, und kein häßlicher Gedanke durfte ihm kommen, wenn er wegging. Ein andermal wieder trank er guten Muts den Krätzer in einer Dorfschenke oder stellte sich hinten an, um einen Parterreplatz zu bekommen. Er stand dann eben unter anderen Bedingungen und spielte nicht den Verwöhnten. Aber er beobachtete in seinen Wunderlichkeiten so etwas wie Logik, und die zwei Wesen in ihm vermengten sich nie.
Seine befremdliche Art hatte zwei Ursachen: er hatte wenig Geld und eine leidenschaftliche Vergnügungssucht. Seine Familie lebte in einem gewissen Wohlstand, der aber über ehrliche Mittelmäßigkeit nicht hinauskam. Mit zwölftausend Franken im Jahr, ordentlich und sparsam gewirtschaftet, braucht man nicht Hungers zu sterben; allein wenn eine ganze Familie davon lebt, kann man keine großen Sprünge machen. Jedenfalls war Valentin durch eine Laune des Schicksals mit Ansprüchen geboren worden, die sich für den Sohn eines großen Herrn ziemen mögen. »Geizige Väter, flotte Söhne«, sagt man; und »was die Eltern sparten, vergeuden die Kinder.« So will es die Vorsehung, der doch alle Welt staunend anhängt.
Valentin hatte Jura studiert und war ein Advokat ohne Praxis; ein Beruf, der heute nicht zu den Seltenheiten gehört. Mit dem Geld, das er von seinem Vater hatte, und mit dem, was er von Zeit zu Zeit verdiente, hätte er ganz erträglich leben können; doch er gab lieber heute alles auf einmal aus und entbehrte morgen das Notwendigste. Sie erinnern sich doch, gnädige Frau, an das Spiel mit den Gänseblümchen, denen die Kinder ein Blättchen um das andere auszupfen? »Über alle Maßen« heißt es beim ersten Blättchen, »ein klein wenig« beim zweiten, »oder gar nicht« beim dritten. So lebte Valentin durch seine Tage. Nur »ein klein wenig« gab es bei ihm nicht; denn das konnte er nicht leiden.
Damit Sie ihn besser verstehen, muß ich Ihnen eine Begebenheit seiner Kindheit erzählen. Er schlief mit zehn oder zwölf Jahren in einem Kämmerchen, das Glastüren hatte und hinter dem Zimmer der Mutter lag. In dieser recht trübseligen und mit verstaubten Schränken angefüllten Bude war unter anderem Kram ein altes Bild mit einem großen Goldrahmen. Wenn an einem schönen Morgen die Sonne auf das Bild schien, kniete das Kind in seinem Bett und kam wie verzückt näher. Während man glaubte, er schliefe noch, bis die Schulstunde gekommen, blieb er zuweilen stundenlang so vor dem Bild und legte die Stirn auf die Kante des Rahmens. Die Strahlen des Lichts, die auf der Vergoldung glänzten, umgaben ihn wie mit einem Heiligenschein und umschwankten den geblendeten Blick. In dieser Haltung kamen ihm tausend Träume und eine wunderliche Ekstase. Je heller der Glanz wurde, desto mehr Licht war in seiner Seele. Wenn er schließlich den Blick abwandte, müde von der Pracht des Gesehenen, dann schloß er die Augen und folgte neugierig dem Vergehen der Farben in den roten Schleiern, die man vor sich sieht, wenn man zu lange ins Licht geschaut hat. Dann kehrte er zu seinem Rahmen zurück und begann das Spiel von neuem. Dort geschah es – er sagte es mir selbst –, daß seine Leidenschaft groß wurde für jene beiden wahrhaft hohen Dinge: Gold und Sonne.
Seine ersten Schritte ins Leben waren von dieser instinktiven Neigung geleitet. Im College befreundete er sich nur mit den Kindern, die reicher waren als er; nicht aus Hochmut, sondern weil es ihm Bedürfnis war. Er war frühreif in seinen geistigen Interessen; allein es trieb ihn nicht Eigenliebe, sondern ein bestimmter Drang nach Auszeichnung. Es kam vor, daß er mitten in der Klasse zu weinen anfing, weil er samstags nicht auf die Ehrenbank gesetzt wurde. Er beendigte das Gymnasium und arbeitete mit Eifer. Da schenkte ihm eine Dame, eine Freundin seiner Mutter, einen schönen Türkisring. Nun betrachtete er, anstatt auf den Unterricht zu achten, seinen Ring, wie er am Finger glänzte. Noch war seine Liebe zum Gold kindlich-neugierig. Doch als das Kind zum Manne wurde, trug die gefährliche Neigung bald ihre Früchte.
Kaum hatte er seine Freiheit, so stürzte er sich ohne Überlegung in das vergnügliche Leben eines jungen Mannes aus guter Familie. Seine fröhliche Art, die sich nicht um das Morgen sorgte, ließ ihm gar nicht den Gedanken kommen, daß er arm sei; ja, er schien es nicht einmal zu ahnen. Die Welt machte es ihm begreiflich. Der Name, den er trug, gestattete es ihm, junge Leute als seinesgleichen zu behandeln, die vor ihm den Vorteil der Wohlhabenheit hatten. Er kam mit ihnen zusammen und wollte es ihnen nachtun. Seine Eltern wohnten auf dem Land. Er sagte, er studiere Jura, und verbummelte seine Zeit in den Tuilerien oder auf dem Boulevard. Hier fühlte er sich zu Hause. Aber wenn ihn seine Freunde verließen, um auszureiten, mußte er einsam und ein wenig gedrückt zu Fuß weitergehen. Sein Schneider gab ihm Kredit; aber was nützt der Rock, wenn die Tasche leer ist? Und sie war es zu Dreiviertel seiner Zeit. Zu stolz, um als Parasit zu leben, verbarg er ängstlich die heimlichen Gründe seiner Mäßigkeit; verächtlich schlug er Vergnügungen aus, wenn er seinen Teil nicht zahlen konnte, und war bemüht, nur in den Tagen seines Wohlstandes mit den Reichen zusammenzukommen.
Dieser nicht unbeschwerlichen Rolle machte der väterliche Wille ein Ende. Valentin sollte in Stellung gehen. Er trat in ein Bankhaus ein. Das Leben eines Kommis gefiel ihm gar nicht und die tägliche Arbeit noch weniger. Kleinlaut ging er ins Büro und hatte zu gleicher Zeit auf Freunde und Freiheit verzichten müssen. Er schämte sich dessen nicht, aber er langweilte sich. Wenn der Tag »mit der goldenen Ader« – wie André Chénier sagt – herankam, dann ergriff es ihn wie Fieber. Ob er nun Schulden zu bezahlen oder einiges Nützliche zu kaufen hatte: Stets erschütterte ihn das Vorhandensein von Gold so sehr, daß er darüber die Überlegung verlor. Sobald er auch nur ein weniges von dem kostbaren Metall zwischen den Händen blinken sah, fühlte er pochenden Herzschlag und nur den einen Wunsch – wenn es draußen schön war – umherzuschlendern. Wenn ich sage: umherschlendern, so ist das nicht ganz richtig. An einem solchen Tag konnte man ihn nämlich in einem bequemen Mietswagen sehen, der ihn zum Rocher de Cancale führte. Dort legte er sich in die Kissen zurück, atmete die gute Luft oder rauchte seine Zigarre und ließ sich sanft dahinwiegen, ohne auch nur im geringsten ans Morgen zu denken. Und doch mußte er morgen regelmäßig wieder Kommis sein. Aber das kümmerte ihn wenig, wenn er nur seine Launen befriedigt hatte, und sei es um jeden Preis. So verflogen die Einkünfte eines Monats in einem einzigen Tag. Er verbrachte – sagte er – seine schlechten Stunden mit Träumen und seine guten, sie zu verwirklichen. Man traf ihn bald in Paris, bald auf dem Land, überall erregte er Aufsehen und war doch fast immer allein; ein Beweis also, daß es bei ihm nicht Eitelkeit war. Und im übrigen vollführte er seine Extravaganzen mit der selbstverständlichen Geste eines Grandseigneurs, der sich einen Spaß macht. Das ist mir ein netter Kommis, werden Sie sagen. Gewiß, man setzte ihn auch vor die Tür.
Mit Nichtstun und Ungebundenheit kamen wieder Versuchungen aller Art. Wenn man jung ist, wenig Geld und viele Wünsche hat, dann ist das Risiko, Dummheiten zu machen, recht groß. Valentin beging sie reichlich. Aus seiner Manie heraus, Träume wahr werden zu lassen, kamen ihm immer gefährlichere. Nehmen wir an, der Gedanke ging ihm durch den Kopf, sich das Leben eines Menschen vorzustellen, der hunderttausend Franken jährlich zu verzehren hat. Schon benimmt sich mein Bruder Leichtfuß während eines ganzen Tages um keinen Deut anders, als wenn er die fragliche Person wäre. Und nun urteilen Sie selber, wohin das einen Intelligenten und Wißbegierigen führen kann. Valentins Begründung seiner Lebensgewohnheiten war übrigens sehr lustig. Er behauptete, daß jede lebende Kreatur ein Recht auf ein gewisses Maß Freude habe. Er verglich dieses Maß mit einem vollen Becher, den die Sparsamen Tropfen um Tropfen verkosten und den er in vollen Zügen schlürfe. »Ich zähle nicht die Tage«, sagte er, »sondern die Freuden. Und wenn ich an einem Tage fünfundzwanzig Louis ausgebe, so habe ich an ihm 182 500 Franken Jahresrente.«
Bei allen diesen Torheiten blieb in seinem Herzen ein Gefühl, das ihn vor manchem schützen sollte. Das war die Liebe zu seiner Mutter. Es ist wahr, seine Mutter hatte ihn stets verwöhnt, und das ist Unrecht, sagt man. Ich will dem nichts entgegensetzen, aber in jedem Fall ist es das schönste und natürlichste Unrecht. Die vortreffliche Frau, die ihm das Leben geschenkt hatte, tat eben alles, um es ihm auch angenehm zu machen. Sie war nicht reich, das wissen Sie. Wenn aber all die glitzernden Tälerchen, die heimlich ihren Weg in die Hände des geliebten Kindes fanden, sich auf einmal wieder gesammelt hätten, so wäre doch ein ganz stattliches Häuflein zusammengekommen. Der Gedanke allein, seiner Mutter Kummer zu machen, war das einzige, was Valentin hielt, so verlottert er auch wurde. Und diese heilsame Angst begleitete ihn überall. Sie auch erschloß seinem Herzen alles gute Empfinden und alle menschlichen Regungen. Sie wurde ihm der Schlüssel zu einer Welt, die ihm sonst vielleicht fremd geblieben wäre. Ich weiß nicht, wer es zuerst sagte, daß der niemals unglücklich ist, der sich geliebt weiß. Man könnte noch hinzufügen: »Wer seine Mutter liebt, kann nicht schlecht sein«. Wenn Valentin nach irgendeinem tollen Streich nach Hause kam, »mit müden Schwingen und schleppendem Gang«, dann kam seine Mutter und tröstete ihn. Wer kann alle Aufmerksamkeiten, die so geringfügig scheinen, nennen, Fürsorge, Geduld und die kleinen häuslichen Freuden, durch die das Liebevolle sich still beweist und das Leben sanft und freundlich sich rundet. Ich will nur ein kleines Beispiel erzählen.
Eines Tages hatte der leichtsinnige Junge sein Geld im Spiel verloren und kam in sehr schlechter Laune nach Haus. Die Ellbogen auf dem Tisch und den Kopf zwischen den Händen, sank er in düsteres Denken. Die Mutter trat ein, in der Hand ein Glas mit einem großen Strauß Rosen. Sie setzte die Blumen sanft neben ihm auf den Tisch. Er hob die Augen, um ihr zu danken. Sie lächelte: »Sie kosten nur vier Sous.« Das war nicht teuer, wie Sie sehen; denn der Strauß war wundervoll. Valentin – allein – fühlte den Duft um die erregten Schläfen. Ich wüßte nicht zu sagen, wie schön er die Milde dieser Freude empfand, die so leicht gekommen und so unerwartet nahe war. Er dachte an die Summe, die er verloren hatte, und fragte sich, was aus ihr in den mütterlichen Händen hätte werden können, die mit so wenigem zu trösten wußten. Sein schweres Herz erlöste sich in Tränen, und er dachte an die Freuden der Armen, die er fast vergessen hatte.
Je besser er diese kennenlernte, desto lieber wurden sie ihm. Er liebte sie, weil er seine Mutter liebte. Er sah rund um sein Leben herum und wußte sich alles zu erfühlen fähig, nachdem er alles ein wenig versucht hatte. Ist das ein Vorteil? Ich möchte das noch nicht entscheiden. Möglichkeiten der Freude sind Möglichkeiten des Leides.
Sie werden glauben, ich scherze, wenn ich Ihnen sage, daß Valentin – älter geworden – zugleich verständiger und törichter wurde. Und doch ist es die reine Wahrheit. Er führte ein Doppelleben. Sein unsteter Geist zog ihn weg, das Gefühl hielt ihn ans Haus. Er schloß sich ein, um Ruhe zu haben; unten spielte eine Drehorgel einen Walzer, und schon war es um ihn geschehen. Ging er dann aus und lief er wie gewöhnlich hinter dem Vergnügen her, traf er irgendwo einen Bettler, rührte ihn irgendwo ein Wort aus einem schwülstigen Modedrama: So wurde er schon nachdenklich, kehrte um und ging heim. Setzte er sich und nahm die Feder, um zu arbeiten, so kritzelte sie auf den Aktenrand das Profil einer hübschen Frau, die er auf dem Ball getroffen hatte. Eine lustige Gesellschaft war bei einem Freund versammelt und lud ihn zum Abendessen; lachend stieß er mit ihnen an und lehrte das Glas mit einem guten Zug. Dann griff er in die Tasche, merkte, daß er den Schlüssel vergessen hatte und beim Nachhausekommen die Mutter wecken müßte. Er stahl sich davon und atmete daheim den Duft seiner geliebten Rosen.
So war er: zugleich einfältig und leichtsinnig, schüchtern und stolz, sanft und keck. Die Natur hatte ihn reich gemacht, das Schicksal arm. Anstatt zu wählen, nahm er beides. So viel auch in ihm an Geduld, Überlegung und Sich-Bescheiden war, es konnte nicht über die Lust am Vergnügen triumphieren. Doch auch die Augenblicke seiner größten Irrungen belasteten ihn nicht innerlich. Er kämpfte nicht gegen die lockende Lust und nicht gegen sein Herz. So entstand sein Doppelleben und der stete Widerspruch in seinem Dasein, den ich soeben geschildert habe. Aber das ist ja Schwäche, werden Sie sagen. Mein Gott, nun ja! Er ist kein Römer, und wir leben ja auch nicht in Rom.
Wir sind in Paris, gnädige Frau, und hier handelt es sich um zweifaches Lieben. Zum Glück für Sie läßt sich das Bild der Heldinnen schneller zeichnen als das des Helden.
Wenden Sie das Blatt: Sie betreten die Szene.
Wie ich Ihnen sagte, war eine der Damen reich und die andere arm. Schon ahnen Sie, aus welchen Gründen beide auf Valentin wirkten. Daß die eine verheiratet und die andere Witwe war, habe ich Ihnen – glaube ich – ebenfalls schon berichtet. Die Marquise von Parnes (das ist die Verheiratete) war die Tochter und die Frau eines Marquis. Sie war reich: Das besagt noch mehr, und am meisten, daß sie sehr frei leben konnte, zumal der Gatte in Geschäften in Holland weilte. Sie war noch nicht fünfundzwanzig Jahre alt und Königin eines kleinen Reiches am Ende der Chaussée d'Antin. Das Reich bestand aus einem kleinen Gebäude, mit vollendetem Geschmack zwischen einem großen Hof und einem schönen Garten errichtet. Das Haus war die letzte Torheit ihres verstorbenen Schwiegervaters gewesen, eines Lebemanns und Grandseigneurs, und ließ noch die Eigenarten des ehemaligen Herrn erkennen. Es glich viel eher einem »Lustschlößchen« als der Zuflucht einer jungen Frau, die die Abwesenheit des Gatten zur Zurückgezogenheit verurteilt. Ein runder Pavillon stand – vom Haus getrennt – in der Mitte des Gartens. Er hatte nur ein Erdgeschoß und einen einzigen Raum, der als Boudoir mit raffiniertem Luxus ausgestattet war. Man erzählte, Frau von Parnes, die das Haus bewohnte und als sehr vernünftig galt, gehe niemals in den Pavillon. Trotzdem sah man zuweilen Licht dort. Erwählte Gesellschaft, entsprechende Diners, schnelle Equipagen, eine Unzahl Diener, kurzum: die laute Geste großen Lebens herrschte in ihrem Hause. Auch sonst hatte sie eine sorgfältige Erziehung mit tausenderlei begabt; sie besaß Geist und alles, womit eine Frau zu gefallen weiß, selbst wenn sie geistlos ist. Eine unerläßliche Tante begleitete sie überall. Sprach man von ihrem Mann, so sagte sie, er käme bald, und niemandem fiel es ein, über sie Schlechtes zu sprechen.
