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Ein hallenartiger Mittelraum im ersten Stockwerk. Türen. Eine hölzerne Innentreppe führt hindurch. Seltsame Arabesken im Teppich. Hinten ein sehr großes Fenster mit Blick auf die Landschaft. Morgengrauen. Schwere, bequeme Holz- und Ledermöbel.
Vom Charakter der Dinge gilt das gleiche wie im zweiten Akt; der Gesamtraum wirkt aber geschlossen, schrankinnerlich.
Regine und Thomas in phantastischer Hauskleidung. Thomas steht von einer Lederbank im Hintergrund auf, reckt sich und kommt nach vorn, wo Regine kauert.
Thomas: Ich schäme mich.
Regine: Gar keinen Mann anschaun oder jeden ist das gleiche. Man kann sich ihnen ans Herz werfen, bloß weil man verrückt wird vom Fremdsein; vom Nichtverstehenkönnen wie man auch nur ihre Hand länger als nötig in der eigenen halten mag.
Thomas: Ich habe, bevor ich für den Rest der Nacht hierher kam, noch einmal diese Notizen von dir oder Anselm über dich gelesen: ich schäme mich.
Regine stimmt zu: Erkaltete Einbildungen. Widerwärtig nackt wie aus dem Nest gefallene Vögel. Trotzdem sie starr ins Licht blickt. Ich kann ja nicht ins Licht schaun, diesen zum Erbrechen schönen Morgen; wie ein verdorbener Weltmagen hebt er sich schon in fader Klarheit.
Thomas: Und während ich las, war dieser Stader in unsrem Haus. Und in einem andren Zimmer schlief Josef. Und in einem dritten Anselm. Angst hatte ich vor der Frage, ob nicht einer von ihnen noch einmal bei dir schläft.
Regine: Warum sagst du nicht: Verworfene?! Warum suchst du mich nicht zu heben wie ein gefallenes Mädchen?! Sieh es doch wenigstens natürlich, wenn man schon nimmer die Kraft hat, dahinter etwas zu sehn! – Im Dorf war kein Platz. Josef hat diesen Adjutanten hergeschleppt, konnte man ihn im Park schlafen lassen?
Thomas: Natürlich nicht! Dieses verdammte menschliche «natürlich» ist es, unter das man sich am Eingang jeder Niedrigkeit bückt.
Regine ergänzt: Und Anselm ist schon unnatürlich!
Thomas die Schmalheit der Zwischenzone betonend: Und Anselm ist unnatürlich.
Pause.
Thomas gequält: Wenn du wüßtest, wie Männer solch eine Frau verachten!
Regine: Ich weiß es ja. Und sie haben recht. Ich habe es jedesmal bemerkt, aber es war mir immer eine Rache; weiter innen. Denn das ist es ja auch heute nicht: daß man es getan hat. Sondern daß man davon niedergeworfen wurde; daß man das wird, was man tut! Auflehnung, riesiger Wille, unbenannte Kraft stürzen in die Welt und werden – – nun in deinem Fall werden sie Professor.
Thomas halb zugebend: Ja, vielleicht bleibt jeder zeitlebens der Gefangene eines Nebenerfolgs. Ich muß mich vielleicht daran gewöhnen.
Regine: Herrliches Mädchengefühl, wie ein Zaubervogel im Schaukelring die Welt entlang zu schweben! Später erst kommt man darauf, daß man in einem herumgezogenen Käfig saß, der plötzlich stehen gelassen wird.
Thomas: Ich habe wahrhaftig gestern, als ich mit deinem Mann sprach, noch an deinen Männerabscheu geglaubt; nun muß ich mich daran gewöhnen, meine wilde Schwester, daß du das gleiche in einer niederträchtig häßlichen Weise ausgedrückt hast.
Regine: Es ist etwas in mir, das wurde nie davon berührt.
Thomas: Ich fand immer so schön, daß wir nie zuviel voneinander gewollt haben. Es blieb freier Bewegungsraum zwischen uns. Nie dieses idealische Aneinandergepresse, bei dem einem Hören, Sehen und Denken vergeht. Sondern – selbst wenn wir uns durch Jahre weder sahen noch schrieben – ruhiger Schlaf einer unlösbaren Beziehung seit den Kindertagen. Am äußersten Rande war sie Musik wie alles Ferne. Es paßte sogar dazu, daß du Josef geheiratet hast. Das menschlichste Geheimnis der Musik ist ja nicht, daß sie Musik ist, sondern daß es mit Hilfe eines getrockneten Schafdarms gelingt, uns Gott nahe zu bringen.
