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Törleß ließ sie widerstandslos an sich herankommen. In dieser neu entstandenen Situation war auch sein Gefühl für Basini völlig erkaltet. Das war sogar eine ganz glückliche Lösung, weil sie wenigstens mit einem Schlage von dem Schwanken zwischen Beschämung und Begierde befreite, aus dem Törleß durch eigene Kraft nicht herauskam. Jetzt hatte er wenigstens einen geraden, klaren Widerwillen gegen Basini, als ob die diesem zugedachten Demütigungen auch ihn beschmutzen könnten.

Im übrigen war er zerstreut und mochte an nichts ernst denken; am allerwenigsten an das, was ihn einst so beschäftigte.

Erst als er mit Reiting die Treppe zum Boden hinaufstieg, während Beineberg mit Basini schon vorausgegangen war, wurde die Erinnerung an das einst in ihm Gewesene lebhafter. Die selbstbewußten Worte wollten ihm nicht aus dem Kopfe, die er in dieser Angelegenheit Beineberg vorgeworfen hatte, und er sehnte sich, diese Zuversicht wieder zu gewinnen. Zögernd hielt er auf jeder Stufe den Fuß zurück. Aber die alte Gewißheit kehrte nicht wieder. Er erinnerte sich zwar aller Gedanken, die er damals gehabt hatte, aber sie schienen ferne an ihm vorüberzugehen, als seien sie nur die Schattenbilder des einst Gedachten.

Schließlich, da er in sich nichts fand, richtete sich seine Neugierde wieder auf die Ereignisse, die von außen kommen sollten, und trieb ihn vorwärts.

Mit raschen Schritten eilte er hinter Reiting die übrigen Stufen hinauf.

Während sich die eiserne Tür knarrend hinter ihnen schloß, fühlte er seufzend, daß Beinebergs Vorhaben zwar nur ein lächerlicher Hokuspokus sei, aber doch wenigstens etwas Festes und Überlegtes, während in ihm alles in undurchsichtiger Verwirrung lag.

Auf einem querlaufenden Balken nahmen sie Platz, – in erwartungsvoller Spannung wie in einem Theater.

Beineberg war mit Basini schon da.

Die Situation schien seinem Vorhaben günstig. Das Dunkel, die abgestandene Luft, der faule, süßliche Geruch, der den Wasserbottichen entströmte, schufen ein Gefühl des Einschlafens, Nichtmehraufwachenkönnens, eine müde, lässige Trägheit.

Beineberg hieß Basini sich zu entkleiden. Die Nacktheit hatte jetzt in dem Dunkel einen bläulichen, faulen Schimmer und wirkte durchaus nicht erregend.

Plötzlich zog Beineberg den Revolver aus der Tasche und hielt ihn gegen Basini.

Selbst Reiting neigte sich da vor, um jeden Augenblick dazwischenspringen zu können.

Aber Beineberg lächelte. Eigentümlich verzerrt; so als ob er es gar nicht wollte, sondern nur das Heraufdrängen irgendwelcher fanatischer Worte seine Lippen zur Seite geschoben hätte.

Basini war wie gelähmt in die Knie gesunken und starrte mit angstvoll aufgerissenen Augen die Waffe an.

»Steh auf,« sagte Beineberg, »wenn du alles genau befolgst, was ich dir sage, soll dir kein Leid geschehen; wie du mich aber durch den geringsten Widerspruch störst, schieße ich dich nieder. Merk dir das!

Ich werde dich allerdings auch so töten, aber du wirst wieder zum Leben zurückkommen. Das Sterben ist uns nicht so fremd, wie du meinst; wir sterben täglich – im tiefen, traumlosen Schlafe.«

Wieder verzog das wirre Lächeln Beinebergs Mund.

»Knie dich jetzt da oben hin,« – in halber Höhe lief ein breiter, wagrechter Balken, – »so – ganz aufrecht – halte dich völlig gerade – das Kreuz mußt du einziehen. Und jetzt schau fort da drauf; aber ohne zu blinzeln, die Augen mußt du so weit öffnen, als du nur kannst!«

Beineberg stellte eine kleine Spiritusflamme so vor ihn hin, daß er den Kopf ein wenig zurückbeugen mußte, um voll hineinzusehen.