Frau Delaunay (das war die Witwe) hatte ihren Mann sehr jung verloren. Sie lebte mit ihrer Mutter von einer bescheidenen Pension, die sie nur mit Mühe erhalten hatte und die ihnen das Auskommen schwer machte. Man mußte in der Rue du Plat d'Étain drei Treppen hinaufsteigen, um sie am Fenster über ihrer Stickerei zu finden. Auf etwas anderes verstand sie sich nicht; denn ihre Erziehung war sehr vernachlässigt worden. Ein kleiner Salon war ihr ganzes Reich. Zur Essensstunde wurde der Nußbaumtisch hineingerollt, der während des Tages ins Vorzimmer verbannt war. Abends öffnete sich der Alkovenschrank mit den zwei Betten. Doch in der bescheidenen Wohnung herrschte eine peinliche Sauberkeit, und trotz ihrer Umgebung liebte Frau Delaunay Geselligkeit. Einige alte Freunde ihres Mannes gaben kleine Abendgesellschaften, zu denen sie ging, in frisch gewaschenem Musselinkleid. Diese kleinen Feste gingen durch das ganze Jahr; denn die Leute ohne Geld haben keine Saison. Arm zu sein, jung, schön und anständig, – es ist kein so seltenes Verdienst, daß man davon sprechen müßte, aber immerhin anerkennenswert.
Wenn ich habe verlauten lassen, daß mein Valentin beide Frauen liebte, so wollte ich damit nicht behaupten, seine Liebe für beide sei von gleicher Art gewesen. Ich könnte mich aus der Verlegenheit ziehen und sagen, er habe die eine geliebt und die andere begehrt. Aber ich will diese Finessen durchaus sein lassen, die am Ende doch nichts anderes bedeuteten, als daß er alle beide haben wollte. Ich will lieber ganz schlicht erzählen, was in ihm vorging.
Daß er in den beiden Häusern zu verkehren begann, geschah zuerst einmal aus einem recht häßlichen Motiv: Die Männer beider Frauen waren weg. Es ist leider nur zu wahr, daß leichte und günstige Gelegenheit die jungen Köpfe verdreht, selbst wenn sie nur Schein bleibt. Valentin war von Frau von Parnes empfangen worden, weil sie überhaupt viele Gäste sah, aus keinem andern Grund. Ein Freund hatte ihn vorgestellt. Bei Frau Delaunay zu verkehren, die niemanden empfing, war schon schwieriger. Sie hatte ihn bei einer jener kleinen Abendgesellschaften getroffen, von denen ich Ihnen eben sprach; denn Valentin war überall ein wenig. Er hatte sie gesehen, sie hatte Eindruck gemacht, er tanzte mit ihr und fand eines schönen Tages schließlich Mittel und Wege, ihr ein neues Buch zu bringen, daß sie zu lesen wünschte. Ist aber einmal der erste Besuch getan, so kann man auch ohne besonderen Anlaß wiederkommen, und nach drei Monaten endlich gehört man zum Hause. So ist der Lauf der Dinge. Wunderst du dich gelegentlich über die Gegenwart eines jungen Mannes in einer Familie, die sonst niemanden empfängt, so würdest du zuweilen sehr erstaunt sein, unter welchem nichtigen Vorwand er hineingekommen ist.
Wie Valentin sein Herz verlor, wird Sie vielleicht überraschen, gnädige Frau. Es war, wie man so sagt, ein Spiel des Zufalls. Er hatte – wie es seine Gewohnheit war – einen Winter hindurch toll und voll gelebt. Der Sommer kam, und er sah sich wie die Grille in Entbehrungen. Die einen gingen aufs Land, die andern fuhren nach England oder in die Bäder. Es gibt Zeiten der Verlassenheit, da alles, was sich Freund nennt, verschwindet. Ein Windhauch trägt sie fort, und mit einemmal ist man allein. Wäre Valentin vernünftiger gewesen, er hätte ebenso wie die andern reisen können. Doch das Vergnügen war teuer gewesen, und die leere Börse fesselte ihn an Paris. Seine Unvorsichtigkeit beseufzend und so traurig, wie man es nur mit fünfundzwanzig Jahren sein kann, sann er, wie er den Sommer verbringen könne, und zwar so, daß aus der Not nicht eine Tugend, sondern womöglich ein Vergnügen würde. An einem jener schönen Sommermorgen, die alles Junge hinaustreiben, ohne daß jemand wüßte, warum, fand der Sinnende nur zwei Möglichkeiten, Besuche zu machen: bei Frau von Parnes oder bei Frau Delaunay. Als Feinschmecker ging er zu allen beiden und ward so am nächsten Tag ohne Beschäftigung. Da er seine Besuche nicht gut vor Ablauf einiger Tage wiederholen konnte, fragte er sich, wann es wohl sein dürfte. Und dann ging ihm unwillkürlich alles wieder durch den Kopf, was er in den zwei Stunden, die für ihn köstlich geworden waren, gesagt und gehört hatte.
Daß sie einander ähnelten – ich sprach Ihnen davon –, war ihm bisher nicht aufgefallen, nun ließ es ihn lächeln. Es dünkte ihm seltsam, daß zwei junge Frauen aus so verschiedenen Gesellschaftskreisen wie Schwestern aussahen, zwei junge Frauen, von denen die eine nicht von der anderen wußte. Er verglich im Geist ihre Züge, ihren Wuchs, ihr Wesen. Die eine ließ die andere einmal liebenswerter und das andere Mal im Nachteil sein. Frau von Parnes war kokett, lebhaft, ein bißchen geziert, fidel; Frau Delaunay nicht weniger, aber nicht alle Tage, nur für Bälle etwa und sozusagen einen Grad kühler. Daran war zweifellos ihre Armut schuld. Und doch brannte in ihren Augen zuweilen ein heißes Feuer, das nur zu künstlicher Ruhe gedämpft schien. Der Blick der Marquise dagegen glich einem Strohfeuer, das aufflammt und verlischt. »Es ist wahrhaftig die gleiche Frau«, sagte er sich, »und das gleiche Feuer, hier lustig brennend und dort unter der Asche.« Allmählich kam er zu den Einzelheiten. Der einen weiße Hände sah er über die Elfenbeintasten des Klaviers hinschweben und der anderen etwas magere Finger müde im Schoß liegen. Er dachte an den Fuß und fand es merkwürdig, daß die Ärmere das bessere Schuhwerk hatte; denn sie fertigte ihre Gamaschen selber an. Er sah die Dame aus der Chaussée d'Antin, wie sie auf dem Sofa lag und die Frische des Morgens einatmete, mit nackten Armen. Er fragte sich, ob Frau Delaunay auch so schöne Arme unter ihren Kattunärmeln habe; und ich weiß nicht warum, er zitterte bei dem Gedanken. Dann dachte er an die schönen schwarzen Lockenhaare der Frau von Parnes und schon auch an die Nadel, die sich Frau Delaunay beim Plaudern in die Frisur steckte. Er nahm einen Bleistift und versuchte das Doppelbild, das ihn beschäftigte, auf dem Papier festzuhalten. Nach vielem Streichen, Radieren und Umherpfuschen bekam er ein halbähnliches Bild, mit dem die Phantasie zuweilen zufriedener ist als mit einem ganz treffenden Porträt. Die Skizze war kaum fertig, da stockte er. Welcher von beiden ähnelte sie nun mehr? Er vermochte es nicht selbst zu entscheiden. Bald schien sie der einen und bald der anderen zu gleichen, wie es gerade sein Träumen wollte. »Wie voller Geheimnis ist das Schicksal!«, sprach er zu sich. »Wer kann sagen, welche von beiden Frauen dem Schein zum Trotz die Glücklichere ist? Ist es die Reiche oder die Arme? Oder die am meisten Geliebte? Nein, jene, die am meisten lieben wird. Was würden sie tun, wenn sie morgen früh erwachten und die eine sich an der Stelle der andern sähe?«
Valentin dachte an den erweckten Siebenschläfer, und bemerkte nicht, daß er selber in den hellen Tag hineinträumte, tausend Luftschlösser bauend. Er nahm sich vor, sobald es Zeit sei, seine beiden Besuche zu machen und seine Skizze mitzunehmen, um die Fehler zu sehen. Zugleich fügte er hier noch einen Strich ein, dort eine Locke, einen Faltenwurf; rundete die Augen größer und schuf zartere Konturen. Wieder dachte er an den Fuß, an die Hand, an die weißen Arme, dann wohl noch an tausend andere Dinge: Und schließlich war er verliebt.
Verliebtsein ist nicht schwer, schwieriger schon, es zu sagen. Valentin machte sich am frühen Morgen mit seiner Zeichnung auf den Weg. Er begann bei der Marquise. Ein glücklicher Zufall, der seltener ist, als man gemeinhin denken möchte, wollte es, daß er sie an diesem Tage gerade so traf, wie er es am Vorabend geträumt hatte. Sie ruhte auf einer hölzernen Bank, die mit Kissen belegt war, unter blühendem Geisblatt. (Es war Juli.) Mit ihren nackten Armen und in dem leichten Gewand konnte sie wohl einer Nymphe gleichen, wie sie den Schäfern Vergils erschien. So erschien dem jungen Mann die bleiche Isabella, Marquise von Parnes. Sie grüßte ihn mit dem sanften Lächeln, das so wenig kostet, wenn man schöne Zähne hat, und wies ihm nachlässig einen Hocker, der beträchtlich entfernt stand. Statt sich zu setzen, nahm er ihn und wollte ihn näher tragen. Als er sich nach einem Platz umsah, fragte ihn die Marquise: »Wo wollen Sie denn hin?«
Valentin fühlte, daß er zu weit gegangen sei und daß die rauhe Wirklichkeit weniger Eile habe als die Sehnsucht. Er blieb stehen, setzte den Hocker ein wenig weiter hin als vorher, nahm Platz und wußte nicht recht, was er sagen sollte. Es sei erwähnt, daß ein großer Lakai mit ziemlich arrogantem und mürrischem Gesicht vor der Marquise stand und ihr eine Tasse heißer Schokolade reichte, die sie mit kleinen Schlucken trank. Die Anwesenheit dieses Dritten und die peinliche Aufmerksamkeit der Dame, sich nicht die Lippen zu verbrennen, die geringe Sorge dagegen ihrem Besucher gegenüber waren nicht das Geeigneteste, ihn zu ermutigen. Er zog ernst die Skizze aus der Tasche, richtete die Augen auf Frau von Parnes und prüfte abwechselnd das Original und die Kopie. Sie fragte ihn, was er da mache. Er erhob sich, gab ihr das Bild und setzte sich wieder wortlos. Im ersten Augenblick runzelte die Marquise die Stirn, wie jemand, der nach der Ähnlichkeit sucht. Dann beugte sie sich zur Seite, als ob sie sie gefunden hätte. Sie leerte die Tasse, der Lakai entfernte sich und die schönen Zähne zeigten wieder ihr Lächeln.
»Das ist geschmeichelt«, sagte sie endlich; »haben Sie es aus dem Gedächtnis gezeichnet? Wie kamen Sie darauf?«
Valentin antwortete, ein schönes Antlitz brauche nicht Modell zu stehen, daß man es kopiere; er habe es in seinem Herzen gefunden. Die Marquise dankte leicht, und Valentin rückte mit seinem Stuhl näher.
Während sie von Gleichgültigem plauderten, sah sie sich das Bild an.
»Ich finde einen Zug in dem Porträt«, sagte sie, »der mir nicht gehört. Man könnte meinen, es gehöre einer, die mir ähnlich sieht, aber daß nicht ich es bin, die man hatte malen wollen.«
Valentin errötete wider Willen und glaubte im tiefsten Innern zu fühlen, daß er Frau Delaunay liebe. Die Beobachtung der Marquise dünkte ihm ein Beweis. Er betrachtete von neuem das Bild, die Marquise, und dachte dann an die junge Witwe. »Jene liebe ich am meisten«, sprach er zu sich, »die dem Bilde am ähnlichsten ist. Da mein Herz die Hand geführt hat, so soll jetzt die Hand meinem Herzen den Weg zeigen.«
Die Unterhaltung ging weiter; sie drehte sich, glaube ich, um ein Pferderennen, das am Tage vorher auf dem Marsfeld stattgefunden hatte.
»Sie sitzen ja eine Meile weit«, sagte Frau von Parnes.
Valentin erhob sich und kam näher.
»Wie schön das Geisblatt ist«, meinte er im Vorbeigehen.
Die Marquise streckte den Arm aus, brach einen blühenden Zweig ab und reichte ihn anmutig dem Manne.
»Hier, nehmen Sie und sagen Sie mir, bin ich es wirklich auf dem Bilde, oder wollten Sie eine andere zeichnen, die mir zufällig ähnlich sieht?«
In einer Regung von Unbescheidenheit nahm Valentin nicht den Zweig, sondern bot lachend der Marquise sein Knopfloch, daß sie es selbst schmücke. Sie tat es gutmütig, aber nicht ganz ohne Mühe. Er stand unterdessen vor ihr und sah auf den Pavillon, von dem ich Ihnen schon sprach. Die Jalousie war halb geöffnet. Sie erinnern sich, daß Frau von Parnes niemals hineinging. Sie sprach sogar verächtlich von dem galanten und raffinierten Boudoir, das sie für schlimme Gesellschaft errichtet wußte. Und doch glaubte Valentin zu sehen, daß die vergoldeten Sessel und die glänzenden Tapeten sehr wenig unter Staub litten. Mitten unter den Möbeln von griechischem Stil, die prächtig und unbequem waren, wie alles aus der Empirezeit, bemerkte er eine augenscheinlich ganz moderne Chaiselongue, die halb im Schatten stand. Das Herz klopfte ihm, ich weiß nicht warum, bei dem Gedanken, die schöne Marquise könnte sich doch zuweilen des Pavillons bedienen. Denn wozu wäre dieser Sessel, wenn sich keiner draufsetzte? Er ergriff eine der weißen Hände, die ihn schmückten, und führte sie sanft an die Lippen. Was sich die Marquise dabei dachte, weiß ich nun gar nicht. Er betrachtete die Chaiselongue, sie sein Bild. Sie zog die Hand nicht zurück und ließ sie zwischen den seinen. Ein Diener erschien auf der Freitreppe: Besuch kam. Valentin ließ die Hände der Marquise und sie – sonderbar genug – schloß hastig die Jalousie.
Der Besuch trat ein, und Valentin wurde ein wenig verlegen; denn er sah, wie die Marquise seine Skizze versteckte und wie ohne Absicht ihr Taschentuch darüberwarf. Das paßte nicht in seine Rechnung. Er machte kurzen Prozeß, hob das Taschentuch auf und nahm das Blatt an sich. Frau von Parnes tat eine leichte Bewegung des Erstaunens.
»Ich will es noch ein wenig verbessern«, sagte er deutlich vernehmbar; »Sie gestatten, daß ich es wieder mitnehme.«
Sie sagte nicht nein, und er ging fort.
Er fand Frau Delaunay über ihrer Stickerei; die Mutter saß ihr zur Seite. Ein paar Blumen auf dem Fensterbrett mußten der Bescheidenen den Garten ersetzen. Ihr Kleid war immer das gleiche dunkle; denn sie hatte kein Morgengewand. Das Überflüssige ist das Vorrecht der Reichen. Indessen ließ sie eine Sehnsucht nach falscher Eleganz geschmacklose Ohrringe tragen und eine goldene Kette, die unecht war. Wenn Sie dann noch bedenken, daß die Haare in Unordnung waren und ihr müdes Sichgehenlassen augenscheinlich machten, dann müssen Sie selbst gestehen, daß der erste Blick den Vergleich mit der Marquise kaum aushielt.
Valentin wagte in Gegenwart der Mutter nicht, sein Bild zu zeigen. Doch als es drei Uhr schlug, stand die alte Dame auf, um das Mittagessen zu bereiten, da sie kein Mädchen hatte. Darauf hatte der junge Mann gewartet. Er zog also wiederum sein Porträt aus der Tasche und prüfte ein zweitesmal. Die Witwe war nicht besonders feinsinnig, sie erkannte sich nicht, und Valentin, ein wenig verwirrt, mußte ihr klarmachen, daß sie es sein solle. Zuerst war sie erstaunt, dann entzückt, und da sie ganz einfach glaubte, er schenke es ihr, nahm sie einen kleinen weißen Holzrahmen vom Kamin, entfernte daraus ein abscheuliches Napoleonbild, das seit dem Jahre 1810 dort gelb wurde, und schickte sich an, das ihre hineinzusetzen.
Valentin ließ sie zuerst gewähren; er mochte sie nicht um ihre naive Freude bringen. Und doch war ihm der Gedanke, daß Frau von Parnes zweifellos das Bild zurückverlangen würde, sichtlich peinlich. Frau Delaunay bemerkte es und glaubte, recht voreilig gewesen zu sein. Sie hielt verwirrt inne, den Rahmen in der Hand, und wußte nicht, was sie tun sollte. Valentin fühlte nun seinerseits, daß es dumm gewesen sei, ihr ein Bild zu zeigen, welches er nicht hergeben wollte. Er suchte vergeblich einen Weg, der aus der Verlegenheit führte. Nach Augenblicken voller Hemmungen blieben Rahmen und Bild auf dem Tisch neben dem entthronten Napoleon, und Frau Delaunay griff wieder zu ihrer Arbeit.