Regine: Ich bin vielleicht nur bös, es könnte ja sein; ich mag niemand, ich tue alles heimlich. Aber immer hatte ich den Trost: wenn es einmal ganz schief geht, du kannst Ordnung schaffen; du wirst machen, daß alles, was ich getan habe, gut war. Nun bist du niedergeworfen!
Thomas: Sorg dich nicht, ich – stehe schon wieder auf!
Regine: Komm, ziehen wir Schuhe und Strümpfe aus; komm in den Park! Über die nassen Wiesen. Thomas wehrt erleichtert ab. Erinnerst du dich noch an diesen alten Satan Sabine?
Thomas: Unsere Kinderfrau, die uns zur Tugend anhielt? Endlich weiß ich, an wen mich dein Fräulein Mertens immerzu erinnert hat!
Regine: Komm über die nassen Wiesen; der blanke Morgentau wird feindlich rein wie ihr Schwamm unsre Füße baden. Auf unsren Schultern wird die Sonne dampfen. Sieh, wie sie aufgeht! Blöd wie ein Knall! Sie höhnt wild und grotesk gegen die Sonne. A-a-a-h!!! Das ist die Schönheit!!! Unsre nackten Sohlen werden die Erde fühlen; das Tier, dem wir entsprungen, ohne uns wegschwingen zu können. Dann finden sie uns tot unter einem Busch. Und werden sich den Kopf zerbrechen, warum wir nackte Füße haben.
Thomas: Spielst du noch immer damit?! Du bist schon wie Anselm!
Regine: Ich habe nie daran gedacht; selbst nicht nach Johannes' Tod. Aber ich glaube, daß man von Anfang an dazu bestimmt ist oder nicht. Es wächst unterirdisch und eines Tags erkennt man seinen Beruf.
Thomas: Aber – das ist nicht wirklich dein Ernst?
Regine: Du hast doch Mut für zwei. Soll man am Schlusse wie ein leerer Sack daliegen? Werden wie alle? Was erwartest du denn noch?! Dieses einzige hat man noch nicht versucht; vielleicht ist es auch Schwindel, vielleicht ist es – –: es nahe wissen, macht schon himmlisch frei und furchtlos.
Thomas packt sie an der Schulter und rüttelt sie: Unsinn! Schön ist es! Verlassenwerden ist schön! Alles verlieren ist schön! Mit seiner Weisheit zu Ende sein ist schön! Wie eine Pupille, die sich ganz klein zusammenzieht, visiert man sein Leben an. Sieht nichts, tritt auf der höchsten Stufe fehl. Und schaukelt langsam wie ein Blatt durch einen tiefen, weiten Raum.
Maria tritt mit einer Kerze in der Hand ein: Hier ist es hell! Bläst das Licht aus. Ihr seid wach? Habt auch ihr nicht schlafen können? Ich habe, nachdem Regine von mir gegangen war, höchstens zwei Stunden geschlafen. Ich wußte nicht, was wird Anselm machen, was machst du? Du warst gar nicht ins Schlafzimmer gekommen.
Thomas: Anselm wird sich ausschlafen; er muß heute fort. Er betrachtet Maria von Zeit zu Zeit mit Blicken, die staunen, sie vergeblich ganz umfassen und aufheben wollen.
Maria setzt sich neben Regine und hüllt sie in ihren Schal: Er tut gewiß viel Schlechtes, ohne es recht zu wollen, wie ein Junge aus innerer Ungelenkigkeit. Und läuft dann davor weg.
Thomas: Ich bitte dich, wir sind jenseits der Dreißig! Auch mit Achtzig wird man innen noch das Kindchen sein. Zugegeben. Auch wenn man dem Tod schon in die Augenhöhlen schaut. Aber unsagbar widerwärtig bleibt es, dieses weiche innere Fell so nach außen gewendet zu tragen wie gestern ... Bitter kalt ist es; ist dein Bett noch warm? Ich möchte mich hineinlegen.
Maria: Ich werde Tee machen; es ist noch keiner von den Dienstleuten auf. Zu Regine. Vielleicht hat er doch nicht ganz unrecht gehabt. Hätte ich ihm vertraut! Hätte ich ihm seinen Willen getan und wäre mit euch fort!