Man konnte nicht viel wahrnehmen, aber nach einiger Zeit schien Basinis Körper zu beginnen, wie ein Pendel hin und her zu schwingen. Die bläulichen Reflexe bewegten sich auf seiner Haut auf und ab. Hie und da glaubte Törleß, Basinis Gesicht mit einem ängstlich verzerrten Ausdrucke wahrzunehmen.

Nach einiger Zeit fragte Beineberg: »Bist du müde?«

Diese Frage war in der gewöhnlichen Weise der Hypnotiseure gestellt.

Dann begann er mit leiser, verschleierter Stimme zu erklären:

»Das Sterben ist nur eine Folge unserer Art zu leben. Wir leben von einem Gedanken zum andern, von einem Gefühl zum nächsten. Denn unsere Gedanken und Gefühle fließen nicht ruhig wie ein Strom, sondern sie ›fallen uns ein‹, fallen in uns hinein wie Steine. Wenn du dich genau beobachtest, fühlst du es, daß die Seele nicht etwas ist, das in allmählichen Übergängen seine Farben wechselt, sondern daß die Gedanken wie Ziffern aus einem schwarzen Loch daraus hervorspringen. Jetzt hast du einen Gedanken oder ein Gefühl, und mit einem Male steht ein anderes da wie aus dem Nichts gesprungen. Wenn du aufmerkst, kannst du sogar zwischen zwei Gedanken den Augenblick spüren, wo alles schwarz ist. Dieser Augenblick ist, – einmal erfaßt, für uns geradezu der Tod.

Denn unser Leben ist nichts anderes als Marksteine setzen und von einem zum anderen hüpfen, täglich über tausend Sterbesekunden hinweg. Wir leben nur gewissermaßen in den Ruhepunkten. Deswegen haben wir auch eine so lächerliche Furcht vor dem unwiderruflichen Sterben, denn es ist das schlechthin Marksteinlose, der unermeßliche Abgrund, in den wir hineinfallen. Für diese Art zu leben ist es wirklich die völlige Verneinung.

Aber auch nur unter der Perspektive dieses Lebens, nur für den, der nicht anders gelernt hat sich zu fühlen als von Augenblick zu Augenblick.

Ich nenne dies das hüpfende Übel, und das Geheimnis besteht darin, es zu überwinden. Man muß das Gefühl seines Lebens als eines ruhig Gleitenden in sich erwecken. In dem Momente, wo dies gelingt, ist man dem Tode ebenso nah wie dem Leben. Man lebt nicht mehr, – nach unseren irdischen Begriffen, – aber man kann auch nicht mehr sterben, denn mit dem Leben hat man auch den Tod aufgehoben. Es ist der Augenblick der Unsterblichkeit, der Augenblick, wo die Seele aus unserem engen Gehirn in die wunderbaren Gärten ihres Lebens tritt.

Folge mir also jetzt genau.

Schläfere alle Gedanken ein, starre in diese kleine Flamme; ... denke nicht von einem zum andern. ... Konzentriere alle Aufmerksamkeit nach innen. ... Starre die Flamme an ... dein Denken wird wie eine Maschine, die immer langsamer geht ... immer ... langsamer ... geht. ... Starre nach innen ... so lange, bis du den Punkt findest, wo du dich fühlst, ohne einen Gedanken oder eine Empfindung zu fühlen. ...

Dein Schweigen wird mir die Antwort sein. Wende den Blick nicht von innen weg ...!« Minuten verstrichen. ...

»Fühlst du den Punkt ...?«

Keine Antwort.

»Höre, Basini, ist es dir gelungen?«

Schweigen.

Beineberg stand auf, und sein hagerer Schatten richtete sich neben dem Balken in die Höhe. Oben schwang Basinis Körper, von der Dunkelheit trunken, merkbar hin und her.