»Ich möchte gerne, wenn Sie es erlauben, eine Kopie von dieser kleinen Skizze machen, bevor ich sie Ihnen gebe«, sagte Valentin endlich.
»Ich glaube, es war sehr voreilig von mir«, entgegnete sie. »Behalten Sie die Zeichnung, die ja Ihnen gehört, wenn sie für Sie irgendeinen Wert hat. Aber ich bin doch sicher, daß Sie sie weder in Ihrem Zimmer aufhängen noch Ihren Freunden zeigen werden.«
»Gewiß nicht, nein; doch ich habe sie für mich entworfen und möchte sie nicht ganz verlieren.«
»Welchen Zweck hätte das, da Sie mir doch versicherten, daß Sie sie niemandem zeigen würden?«
»Es läßt mich Sie sehen, gnädige Frau, und zuweilen Ihrem Bilde sagen, was ich nicht Ihnen selbst zu sagen wage.«
Obgleich das, genau genommen, nichts als eine Höflichkeitsphrase war, so ließ doch der Ton, in dem sie gesprochen wurde, die junge Frau die Augen heben. Sie blickte ihn an, nicht streng, doch ernst. Der Blick verwirrte Valentin, der schon von seinen eigenen Worten bewegt war. Er rollte die Zeichnung zusammen und wollte sie in die Tasche stecken, als Frau Delaunay aufstand und sie ihm mit schelmischer Schüchternheit aus der Hand nahm. Er lachte und hielt das Blatt fest.
»Mit welchem Recht wollen Sie mir mein Eigentum vorenthalten, gnädige Frau? Gehört es nicht mir?«
»Nein«, sagte sie trocken, »niemand hat das Recht, ein Porträt ohne Zustimmung des Modells zu machen.«
Dann setzte sie sich wieder. Valentin sah sie ein wenig erregt; das machte ihn mutig, und er näherte sich ihr. Reute sie es, daß sie ihre erste Freude hatte sehen lassen, war es Enttäuschung, war es Ungeduld: Ihre Hände zitterten. Valentin hatte eben Frau von Parnes' Hand geküßt, und jene hatte nicht gezittert. Er nahm nun ohne weitere Überlegung die der Witwe. Sie sah ihn ganz erstaunt an; denn es war das erstemal, daß Valentin vertraulich wurde. Doch als er sich beugte und die Lippen ihren Händen näherte, stand sie auf, ließ ihn einen langen Kuß auf ihren Handschuh drücken und sagte dann sehr sanft:
»Lieber Herr Valentin, meine Mutter hat mich nötig, ich muß Sie leider verlassen.«
Sie ließ ihn allein, ohne daß er sie hätte zurückhalten oder ihr antworten können. Es beunruhigte ihn sehr, sie verletzt zu haben; er konnte sich nicht zum Gehen entschließen, blieb sitzen und wartete, daß sie wiederkäme. Doch nur die Mutter erschien. Er fürchtete schon, als er sie sah, seine Unbesonnenheit möchte ihm teuer zu stehen kommen; doch es geschah nichts. Die gute Dame kam, um ihm mit freundlichem Gesicht Gesellschaft zu leisten, während ihre Tochter ein Kleid bügelte; denn sie wollte abends auf einen Ball gehen. Er wartete noch eine Zeitlang, immer hoffend, die schmollende Schöne möchte verzeihen. Aber das Kleid war allem Anschein nach außerordentlich umfangreich. Die Zeit kam, wo er gehen mußte, und er brach auf, ohne sein Schicksal zu kennen.
Als er zu Hause war, blickte er trotzdem nicht allzu unzufrieden auf den Tag zurück. Er vergegenwärtigte sich allmählich seine beiden Besuche mit allen Nebenumständen. Wie ein Jäger, der den Hirsch aufgespürt hat, und nun berechnet, wo er seinen Stand nehmen soll, so wägt der Verliebte seine Aussichten ab und sucht in seiner Phantasie nach Vernunftgründen. Bescheidenheit war nicht gerade Valentins Fehler. Er war sich ganz klar, daß die Marquise ihm gehören würde. In der Tat hatte er bei Frau von Parnes auch nicht den Schatten von Strenge und Widerstand gefunden; doch, überlegte er weiter, könnte er gerade aus dieser Tatsache wohl nur auf einen Anflug reiner Koketterie schließen. Es gibt sehr schöne Damen der Gesellschaft, die sich die Hand küssen lassen wie der Papst sein Maultier: Das ist eine liebenswürdige Geste und um so glückhafter für jene, die sie ins Paradies führt. Valentin sagte sich, daß die Schamhaftigkeit der Witwe im Grunde vielleicht mehr verspreche als das Sichgehenlassen der Marquise. Nach allem war Frau Delaunay doch nicht gar zu kühl gewesen. Sie hatte ihre Hand sanft zurückgezogen und war ihr Kleid plätten gegangen. Mit dem Gedanken an das Kleid fiel ihm auch der Ball ein. Er sollte am selben Abend sein, und Valentin nahm sich vor hinzugehen.
Während er so im Zimmer hin und her ging und sich umkleidete, erregte sich seine Phantasie. Er sollte sie wiedersehen, die Witwe, sie, an die er immer dachte. Er erblickte auf dem Tisch ein kleines und ziemlich häßliches Notizbuch, das er einmal in einer Lotterie gewonnen hatte. Auf dem Deckel war eine jämmerliche Aquarellandschaft, ganz gut unter Glas gefaßt. Er vertauschte diese Landschaft geschickt mit dem Bild der Frau von Parnes, nein, falsch, ich will sagen der Frau Delaunay. Dann steckte er das Buch ein und nahm sich vor, es bei Gelegenheit hervorzuziehen und seiner zukünftigen Geliebten zu zeigen. »Was wird sie wohl sagen?« fragte er sich, »und was soll ich wohl antworten?« Er murmelte zwischen den Zähnen ein paar wohlpräparierte Phrasen, die man auswendiglernt und die man doch niemals sagt. Da kam ihm der Gedanke, es sei doch viel einfacher, eine förmliche Liebeserklärung zu schreiben und sie der Witwe zu überreichen.
Und so schrieb er. Vier Seiten füllten sich. Jedermann weiß, wie das Herz in den Augenblicken hochklopft, da man seine Gefühle, die vielleicht nur flüchtig sind, auf dem Papier festzuhalten bemüht ist. Es ist süß, gnädige Frau, ja, es ist gefährlich, wenn man zu gestehen wagt, daß man liebt. Die erste Seite schrieb Valentin ein wenig frostig und allzu leserlich. Die Kommata waren an ihrem Platz, die Zeilenanfänge wohl eingehalten – lauter Dinge, die wenig Leidenschaft beweisen. Die zweite Seite war schon weniger korrekt. Auf der dritten drängten sich die Zeilen, und die vierte – ich muß es gestehen – wimmelte von orthographischen Fehlern.
Wie soll ich Ihnen den seltsamen Gedanken begreiflich machen, der sich seiner bemächtigte, als er den Brief in einen Umschlag steckte? Er hatte ihn für die Witwe geschrieben, sie war es, der er von Liebe sprach, von dem morgendlichen Kuß, von seinem Fürchten und Sehnen. Doch als er den Brief adressieren wollte und ihn noch einmal durchlas, bemerkte er, daß er nichts enthielt, was nur einer galt; und er konnte sich bei dem Gedanken, ihn der Frau von Parnes zu schicken, ein Lächeln nicht versagen. Vielleicht gab es, ihm unbewußt, ein heimliches Motiv, das ihn bewog, diese sonderliche Idee auszuführen. Er fühlte in seinem Innern, daß er unfähig wäre, einen solchen Brief an die Marquise zu schreiben, und sagte sich zur selben Zeit, daß er sehr wohl einen gleichen wieder für Frau Delaunay würde schreiben können. So ergriff er die Gelegenheit und schickte, ohne viel zu zögern, die Liebeserklärung für die Witwe in das Haus der Chaussée d'Antin.
Bei einem alten Notar namens Herr des Andelys sollte der kleine Ball sein, auf dem Valentin Frau Delaunay treffen wollte. Er fand sie, wie er es hoffte, schöner und liebenswerter denn je. Der Kette und den Ohrringen zum Trotz war ihr Kleid fast einfach. Nur ein Seidenband in schillernden Farben schmückte ihren hübschen Hals, und ein zweites von ähnlichem Ton umschloß die schlanke, zierliche Taille. Sie war, wie ich Ihnen sagte, recht klein, brünett und hatte große Augen. Sie war aber auch ein wenig mager und unterschied sich dadurch von Frau von Parnes, deren volle schöne Formen wie von Alabaster schienen. Um mich eines Atelierausdrucks zu bedienen, möchte ich sagen, daß bei Frau Delaunay die Harmonie der Farben trefflich war. Sie hatte nichts Gegensätzliches: Die Haare waren nicht tiefschwarz und die Haut nicht schneeweiß; sie glich einer kleinen Kreolin. Frau von Parnes dagegen war wie ein Bild. Ein leichtes Rot färbte die Wangen und steigerte den Glanz der Augen. Und nichts war der Bewunderung würdiger als die dichten schwarzen Locken, die sich über die schönen Schultern ergossen. Doch ich sehe, daß ich es wie mein Held mache: Ich denke an die eine, wenn ich von der anderen spreche. Die Marquise ging keineswegs zu Abendgesellschaften eines Notars; vergessen wir das nicht.
Als Valentin die Witwe um einen Kontertanz bat, wurde ihm ein ziemlich trockenes: »Ich bin schon vergeben!« zur Antwort. Unser Bruder Leichtsinn, der es erwartete, tat, als ob er nicht verstanden hätte, und entgegnete: »Ich danke Ihnen.« Er machte ein paar Tanzschritte. Frau Delaunay lief ihm nach und sagte ihm, daß er sich irre. »Welchen Kontertanz werden Sie mir dann gewähren?« fragte er sogleich. Sie errötete, wagte nicht nein zu sagen, und blätterte in der Tanzkarte, die die Namen ihrer Tänzer trug. »Die Karte stimmt nicht«, sagte sie zögernd, »es sind hier noch eine Menge Namen, die ich nicht durchgestrichen hatte und die mir das Gedächtnis verwirren.« Das war eine gute Gelegenheit, das Buch mit dem Porträt hervorzuziehen. Valentin verfehlte sie nicht. »Bitte«, sagte er, »schreiben Sie meinen Namen auf die erste Seite dieses Albums. Dann wird es mir noch wertvoller sein.«
Diesmal erkannte sich Frau Delaunay sofort. Sie nahm das Buch, betrachtete das Bild und schrieb auf die erste Seite Valentins Namen. Dann gab sie es ihm wieder und sagte fast traurig: »Ich muß Sie sprechen, ich habe Ihnen notwendig etwas zu sagen; aber tanzen kann ich nicht mit Ihnen.«
Sie ging dann in einen benachbarten Raum, wo gespielt wurde, und Valentin folgte ihr. Sie schien überaus verlegen. »Was ich Sie zu fragen habe«, sprach sie, »wird Ihnen vielleicht sehr lächerlich vorkommen, und ich selbst fühle, daß Sie recht haben, so zu denken. Sie machten mir heute morgen einen Besuch, und Sie haben ... Sie haben meine Hand genommen (sie sprach zaghaft). Ich bin nicht mehr Kind genug und auch nicht so unerfahren, daß ich nicht wüßte, wie wenig so etwas bedeutet und wie wenig Sinn es hat, sich darüber aufzuregen. In der großen Welt, in der Sie leben, ist das nichts als eine einfache Höflichkeit. Immerhin, wir waren allein, und es handelte sich weder um eine Begrüßung noch um einen Abschied. Sie werden mir zugeben, oder, um es richtiger zu sagen, Sie werden es vielleicht verstehen, aus Freundschaft für mich ...«
Sie hielt inne, halb ängstlich und halb ärgerlich über ihre Anstrengung. Valentin spürte bei dieser Einleitung tödliches Erschrecken; er wartete, daß sie fortführe, und plötzlich durchjagte ihn ein Gedanke. Er überlegte nicht, was er tat, gab irgendeiner Regung nach, und rief:
»Ihre Mutter hat es gesehen?«
»Nein«, antwortete sie mit Würde; »nein, mein Herr, meine Mutter hat nichts gesehen.« In diesem Augenblick begann der Kontertanz, ihr Tänzer holte sie, und sie verschwand in der Menge.
Valentin wartete ungeduldig (Sie können es sich denken) auf das Ende des Tanzes. Endlich war es soweit. Aber Frau Delaunay kehrte auf ihren Platz zurück, und er konnte sie nicht sprechen, wenn er auch in ihre Nähe zu kommen suchte. Sie wußte sehr wohl, was sie noch hätte sagen wollen, sie überlegte nur das Wie. Valentin stellte sich tausend Fragen, die alle auf dasselbe hinausliefen. »Sie will mich bitten, daß ich sie nicht mehr besuche.« Ein solches Maß von Verteidigung indes bei einem so belanglosen Anlaß empörte ihn. Er fand es mehr als lächerlich und sah darin eine schlecht angebrachte Strenge oder eine falsche Tugend, die sich geltend zu machen bemüht war. »Sie ist entweder spröde oder kokett«, sagte er sich. Sehen Sie, gnädige Frau, so urteilt man mit fünfundzwanzig Jahren.
Frau Delaunay begriff vollkommen, was in dem jungen Manne vor sich ging. Sie hatte es fast vorausgesehen; aber da es wirklich geschah, verlor sie den Mut. Ihre Absicht war gar nicht einmal, Valentin durchaus die Tür zu verschließen; doch so wenig weltklug sie war, sie hatte doch genug Gefühl, um klar zu sehen, daß es sich an diesem Morgen nicht um einen Scherz handelte, sondern daß der Angriff ernst war. Frauen haben ein bestimmtes Empfinden, das den nahen Kampf ahnen läßt. Die meisten von ihnen stellen sich ihm, weil sie sich in Sicherheit wissen oder weil sie die Gefahr reizt. Plänkeleien der Liebe sind der Zeitvertreib schöner Nichtstuerinnen. Sie verstehen sich zu verteidigen und wissen sich zurückzuziehen, sobald es ihnen genehm ist. Frau Delaunay aber hatte zuviel Arbeit, saß viel zuviel zu Hause, sah viel zu wenig Menschen und fertigte viel zuviel Stickereien an, die träumen lassen und zuweilen Träume erwecken – mit einem Wort, sie war zu arm, um sich die Hand küssen zu lassen. Nicht, daß sie sich schon heute in Gefahr glaubte; aber was würde morgen sein, wenn Valentin ihr von Liebe sprach und übermorgen, wenn sie ihm das Haus verschloß und am Tage darauf, wenn es sie reute? Wie würde die Tagesarbeit während dieser Zeit fortschreiten? Bekäme sie jeden Abend die bestimmte Anzahl Stiche fertig? (Ich werde Ihnen das später erklären.) Und auf jeden Fall, was würden die Leute reden? Eine Frau, die allein lebt, ist dem Geschwätz mehr ausgesetzt als jede andere. Mußte sie deshalb nicht strenger sein?
Frau Delaunay sagte sich, sie müsse, selbst auf die Gefahr hin, sich lächerlich zu machen, Valentin von sich fernhalten, noch ehe ihre Ruhe dahin sei. So also wollte sie sprechen; aber sie war Weib, und er war da. Das Recht der Anwesenheit ist von allen Rechten das stärkste und am schwierigsten zu bekämpfen.
In einem Augenblick, als alle diese Gründe sich ihr mit Macht aufdrängten, erhob sie sich. Valentin war ihr gegenüber, und ihre Blicke trafen einander. Seit einer Stunde stand er in einem Winkel allein und nachdenklich. Jetzt las er in ihren großen Augen jeden Gedanken, der sie bewegte. Seiner anfänglichen Ungeduld war Traurigkeit gefolgt. Er fragte sich, ob sie wirklich prüde oder ob sie kokett sei, und suchte in seinem Gedächtnis nach Beweisen. Er prüfte das schüchterne, nachdenkliche Gesicht, das vor ihm war, und fühlte, daß in ihm Achtung groß wurde. Er sagte sich, sein Leichtsinn sei vielleicht tadelnswerter, als er glaubte. Als sie zu ihm kam, wußte er, was sie von ihm verlangen würde. Er wollte ihr die Mühe ersparen, doch sie war so schön in ihrer Erregung, daß er es vorzog, sie sprechen zu lassen.