Thomas zu beiden: Oh? Ihr habt euch wohl ausgesprochen? Am Sterbebett des Gesunden!
Maria: Du bist immerweg hochmütig. Ich fühle mich gar nicht mehr sicher; ich habe ihm vielleicht manches abzubitten. Haben wir denn nicht den gleichen Fehler gegen Regine begangen?!
Regine: Ach Quatsch!
Maria zärtlich: Nein; wenn ich es nur gutmachen könnte. Jetzt verstehe ich erst, warum sie Josef geheiratet hat; und hatte es ihr so oft übel genommen. Aber als Johannes' Tod so plötzlich gekommen war, dachte sie bloß: Warten. Sich kleinmachen. Was sind dreißig, was sind fünfzig Jahre – wenn man etwas hat, worauf man warten darf!
Thomas: Du vergißt: das war noch ein wirklicher Tod, kein fingierter!
Maria: Du vergißt, daß Jahre und Pläne glatt sind wie ein Tanzboden, wenn der erste Entschluß einer jungen Frau, stark und eines Gefährten würdig zu sein, darüber fliegt. Die Widrigkeiten erkennt man erst später.
Regine: Quatsch, quatsch, quatsch! Sie versucht ihr den Mund zuzuhalten.
Maria steht auf und richtet einen Samowar, läßt das aber dann wieder: Nein, er soll das nur hören! Wir hatten dir damals nicht geraten und geholfen.
Thomas: Und? Das weitere? Sie wird es dir wohl auch erzählt haben?
Maria: Warum willst du es nicht verstehn? Wenn sie schon lebend ins Grab stieg, sollte sie auch noch drin liegen bleiben?
Thomas: Gut, einmal. Aber der Nächste? Der Übernächste? Vom Zehnten ab?!
Maria: Es hätte ja nicht so Sein müssen, aber wenn man zu Hause nur Spott gefunden hat, so weiß ich wenigstens: tiefste Liebe braucht der, dem das widerfahren konnte. Johannes selbst hätte nicht so hart geurteilt wie du; er wußte, daß Regine noch viel zu jung war, und nicht lange vor seinem Ende hat er mich gebeten: Sag ihr, was immer geschieht, ich werde ihr alles verzeihn.
Regine steht auf: Ich kann es nicht anhören. Ich muß aus Ehrgeiz und Verlegenheit heulen wie damals, als ich bei Jahresschluß aus Versehen in der Klasse die Erste geworden war.
Maria: Er hat an sie geglaubt: das ist eine Kraft, welche gut macht!
Thomas: Und Anselm? Ich weiß doch, worauf ihr hinauswollt! Hast du verschlafen, daß du ihm nachstellst?!
Maria fast ein wenig lächerlich in ihrer Aufrechtheit: Es ist eine seiner Entgleisungen. Man darf sich davon nicht abschrecken lassen. Man darf sich nicht seinen Einbildungen anpassen. Man muß auf das Gute in einem Menschen hören wollen, dann findet er dafür die Worte!
Thomas nachspottend: Man muß nur nicht gering denken wollen, dann erschließt er sich, der andere Mensch.
Maria: Du hast ihm stets nur weh getan bei seinen Schwächen.
Thomas: Also was soll ich tun?
Maria: Man darf ihn nicht einfach verkommen lassen. Man darf etwas, das gut sein könnte, nicht verfallen lassen.
Thomas: Soll ich ihn vielleicht bitten, noch eine Weile bei uns zu bleiben?
Maria: Ja. Du hast mich nicht vor ihm gewarnt; du hast nur gespottet.
Thomas ruhig und entschieden: Nein. Einen, der uns so bloßgestellt hat, hole ich nicht zurück.
Regine zu Maria: Sprich gar nicht erst darüber! Erinnre dich doch: den ersten Schritt haben weglose Schwindler, wie Anselm oder ich, und bedeutende Menschen gemeinsam; aber den letzten macht Thomas allein! Ab.
Maria geht plötzlich ganz nah zu Thomas und sieht ihn hilflos an. Thomas tritt traurig zurück.
Thomas: Hast du jetzt eingesehn? Daß du ihm aufgesessen bist?