»Dreh dich zur Seite,« befahl Beineberg. »Was jetzt gehorcht, ist nur mehr das Gehirn,« murmelte er, »das mechanisch noch eine Weile funktioniert, bis die letzten Spuren verzehrt sind, die ihm die Seele aufdrückte. Sie selbst ist irgendwo – in ihrem nächsten Dasein. Sie trägt nicht mehr die Fesseln der Naturgesetze ...,« er wandte sich jetzt an Törleß, »sie ist nicht mehr zur Strafe verurteilt, einen Körper schwer zu machen, zusammenzuhalten. Neige dich vor, Basini, – so – ganz allmählich ... immer weiter mit dem Körper hinaus. ... Sowie die letzte Spur im Gehirn erloschen sein wird, werden die Muskeln nachlassen und der leere Körper in sich zusammenbrechen. Oder er wird schweben bleiben; ich weiß es nicht; die Seele hat eigenmächtig den Körper verlassen, es ist nicht der gewöhnliche Tod, vielleicht bleibt der Körper in der Luft schweben, weil nichts, keine Kraft des Lebens noch des Todes mehr, sich seiner annimmt. ... Neige dich vor ... mehr noch.«

In diesem Augenblick polterte Basinis Körper, der aus Angst allen Befehlen gefolgt war, schwer aufschlagend Beineberg zu Füßen.

Vor Schmerz schrie Basini auf. Reiting begann laut zu lachen. Beineberg aber, der einen Schritt zurückgewichen war, stieß einen gurgelnden Wutschrei aus, als er den Betrug erfaßt hatte. Mit einer blitzschnellen Bewegung riß er seinen Ledergurt vom Leibe, faßte Basini bei den Haaren und peitschte wie rasend auf ihn ein. Die ganze ungeheure Spannung, unter der er gestanden war, strömte in diesen wütenden Schlägen aus. Und Basini heulte unter ihnen vor Schmerz, daß es wie die Klage eines Hundes in allen Winkeln zitterte.

Törleß war während des ganzen vorangegangenen Auftrittes ruhig geblieben. Er hatte im stillen gehofft, daß sich vielleicht doch etwas ereignen werde, das ihn wieder mitten in seinen verlorenen Empfindungskreis versetzen würde. Es war eine törichte Hoffnung, dessen blieb er sich stets bewußt, aber sie hatte ihn doch festgehalten. Nun schien ihm jedoch, daß alles vorbei sei. Die Szene widerte ihn an. Ganz gedankenlos; stummer, toter Widerwille.

Er erhob sich leise und ging ohne ein Wort zu sagen fort. Ganz mechanisch.

Beineberg schlug sich noch immer an Basini müde.

 

Als Törleß im Bette lag, fühlte er: ein Abschluß. Etwas ist vorbei.

Während der nächsten Tage oblag er ruhig seinen Arbeiten in der Schule; er kümmerte sich um nichts; Reiting und Beineberg mochten wohl einstweilen ihr Programm Punkt für Punkt in Szene setzen, Törleß ging ihnen aus dem Wege.

Da trat am vierten Tage, als gerade niemand zugegen war, Basini auf ihn zu. Er sah elend aus, sein Gesicht war bleich und abgemagert, in seinen Augen flackerte das Fieber einer beständigen Angst. Mit scheuen Seitenblicken, in hastigen Worten stieß er hervor: »Du mußt mir helfen! Nur du kannst es tun! Ich halte es nicht mehr länger aus, wie sie mich quälen. Alles Frühere habe ich ertragen, ... jetzt aber werden sie mich noch totschlagen!«

Törleß war es unangenehm, hierauf eine Antwort zu geben. Endlich sagte er: »Ich kann dir nicht helfen; du selbst bist an allem schuld, was mit dir geschieht.«

»Aber du warst doch vor kurzem noch so lieb zu mir.«

»Niemals.«

»Aber. ...«

»Schweig davon. Das war nicht ich. ... Ein Traum. ... Eine Laune. ... Es ist mir sogar recht, daß deine neue Schande dich von mir fortgerissen hat. ... Es ist gut so für mich. ...«

Basini ließ den Kopf sinken. Er fühlte, daß ein Meer von grauer, nüchterner Enttäuschung sich zwischen ihn und Törleß geschoben hatte. ... Törleß war kalt, ein anderer.