Nicht ohne Aufgeregtheit entschloß sie sich, ihm alles zu erklären. Ihr weiblicher Stolz hatte einen harten Stand. Zu gestehen, daß man fühle, und es doch nicht merken zu lassen; zu sagen, daß man alles verstanden habe, und sich doch unwissend zu stellen; zu bekennen endlich, daß sie sich fürchte, – Furcht, letztes Wort, das eine Frau ausspricht –; und der Anlaß zu alledem so geringfügig! Schon bei dem ersten Wort, das sie sprach, fühlte sie, daß es für sie nur ein Mittel gäbe, nicht schwach zu sein, nicht prüde, nicht kokett, nicht lächerlich; das hieß: wahr zu sein. Sie sprach also, und ihre Rede ließ sich in dem einen Satz zusammenfassen: »Bleiben Sie mir fern! Ich habe Angst, Sie zu lieben.«
Als sie schwieg, betrachtete Valentin sie mit schmerzlichem Erstaunen und unsagbarer Freude. Er atmete stolz, fühlte freudig lustvollen Herzschlag. Er öffnete die Lippen zur Antwort, wußte hundert zu gleicher Zeit. Er wurde trunken vor Erregtheit und durch die Gegenwart einer Frau, die ihm solches zu gestehen wagte. Er wollte ihr sagen, daß er sie liebe. Er wollte ihr zu gehorchen versprechen, er wollte ihr schwören, sie niemals zu verlassen, er wollte ihr für sein Glück danken und von seiner Not sprechen. Tausend gegensätzliche Gedanken, tausend Qualen und tausend Wonnen zogen durch seine Seele und aus allem heraus wurde es ihm schwer, nicht zu schreien: »Aber Sie lieben mich ja schon!«
Während er noch zögerte, tanzte man im Salon einen Galopp, der im Jahre 1825 Mode war. Einige Paare hatten sich aufgestellt und machten die Runde. Sie erhob sich und wartete noch auf seine Antwort. Eine seltsame Versuchung überkam ihn, als er den fröhlichen Zug vorbeitanzen sah. »Gut also!« sprach er. »Ich schwöre Ihnen, daß Sie mich das letzte Mal sehen sollen.« Mit diesen Worten legte er seinen Arm um Frau Delaunay, und seine Augen schienen zu bitten: »Nur heute noch wollen wir Freunde sein und es den anderen nachtun.« Sie ließ sich schweigend fortziehen, und bald schwebten sie wie zwei Vögel auf den Klängen der Musik.
Es war schon spät und der Salon fast leer. Nur die Spieltische waren noch besetzt. Auch in dem Speisesaal des Notars, der die Zimmerflucht beschloß, war niemand. Hier konnten die Tanzenden nicht weiter, Sie machten die Runde um den Tisch und kamen dann in den Salon zurück. Als Valentin und Frau Delaunay ihrerseits den Eßsaal passierten, geschah es, daß ihnen keine Tänzer folgten. So waren sie mit einemmal allein, inmitten des Saales. Ein rascher Blick nach rückwärts überzeugte Valentin, daß kein Spiegel und keine Tür sie verraten könne. Er riß die junge Frau an sich und preßte lautlos seine Lippen auf ihre nackte Schulter.
Der leiseste Schrei hätte einen furchtbaren Skandal heraufbeschworen. Zum Glück für den Bruder Leichtsinn verhielt sich seine Tänzerin klug, aber sie konnte nicht gleichzeitig tapfer sein und wäre gefallen, wenn er sie nicht gehalten hätte. Auf ihn gestützt, kehrte sie in den Salon zurück; dort blieb sie, schwer atmend, stehen. Was hätte er gegeben, die Schläge ihres zitternden Herzens zählen zu dürfen! Aber die Musik hörte auf, und er mußte sich verabschieden. Was er ihr auch sagte, sie antwortete ihm nicht.
Unser Held hatte sich nicht getäuscht, als er fürchtete, zu schnell mit der Gleichgültigkeit der Marquise gerechnet zu haben. Er war noch am nächsten Morgen zwischen Schlafen und Wachen, als man ihm ein Billett folgenden Inhalts überbrachte:
»Mein Herr, ich weiß nicht, wer Ihnen das Recht gegeben hat, mir solche Sätze zu schreiben. Wenn es nicht ein Irrtum war, so ist es eine Wette oder eine Unverschämtheit. In jedem Fall schicke ich Ihnen Ihren Brief zurück, der nicht gut für mich bestimmt sein kann.«
Von Erinnerungen noch ganz erfüllt, dachte Valentin nur mit Mühe noch an die Liebeserklärung, die er an Frau von Parnes geschickt hatte. Er las das Billett zwei- oder dreimal, bis er den Sinn begriff. Dann schämte er sich zuerst und suchte vergeblich nach einer Antwort. Als er aufstand und sich die Augen rieb, wurden seine Gedanken klarer. Die Sprache dieses Briefes dünkte ihn nicht die einer beleidigten Frau. Frau Delaunay hatte sich anders ausgedrückt. Er las seinen zurückgeschickten Brief noch einmal durch und fand nichts, das einen solchen Zorn verdiente. Der Brief war leidenschaftlich, töricht vielleicht, aber aufrichtig und respektvoll. Er warf das Billett auf den Tisch und nahm sich vor, nicht mehr daran zu denken.
Aber solche Gelöbnisse werden niemals gehalten. Er hätte vielleicht wirklich nicht mehr an das Billett gedacht, wenn es, statt streng zu sein, freundlich oder auch nur höflich gelautet hätte; denn der vorhergehende Abend hatte in ihm einen tiefen Eindruck hinterlassen. Doch der Zorn ist ansteckend. Valentin wischte zuerst sein Rasiermesser an dem Billett der Marquise ab, dann zerriß er es und warf es auf die Erde, verbrannte seinen Liebesbrief, zog sich an und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Er verlangte das Frühstück, konnte weder essen noch trinken, griff endlich nach seinem Hut und eilte zu Frau von Parnes.
Man sagte ihm, sie sei ausgegangen. Er wollte wissen, ob es wahr sei und antwortete: »Schon gut, ich weiß es« – und schritt flink über den Hof. Der Pförtner lief ihm nach, als er auch schon die Kammerzofe traf. Er ging auf sie zu, nahm sie beiseite und drückte ihr ohne große Vorrede ein Goldstück in die Hand. Frau von Parnes war zu Hause. Er verabredete mit dem Dienstmädchen, niemand solle ihn gesehen haben und er sei aus Versehen hineingekommen. Dann trat er ein, durchschritt den Salon und traf die Marquise allein in ihrem Schlafzimmer.
Sie schien ihm beträchtlich weniger zornig als ihr Brief. Sie warf ihm aber doch, wie Sie sich denken können, sein Betragen vor und fragte ihn etwas scharf, durch welchen Zufall er Einlaß gefunden habe. Er antwortete mit unbefangenem Gesicht, er habe keinen Dienstboten getroffen, dem er sich hätte melden können, und er komme, ihr in aller Ergebenheit Abbitte zu tun.
»Welche Entschuldigungen können Sie vorbringen?« fragte sie.
Zufällig dachte jetzt Valentin an jenes verächtliche Wort, das in ihrem Billett stand. Es schien ihm gut, dies als Vorwand zu nehmen und ihr so die Wahrheit zu sagen. Er antwortete ihr also, der unverschämte Brief, über den sie sich beklage, sei nicht für sie geschrieben und irrtümlicherweise in ihre Hände gelangt. Eine solche Behauptung glaubhaft zu machen, war, wie Sie sich denken können, nicht ganz leicht. Wie kann man einen Namen und eine Adresse aus Versehen falsch schreiben? Doch ich weiß nicht, wie: Frau von Parnes glaubte Valentins Reden oder gab vor, sie zu glauben. Er erzählte ihr, aufrichtiger übrigens, als sie dachte, daß er eine junge Witwe liebe, daß durch einen seltsamen Zufall diese Frau der Marquise sehr ähnlich sei, daß er sie oft sehe und daß er erst gestern abend mit ihr zusammengewesen sei. Kurz, er sagte alles, was sich sagen ließ, und verschwieg nur den Namen und einige Kleinigkeiten, die Sie ahnen werden.
Es ist nicht gerade ohne Beispiel, daß ein Anfänger in der Liebe sich solcher Fabeln bedient, um seine Leidenschaft zu verhüllen. Einer Frau zu sagen, man liebe eine andere, die ihr in allem und jedem ähnlich sei, ist allenfalls ein Mittel in Romanen, von Liebe sprechen zu dürfen. Doch muß – glaube ich – die Betreffende, gegen die man solche Kriegslist anwendet, schon ein wenig guten Willens sein. Ließ ihn die Marquise solches ahnen? Ich weiß es nicht. Verletzte Eitelkeit und nicht so sehr Liebe hatten Valentin hergeführt. Geschmeichelte Eitelkeit und nicht so sehr Liebe war es, die Frau von Parnes besänftigte. Sie fragte ihn sogar etwas über die Witwe aus; sie wunderte sich über die Ähnlichkeit, von der er sprach. Sie sei begierig, mit eigenen Augen darüber zu urteilen. »Wie alt ist sie?« fragte sie; »ist sie größer oder kleiner als ich? Ist sie geistreich? Besucht sie Gesellschaften? Kenne ich sie nicht?« Auf alle diese Fragen antwortete Valentin, soweit es anging, die Wahrheit. Diese seine Aufrichtigkeit glich bei jedem Wort einer versteckten Schmeichelei. »Sie ist nicht größer und nicht kleiner als Sie«, sprach er. »Sie hat dieselbe reizende Figur wie Sie, denselben unvergleichlich kleinen Fuß und dieselben schönen Augen, die voll Feuer sind.« Die Unterhaltung, auf diesen Ton gestimmt, mißfiel der Marquise nicht. Während sie mit gleichgültiger Miene zuhörte, warf sie einen verstohlenen Blick in den Spiegel. Dieses kleine Manöver verdroß Valentin furchtbar. Er konnte nicht dieses Halbe an Tugend und Heuchelei einer Frau verstehen, die sich über ein freies Wort aufregt und sich dabei versteckt den Hof machen läßt. Als er die Marquise so mit sich selber im Spiegel liebäugeln sah, verspürte er wohl Lust, ihr alles zu sagen, den Namen, die Straße, den Kuß auf dem Ball, und so seine Rache für den Brief vollkommen zu machen.
Eine Frage der Frau von Parnes machte ihn wieder guter Laune. Sie fragte ihn in neckischem Ton, ob er ihr nicht wenigstens den Rufnamen seiner Witwe nennen wolle. »Sie heißt Julie«, antwortete er unverzüglich. Er sagte es ohne jedes Zögern und so klar und bestimmt, daß Frau von Parnes stutzig wurde. »Das ist ein ganz hübscher Name«, sagte sie und ließ das Gespräch plötzlich fallen.
Jetzt geschah etwas, das vielleicht leichter zu verstehen als zu erklären ist. Sobald die Marquise ernstlich daran glaubte, daß die Liebeserklärung, die sie gekränkt hatte, in Wirklichkeit gar nicht für sie bestimmt war, schien sie überrascht und fast verletzt. Vielleicht fand sie, daß Valentins Leichtsinn hier zu weit ging, wenn er eine andere liebte. Vielleicht aber auch bedauerte sie es, zu ungünstiger Zeit die Beleidigte gespielt zu haben. Sie wurde nachdenklich und, seltsam genug, zugleich gereizt und kokett. Sie wollte ihre Verzeihung rückgängig machen und versuchte, mit Valentin einen Streit vom Zaun zu brechen. Sie setzte sich an ihren Toilettentisch, löste die Schleife von ihrem Hals und band sie wieder um. Sie griff nach einem Kamm, weil ihr die Frisur zu mißfallen schien, nahm hier eine Locke weg, steckte dort eine auf. Und wie sie so ihr Haar ordnete, glitt ihr der Kamm aus der Hand, und ihre langen schwarzen Locken fielen über die Schultern.
»Soll ich läuten?« fragte Valentin; »benötigen Sie Ihre Kammerzofe?«
»Das ist nicht der Mühe wert«, antwortete sie, die mit ungeduldiger Hand ihre Haare wieder hochnahm und den Kamm hineinsteckte. »Ich weiß gar nicht, was meine Leute machen; sie müssen alle weggegangen sein, denn ich habe diesen Morgen ausdrücklich angeordnet, daß man keinen Menschen vorlasse.«
»Dann beging ich eine Ungeschicklichkeit«, sagte er, »ich werde mich zurückziehen.«
Er tat einige Schritte zur Tür hin und wollte auch wirklich gehen, als die Marquise, ihm abgewandt, und anscheinend seine Antwort überhörend, sagte:
»Geben Sie mir das Kästchen dort vom Kamin.«
Er gehorchte. Sie nahm ein paar Nadeln heraus und befestigte ihre Frisur damit.
»Nebenbei, was macht das Bild, das Sie zeichneten?« fragte sie.
»Ich weiß nicht, wo es ist«, erwiderte er; »doch ich will es suchen, und wenn Sie erlauben, werde ich es Ihnen geben, sobald ich es nachgebessert habe.«
Ein Diener kam und brachte einen Brief, der Antwort erheischte. Die Marquise setzte sich zum Schreiben. Valentin stand auf und ging in den Garten. Er kam an dem Pavillon vorbei und sah die Tür offen. Das Zimmermädchen, das er beim Kommen getroffen hatte, wischte dort den Staub von den Möbeln. Er trat ein, neugierig, das geheimnisvolle und angeblich unbenutzte Boudoir aus der Nähe zu sehen. Das Mädchen sah ihn und lachte so gönnerisch wie alle Dienstboten nach einer Vertraulichkeit. Sie war jung und recht hübsch. Kurz entschlossen ging er hinein und setzte sich in einen Sessel.
»Kommt die Herrin nicht zuweilen einmal hier herein?« fragte er mit zerstreutem Gesicht.
Die Zofe schien mit der Antwort zu zögern; sie hörte nicht auf zu putzen und sagte halblaut, als sie vor jener modernen Chaiselongue stand, die ich, glaube ich, schon erwähnt habe:
»Das ist der Platz der gnädigen Frau.«
»Und warum sagt die gnädige Frau, daß sie niemals hierher kommt?«
»Weil der alte Herr Marquis, verzeihen Sie, hier seine schlimmen Geschichten gemacht hat, mein Herr. Er hat einen schlechten Ruf im Viertel, und wenn man Lärm hört, sagt man: ›Das ist im Parnesschen Pavillon‹; deshalb verleugnet ihn die gnädige Frau.«
»Und was tut sie denn hier?« fragte Valentin weiter.
Statt aller Antwort hob das Mädchen leicht die Schultern, wie um zu sagen: nicht gerade Schlimmes.
Valentin sah durchs Fenster, ob die Marquise noch schreibe. Er hatte, so im Plaudern, die Hand in die Rocktasche getan, und der Zufall wollte es, daß er zu dieser Zeit gerade bei Kasse war. Eine Laune ging ihm durch den neugierigen Kopf. Er zog einen neuen Doppellouisdor heraus, der gar verführerisch in der Sonne blinkte, und sagte zur Zofe:
»Verstecken Sie mich hier.«
Nach dem, was sich zugetragen hatte, glaubte das Mädchen, daß Valentin bei der Herrin nicht ungern gesehen war. Um so eigenmächtig bei einer Dame einzudringen, muß man der guten Aufnahme schon ziemlich sicher sein, und wenn man, nachdem der Eingang erzwungen war, eine halbe Stunde in ihrem Zimmer zubringt, dann wissen die Dienstboten, was sie davon zu halten haben. Immerhin war der Vorschlag kühn: Sich zu verbergen, um zu überraschen, das fällt einem Verliebten ein, aber nicht einem Liebhaber. Der Doppellouisdor, so schön er war, konnte doch nicht über die Furcht siegen, weggejagt zu werden. Nach alledem, dachte das Mädchen, wenn man so verliebt ist, ist man nah daran, wiedergeliebt zu werden. Wer weiß, vielleicht dankt man es mir noch, anstatt daß man mich wegschickt. Sie nahm also den Doppellouisdor mit kleinem Seufzen und zeigte lächelnd auf einen geräumigen Schrank, in dem Valentin sofort verschwand.
»Wo sind Sie denn?« fragte die Marquise, die gerade in den Garten kam.
Das Zimmermädchen gab an, Valentin sei durch den kleinen Salon fortgegangen. Frau von Parnes sah sich nach allen Seiten um, wie um sich zu versichern, daß er wirklich weggegangen sei. Dann trat sie in den Pavillon, warf einen Blick hinein und ging wieder fort, nachdem sie ihn abgeschlossen hatte.
Sie werden vielleicht finden, gnädige Frau, daß ich Ihnen eine recht unwahrscheinliche Geschichte erzähle. Ich kenne Leute von Geist in unserem prosaischen Jahrhundert, die allen Ernstes behaupten, daß so etwas gar nicht mehr möglich ist und daß man sich seit der Revolution nicht mehr in einem Pavillon versteckt. Es gibt nur eine Antwort für die Ungläubigen, nämlich, daß sie jedenfalls die Zeit vergessen haben, als sie selbst verliebt waren.
Kaum war Valentin allein, so kam ihm der sehr naheliegende Gedanke, er müsse vielleicht einen ganzen Tag dort zubringen. Als er seine Neugierde befriedigt und lange genug den Lüster, die Vorhänge und die Konsolen betrachtet hatte, entdeckte er eine Zuckerdose und eine Weinkaraffe und bekam plötzlich starken Appetit.