Maria: Ich habe es eingesehn. Aber Thomas! Thomas!! Wenn man alles vorhersieht, will und eintreffen macht: – das macht nicht glücklich.
Thomas eine Erschütterung verbergend: Erklär dich.
Maria: Ich vermag euch ja nicht zu folgen, ich bin nur ein einfacher Mensch. Aber glücklich kann man nur durch etwas Unberechenbares sein; durch etwas Unvorhergesehenes; das einem gerade so einfällt und da ist und vielleicht gar nicht richtig ist. – Ich kann mich nicht so ausdrücken. Man hat soviel mehr Kräfte als Worte in sich! Ich muß mich ja vielleicht schämen: Aber Anselm gab mir etwas!
Thomas: Was du bei mir entbehrt hast?
Maria: Ja ... Was würdest du tun, wenn ich fortginge?!
Thomas: Ich weiß es nicht. Geh doch.
Pause. Maria kämpft mit den Tränen.
Maria: Ja, so bist du. Auf alles verzichten, wenn ein neuer Plan dir besser erscheint. Ich weiß, daß du mich gern hast. Du weißt, daß ich Anselm nie verzeihen werde. Nie! Aber selbst dieser arme Mensch spendet mehr Ruhe und Wärme als du. Du willst zuviel. Du willst alles anders. Das mag alles richtig sein. Aber ich habe Angst vor dir!
Thomas: Du bist schön. Habe ich dir das nie gesagt? Du bist schön wie die Himmelswölbung – den ergriffenen Ton verbessernd – oder irgend so etwas, das sich seit Jahrtausenden gleich blieb. Das hat auch Anselm verführt. – Gewiß bin ich an allem schuld. Ich kann nicht anders sein als ich bin. Denn siehst du, Anselm und ich denken beide anders als du.
Maria: Anselm und du –?
Thomas: Ja. Er war bloß zu schwach dazu, er hielt es nicht aus. Er drängt sich plötzlich zwischen die Menschen, die sich in dieser Welt zu Hause fühlen, und fängt an, in ihrem Stück mitzuspielen; in wunderbaren Rollen, die er für sich erfindet – –: Ich meine aber trotzdem, Anselm und ich können nie die Wahrheit vergessen.
Maria: Und ich? Ich lüge vielleicht?
Thomas: Nicht in diesem Sinn; in diesem Sinn lügt er ja. Ich meine mehr so –, mehr die Wahrheit, daß wir mitten in einer Rechnung stehn, die lauter unbestimmte Größen enthält und nur dann aufgeht, wenn man einen Kniff benützt und einiges als konstant voraussetzt. Eine Tugend als höchste. Oder Gott. Oder man liebt die Menschen. Oder man haßt sie. Man ist religiös oder modern. Leidenschaftlich oder enttäuscht. Kriegerisch oder pazifistisch. Und so weiter und so weiter, diesen ganzen geistigen Jahrmarkt entlang, der heute für jedes seelische Bedürfnis seine Buden offen hält. Man tritt bloß ein und findet sofort seine Gefühle und Überzeugungen auf Lebensdauer und für jeden denkbaren Einzelfall. Schwer ist es nur, sein Gefühl zu finden, wenn man keine andre Voraussetzung akzeptiert, als daß dieser entsprungene Affe, unsere Seele, auf einem Lehmhaufen kauernd, durch Gottes unbekannte Unendlichkeit saust.
Maria: Vielleicht hast du recht, alles so zu komplizieren. Ich kann nicht widerlegen. Aber ich kann das auch nicht ertragen. Immer vor solchen Aufgaben zu stehn. Auch Anselm ist an dir zusammengebrochen!
Regine tritt aufgeregt ein.
Regine: Er ist fort!
Thomas: Aufgefahren aus dem Grabe. So gehört sich's für einen Wundermann.
Regine zu Maria: Für dich liegt ein Zettel in seinem Zimmer. Er wartet bis morgen mittag auf dich in der Stadt.
Thomas: Was heißt das?
Maria: Daß er noch einmal sprechen möchte. Daß er noch einmal angehört werden will.
Thomas zuckt die Achseln. Maria geht hinaus.
Regine scharf: Weißt du genau – wie Anselm ist?
Thomas: Ja.
Regine: Dann handelst du grausam gegen Maria.
Pause.