Da warf er sich vor ihm in die Knie, schlug mit dem Kopf auf den Boden und schrie: »Hilf mir! Hilf mir! ... Um Gottes willen, hilf mir!«

Törleß zauderte einen Augenblick. In ihm war weder der Wunsch, Basini zu helfen, noch genügend Empörung, um ihn von sich zu stoßen. So folgte er dem erstbesten Gedanken. »Komm heute nacht auf den Boden, ich will noch einmal mit dir darüber sprechen.« Im nächsten Augenblick bereute er aber schon.

»Wozu nochmals daran rühren?« fiel ihm ein und er sagte überlegend: »Doch sie würden dich ja sehen; es geht nicht.«

»O nein, sie blieben die letzte Nacht bis zum Morgen mit mir auf, – sie werden heute schlafen.«

»Also meinetwegen. Aber erwarte nicht, daß ich dir helfen werde.«

 

Törleß hatte Basini die Zusammenkunft entgegen seiner eigentlichen Überzeugung bestimmt. Denn die war, daß alles innerlich vorbei sei und nichts mehr zu holen. Nur mehr eine Art Pedanterie, eine von vorneherein hoffnungslose, eigensinnige Gewissenhaftigkeit hatte ihm eingeblasen, nochmals an den Ereignissen herumzutasten.

Er hatte das Bedürfnis, es kurz zu machen.

Basini wußte nicht, wie er sich benehmen sollte. Er war so verprügelt, daß er sich kaum zu rühren getraute. Alles Persönliche schien aus ihm gewichen zu sein; nur in den Augen hatte sich ein Rest davon zusammengedrängt und schien sich angstvoll, flehend an Törleß zu klammern.

Er wartete, was dieser tun werde.

Endlich brach Törleß das Schweigen. Er sprach rasch, gelangweilt, so wie wenn man eine längst abgetane Sache der Form halber nochmals erledigen muß.

»Ich werde dir nicht helfen. Ich hatte allerdings eine Zeitlang ein Interesse an dir, aber das ist jetzt vorbei. Du bist wirklich nichts als ein schlechter, feiger Kerl. Gewiß nichts anderes. Was soll mich da noch an dich halten! Früher glaubte ich immer, daß ich für dich ein Wort, eine Empfindung finden müßte, die dich anders bezeichnete; aber es gibt wirklich nichts Bezeichnenderes, als zu sagen, daß du schlecht und feig bist. Das ist so einfach, so nichtssagend und doch alles, was man vermag. Was ich früher anderes von dir wollte, habe ich vergessen, seit du dich mit deinen geilen Bitten dazwischen gedrängt hast. Ich wollte einen Punkt finden, fern von dir, um dich von dort anzusehen ..., das war mein Interesse an dir; du selbst hast es zerstört; ... doch genug, ich bin dir ja keine Erklärung schuldig. Nur eines noch: Wie ist dir jetzt zumute?«

»Wie soll mir zumute sein? Ich kann es nicht länger ertragen.«

»Sie machen jetzt wohl sehr Arges mit dir und es schmerzt dich?«

»Ja.«

»Aber so ganz einfach ein Schmerz? Du fühlst, daß du leidest, und du willst dem entgehen? Ganz einfach und ohne Komplikation?«

Basini fand keine Antwort.

»Nun ja, ich frage nur so nebenher, nicht genau genug. Aber das ist ja gleichgültig. Ich habe nichts mehr mit dir zu tun; ich sagte es schon. Ich vermag in deiner Gesellschaft nicht das geringste mehr zu fühlen. Mach, was du willst ...«

Törleß wollte gehen.

Da riß sich Basini die Kleider vom Leibe und drängte sich an Törleß heran. Sein Körper war von Striemen überzogen, – widerwärtig. Seine Bewegung elend wie die eines ungeschickten Freudenmädchens. Ekelnd wandte sich Törleß ab.

Er hatte aber kaum die ersten Schritte in das Dunkel hineingetan, als er auf Reiting stieß.