Ich erzählte schon, daß das Morgenbriefchen ihn am Frühstücken gehindert hatte; im Augenblick aber hatte er gar keinen Grund, nichts zu essen. Er nahm zwei oder drei Stückchen Zucker und erinnerte sich eines alten Bauern, der auf die Frage, ob er die Frauen liebe, geantwortet hatte: »Ich habe ein hübsches Mädchen recht gern, aber noch lieber einen guten Braten.« Valentin dachte an die Feste, deren Zeuge, wie die Kammerzofe erzählte, dieser Pavillon gewesen war; er sah auf den schönen runden Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand, und hätte sehr gern den Geist jener Soupers des verstorbenen Marquis heraufbeschworen. »Wie schön könnte es hier sein«, sprach er für sich, »an einem schönen Abend oder während einer Sommernacht, wenn die Fenster offen sind, die Vorhänge geschlossen, die Kerzen angezündet und der Tisch gedeckt! Wie glücklich war doch jene Zeit, als noch unsere Vorfahren mit dem Fuß nur auf das Parkett zu stampfen brauchten, um ein gutes Mahl aus der Erde zu zaubern.« Und also sprechend, stampfte er ebenfalls mit dem Fuß auf; doch nichts antwortete ihm als das Echo der Wölbung und das Seufzen aus den schlaffen Saiten einer Harfe.
Das Geräusch eines Schlüssels im Schloß hieß ihn eilig in seinen Schrank zurückkehren. War es die Marquise oder das Zimmermädchen? Das Zimmermädchen hätte ihn befreien oder ihm wenigstens doch ein Stück Brot bringen können. Schelten Sie mich noch überspannt, wenn ich Ihnen sage, daß er in diesem Augenblick nicht wußte, welche von beiden er lieber hätte eintreten sehen?
Es war die Marquise. Was wollte sie? Die Neugierde wurde so stark, daß sich jeder andere Gedanke verflüchtete. Frau von Parnes kam gerade vom Essen. Sie tat eben das, wovon Valentin gerade geträumt hatte. Sie öffnete das Fenster, schloß die Vorhänge und zündete zwei Kerzen an. Der Tag verdämmerte. Sie legte ein Buch auf den Tisch, ging summend hin und her und setzte sich dann auf ein Sofa.
»Was wird sie tun?« fragte sich Valentin von neuem. Er konnte sich, wenn auch die Zofe anderes meinte, die leise Hoffnung nicht versagen, hier ein Geheimnis zu entdecken. Wer weiß, dachte er, vielleicht erwartet sie jemanden? Ich würde dann eine schöne Rolle spielen, wenn noch ein Dritter dazukäme.
Die Marquise öffnete das Buch aufs Geratewohl, schloß es dann wieder und schien nachzudenken. Er glaubte zu bemerken, daß sie in die Richtung des Schrankes sah. Durch die halb geöffnete Türe verfolgte er alle ihre Bewegungen; und plötzlich kam ihm ein seltsamer Gedanke: Sollte das Zimmermädchen geschwatzt haben? Wußte die Marquise etwa, daß er da war?
Das ist wahrhaftig ein närrischer Gedanke, werden Sie sagen. Und bei allem recht wenig wahrscheinlich. Sollte man nicht meinen, daß sie ihn nach seinem Schreiben hätte vor die Tür setzen lassen, wenn sie von seiner Gegenwart erführe, oder ihn doch zum wenigsten selbst fortgeschickt hätte? Ich bin ganz Ihrer Ansicht, gnädige Frau; aber um meinem Gewissen Genüge zu tun, muß ich hinzufügen, daß ich mich niemals damit abgebe, solche Gedanken aufzuklären. Es gibt Leute, die immer vermuten und andere, die niemals vermuten. Die Pflicht des Berichterstatters ist zu erzählen, das Denken läßt er denen, die Vergnügen daran haben.
Meiner Meinung nach ist es sicher, daß Valentins Liebeserklärung der Frau von Parnes mißfallen hatte, und sehr wahrscheinlich, daß sie gar nicht mehr daran dachte und daß sie glaubte, er sei weggegangen. Noch wahrscheinlicher ist es, daß sie gut gegessen hatte und nun in ihrem Pavillon Siesta halten wollte. Ganz sicher hingegen, daß sie erst das eine und dann das andere Bein auf das Sofa zog, ihren Kopf auf das Kissen legte und sanft die Augen schloß. Nach alledem kann ich wohl schwerlich etwas anderes glauben, als daß sie eingeschlafen ist.
Valentin gelüstete es sehr, für einen Traum gehalten zu werden, wie Valmont sagt. Er öffnete die Schranktür und zitterte, als sie knarrte. Die Marquise hatte die Augen geöffnet. Sie hob den Kopf und sah um sich. Valentin rührte sich nicht. Als sie nichts mehr hörte und nichts mehr sah, schlief sie wieder ein. Er kam auf den Fußspitzen näher, mit pochendem Herzschlag und verhaltenem Atem, wie Robert der Teufel zur schlummernden Isabella.
In solchen Augenblicken überlegt man nicht mit der gewöhnlichen Vernunft. Niemals war Frau von Parnes so schön gewesen. Nie war das Rot ihrer halbgeöffneten Lippen tiefer. Ein ganz leichter Hauch färbte die Wangen. Der Atem, gleichmäßig und friedlich, hob sanft die Alabasterbrust, die von hellen Spitzen verhüllt war. Der Engel der Nacht ging schöner nicht aus dem carrarischen Marmor unter dem Meißel Michelangelos hervor. Wahrlich, ein solches Weib muß die Wünsche verzeihen, die sie eingibt, selbst wenn sie dem zürnt, der sie überrascht. Eine leichte Bewegung der Marquise ließ ihn innehalten. Schlief sie? Der seltsame Zweifel quälte ihn wider Willen. »Was tut es«, sagte er sich, »wenn es eine Falle ist. Wie dumm ist man oft und wie töricht! Warum sollte die Liebe an Wert verlieren, wenn man merkt, daß sie geteilt wird? Was wäre verzeihlicher und wahrhaftiger als eine kleine Lüge, die sich ahnen läßt? Und was ist schöner als sie, wenn sie schläft? Und was ist reizvoller, wenn sie nicht schläft?«
So sprechend, blieb er unbeweglich und hätte gern ein Mittel gewußt, die Wahrheit zu erfahren. Von diesem Wunsch beherrscht, nahm er ein Stückchen Zucker, das von seiner Mahlzeit übrig war, und warf es ihr auf die Hand, während er sich hinter ihr versteckte. Sie rührte sich nicht. Er rückte einen Stuhl, leise zuerst und dann ein wenig stärker. Keine Antwort. Er hob den Arm und ließ das Buch zur Erde fallen, das sie auf den Tisch gelegt hatte. Jetzt glaubte er sie erwacht und versteckte sich hinter dem Sofa. Aber nichts bewegte sich. Er stand wieder auf und schloß geräuschlos die halbgeöffnete Jalousie, da sie die Marquise der Abendluft aussetzte.
Sie begreifen, gnädige Frau, daß ich nicht im Pavillon war und daß es mir nicht möglich gewesen ist, von dem Augenblick an noch etwas zu sehen, als die Jalousie geschlossen wurde.
Vierzehn Tage später etwa geschah es, daß Valentin sein Taschentuch auf einem Sessel bei Frau Delaunay vergaß, von der er sich gerade verabschiedet hatte. Als er fort war, hob sie das Taschentuch auf, sah zufällig das Zeichen und fand ein I und ein P, in feingestickten Buchstaben. Das war nicht Valentins Name. Wem wohl mochte das Taschentuch gehören? Der Name Isabella von Parnes war niemals in der Rue du Plat d'Étain genannt worden, und die junge Frau verlor sich in vergeblichen Vermutungen. Sie drehte das Taschentuch hin und her, besah alle Ecken, als ob sie so irgendwie den vollständigen Namen des Besitzers hätte entdecken können.
Und warum nur, werden Sie mich fragen, soviel Neugierde für eine so simple Sache? Man leiht alle Tage einem Freunde ein Taschentuch, und man verliert es. Was will das viel heißen? Doch Madame Delaunay prüfte es, hielt den feinen Batist nah ans Gesicht und fand endlich irgendeinen weiblichen Duft in ihm, der sie den Kopf schütteln ließ. Sie kannte sich in Stickereien aus, und das Muster schien ihr zu wertvoll, um dem Wäscheschrank eines Junggesellen zu entstammen. Ein Geringes, das sie zuerst übersehen hatte, gab ihr Gewißheit. An den Falten des Taschentuchs sah sie, daß eine der Ecken zusammengeknüpft gewesen war, um als Geldbörse zu dienen, und diese Art, das Geld zu bewahren, ist, wie Sie wissen, echt weiblich. Sie erbleichte, sah auf das Taschentuch lange Zeit mit schweren Gedanken und mußte es an die Augen führen, weil ihr eine Träne kam.
Eine Träne! sagen Sie; schon eine Träne! Fürwahr, gnädige Frau, sie weinte. – Was ihr denn zugestoßen sei? – Ich will es Ihnen sagen, doch vorerst muß ich ein wenig zurückgreifen.
Valentin war am zweiten Tag nach dem Ball zu Frau Delaunay gekommen. Die Mutter öffnete ihm und sagte, daß sie ausgegangen sei. Frau Delaunay hatte ihm daraufhin einen langen Brief geschrieben, von der letzten Unterhaltung gesprochen und ihn gebeten, sie nicht mehr wiederzusehen. Sie rechne auf sein Wort, auf seine Ehrenhaftigkeit und seine Freundschaft. Sie schien nicht gekränkt und sprach mit keinem Wort von jenem Tanz. Valentin las den Brief von Anfang bis zu Ende und fand nichts zu viel und nichts zu wenig darin. Er war gerührt und hätte wohl gehorcht, wenn das letzte Wort nicht gewesen wäre. Allerdings war dieses letzte Wort ausgestrichen, aber so leicht, daß man es nur um so besser sah. »Leben Sie wohl«, so hieß es am Schluß, »seien Sie glücklich.«
Einem Liebhaber, den man verbannt, zu sagen: »Seien Sie glücklich!« Was meinen Sie dazu, gnädige Frau? Heißt das nicht soviel wie: »Ich bin nicht glücklich?« Am folgenden Freitag zögerte Valentin lange Zeit, zum Notar zu gehen. Trotz seines Alters und leichten Sinnes war ihm der Gedanke unerträglich, jemandem zu schaden, wem es auch sei. Er wußte nicht, was tun; dann aber wiederholte er sich: »Seien Sie glücklich!« Und er eilte zu Herrn des Andelys.
Warum war Frau Delaunay dort? Als unser Held in den Salon trat, sah er sie seltsam die Brauen zusammenziehen. Ihr Verhalten hatte manchmal etwas Kokettes; und doch war niemand im tiefsten Innern so einfältig und so unerfahren wie sie. Sie hatte, als sie die Gefahr fühlte, mutig versucht, sich zu verteidigen; doch für den Kampf selbst besaß sie nicht die notwendigen Waffen. Sie wußte nichts von den kleinen Listen und Hilfsmitteln, die eine Frau von Geist stets bei der Hand hat, um die Liebe in Abstand zu halten, sie zurückweisen oder rufen zu können. Als Valentin ihr die Hand küßte, hatte sie sich gesagt: »Das ist ein schlimmer Mensch, in den man sich wohl verlieben kann. Er muß fort von mir.« Doch da sie ihn fröhlich bei dem Notar sah, leichten Schrittes, in steifer Krawatte und mit einem Lächeln auf den Lippen, da er sie grüßte, liebenswürdig und achtungsvoll, ihrem Gebot zum Trotz, sagte sie sich: »Dieser Mensch ist hartnäckiger und listiger als ich; ich bin nicht die Stärkere, und da er wiederkommt, liebt er mich vielleicht.«
Dieses Mal verweigerte sie ihm den Kontertanz nicht. Aus ihren ersten Worten fühlte er Resignation und starke Unruhe. Diese Frau, naiv und schüchtern, barg in sich doch so etwas wie Lebensüberdruß; sie sehnte sich nach Ruhe und war zugleich der Einsamkeit müde. Ihr Mann, der sehr jung gestorben war, hatte sie gar nicht geliebt. Er nahm sie mehr als Haushälterin denn als Frau, und wenngleich sie keinerlei Mitgift hatte, war es eine Vernunftehe, die er mit ihr schloß. Sparsamkeit, Ordnungsliebe, sorgsames Aufmerken, die Achtung der Welt und die Freundschaft ihres Gatten, häusliche Tugenden: Das war alles, was sie vom Leben kannte. Valentin hatte im Salon des Herrn des Andelys den Ruf, den jeder junge Mann, dessen Schneider gut ist, im Haus eines Notars haben kann. Man sprach von ihm als von einem »Dandy«, einem Stammgast von Tortoni, und die kleinen Kusinen tuschelten sich Anekdötchen aus der andern Welt ins Ohr, zu der man ihn rechnete. Er war durch einen Kamin zu einer Baronin hinabgeklettert, er war aus dem fünfstockwerkhohen Fenster einer Herzogin gesprungen, und alles aus Liebe, und alles, ohne Schaden zu nehmen.
Frau Delaunay hatte zuviel gesunden Menschenverstand, um auf solches Geschwätz zu hören. Aber vielleicht hätte sie besser getan, hinzuhorchen, als sich durch den Zufall ein paar Worte dann und wann zutragen zu lassen. Hier im Leben hängt oft alles davon ab, wie man sich zur Schau trägt. Wie sagen doch die Schuljungen: er war ihr überlegen.
Sie wollte ihm Vorwürfe machen, daß er gekommen sei, und wartete auf seine Entschuldigung; aber er hütete sich wohl. Wäre er gewesen, wofür sie ihn hielt, ein Mann nämlich, der bei Frauen Glück hat, so hätte er vielleicht bei ihr keinen Erfolg gehabt; denn dann wäre er ihr zu behende und zu selbstsicher gewesen. Doch er zitterte, als er sie berührte, und dieses Zeichen von Liebe, fast der Furcht nahe, verwirrte ihr Kopf und Herz. Beide vergaßen, wo sie waren, und fragten sich nicht, ob es des Notars Speisezimmer sei; doch als das Zeichen zum Galopp gegeben wurde und er sie aufforderte, mußten sie sich wohl daran erinnern.
Er hat mir versichert, daß er niemals in seinem Leben ein schöneres Antlitz gesehen hätte als das ihre, als er sie zum Tanz bat. Stirn und Wangen erröteten, alles Blut strömte aus dem Herzen und umgab die großen schwarzen Augen, wie um aus ihnen Glut hervorbrechen zu lassen. Sie erhob sich halb, zum Ja bereit und es doch nicht wagend. Ein leichter Schauder zitterte über die Schultern, die dieses Mal nicht nackt waren. Valentin hielt ihre Hand. Er drückte sie sanft, wie um ihr zu sagen: »Fürchte nichts; ich fühle, du liebst mich.«
Dachten Sie zuweilen schon über eine Frau nach, die einen geraubten Kuß verzeiht? In dem Augenblick, wo sie ihn zu vergessen verspricht, ist es fast schon, als ob sie ihn erlaubt. Valentin wagte es, ihr Vorwürfe zu machen, daß sie ihm zürne. Er klagte über ihre Strenge und über die Ferne, in der sie ihn ließ. Er wußte schließlich, nicht ohne Zögern, von einem kleinen Garten zu sprechen, der hinter seinem Hause lag, von einem heimlichen Ort, schwer von Schatten, den kein neugieriger Blick durchdringen könne. Eines kühlen Springbrunnens Murmeln begünstige das Plaudern, und die Einsamkeit schütze die Liebe. Kein Laut, kein Zeuge, keine Gefahr ... Inmitten einer Gesellschaft von einem solchen Ort zu sprechen, bei den Klängen der Musik, im Wirbel eines Festes und zu einer jungen Frau, die Ihnen zuhört, nicht ja sagt und nicht nein, die zuhört und lächelt, ... o gnädige Frau, so davon zu sprechen ist fast süßer noch, als dort zu sein.
Valentin gab sich rückhaltslos, und sie hörte ihn ohne Überlegung. Von Zeit zu Zeit setzte sie seinen glühenden Wünschen einen zagen Einwurf entgegen, von Zeit zu Zeit tat sie, als ob sie nicht mehr höre; doch wenn ein Wort ihr entgangen war, hieß sie errötend es wiederholen. Ihre Hand, von seiner Hand umschlossen, wollte kalt sein und unbeweglich: Sie war glühend und unruhig. Und der Zufall, der die Liebenden zusammenführt, wollte es, daß sie durch das Speisezimmer tanzend wieder allein waren, wie das letzte Mal. Valentin wollte nicht ihr Hinträumen stören, und sie sah an Stelle des Begehrens die Liebe. Was soll ich weiter sagen. Seine Achtung vor ihr und seine Kühnheit und das Zimmer, der Ball, die Gunst des Augenblicks, alles vereinigte sich, um sie zu verführen. Sie schloß halb die Augen, seufzte ... und versprach nichts.
Sehen Sie, gnädige Frau, das war die Ursache, weshalb Frau Delaunay weinte, als sie das Taschentuch der Marquise fand.
Daß Valentin sein Taschentuch vergessen hatte, mag indessen nicht als Beweis dafür gelten, daß er keines in der Tasche gehabt hätte.