Thomas: Weil ich sie gewähren lasse? Die schwere, hilflose Maria, verstehst du? Sie soll sich nur anstoßen! Verstehst du? Wie ein schwerer Kreisel geht sie ihre innere Bahn. Peitschen möchte ich ...!
Regine: Ich hätte so gern etwas Böses angefangen mit dir, um mich an Maria zu rächen: ich brachte es nicht zuwege. Anselm hat das gebrochen in mir. Wie man einen Nachtwandler weckt. Thomas sieht sie erstaunt und erwartungsvoll an. Ich glaube, ich wollte einmal ein sehr guter Mensch werden. Gelobt von allen; gehätschelt wie ein Hund, dem man sagt: gutes Hündchen!: Nie habe ich gut sein können.
Thomas: Ja das ist auch viel schwerer. Nur dumme Menschen haben es darin leicht.
Regine: Nicht so wie Maria; das vertrage ich nicht. Frenetisch gut. Zwischen den höchsten Trapezen der Güte einen Saltomortale schlagend; unter dem Atemanhalten der Menge, im lautlosen Augenblick, wo der Funke zwischen Losdrücken und Pulverfaß des Beifalls schwebt. Als wir in die Schule gingen, wollte ich einen kleinen Knaben heimlich adoptieren und zu einem Prinzen erziehn. Ich wollte sogar unsre Gouvernante heiraten, weil mir ihr boshaftes Alleinsein leid tat. Ich dachte mir, ich würde irgendeinmal noch wie eine Fee Menschen zu beglücken vermögen. Als ich sieben Jahre alt war, hatte ich dafür eine Zauberformel gefunden und ich sang sie stundenlang der kleinen Gärtnerstochter laut ins Ohr und kniff und prügelte sie, weil sie weinte statt schöner zu werden. Aber später scheitert das alles einfach an den Menschen. Man sieht sie wirklich und genau wie sie sind. Man kann sie nicht lieben.
Thomas: Nein. Aber man muß sie lieben; zuweilen; wenn man nicht zu einem gespenstischen Wesen verdünnen will! Das ist es.
Regine: So wie man schlafen muß und essen; aber ich kann nicht mehr!! Pause. Sie sucht nach einem Anfang. Thomas! Lach mich nicht aus: Ich möchte ein Opfer bringen. Niemandem, nur dir. Nicht für eine fremde Regel will ich ja gut sein; aber für dich, der du bist wie ich, nur stärker: Ich werde zu Josef zurückgehn.
Thomas: Aber unsinniger Einfall, Regine; ich erlaube dir nicht einmal an so etwas zu denken.
Regine: Aber ich will ... lach mich nicht aus ... ich will einmal im Leben einer Idee dienen!
Thomas: Aber ich habe keine Sorge wegen Josef. Anselm wird er nun nichts tun und mir ... mir? ... also mir liegt nichts mehr daran, wenn er mir schadet.
Regine: Mir liegt auch nichts mehr an mir. Weis es nicht ab; es fällt mir ja ohnedies so schwer ... Nein, jetzt kann ich kaum mehr, wenn ich Zeit habe, es mir vorzustellen.
Thomas: Sei nicht so mutlos! Ich bitte dich, sei nicht mutlos. Er wirft sich wütend und ohnmächtig auf die Bank, auf der Regine gesessen hat.
Regine: Du bist gewiß gut ... aber wer weiß, was du mir jetzt getan hast ...?
Thomas: Was heißt das?
Regine: Horch, es kommt jemand. Ich kann dir das nur allein sagen.
Ab.
Thomas sitzt, den Kopf in die Hände gestützt. Josef und Stader treten ein, geblendet aus dem Dunkel; Stader trägt ein Licht.
Josef: Es ist peinlich; wir schleichen in einem fremden Haus nachts herum.
Stader: Die Wahrheit festzustellen, erhebt über niedrige Begleitumstände.
Josef: Aber schweigen Sie doch! Philosophieren Sie nicht immer! ... Wenigstens nicht so laut ... Er putzt seine Brillengläser und sieht blind umher. Stader hat eine Tür geöffnet und ist halb darin verschwunden, wodurch sich erklärt, daß auch er Thomas nicht bemerkt. Wissen Sie genau, wo sich die Mappe befindet?
Stader: Hier muß es weitergehn; ganz am Ende liegt das Arbeitszimmer. Ich weiß und bemerke alles.