»Was ist das, du hast geheime Zusammenkünfte mit Basini?«

Törleß folgte dem Blicke Reitings und sah auf Basini zurück. Gerade an der Stelle, wo dieser stand, fiel von einer Dachluke her ein breiter Balken Mondlicht ein. Die bläulich überhauchte Haut mit den wunden Malen sah darin aus wie die eines Aussätzigen. Unwillkürlich suchte sich Törleß für diesen Anblick zu entschuldigen.

»Er hat mich darum gebeten.«

»Was will er?«

»Ich soll ihn beschützen.«

»Na, da ist er ja an den Richtigen gekommen.«

»Vielleicht würde ich es doch tun, aber mir ist die ganze Geschichte langweilig.«

Reiting sah unangenehm betroffen auf, dann fuhr er zornig Basini an.

»Wir werden dich schon lehren, Heimlichkeiten gegen uns anzustiften! Dein Schutzengel Törleß wird selbst zusehen und sein Vergnügen daran haben.«

Törleß hatte sich bereits abgewandt gehabt, aber diese offenbar an seine Adresse gerichtete Bosheit hielt ihn, ohne daß er überlegte, zurück.

»Höre, Reiting, das werde ich nicht tun. Ich will nichts mehr damit zu schaffen haben; mir ist das Ganze zuwider.«

»Auf einmal?«

»Ja, auf einmal. Denn früher suchte ich hinter all dem etwas. ...« Warum nur drängte sich ihm dies jetzt wieder beständig auf ...!

»Aha, das zweite Gesicht.«

»Jawohl; jetzt aber sehe ich nur, daß du und Beineberg abgeschmackt roh seid.«

»Oh, du sollst sehen, wie Basini Kot frißt«, witzelte Reiting.

»Das interessiert mich jetzt nicht mehr.«

»Hat dich aber doch ...!«

»Ich sagte dir schon, nur solange mir Basinis Zustand dabei ein Rätsel war.«

»Und jetzt?«

»Ich weiß jetzt nichts von Rätseln. Alles geschieht: Das ist die ganze Weisheit.« Törleß wunderte sich, daß ihm auf einmal wieder Gleichnisse einfielen, die sich jenem verloren gegangenen Empfindungskreise näherten. Als Reiting spöttisch erwiderte, »nun, diese Weisheit braucht man wohl nicht erst weither zu holen«, schoß daher in ihm ein zorniges Gefühl der Überlegenheit empor und legte ihm harte Worte in den Mund. Für einen Augenblick verachtete er Reiting so sehr, daß er ihn am liebsten mit Füßen getreten hätte.

»Spotten magst du; was aber ihr jetzt treibt, ist nichts als eine gedankenlose, öde, ekelhafte Quälerei!«

Reiting warf einen Seitenblick auf den aufhorchenden Basini.

»Halte dich zurück, Törleß!«

»Ekelhaft, schmutzig – du hast es gehört!«

Jetzt brauste auch Reiting auf.

»Ich verbiete dir, uns hier vor Basini zu beschimpfen!«

»Ach was. Du hast nichts zu verbieten! Die Zeit ist vorbei. Ich hatte einmal vor dir und Beineberg Respekt, jetzt sehe ich aber, was ihr gegen mich seid. Stumpfsinnige, widerwärtige, tierische Narren!«

»Halte deinen Mund, oder ...!!« Reiting schien auf Törleß zuspringen zu wollen. Törleß wich einen Schritt zurück und schrie ihn an: »Glaubst du, ich werde mich mit dir prügeln?! Dafür steht mir Basini nicht. Mach mit ihm, was du willst, aber laß mich jetzt vorbei!!«

Reiting schien sich eines Besseren als seines Dreinschlagens besonnen zu haben und trat zur Seite. Nicht einmal Basini rührte er an. Aber Törleß, der ihn kannte, wußte nun, daß hinter seinem Rücken eine bösartige Gefahr drohe.

 

Schon am zweitnächsten Nachmittage traten Reiting und Beineberg auf Törleß zu.