Während Frau Delaunay weinte, war unser nichtsahnender Bruder Leichtsinn von Tränen sehr weit entfernt. Er saß in einem kleinen holzgetäfelten Salon, der wie eine Konfektschachtel vergoldet und parfümiert war, saß in einem Sessel von violettem Damast. Er lauschte gerade, nach einem guten Diner, Webers »Aufforderung zum Tanz«, nahm einen köstlichen Kaffee zu sich und sah hie und da auf Frau von Parnes' weißen Hals. Sie saß im großen Staat und ließ, durch eine Tasse gut gezuckerten Tees wohl angeregt (wie Hoffmann sagt), die Töne unter ihren schönen Händen erstehen. Es war keine einfache Musik, und ich muß zu ihrem Lobe sagen, daß sie sie meisterhaft beherrschte. Ich wüßte nicht, wem das höchste Lob gebührte: dem Genius des deutschen Meisters, der intelligenten Spielerin oder dem prachtvollen Érard, der mit klingenden Schwingungen die zwiefache Beseelung zurücktönte, die ihn belebte.
Das Stück ging zu Ende. Valentin erhob sich und sagte, während er ein Taschentuch hervorzog: »Hier haben Sie mit Dank das Taschentuch zurück, das Sie mir liehen.«
Die Marquise tat eben das gleiche wie Frau Delaunay. Sie besah sich sofort das Zeichen. Das Gewebe war für ihre feine Hand zu grob, als daß es ihr gehören könnte. Auch sie kannte sich in Stickereien aus; die auf dem Tuch aber war mehr als kärglich, genug indessen, um auf eine Frau zu schließen. Sie drehte es zwei-, dreimal hin und her, brachte es vorsichtig an die Nase, sah es noch einmal an, und warf es dann Valentin zu: »Sie haben sich geirrt. Was Sie mir da zurückgeben, gehört irgendeinem Zimmermädchen Ihrer Mutter.«
Valentin erkannte Frau Delaunays Taschentuch, das er versehentlich eingesteckt hatte, und fühlte sein Herz klopfen. »Warum einem Zimmermädchen?« antwortete er. Die Marquise jedoch hatte sich wieder ans Klavier gesetzt. Was kümmerte sie eine Rivalin, die sich in so grobe Leinwand schneuzt. Sie nahm das Presto ihres Walzers wieder auf und tat, als ob sie nichts gehört hätte.
Diese Gleichgültigkeit ärgerte ihn. Er ging durchs Zimmer und griff nach seinem Hut.
»Wo wollen Sie denn hin?«
»Zu meiner Mutter. Ich will ihrem Mädchen das geliehene Taschentuch wiederbringen.«
»Sieht man Sie morgen? Wir machen ein wenig Musik; es würde mich freuen, wenn ich Sie zu Tisch hätte.«
»Nein; ich habe den ganzen Tag zu tun.«
Er ging wieder hin und her und konnte sich nicht zum Gehen entschließen. Die Marquise erhob sich und trat zu ihm.
»Sie sind ein seltsamer Mensch«, sagte sie ihm: »Sie wollen mich eifersüchtig sehen.«
»Ich! Wahrlich nicht. Ich hasse Eifersucht.«
»Warum denn ärgern Sie sich, daß ich an dem Taschentuch einen Dienstmädchengeruch finde? Ist das meine Schuld oder die Ihre?«
»Ich ärgere mich ganz und gar nicht; ich finde es ganz natürlich.«
So sprechend, wandte er ihr den Rücken. Sie trat leise nach vorn, griff nach dem Taschentuch der anderen und warf es durch das offene Fenster auf die Straße.
»Was tun Sie da?« schrie Valentin und stürzte dazu, um es aufzufangen. Doch es war schon zu spät.
»Ich will nur wissen«, sprach sie mit Lachen, »wieviel Ihnen daran liegt, und ich bin sehr neugierig, ob Sie hinuntergehen und es suchen.«
Valentin zögerte einen Moment und wurde aus Ärger rot. Er hatte sie mit irgendeiner scharfen Antwort strafen wollen; doch, wie es so oft kommt, der Zorn raubte die Überlegung. Sie lachte lauter. Er stülpte seinen Hut auf den Kopf, sagte »Ich gehe suchen« und war fort.
Er suchte in der Tat lange Zeit. Doch ein verlorenes Taschentuch wird bald aufgelesen, und er ging vergeblich zehnmal von einem Rinnstein zum andern. Die Marquise stand immer noch lachend an ihrem Fenster und sah ihm zu. Müde endlich und ein wenig beschämt, entfernte er sich, ohne den Kopf zu heben, und tat so, als ob er nicht bemerkt hätte, daß sie ihn beobachtete. An der Straßenecke indessen drehte er sich um und sah sie, die nicht mehr lachte und ihm mit den Augen folgte.
Er ging seinen Weg, nicht wissend, wohin, und schlug mechanisch die Richtung zur Rue du Plat d'Étain ein. Der Abend war schön und der Himmel ohne Wolken. Auch die Witwe saß am Fenster und hatte einen traurigen Tag hinter sich.
»Sie müssen mich beruhigen«, sagte sie ihm, kaum daß er eintrat. »Wem gehört das Taschentuch, das Sie bei mir vergessen hatten?«
Es gibt Menschen, die zu täuschen verstehen und die doch nicht lügen können. Valentin geriet bei dieser Frage so augenscheinlich in Verwirrung, daß kein Irrtum möglich war. Ohne seine Antwort abzuwarten, sprach sie:
»Hören Sie! Daß ich Sie liebe, wissen Sie jetzt. Sie kennen alle Welt, und ich sehe niemanden. Mir ist auch unmöglich zu wissen, was Sie tun; Ihnen wird es sehr leicht, meine geringsten Handlungen in aller Klarheit zu schauen, wenn Sie Lust dazu haben. Sie können mich leicht und ungestraft täuschen, weil ich Sie nicht überwachen kann und nicht aufhören werde, Sie zu lieben. Doch denken Sie daran, ich bitte Sie darum, was ich Ihnen jetzt sage: Alles kommt früher oder später ans Licht, und dann ist es sehr traurig, glauben Sie mir«.
Valentin wollte unterbrechen. Doch sie nahm seine Hand und fuhr fort:
»Ich sagte nicht genug; nicht traurig ist es, sondern das Traurigste, was es auf der Welt gibt. Nichts ist süßer als die Erinnerung an das Glück, das war. Doch nichts fürchterlicher, als zu wissen, daß das vergangene Glück eine Lüge gewesen ist. Haben Sie schon jemals daran gedacht, daß man hassen kann, wenn man einst liebte? Wissen Sie Schlimmeres? Denken Sie darüber nach, ich beschwöre Sie. Jene, denen es Freude macht, andere zu betrügen, tun es für gewöhnlich um ihrer Eitelkeit willen. Sie bilden sich ein, den Betrogenen überlegen zu sein. Aber diese Überlegenheit ist von kurzer Dauer, und wohin führt sie? Nichts ist leichter, als schlecht zu sein. Ein Mann in Ihrem Alter mag seine Geliebte betrügen, nur um sich die Zeit zu vertreiben. Aber die Zeit vergeht, die Wahrheit kommt, und was bleibt dann? Ein armes verführtes Wesen hat an Liebe geglaubt, war glücklich, sah in Ihnen das ganze Glück. Was soll aus ihr werden, bedenken Sie, wenn sie vor Ihnen schaudern muß!«
Ihre schlichten Worte berührten Valentin bis ins Innerste.
»Ich liebe Sie«, sprach er, »zweifeln Sie nicht, ich liebe nur Sie.«
»Ich muß es wohl glauben«, antwortete sie. »Und wenn Sie wahr sprechen, wollen wir niemals wieder von dem reden, was ich heute litt. Doch lassen Sie mich noch ein Wort sagen, das ich unbedingt aussprechen muß. Ich habe gesehen, wie mein Vater mit sechzig Jahren ganz plötzlich erfuhr, daß ein Jugendfreund ihn in einer geschäftlichen Angelegenheit betrogen hatte. Ein Brief war gefunden worden, in dem dieser Freund seine Treulosigkeit selbst erzählte und sich der traurigen Geschicklichkeit rühmte, die ihm durch unseren Schaden ein paar Banknoten verschafft hatte. Ich habe gesehen, wie mein Vater schwer von Schmerz und mit gesenktem Haupt den Brief las, wie er die Schande fühlte, als wäre sie seine eigene. Er wischte seine Träne fort, warf den Brief ins Feuer und rief: ›Was sind Eitelkeit und Habsucht gegen das Fürchterliche, einen Freund zu verlieren!‹ Wenn Sie dabei gewesen wären, Valentin, Sie hätten sich geschworen, keinen Menschen mehr zu täuschen.«
Sie sprach es und weinte leise. Er saß neben ihr und zog sie schweigend an sich. Sie legte den Kopf an seine Schulter und zog das Taschentuch der Marquise hervor:
»Es ist sehr schön«, sprach sie, »und fein gestickt; Sie lassen es mir, nicht wahr? Die Frau, der es gehört, wird den Verlust kaum merken. Wenn man solch ein Taschentuch hat, besitzt man deren viele. Ich selber habe nur ein Dutzend, und sie sind nicht gerade hervorragend. Sie geben mir das meine wieder, das Sie mitgenommen haben und das Ihnen keine Ehre machen würde. Doch dieses hier behalte ich.«
»Wozu denn?« entgegnete er, »Sie werden es ja doch nicht gebrauchen.«
»Doch, mein Freund; ich muß mich trösten, daß ich es auf meinem Sessel gefunden habe. Ich muß meine Tränen damit trocknen, bis sie zu fließen aufhören.«
»Meine Küsse sollen sie trocknen!« rief er, nahm das Taschentuch der Frau von Parnes und warf es aus dem Fenster.
Sechs Wochen waren vergangen. Es muß für einen Menschen schon recht schwer sein, sich selbst zu erkennen; denn Valentin wußte noch immer nicht, welche der beiden Geliebten er mehr liebte. Den Augenblicken zum Trotz, da er aufrichtig und mit heißem Herzen bei Frau Delaunay saß, konnte er sich doch nicht entschließen, die Gänge zum Haus in der Chaussée d'Antin aufzugeben. Und obwohl Frau von Parnes schön war, geistreich, anmutig, trotz der Freuden, die er bei ihr fand, vermochte er doch nicht, auf das Zimmerchen in der Rue du Plat d'Étain zu verzichten. Sein kleiner Garten sah abwechselnd die Witwe und die Marquise an seinem Arm, und das Murmeln der Kaskade umhüllte eintönig stets dieselben Schwüre, mit derselben Glut immer wieder gegeben und gebrochen. Sollte man es glauben, daß die Unbeständigkeit das gleiche Glück geben kann wie die treue Liebe? Zuweilen noch hörte man den Wagen fortrollen, der heimlich, ohne Diener, Frau von Parnes fortführte, wenn Frau Delaunay tief verschleiert schon am Ende der Straße auftauchte und mit ängstlichem Schritt näherkam. Hinter der Jalousie versteckt, lächelte Valentin über das Zusammentreffen und ergab sich ohne Gewissensbisse der gefährlichen Lockung dieses Wechsels.
Untrüglich fast ist es: Wer sich mit der Gefahr vertraut macht, der liebt sie schließlich. Stets dem Zufall und dem kläglichen Ende seines Doppelspiels ausgesetzt und zu der schwierigen Rolle gezwungen, beständig lügen zu müssen, ohne sich je zu verraten, war unser leichtsinniger Held noch stolz auf seine seltsame Lage. Sein Herz hatte sich damit vertraut gemacht, und seine Eitelkeit gewöhnte sich jetzt daran. Ängste, die ihn früher schüttelten, Skrupel, die auf ihm lasteten, wurden ihm jetzt lieb. Er schenkte seinen beiden Freundinnen zwei Ringe von gleicher Art. Er hatte Frau Delaunay bestimmt, anstatt ihres unechten Kolliers eine feine Goldkette zu tragen, die er ihr auswählte. Es dünkte ihm gar zu vergnüglich, dieses Kollier bei der Marquise zu sehen, und es gelang ihm wirklich eines Tages, als sie zum Ball ging, sie damit zu putzen. Das war sicherlich der größte Liebesbeweis, den sie ihm je gegeben hatte.
Frau Delaunay konnte nicht an seine Unbeständigkeit glauben, weil sie vor Liebe blind war. Es gab wohl Tage, wo die Wahrheit ihr mit einemmal taghell und unwiderleglich schien; sie brach dann in Vorwürfe und Tränen aus und wollte sterben. Ein Wort des Geliebten aber täuschte sie von neuem, ein Druck seiner Hand tröstete sie, und sie ging wieder heim, glücklich und ruhig. Frau von Parnes aber, blind vor Stolz, wollte nichts entdecken und nichts wissen. Sie sagte sich: »Das ist irgendein altes Verhältnis, das zu beenden er nicht den Mut hat«; und sie entwürdigte sich nicht, dieses Opfer von ihm zu fordern. Liebe dünkte sie Zeitvertreib und Eifersucht lächerlich. Und im übrigen hielt sie ihre Schönheit für einen Talisman, dem nichts widerstehen könne.
Gnädige Frau, Sie erinnern sich daran, wie ich Ihnen auf den ersten Seiten dieser Erzählung das Wesen unseres Helden schilderte. Und so werden Sie sein Betragen vielleicht verstehen und entschuldigen, trotz allem, was gerade beschämend für ihn ist. Die zweifache Liebe, die er fühlte oder zu fühlen vermeinte, war sozusagen ein Bild seines ganzen Lebens. Er hatte ja immer die Extreme gesucht und die Freuden der Armen und der Reichen gleichzeitig genossen. Er fand bei seinen beiden Frauen jenen Kontrast und war an einem und demselben Tage in Wahrheit reich und arm. Wenn so um sieben oder acht Uhr bei Sonnenuntergang zwei schöne Grauschimmel in kurzem Trab in die Avenue der Champs-Élysées einbogen und ein Coupé hinter sich herzogen, das mit Seide ausgeschlagen war wie ein Boudoir, so hätten Sie, im Wagen zurückgelehnt, ein frisches, kokettes Gesicht sehen können, das unter einem großen Hut verborgen war und einen jungen Mann anlächelte, der nachlässig neben ihr in den Kissen saß. Das waren Valentin und Frau von Parnes, die nach dem Abendessen frische Luft genossen. Und hätte Sie der Zufall des Morgens bei Sonnenaufgang in die Nähe des hübschen Bois de Romainville geführt, dann hätten Sie vielleicht unter der grünen Hecke der kleinen Schenke zwei Liebende treffen können, die mit leiser Stimme zueinander sprachen oder gemeinsam La Fontaine lasen. Das waren Valentin und Frau Delaunay, die durch den Tau schritten. Waren Sie an jenem Abend auf dem großen Ball der österreichischen Gesandtschaft? Haben Sie im glänzenden Kreise junger Frauen eine Schönheit gesehen, stolzer als sie alle, die Gefeierteste, Unnahbarste? Dieses reizende Köpfchen, mit einem goldgewirkten Turban geschmückt und anmutig gehalten wie eine Rose, die sich im Zephir wiegt, gehört der jungen Marquise, die alle Welt bewundert, die, durch den Triumph verschönt, vor sich hinträumt und fern in Gedanken scheint. Nicht weit von ihr, an eine Säule gelehnt, steht Valentin und sucht sie mit den Blicken. Niemand weiß ihr Geheimnis, niemand weiß das Spiel der Augen zu deuten und ahnt die Freude des Liebenden. Alles erfüllt ihn, der Glanz der Lüster, die Töne der Musik, das Stimmengewirr der Menge, Blumenduft, alles teilt sich ihm mit, und die geblendeten Augen berauschen sich an dem Strahlenbild der schönen Geliebten. Er selbst fast zweifelt an seinem Glück. Gehört das seltene Kleinod wirklich ihm? Er hört die Männer um sich herum sagen: »Wie schön diese Frau ist! Und wie sie lächelt!« Und er wiederholt sich ganz leise die Worte. Die Stunde des Essens kommt. Ein junger Offizier wird rot vor Vergnügen, der Marquise den Arm reichen zu dürfen. Man umringt sie, folgt ihr; jeder will ihr nahe kommen und wirbt um die Gunst eines Wortes von ihren Lippen. Dann geschieht es, daß sie Valentin streift und ihm ins Ohr flüstert: »Bis morgen!«
Wieviel Seligkeit barg dieses Wort!