Josef in flüsternder Wut: Schreien Sie nicht so! Sie werden noch jemand wecken! Die Situation ist beschämend inkorrekt. Dafür haben Sie natürlich nicht Verständnis ... Seufzt. Für sich gesprochen. Aber ich finde keine Minute Ruhe, solange ich diese Papiere in einer fremden Hand weiß.
Er hat die Brille aufgesetzt; Stader ist umgekehrt, um den konfus gewordenen Menschen mitzunehmen. Beide bemerken jetzt Thomas, der aufsteht. Stader bläst zwecklos rasch seine Kerze aus.
Thomas: Ich will euch den Schlüssel geben. In der Mittellade des Schreibtischs liegt die Mappe.
Er reicht Josef den Schreibtischschlüssel, der gibt ihn mechanisch an Stader weiter, Stader verschwindet damit, froh sich der Situation zu entziehn, dennoch einen zärtlich forschenden Blick auf Thomas werfend. Josef, unsicher, betreten, folgt ihm, kehrt sich aber in der Türe zu einer Erklärung um.
Josef entschuldigend: Das muß vernichtet werden ... Ich hätte es wahrhaftig gestohlen. Wenn es nicht Mord wäre, würde ich sogar diesen Kerl – er deutet hinter Stader drein –, der von allem weiß, ermorden!
Thomas zieht ihn, der diese Vertraulichkeit mit steifer Nachgiebigkeit auszugleichen sucht, ins Zimmer zurück.
Josef: Ich habe begonnen, mich gedanklich mit den Tatsachen noch einmal auseinanderzusetzen. Ich bin neuerlich zu dem Resultat gekommen: Es kann sich nur um eine krankhafte Verwirrung handeln! Das war keine Liebesgeschichte!
Thomas: Nein, das war keine Liebesgeschichte. Er läßt ihn plötzlich mit sonderbarem Lachen los. Such, such! Verhafte ihn! Hetz deinen Polizeihund auf ihn!
Josef: Du ... er macht eine bezeichnende Gebärde ... bist übermüdet.
Thomas wirft sich in einen Stuhl: Sehr müd.
Josef vor ihm stehend: Zuviel Gefühl, mein lieber Thomas; hier können nur Grundsätze helfen!
Thomas: Zuviel Gefühl: ja, ja, jaja. Maria sagt, ich hätte nie Gefühl gehabt.
Josef: Nun ja, Frauen; sie wird heute auch anders denken. Jedenfalls habe ich mein letztes Wort wegen dieses Infektionskranken, den du in deinem Hause duldest, gestern schon gesagt! ... Jedenfalls werde ich ihn wirklich verhaften lassen, sobald richtig Tag ist und Amtszeit und man telephonieren kann ... Sich mildernd. Das alles kommt von den übertriebenen Gefühlen. Man hat nicht soviel Gefühl zu haben; oder höchstens für das Große und Erhabene, wo es nicht so schaden kann ... Es war dir eine schwere Enttäuschung? ... Nun ja, ich meine, du bist doch ein Mann der klaren Verstandestüchtigkeit; du hast dich nur so umwerfen lassen, weil die überschwenglichen Gefühlsbezeugungen dieses Narren anfangs jeden anstecken.
Thomas müd, nachgiebig, aber geheuchelt: Kannst du nicht etwas bei mir sitzen bleiben?
Josef schickt sich an, Stader zu folgen: Nein, das nicht; das so lange nicht, als du nicht zu dir zurückgefunden hast.
Thomas: Nur noch ein bißchen Geduld; dein Sieg ist ja unaufhaltsam.
Josef wieder sich mildernd: Ich könnte es auch nicht ertragen; ich muß die Dokumente dieser Verirrungen noch einmal studieren. Ich brauche eine feste, verläßliche Grundlage, um existieren zu können. Ab.
Thomas setzt sich an einen in der Mitte des Raumes stehenden schweren Tisch und stützt wieder den Kopf in die Hände. Maria tritt ein, setzt sich ihm gegenüber, sieht ihn an; er sieht auf, sie wirft den Kopf in die Arme und weint. Thomas steht auf, setzt sich ihr stumm gegenüber und streichelt sie.
Maria aufschauend: Ich komme mir wie eine Abenteurerin vor.
Thomas: Du mußt es tun. Wenn man etwas mit ganzer Seele für eine Sache tut, wird sie es nachträglich wert.
Maria: Ich will es und mir ist bang davor.