Dieser bemerkte den bösen Ausdruck ihrer Augen. Offenbar trug Beineberg den lächerlichen Zusammenbruch seiner Prophezeiungen nun ihm nach, und Reiting mochte ihn überdies bearbeitet haben.

»Wie ich hörte, hast du uns beschimpft. Noch dazu vor Basini. Weswegen?«

Törleß gab keine Antwort.

»Du weißt, daß wir uns solches nicht bieten lassen. Weil aber du es bist, dessen launenhafte Einfälle wir ja gewöhnt sind und nicht hoch anschlagen, wollen wir die Sache ruhen lassen. Nur eines mußt du tun.« Trotz dieser freundlichen Worte war etwas böse Wartendes in Beinebergs Augen.

»Basini kommt heute nacht in die Kammer; wir werden ihn dafür züchtigen, daß er dich aufhetzte. Wenn du uns weggehen siehst, komme nach.«

Aber Törleß sagte nein: »... Ihr könnt machen, was ihr wollt; mich müßt ihr dabei aus dem Spiele lassen.«

»Wir werden heute nacht Basini noch genießen, morgen liefern wir ihn der Klasse aus, denn er beginnt sich aufzulehnen.«

»Macht, was ihr wollt.«

»Du wirst aber dabei sein.«

»Nein.«

»Gerade vor dir muß Basini sehen, daß ihm nichts gegen uns helfen kann. Gestern weigerte er sich schon, unsere Befehle auszuführen; wir haben ihn halbtot geschlagen, und er blieb dabei. Wir müssen wieder zu moralischen Mitteln greifen, ihn erst vor dir, dann vor der Klasse demütigen.«

»Ich werde aber nicht dabei sein!«

»Warum?«

»Nein.«

Beineberg schöpfte Atem; er sah aus, als wolle er Gift auf seinen Lippen sammeln, dann trat er ganz nahe an Törleß heran.

»Glaubst du wirklich, daß wir nicht wissen, warum? Denkst du, wir wissen nicht, wie weit du dich mit Basini eingelassen hast?«

»Nicht weiter als ihr.«

»So. Und da würde er gerade dich zu seinem Schutzpatron erwählt haben? Was? – Gerade zu dir würde ihn das große Zutrauen erfaßt haben? Für so dumm wirst du uns doch nicht halten.«

Törleß wurde zornig. »Wißt, was ihr wollt, mich aber laßt jetzt mit euren dreckigen Geschichten in Ruhe.«

»Wirst du schon wieder grob?!«

»Ihr ekelt mich an! Eure Gemeinheit ist ohne Sinn! Das ist das Widerwärtige an euch.«

»So höre. Du solltest uns für so manches zur Dankbarkeit verpflichtet sein. Wenn du glaubst, dich trotzdem jetzt über uns erheben zu können, die wir deine Lehrmeister waren, so irrst du dich arg. Kommst du heute abend mit oder nicht??«

»Nein!«

»Mein lieber Törleß, wenn du dich gegen uns auflehnst und nicht kommst, so wird es dir gerade so gehen wie Basini. Du weißt, in welcher Situation dich Reiting getroffen hat. Das genügt. Ob wir mehr oder weniger getan haben, wird dir wenig nützen. Wir werden alles gegen dich wenden. Du bist in solchen Dingen lange zu dumm und unentschlossen, um dagegen aufkommen zu können.

Wenn du dich also nicht rechtzeitig besinnst, stellen wir dich der Klasse als den Mitschuldigen Basinis hin. Dann mag er dich beschützen. Verstanden?«

Wie ein Unwetter war diese Flut von Drohungen, bald von Beineberg, bald von Reiting, bald von beiden zugleich hervorgestoßen, über Törleß weggerauscht. Als die beiden fort waren, rieb er sich die Augen, als hätte er geträumt. Aber Reiting kannte er; der war im Zorne der größten Niedertracht fähig, und Törleß' Schimpf und Auflehnung schienen ihn tief verletzt zu haben. Und Beineberg? Er hatte ausgesehen, als zitterte er unter einem jahrelang verhaltenen Hasse, ... und das doch nur, weil er sich vor Törleß böse blamiert hatte.