Doch morgen, wenn die Schatten fallen, steigt er tastend eine lichtlose Treppe hinauf. Mühselig klimmt er zur dritten Etage, pocht sanft an eine kleine Tür. Die öffnet sich, er tritt ein. Frau Delaunay arbeitet an ihrem Tisch und hat ihn erwartet. Er setzt sich neben sie. Sie blickt ihn an, nimmt seine Hand und dankt ihm, daß er sie noch liebt. Eine kleine Lampe beleuchtet schwach das Zimmerchen; aber unter dieser kleinen Lampe ist ein Gesicht, das lieb ist und voll ruhiger Freundschaft. Hier sind keine eifrigen Zeugen, nicht Bewunderung, nicht Triumph. Aber Valentin vermißt nicht nur die große Welt nicht, nein, er vergißt sie. Die alte Mutter kommt, setzt sich in ihren Lehnstuhl; und bis zehn Uhr muß man Anekdötchen hören und den kleinen knurrenden Köter streicheln und die schwelende Lampe wieder anzünden. Zuweilen muß man sich an einen neuen Roman wagen und ihn lesen. Valentin läßt das Buch fallen, damit er beim Aufheben den kleinen Fuß der Geliebten streifen kann. Manchmal erheischt die Pflicht, ein Pikett, zwei Sous Einsatz, mit der guten Dame zu spielen und Sorge zu tragen, daß sie nicht verliert. Dann geht er zu Fuß nach Hause. Gestern soupierte er bei Champagner und einen Kontertanz trällernd; heute ißt er bei einer Tasse Milch zu Abend und macht dabei ein paar Verse für die Geliebte. Schon ist die Marquise böse, daß er sein Wort nicht gehalten hat. Ein großer, gepuderter Lakai bringt ein Billett, schwer von zärtlichen Vorwürfen und Moschusdüften. Das Siegel wird erbrochen, das Fenster geöffnet; das Wetter ist schön, und Frau von Parnes wird kommen. Jetzt ist unser Bruder Leichtfuß Grandseigneur, und so bringt er es fertig, sich selbst auszuwechseln, bei aller Unaufrichtigkeit doch wahr zu sein; denn der Liebhaber der Marquise ist ein anderer als der Geliebte der Frau Delaunay.
»Und warum soll ich wählen?« sagte er mir eines Tages, als wir spazierengingen und er sich zu rechtfertigen bemüht war. »Warum ist es notwendig, daß eine Liebe die andere ausschließt? Blamiert es einen Mann in meinen Jahren, in Frau von Parnes verliebt zu sein? Ist sie nicht bewunderungswürdig und zum Entzücken? Beneidet sie nicht jeder um ihren Geist und ihre Reize? Die Vernunft in Person würde sich für sie entflammen. Und andererseits, welchen Vorwurf kann man mir machen, daß ich von der gütigen, reinen Zärtlichkeit der Frau Delaunay gerührt werde? Ist sie nicht wert, eines Mannes Glück und Freude zu sein? Und wäre sie auch weniger schön, würde sie nicht als Freundin unschätzbar sein? Und ist sie nicht, so wie sie ist, die reizendste Geliebte, die man sich denken kann? Und warum will man mich tadeln, wenn ich diese beiden Frauen liebe, von denen jede es verdient? Und wenn ich schon glücklich genug bin, in ihrer beider Leben etwas zu gelten, warum soll ich die eine glücklich machen und die andere unglücklich? Warum soll das süße Lächeln, das meine Gegenwart zuweilen auf den Lippen meiner schönen Witwe hervorzaubert, um den Preis einer Träne gekauft werden, die die Marquise weint? Ist es ihr Fehler, wenn das Schicksal mich ihnen in den Weg wirft, mich ihnen nahebringt und mir sie zu lieben erlaubt? Welche soll ich wählen, ohne ungerecht zu sein? Welchen Vorzug sollte die eine haben, daß ich die andere verlasse? Wenn mir Frau Delaunay sagt, ihr ganzes Leben gehöre mir, was wohl soll ich ihr dann antworten? Soll ich sie zurückstoßen, ihr die Augen öffnen, sie in Kummer und Leid zurücklassen? Wenn Frau von Parnes am Klavier sitzt und ich hinter ihr sehe, wie edle Begeisterung sie hebt, wenn ihr Geist den meinen in die Höhe führt, steigert und mir durch die Liebe die köstlichsten Genüsse gewährt, soll ich ihr dann sagen, daß sie sich irrt und daß unsere sanfte Lust eine Schuld ist? Soll ich das Gedenken köstlicher Stunden in Haß oder Verachtung wandeln? Nein, mein Freund, ich würde lügen, sagte ich einer von beiden, daß ich sie nicht mehr liebe oder niemals geliebt habe. Eher hätte ich den Mut, sie beide zu verlieren, als unter ihnen zu wählen.«
Sie sehen, gnädige Frau, unser Held macht es wie alle Männer: Wenn sie ihre Torheiten nicht besser machen können, versuchen sie, ihnen einen Schein von Vernünftigkeit zu geben. Und doch gab es Tage, wo sein Innerstes, ihm zum Trotz, die Doppelrolle verweigerte, die ihm zugedacht war. Er bemühte sich, die Ruhe von Frau Delaunay so wenig wie möglich zu erschüttern; aber der Stolz der Marquise hatte mehr als einmal unter seinen Launen zu leiden. »Diese Frau besteht nur aus Geist und Hochmut«, sagte er mir zuweilen. Es geschah auch, daß ihn die Naivität der Witwe lächeln machte, wenn er den Salon der Marquise verlassen hatte, und daß er Frau Delaunay wiederum gar zu wenig hochmütig und gar zu wenig geistreich fand. Er beklagte sich, daß ihm Freiheit fehle. Dann hieß ihn eine Laune das Stelldichein versäumen, er nahm ein Buch und speiste irgendwo auf dem Lande allein; und dann wieder verwünschte er den Zufall, der ein erbetenes Zusammensein vereitelte. Im tiefsten Innern zog er Frau Delaunay vor; aber er selbst wußte es nicht, und diese seltsame Unsicherheit hätte vielleicht noch lange gedauert, wenn ihm nicht ein Geschehen, leicht zu werten scheinbar, mit einemmal über seine wahren Gefühle die Augen geöffnet hätte.
Es war im Juni, und die Abende im Garten waren köstlich. Die Marquise saß auf einer Holzbank nahe der Kaskade und bemerkte eines Abends, daß die Bretter zu hart seien.
»Ich werde dir ein Kissen schenken«, sagte sie zu Valentin.
Am nächsten Morgen kam wirklich ein elegantes Kanapee mit einem schönen gestickten Kissen, im Auftrag der Frau von Parnes.
Sie wissen doch, daß Frau Delaunay Stickereien anfertigte. Seit einem Monat hatte sie Valentin beharrlich über einer Arbeit sitzen sehen, deren Muster er bewunderte. Nicht, daß irgend etwas Besonderes daran wäre; es war, glaube ich, ein Blumenkranz wie auf allen Stickereien der Welt; aber die Farben waren sehr schön. Was könnte übrigens eine geliebte Hand schaffen, das wir nicht als Meisterwerk ansähen? Hundertmal am Abend hatte er unter der Lampe den geschickten Fingern der Freundin zugesehen; hundertmal hörte er mitten in der Unterhaltung auf, um feierliches Stillschweigen zu bewahren, wenn sie die Stiche zählte; und hundertmal hat er die müde Hand von der Arbeit genommen und ihr mit einem Kuß neuen Mut gegeben.
Valentin ließ das Sofa in einen kleinen Saal neben den Garten bringen, stieg hinunter und sah sich das Geschenk an. Als er das Kissen aus der Nähe beschaute, glaubte er, es zu erkennen. Er nahm es, drehte es hin und her, tat es wieder auf seinen Platz und fragte sich, wo er es schon gesehen habe. »Wie dumm ich bin«, sagte er sich, »alle Kissen sehen einander gleich, und das da hat nichts Außergewöhnliches an sich.« Aber plötzlich sahen seine Augen einen kleinen Fleck auf dem weißen Grund. Er hatte sich nicht getäuscht; denn er selbst war es gewesen, der ihn verursachte, als er einen Tintentropfen auf Frau Delaunays Arbeit spritzte, an einem Abend, da er neben ihr schrieb.
Diese Entdeckung machte ihn staunen, wie Sie sich denken können. »Wie ist es nur möglich?« fragte er sich. »Wie kann mir die Marquise ein Kissen schicken, das Frau Delaunay angefertigt hat?« Er sieht noch einmal hin: Kein Zweifel, es sind dieselben Blumen und dieselben Farben. Er erkennt sie an dem Glanz und an der Art ihrer Anordnung. Er berührt sie, wie um sich zu überzeugen, daß ihn keine Täuschung narrt. Dann steht er bestürzt da, weiß nicht, wie er sich das alles erklären soll.
Tausend Vermutungen drängten sich ihm auf, die einen immer unwahrscheinlicher als die anderen. Einmal meinte er, der Zufall habe die Witwe und die Marquise zusammengebracht, sie hätten sich ausgesprochen und schickten ihm nun dieses Kissen aus gemeinsamem Plan, um ihn wissen zu lassen, daß seine Treulosigkeit entdeckt sei. Dann wieder sagte er sich, Frau Delaunay habe jüngst das Gespräch im Garten belauscht und das Versprechen der anderen ausgeführt, um ihn zu beschämen. Auf jeden Fall sah er sich entdeckt und von den beiden Geliebten verlassen, zum mindesten doch von einer. Er sann so eine Stunde hin, beschloß dann, sich Gewißheit zu verschaffen, und ging zu Frau Delaunay. Sie empfing ihn wie gewöhnlich, und ihr Gesicht verriet nur ein wenig Erstaunen, ihn so früh des Morgens zu sehen.
Der Empfang beruhigte ihn zuerst. Er sprach Gleichgültiges. Dann aber, als die Unruhe wieder in ihm stark wurde, fragte er sie, ob die Stickerei fertig sei. »Ja«, antwortete sie. »Wo ist sie denn?« Sie wurde rot und verlegen. »Im Geschäft«, sagte sie rasch und fügte hinzu: »Ich habe sie zum Fertigstellen fortgegeben und bekomme sie dann wieder.«
Wenn Valentin erstaunt war, als er das Kissen wiedererkannte, so wurde er es noch mehr, da er ihre Verlegenheit sah. Er wagte keine neuen Fragen mehr, um sich nicht zu verraten, ging bald fort und eilte zur Marquise. Allein hier wurde er nicht klüger; denn als er das Kanapee erwähnte, nickte Frau von Parnes statt aller Antwort lächelnd mit dem Kopf, wie um zu sagen: »Ich freue mich, daß es Ihnen gefällt.«
Unser Held kam also heim, weniger unruhig zwar als zuvor, doch glaubend noch, er habe geträumt. Welch Geheimnis oder welch launischer Zufall verbarg sich in dieser seltsamen Sendung? »Die eine verfertigt ein Kissen, und die andere gibt es mir; die eine braucht einen Monat, um es zu arbeiten, und als ihr Werk fertig ist, gehört es der anderen. Zwei Frauen, die sich nie sahen, finden sich, um mir einen Streich zu spielen, von dem sie selber nichts zu wissen scheinen.« Dieses alles genügte gewiß, um sich das Hirn zu martern, und er suchte auf hundert unterschiedliche Arten die Lösung des bedrückenden Rätsels.
Das Kissen prüfend, fand er die Adresse des Geschäfts, in dem es gekauft war. Auf einem kleinen Papierzettel, in einer Ecke aufgeklebt, stand geschrieben: »Zum Hausvater, Rue Dauphine«.
Jetzt sah er sich der Wahrheit näher. Er eilte in das Geschäft »Zum Hausvater« und fragte, ob man nicht am selben Morgen einer Dame ein gesticktes Kissen verkauft habe. Er beschrieb es, und man konnte sich erinnern. Als er dann noch wissen wollte, wer das Kissen verfertigt und von wem sie es gekauft hätten, antworteten sie ausweichend: Man kenne die Arbeiterin nicht, und es gebe im Geschäft viele Gegenstände dieser Art. Kurz, man wollte nichts sagen.
Trotz der Zurückhaltung hatte Valentin aus den Antworten des Kommis sehr bald ein Geheimnis erfahren, das er nicht ahnte und das auch sehr viele andere nicht wissen. Es gibt in Paris eine große Anzahl Frauen und unbemittelter Mädchen, die heimlich arbeiten, um zu leben, und die doch in der Gesellschaft eine geachtete, zuweilen sogar angesehene Stellung einnehmen. Die Geschäftsleute kommen so auf billige Weise zu geschickten Arbeiterinnen, und manche Familie, zu der wir zum Tee gehen, erhält sich durch ihre Töchter. Wir sehen sie unablässig die Nadel führen; und doch sind sie nicht reich genug, um die Arbeiten ihrer Hände zu tragen. Sie verkaufen Tüllstickereien, um für sich Perkal zu kaufen. Diese hier aus edlem Haus, stolz auf ihren Namen und ihre Geburt, zeichnet Taschentücher. Jene dort – Sie bewundern sie, die Fröhliche, Kokette und Leichte, auf jedem Ball – macht künstliche Blumen und kauft mit ihrer Arbeit das Brot für die Mutter. Andere, wohlhabendere, wollen etwas verdienen, um ihre Toilette zu bereichern. Die geputzten Hüte und die gestickten Täschchen, die wir in den Auslagen der Läden sehen und müßig vorübergehend kaufen, sind heimliche Werke, fromme Werke zuweilen, von unbekannter Hand. Wenige Männer würden sich zu diesem Tun hergeben; sie bleiben arm und stolz. Wenige Frauen werden nein sagen, wenn sie es müssen; und von denen, die es tun, errötet keine. Es geschieht, daß eine junge Frau eine mittellose Freundin aus der Jugendzeit trifft, die Geld nötig hat. Sie selbst kann ihr nichts leihen, sie sagt ihr, wie sie sich hilft, macht ihr Mut, erzählt ihr Beispiele, geht mit ihr zum Kaufmann und verschafft ihr eine kleine Kundschaft. Drei Monate später hat die Freundin ihr Auskommen und rät einer Dritten das gleiche. Solcherlei geschieht alle Tage. Niemand weiß es, und es ist gut so; denn die Schwatzmäuler, die sich der Arbeit schämen, würden es bald verstehen, ein Wirken verächtlich zu machen, wie es ehrlicher kaum eines gibt.
»Wieviel Zeit braucht man ungefähr, um solch ein Kissen fertigzumachen, und was verdient die Arbeiterin dabei?« fragte Valentin.
»Für solch ein Kissen, mein Herr, braucht man ungefähr sechs Wochen bis zwei Monate. Die Stickerin bezahlt die Wolle, wohlverstanden; folglich geht das vom Gewinn ab. Englische Wolle in guter Qualität kostet zehn Franken das Pfund; hochrote oder kirschenrote fünfzehn Franken. Für dieses Kissen braucht man höchstens anderthalb Pfund, und eine geschickte Stickerin bekommt dafür ihre vierzig bis fünfzig Franken.«
Als Valentin nach Hause kam und sein Sofa vor sich sah, löste das Geheimnis, von dem er soeben erfahren hatte, in ihm eine unerwartete Wirkung aus. Er bedachte, daß Frau Delaunay sechs Wochen über diesem Kissen saß, um zwei Louis zu verdienen, und daß Frau von Parnes es kaufte, als sie vorbeispazierte. Das zog ihm das Herz merkwürdig zusammen. Der Unterschied, vom Geschick zwischen diese beiden Frauen geworfen, wurde ihm so greifbar klar, daß er darum litt. Zu denken, daß die Marquise kommen, sich auf die Bank stützen und den nackten Arm auf den Spuren von der anderen Tränen ruhen lassen würde, war ihm unerträglich. Er nahm das Kissen und tat es in einen Schrank. »Mag sie denken, was sie will, das Kissen läßt mich mitleiden; ich kann es nicht dort lassen.«
Frau von Parnes kam bald danach und verwunderte sich, ihr Geschenk nicht mehr zu sehen. Statt einer Entschuldigung entgegnete Valentin, er wolle es nicht und werde es niemals benutzen. Er sprach die Worte schroff und ohne Überlegung.
»Und warum?« fragte sie.
»Weil es mir nicht gefällt.«
»Und warum mißfällt es dir? Du sagtest mir noch heute morgen das Gegenteil.«
»Schon möglich. Jetzt aber mißfällt es mir. Wieviel hat es dich gekostet?«
»Auch eine Frage! Was fällt dir eigentlich ein?«
Man muß wissen, daß Valentin gerade vor einigen Tagen von Frau Delaunays Mutter erfahren hatte, sie sei in Geldnöten. Es handelte sich um eine fällige Miete, und der Wirt drohte bei der geringsten Verzögerung mit der Klage. Valentin konnte selbst bei einer Bagatelle seine Hilfe nicht anbieten, da sie sich doch nicht dazu verstanden hätte, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Sorge zu verbergen. Nach den Worten des Kommis aus dem Geschäft »Zum Hausvater« genügte das Kissen augenscheinlich nicht, um sie aus der Verlegenheit zu ziehen. Das war wahrlich nicht die Schuld der Marquise; doch das Menschenhirn ist zuweilen wunderlich, und der junge Mann war fast versucht, Frau von Parnes um des billigen Preises willen zu zürnen. Ohne das wenig Passende seiner Frage zu bemerken, sprach er bitter:
»Das hat dich vierzig oder fünfzig Franken gekostet. Weißt du, wieviel Zeit man braucht, um es anzufertigen?«
»Ich weiß es um so besser, als ich es selbst gestickt habe.«
»Du?«
»Ich. Und für dich brachte ich vierzehn Tage damit zu. Darf ich dafür nicht etwas Dankbarkeit verlangen?«
»Vierzehn Tage? Man braucht zwei Monate, zwei Monate angestrengter Arbeit, um es fertigzubringen. Du würdest sechs Monate brauchen, wenn du es unternähmest.«
»Du scheinst mir sehr auf dem laufenden. Woher die Kenntnis?«
»Von einer Stickerin, die ich kenne und die sich gewiß nicht irrt.«
»Schon gut! Deine Stickerin hat dir aber nicht alles gesagt. Du weißt nämlich nicht, daß das Wichtigste an solchen Arbeiten die Blumen sind und daß man in den Geschäften vorgestickte Muster bekommt, in denen das Muster schon ausgefüllt ist. Die schwierigste Arbeit bleibt noch, aber das Langweiligste ist getan. Solch ein Kissen habe ich gekauft, und es hat mich nicht mehr als vierzig oder fünfzig Franken gekostet; denn das Muster hat kaum viel Wert. Es ist eine mechanische Arbeit, für die man nur Wolle und Hände braucht.«
Das Wort »mechanisch« mißfiel Valentin.