Thomas: Man ist immer überwartet und abgespannt, wenn man bis zur Verwirklichung gelangt.
Maria: Mir ist, als läge alles, was ich tun will, schon lange hinter mir. Wozu tue ich es denn?! Wozu?! Aber ein Uhrwerk läuft immer weiter in mir.
Thomas: Du mußt es tun. Schließlich ist, was daraus wird, das einzige, woran du erkennen kannst, was es war.
Maria: Das gleiche hast du von Anselm gesagt; du stößt mich hinaus.
Thomas: Das muß sein wie Kopfsprung: der Wille und das ist noch gar nichts; und plötzlich schon das neue Element und du regst Arme und Beine. Man ist ja bei den Lebensentscheidungen eigentlich immer abwesend.
Maria: Weißt du denn überhaupt, was ich will??
Thomas sieht ihr in die Augen: Ich will nicht wieder Druck auf dich ausüben.
Maria: Ich will mit Anselm noch einmal sprechen. Vielleicht ... bringe ich ihn zurück ...?
Thomas: Ich sehe deine Gefahr; aber wenn du sie willst, muß ich sie auf mich nehmen.
Maria ihn wieder versuchend: Und wenn ich nicht zurückkäme? Was würdest du tun?
Thomas: Ich weiß es nicht.
Maria: Du weißt es noch immer nicht?
Thomas: Man soll nicht immer sagen: Das oder das nicht muß geschehn. Warten. Ich weiß nicht, was mir einfallen wird. Ich weiß es ja nicht!
Maria springt auf: Das halte ich nicht aus!
Thomas sanft: Wenn ich dich so ansehe, ist mir, als ob ich schon einem andren von dir erzählen würde. Sie war so schön und gut und etwas Wunderbares begab sich. Aber weiter weiß ich es eben noch nicht.
Maria zögernd: Du bist so eigensinnig.
Thomas: Eine Drehorgel könnte unten spielen. Es könnte Sonntag sein. Voll der Schwermut einer grau versunkenen Woche. Ich könnte mich jetzt schon bis zu Tränen nach dir sehnen. Aber die Vorstellung, mich mit dir in eine so starre Beziehung wie Liebe oder sonst eine völlige Gemeinschaft einzusperren, erscheint mir kindisch ... Ich könnte jedoch ... vielleicht einem, der das tun kann ... für dich dankbar sein.
Maria: Weißt du, wie du doch bist? Trotz allem, was du dagegen tust? Das große Gutseinwollen, das man manchmal als Kind vor dem Einschlafen mit Herzklopfen gefühlt hat.
Thomas abwehrend: Vergiß nicht: Zarte Bläschen jetzt werden vielleicht in wenigen Tagen vertrocknete Haut sein.
Maria: Nein. Man darf sich nicht das ganze frühere Leben einfach so aus der Hand schlagen lassen! Ich möchte es wenigstens in einen klaren Gedanken pressen!
Thomas: Geh; es ist Zeit, wenn du den Zug noch erreichen willst.
Maria: Ich kann dich nicht so lassen. Ich soll von diesem Tisch fortgehn und dich allein lassen? Ich möchte dir noch den Tee einschenken ... Die Wäsche auszählen ... ich weiß nicht was, nichts, nichts ist da. Sie entdeckt den Teekessel, den sie schon früher vorbereitet hat, zündet die Flamme an und wirft Tee ins Wasser. Verzeihst du mir?
Thomas: Laß uns aufrichtig scheiden: ich habe gar nicht darüber nachgedacht. Mir ist schon, als ob alles versunken wäre und unterirdisch weiterliefe, um irgendwann und irgendwo einmal emporzubrechen. Es ist Marsch in mir, keine Gegenwart ... Geh Maria, du mußt.
Maria steht in schweigendem Kampf da.
Thomas: Ich bin ja auch traurig.
Maria: Du bist nicht traurig; du schickst mich weg. Mir fällt es so schwer, von dir fortzugehn; ich weiß nicht warum. Wir Frauen lieben tiefer!
Thomas: Weil ihr Männer liebt. Über euch bricht mit dem Mann die Welt herein.
Maria: Du sehnst dich schon nach etwas.
Thomas: Vielleicht nach Nachdenken.
Maria: Das Weinen steht in mir von den Füßen bis zu den Augen wie eine Säule.