Doch je tragischer sich die Ereignisse über seinem Kopfe zusammenzogen, desto gleichgültiger und mechanischer erschienen sie Törleß. Er hatte vor den Drohungen Angst. Das ja; aber weiter nichts. Die Gefahr hatte ihn mitten in das Wirbeln der Wirklichkeit gezogen.

Er legte sich zu Bett. Er sah Beineberg und Reiting weggehen und den müden Schritt Basinis vorbeischlürfen. Aber er ging nicht mit.

Doch marterten ihn schreckliche Vorstellungen. Zum ersten Male dachte er wieder mit einiger Innigkeit an seine Eltern. Er fühlte, daß er diesen ruhigen, gesicherten Boden brauche, um das zu festigen und auszureifen, was ihm bisher nur Verlegenheiten gebracht hatte.

Was aber war das? Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken und über die Ereignisse zu grübeln. Nur eine leidenschaftliche Sehnsucht fühlte er, aus diesen wirren, trubelnden Verhältnissen herauszukommen, eine Sehnsucht nach Stille, nach Büchern war in ihm. Als sei seine Seele schwarze Erde, unter der sich die Keime schon regen, ohne daß man noch weiß, wie sie herausbrechen werden. Das Bild eines Gärtners drängte sich ihm auf, der jeden Morgen seine Beete begießt, mit gleichmäßiger, zuwartender Freundlichkeit. Dieses Bild ließ ihn nicht los, seine zuwartende Sicherheit schien alle Sehnsucht auf sich zu sammeln. Nur so darf es kommen! Nur so! fühlte Törleß, und über alle Angst und alle Bedenken sprang die Überzeugung hinweg, daß er alles daransetzen müsse, diesen Seelenzustand zu erreichen.

Nur über das, was zunächst zu geschehen habe, war er sich noch nicht klar. Denn vor allen Dingen wurde durch diese Sehnsucht nach friedlicher Vertiefung sein Abscheu vor dem bevorstehenden Intrigenspiel nur noch verstärkt. Auch hatte er wirkliche Angst vor der ihm auflauernden Rache. Sollten die beiden wirklich versuchen, ihn vor der Klasse anzuschwärzen, so würde ihn die Gegenarbeit einen ungeheuren Aufwand an Energie kosten, um den es ihm gerade jetzt leid tat. Und dann, – selbst wenn er nur an diesen Wirrwarr, an dieses jedes höheren Wertes bare Sichstoßen mit fremden Absichten und Willenskräften dachte, überlief ihn ein Ekel.

Da fiel ihm ein Brief ein, den er lange vorher von zu Hause erhalten hatte. Es war die Antwort auf einen von ihm an die Eltern gerichteten, in dem er damals, so gut es gehen mochte, von seinen sonderbaren Seelenzuständen berichtet hatte, bevor noch die Episode mit der Sinnlichkeit eingetreten war. Es war wieder eine recht hausbackene Antwort, voll rechtschaffener, langweiliger Ethik gewesen und riet ihm, Basini zu bewegen, daß er sich selbst stelle, damit dieser unwürdige, gefährliche Zustand seiner Abhängigkeit ein Ende finde.

Diesen Brief hatte Törleß später wieder gelesen, als Basini nackt neben ihm auf den weichen Decken der Kammer lag. Und es hatte ihm eine besondere Lust bereitet, diese schwerfälligen, einfachen, nüchternen Worte auf der Zunge zergehen zu lassen, während er sich dachte, daß seine Eltern wohl durch das allzu Taghelle ihres Daseins blind gegen das Dunkel seien, in dem seine Seele augenblicks wie eine geschmeidige Raubkatze kauerte.

Heute aber langte er ganz anders nach dieser Stelle, als sie ihm wieder einfiel.

Eine angenehme Beruhigung breitete sich über ihn, als hätte er die Berührung einer festen, gütigen Hand gefühlt. Die Entscheidung war in diesem Augenblick gefallen. Ein Gedanke war in ihm aufgeblitzt, und er hatte ihn bedenkenlos ergriffen, gleichsam unter dem Patronate seiner Eltern.