»Ich muß dir leider widersprechen«, entgegnete er; »allein weder das Muster noch die Blumen sind von dir.«
»Und von wem denn? Wahrscheinlich von der Stickerin, die du kennst?«
»Vielleicht.«
Die Marquise wußte einen Augenblick lang nicht recht, ob sie böse werden oder lachen sollte. Sie entschloß sich zur Heiterkeit und rief:
»So sage mir doch, verrate mir doch, ich bitte dich, den Namen deiner mysteriösen Stickerin, die dir so gute Auskunft gibt.«
»Sie heißt Julie«, antwortete er.
Blick und Klang seiner Stimme erinnerten sie jäh an den Tag, da er, von einer Witwe sprechend, die er liebe, den gleichen Namen aussprach. Wie damals verwirrte sie das Ehrliche seiner Antwort. Sie erinnerte sich umrißhaft der Geschichte jener Frau, die sie für ein Produkt der Phantasie gehalten hatte. Doch als er den Namen wieder nannte, ahnte sie seinen Ernst.
»Wenn das ein Geständnis sein soll, so ist das weder klug noch höflich«, sprach sie.
Valentin antwortete nicht. Er fühlte, der Überschwang habe ihn zu weit geführt, und er fing an, nachzudenken. Auch die Marquise schwieg eine Zeitlang. Sie erwartete eine Erklärung, und er überlegte, wie er sie vermeiden könne. Als er sich endlich zum Sprechen entschied und einen Rückzug versuchen wollte, verlor sie die Geduld und erhob sich schroff.
»Willst du Streit oder Bruch?« fragte sie ihn in so verletzendem Tone, daß er nicht kaltblütig bleiben konnte.
»Wie du es wünschst«, entgegnete er.
»Sehr schön«, sprach sie und ging weg.
Doch nach fünf Minuten läutete es an der Tür. Valentin öffnete und sah sie auf dem Flur, die Arme unter der Mantille gekreuzt und gegen die Mauer gelehnt. Sie war erschreckend bleich und einer Ohnmacht nahe. Er nahm sie in seine Arme, trug sie auf das Sofa und war bemüht, sie zu beruhigen. Er bat sie um Verzeihung für seine schlechte Laune, flehte sie an, den bösen Augenblick zu vergessen, und klagte sich eines ihm unverständlichen Anfalles von Ungeduld an.
»Ich weiß nicht, was ich diesen Morgen hatte. Eine ärgerliche Nachricht irritierte mich. Ich suchte mit dir grundlos Streit. Denke niemals mehr an das, was ich dir sagte; es war ein Augenblick der Verrücktheit.«
»Wir wollen nicht mehr davon sprechen«, sprach sie, die wieder zu sich gekommen war; »geh, hole mein Kissen.« Valentin gehorchte widerwillig. Sie warf es zur Erde und stellte ihre Füße darauf. Wie Sie sich denken können, war diese Geste ihm nicht angenehm. Er runzelte die Brauen unbewußt und sagte sich, seine Schwäche sei wieder einmal auf eine weibliche Komödie hereingefallen.
Ich weiß nicht, ob er recht hatte, ich weiß auch nicht, aus welch kindlichem Trotz die Marquise durchaus ihren kleinlichen Triumph haben wollte. Es ist ja nicht ohne Beispiel, daß selbst eine Frau von Geist in einem solchen Augenblick nicht nachgeben will. Aber es kann geschehen, daß sie falsch rechnet und daß der Mann das Gefälligsein bereut, nachdem er gehorchte. So kann aus einer Kinderei bitterer Ernst werden, wenn der Hochmut sich hineinmischt; man erzürnt sich zuweilen um geringfügigere Dinge als um ein gesticktes Kissen.
Frau von Parnes hatte ihr freundliches Gesicht wiedergewonnen und konnte ihre Freude kaum verbergen; Valentin bekam den Blick vom Kissen nicht los; und es war ja richtig: Zur Fußbank war es nicht bestimmt. Gegen ihre Gewohnheit war sie zu Fuß gekommen, und so trug die Stickerei der anderen, bald mitten ins Zimmer gestoßen, die Staubspuren des Stiefelchens, das darauf herumtrat. Er hob es auf, reinigte es und tat es auf einen Sessel.
»Wollen wir uns wieder zanken?« sagte sie lächelnd. »Ich glaubte, du wolltest mir meinen Willen lassen, und der Friede sei geschlossen.«
»Das Kissen ist weiß; warum es beschmutzen?«
»Um es zu benutzen; und wenn es schmutzig ist, wird uns Fräulein Julie ein anderes machen.«
»Hören Sie mich an, Frau Marquise«, sprach Valentin. »Sie wissen sehr gut, ich bin nicht so einfältig, um solcherlei Launen oder Bagatellen wichtig zu nehmen. Wenn es wahr ist, daß mein Mißvergnügen an Ihrem Tun irgendeine Ihnen unbekannte Ursache hat, so dürfte es klüger sein, es nicht noch zu vertiefen. Es ging Ihnen eben sehr schlecht, und ich will nicht fragen, ob diese Ihre Ohnmacht sehr tief gewesen ist. Sie hatten Ihren Willen, wollen Sie nicht noch mehr.«
»Sie aber begreifen vielleicht«, entgegnete sie, »daß ich auch nicht dumm genug bin, um derlei Bagatellen mehr Wichtigkeit beizumessen als Sie; und wenn ich darauf bestehen wollte, so würden Sie vielleicht noch begreifen, daß ich zu wissen wünsche, bis zu welchem Grade das hier eine Bagatelle ist.«
»Es sei, doch bevor ich antworte, lassen Sie mich fragen: Ist es Stolz oder Liebe, die aus Ihnen spricht?«
»Beides, Sie wissen noch nicht, wer ich bin. Daß Sie es leicht mit mir hatten, ließ Sie eine Meinung von mir gewinnen, die ich Ihnen lasse, weil Sie sie mit niemandem teilen. Denken Sie von mir, was Sie wollen, betrügen Sie mich, wie es Ihnen gut scheint, doch hüten Sie sich, mich zu beleidigen.«
»Nennen wir das, was jetzt aus Ihnen spricht, Hochmut, gnädige Frau; doch, geben Sie zu, Liebe ist es nicht.«
»Ich weiß es nicht. Bin ich nicht eifersüchtig, so ist es, weil ich darüberstehe. Nur Herr von Parnes hat das Recht, mich zu überwachen, und so beanspruche auch ich keine Überwachung irgend jemandes. Doch wie können Sie es wagen, mir zweimal einen Namen zu nennen, den zu verschweigen Ihre Pflicht ist?«
»Warum soll ich ihn verschweigen, da Sie mich danach fragen? Der Name braucht niemanden erröten zu lassen, nicht die, die ihn trägt, und nicht den, der ihn ausspricht.«
»Gut also! So sagen Sie ihn doch vollständig.«
Valentin zögerte einen Augenblick.
»Nein, ich nenne ihn nicht, aus Hochachtung vor der, die ihn trägt.«
Bei diesen Worten erhob sie sich, zog die Mantille um die Schultern und sagte eisig:
»Ich glaube, ich werde abgeholt. Bringen Sie mich zu meinem Wagen.«
Die Marquise von Parnes war nicht nur stolz, sie war voller Hochmut. Von Kindheit an gewohnt, alle ihre Launen befriedigt zu sehen, vom Gatten vernachlässigt, von ihrer Tante verzogen und von aller Welt umschmeichelt, war Stolz inmitten dieser gefährlichen Freiheit ihr einziger Führer, der selbst über die Leidenschaft triumphierte. Sie weinte bitter, als sie nach Hause fuhr. Dann schloß sie sich ein, überlegte, was tun, und war fest entschlossen, nicht länger mehr zu leiden.
Als Valentin am anderen Morgen zu Frau Delaunay ging, war es ihm, als ob ihm jemand folge. Er irrte sich nicht. Die Marquise hatte bald Wohnung und Namen der Witwe erfahren und wußte von seinen häufigen Besuchen. Allein sie begnügte sich nicht damit. Sie griff zu einem Mittel, das, so unwahrscheinlich es auch erscheinen mag, zum Erfolg führte.
Um sieben Uhr morgens läutete sie ihrer Kammerzofe und ließ sich ein Leinenkleid, eine Schürze, ein baumwollenes Taschentuch und eine große Haube bringen, unter der sie so gut wie möglich ihr Gesicht verbarg. So ausstaffiert, ging sie, einen Korb am Arm, auf den Marché des Innocents. Es war die Stunde, zu der sich gewöhnlich Frau Delaunay dort einfand. Die Marquise suchte nicht lange. Sie wußte, daß die Witwe ihr ähnelte. Bald bemerkte sie vor einer Früchteauslage eine junge Frau von fast ihrer Figur, schwarzäugig und bescheiden gekleidet. Sie näherte sich ihr, die gerade Kirschen kaufte.
»Habe ich nicht die Ehre, Frau Delaunay zu sprechen«, fragte sie.
»Jawohl, Fräulein, was wünschen Sie?«
Die Marquise antwortete nicht. Ihre Neugierde war befriedigt, und es bekümmerte sie wenig, daß sich jene über sie wundern könnte. Sie warf auf die Rivalin einen raschen, neugierigen Blick, musterte sie von Kopf bis Fuß, wandte ihr dann den Rücken und verschwand.
Valentin war nicht mehr zu ihr gekommen. Sie schickte ihm eine gedruckte Einladung zum Ball, und er glaubte, er müsse aus Anstand hingehen. Als er ins Haus trat, überraschte es ihn, nur ein einziges Fenster beleuchtet zu sehen. Die Marquise war allein und erwartete ihn. »Verzeihen Sie meine kleine List, die Sie hierher holte. Ich glaubte, Sie würden vielleicht nicht antworten, wenn ich Sie schriftlich gebeten hätte, sich eine Viertelstunde mit mir zu unterhalten. Ich habe Ihnen ein Wort zu sagen, und ich bitte Sie, seien Sie aufrichtig.«
Valentin war von Natur aus nicht nachtragend, und sein Groll verflog ebenso schnell, wie er gekommen war. Er wollte die Unterhaltung auf einen heiteren Ton bringen und fing an, die Marquise mit ihrem angeblichen Ball zu necken. Sie schnitt ihm das Wort ab und sagte: »Ich habe Frau Delaunay gesehen.«
»Erschrecken Sie nicht«, fügte sie hinzu, als sie sah, daß er die Farbe wechselte. »Ich sah sie, ohne daß sie wußte, wer ich war, und so, daß sie mich unmöglich erkennen konnte. Sie ist hübsch, und sie sieht mir auch ein wenig ähnlich. Sprechen Sie frei heraus: Liebten Sie sie schon, als Sie mir den Brief geschickt hatten, der für sie geschrieben war?«
Valentin zögerte.
»Sprechen Sie, sprechen Sie ohne Furcht. Es ist das einzige Mittel, mir zu beweisen, daß Sie etwas Achtung für mich haben.«
Sie sprach so wehmütig, daß Valentin gerührt wurde. Er setzte sich neben sie und berichtete ihr treulich alles. »Ich habe sie damals schon geliebt«, schloß er, »und ich liebe sie noch. Das ist die Wahrheit.«
»Zwischen uns kann nun nichts mehr sein«, entgegnete sie, sich erhebend. Sie näherte sich dem Spiegel und schenkte sich einen koketten Blick.
»Um Ihretwillen«, fuhr sie fort, »vergaß ich ein einziges Mal in meinem Leben alle Überlegung. Ich bereue nicht, aber ich möchte mich nicht allein zuweilen daran erinnern.«
Sie streifte von ihrem Finger einen goldenen Ring, in den ein Aquamarin gefaßt war.
»Hier«, sprach sie zu ihm, »tragen Sie ihn aus Liebe für mich. Der Stein gleicht einer Träne.«
Er wollte ihre Hand küssen, als sie ihm den Ring überreichte.
»Hüten Sie sich«, sagte sie; »denken Sie daran, ich habe Ihre Geliebte gesehen. Wir wollen uns nicht zu früh aneinander erinnern.«
»Oh«, entgegnete er, »ich liebe jene noch, aber ich weiß, dich werde ich immer lieben.«
»Ich glaube Ihnen, und darum vielleicht werde ich morgen nach Holland fahren, wo ich meinen Gatten treffen will.«
»Ich folge dir«, rief er, »wenn du Frankreich verläßt, glaube mir, dann fahre auch ich.«
»Nehmen Sie sich in acht, das wäre mein Tod, und Sie würden vergeblich versuchen, mich zu sehen.«
»Das ist mir gleich. Und wenn ich dir in zehn Meilen Abstand folgen müßte, ich zeige dir so wenigstens die Echtheit meiner Liebe, und du wirst mir glauben, selbst wenn du es nicht wolltest.«
»Ich glaube Ihnen ja«, antwortete sie mit Schalkslächeln. »Adieu drum, und machen Sie keine Dummheiten.«
Sie reichte ihm die Hand und öffnete halb die Tür ihres Schlafzimmers, um sich zurückzuziehen.
»Machen Sie keine Dummheiten«, sagte sie mit leichtem Tone; »und sollten Sie zufällig welche machen, so schreiben Sie mir ein Wort nach Brüssel, weil man von dort die Route ändern kann.«
Die Tür schloß sich, Valentin blieb allein und verließ das Haus in großer Aufregung.
Er konnte des Nachts nicht schlafen und wußte bei Tagesanbruch immer noch nicht, was er tun sollte. Ein schwermütiger Brief von Frau Delaunay, in aller Frühe empfangen, bewegte ihn, ohne daß er einen Entschluß fassen konnte. Sie zu verlassen, davor schauderte sein Herz. Doch der Gedanke, der kecken und koketten Marquise mit der Post nachzufahren, ließ ihn vor Verlangen zittern. Er blickte über den Horizont, er hörte die Wagen rollen, alle tollen Streiche von einst fielen ihm ein; was soll ich Ihnen sagen? Er dachte an Italien, an manches Vergnügen, an manche Ungezogenheit, an Lauzun als Postillion verkleidet. Dann wieder zeigte ihm die Unruhe seines Gedächtnisses jenen Abend, an dem Frau Delaunay ihre Ängste kindlich ihm anvertraute. Welch schreckliche Erinnerung würde er ihr lassen! Ihre Worte kamen ihm wieder: »Wenn ich eines Tages vor Ihnen schaudern müßte?«
Den Tag über schloß er sich ein. Seine Phantasie erschöpfte sich in allen möglichen seltsamen Plänen und Einfällen. Da fragte er sich: »Was will ich denn? Wenn ich zwischen den beiden Frauen wählen wollte, warum diese Unsicherheit? Und wenn ich sie alle beide gleich liebe, warum habe ich aus freiem Wollen die Notwendigkeit heraufbeschworen, eine von ihnen zu verlieren? Bin ich verrückt? Habe ich noch meinen Verstand? Bin ich niederträchtig oder aufrichtig? Habe ich zu wenig Mut oder zu wenig Liebe?«
Er setzte sich an den Tisch und nahm die Zeichnung, die er damals angefertigt hatte. Aufmerksam betrachtete er das trügerische Bild, das den beiden Geliebten ähnelte. Alles Geschehen der zwei letzten Monate wurde in ihm wieder wach: der Pavillon und das Zimmerchen, Kattunkleidchen und weiße Schultern, große Diners und kleine Mahlzeiten, das Klavier und die Stricknadel, die beiden Taschentücher und das gestickte Kissen. Jede Stunde seines Lebens gab ihm einen andern Rat. »Nein«, sagte er schließlich, »nicht zwischen den beiden Frauen habe ich zu wählen, sondern zwischen zwei Lebenswegen, die ich zugleich gehen wollte und die niemals zum selben Ziel führen können. Der eine ist die Torheit und das Vergnügen, der andere ist die Liebe. Welchen soll ich nehmen? Welcher führt zum Glück?«
Ich sagte Ihnen schon zu Anfang der Erzählung, daß Valentin eine Mutter hatte, die er zärtlich liebte. Sie trat in sein Zimmer, als er in Gedanken versunken war. »Mein Kind«, sprach sie, »ich sah dich traurig diesen Morgen. Was hast du? Kann ich dir helfen? Hast du Geld nötig? Und wenn ich dir nicht zu Diensten sein kann, darf ich wenigstens deine Sorgen wissen und dich zu trösten versuchen?«
»Ich danke dir«, antwortete Valentin. »Ich machte Reisepläne, und ich fragte mich, was uns zum Glücke führt, Liebe oder Vergnügen? Ich hatte die Freundschaft vergessen. Ich will mein Land nicht verlassen. Und die einzige Frau, der ich mein Herz öffnen will, soll die sein, die es mit dir teilen kann.«