Er blieb wach liegen, bis die drei zurückkamen. Dann wartete er, bis er an den gleichmäßigen Atemzügen hörte, daß sie schliefen. Nun riß er hastig ein Blatt aus seinem Notizbuche und schrieb bei dem ungewissen Lichte der Nachtlampe in großen, schwankenden Buchstaben darauf:

»Sie werden dich morgen der Klasse ausliefern, und es steht dir Fürchterliches bevor. Der einzige Ausweg ist, daß du dich selbst dem Direktor anzeigst. Zu Ohren würde es ihm ja auch ohnedies kommen, nur daß man dich vorher noch halbtot prügeln würde.

Schiebe alles auf R. und B. und schweige von mir.

Du siehst, daß ich dich retten will.«

Diesen Zettel steckte er dem Schlafenden in die Hand.

Dann schlief auch er, von der Aufregung erschöpft, ein.

 

Den nächsten Tag schienen Beineberg und Reiting noch als Frist Törleß gewähren zu wollen.

Mit Basini wurde es jedoch Ernst.

Törleß sah, wie Beineberg und Reiting zu einzelnen hingingen, und wie sich dort um sie herum Gruppen bildeten, in denen eifrig geflüstert wurde.

Dabei wußte er nicht, ob Basini seinen Zettel gefunden habe, denn ihn zu sprechen fand sich keine Gelegenheit, da sich Törleß beobachtet fühlte.

Anfangs hatte er überhaupt Angst, daß es sich auch schon um ihn handle. Aber er war nunmehr im Angesichte der Gefahr von ihrer Widerwärtigkeit so gelähmt, daß er alles an sich hätte herankommen lassen.

Später erst mischte er sich zaghaft, gefaßt, daß sich augenblicks alle gegen ihn kehren würden, unter eine der Gruppen.

Aber man bemerkte ihn gar nicht. Es galt vorläufig erst Basini.

Die Aufregung wuchs. Törleß konnte es beobachten. Reiting und Beineberg mochten wohl noch Lügen hinzugetan haben. ...

Erst lächelte man, dann wurden einige ernst, und böse Blicke glitten an Basini vorbei, endlich brütete es wie ein dunkles, heißes, von finsteren Gelüsten schwangeres Schweigen über der Klasse.

Zufällig war ein freier Nachmittag.

Alle versammelten sich hinten bei den Kästen; dann wurde Basini vorgerufen.

Beineberg und Reiting standen wie zwei Bändiger zu seinen Seiten.

Das probate Mittel des Entkleidens machte, nachdem man die Türen verschlossen und Posten ausgestellt hatte, allgemeinen Spaß.

Reiting hielt ein Päckchen Briefe von Basinis Mutter an diesen in seiner Hand und begann vorzulesen.

»Mein gutes Kind ...«

Allgemeines Gebrülle.

»Du weißt, daß ich von dem wenigen Gelde, über das ich als Witwe verfüge ...«

Unflätiges Lachen, zügellose Scherze flattern aus der Masse auf. Reiting will weiterlesen. Plötzlich stößt einer Basini. Ein anderer, auf den er dabei fällt, stößt ihn halb im Scherze, halb in Entrüstung zurück. Ein dritter gibt ihn weiter. Und plötzlich fliegt Basini, nackt, mit von der Angst aufgerissenem Munde, wie ein wirbelnder Ball, unter Lachen, Jubelrufen, Zugreifen aller im Saale umher, – von einer Seite zur andern, – stößt sich Wunden an den scharfen Ecken der Bänke, fällt in die Knie, die er sich blutig reißt, – und stürzt endlich blutig, bestaubt, mit tierischen, verglasten Augen zusammen, während augenblicklich Schweigen eintritt und alles vordrängt, um ihn am Boden liegen zu sehen.

Törleß schauderte. Er hatte die Macht der fürchterlichen Drohung vor sich gesehen.

Und immer noch wußte er nicht, was Basini tun werde.

In der nächsten Nacht sollte Basini an ein Bett gebunden werden, und man hatte beschlossen, ihn mit Florettklingen durchzupeitschen.

 


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