Thomas will auf sie zugehn. Sie läßt den Tee stehn und läuft zur Tür hinaus. Thomas bleibt einen Augenblick lang betroffen stehn. Dann geht er zur Teemaschine und hantiert dort fertig. Ein Türspalt hat sich geöffnet. Stader schiebt sich herein. Thomas beim Tee, bemerkt ihn nicht gleich.
Stader räuspert sich wiederholt: Ich will nicht stören ... Sie verzeihen ...
Thomas aus Versunkenheit auffahrend: Was gibt's?
Stader: Ich darf mir in meiner augenblicklichen Mission eigentlich nicht erlauben ... Aber wenn man es genau betrachtet ...
Thomas: Wie –?
Stader: Ich fühle mehr mit Ihnen! Bei aller Hochachtung für Seine Exzellenz. Ich verehre Sie seit Jahren. Ich darf mir die Freiheit erlauben, zu raten: Lassen Sie sich nicht auf diese verlorene Sache ein. Darf ich unter Männern sprechen? Sie ziehen sich zwecklos Enttäuschungen zu.
Thomas: Ach, ja so ... Ich weiß zwar nicht, wie ich dazukomme: wenn Sie mich aber, wie Sie sagen, verehren, möchte ich, daß Sie schweigen. Verstehen Sie, wie ein Grab?
Stader: Ich möchte Ihnen ja einen Vorschlag machen; Sie können sich auf mich verlassen, Herr Professor.
Thomas: Sie waren Zufall? ...!!
Stader: Ja.
Thomas: Sie waren überhaupt nicht!
Stader: Gewiß nicht.
Thomas: Bitte nehmen Sie Platz.
Stader: Danke. Seine Exzellenz hat sich inzwischen in seine Lektüre vertieft. Er setzt sich vorsichtig; schweigt, nach Worten suchend; und platzt los. Ich verfolge Sie nämlich schon seit Jahren, Herr Professor.
Thomas: Warum? Was soll ich angestellt haben?
Stader entzückt: Oh, selbst Sie haben kein ganz freies Gewissen. Ich sah es an Ihrem Augendeckel. An einem mikroskopischen Zucken. An unterbewußten Schuldeinbildungen leidet heute jeder. – Aber nicht so, nicht so: Ihr Schaffen verfolge ich, Ihr wunderbares Werk!
Thomas: Verstehen Sie denn etwas davon?
Stader: Ja eigentlich nicht. Das heißt natürlich, soweit nicht mein Beruf ... mein Beruf setzt mich in Verbindung mit allen Wissenschaften ... aber, also ...: schon vor Jahren nämlich hat mir Regine von Ihnen erzählt.
Thomas: Sagen Sie doch nicht Regine. Sagen Sie: Ihre Exzellenz oder sagen Sie: die gnädige Frau Kusine. Na, wollen Sie eine Zigarre?
Stader wehrt ab: Ich stehe noch in einer sozusagen dienstlichen Handlung gegen die gnädige Frau Kusine, danke, es geht nicht.
Thomas: Eine Zigarette?
Stader unfähig, gegen Thomas länger den Beleidigten zu spielen: Danke, vielleicht. Er nimmt sie. Aber es wäre mir ungeheuer peinlich, wenn mich Seine Exzellenz so träfe. Er verbirgt die Zigarette nach jedem Zug in der hohlen Hand.
Thomas: Also was hat man Ihnen erzählt?
Stader: Oh viel; und ich gab keine Ruhe. Einige Aussprüche habe ich ja wörtlich aufgeschrieben! Zieht ein Notizbuch hervor. Ich verstehe sie freilich heute ganz anders als damals. Ich muß sogar zugeben, daß ich sie damals gar nicht verstand. Aber ich ahnte doch damals schon die ungeheuren Möglichkeiten dieser Art von Mensch, die ich jetzt klar vor mir sehe. Er hat geblättert und zitiert nun. «Wir stehen an der Schwelle einer neuen Zeit, die von der Wissenschaft geführt oder zerstört, jedenfalls beherrscht werden wird. Die alten Tragödien sterben ab und wir wissen nicht, ob es neue noch geben wird, wenn man heute schon im Tierexperiment durch einige Injektionen Männchen die Seelen von Weibchen einflößen kann und umgekehrt. Wer kein Integral auflösen kann oder keine Experimentaltechnik beherrscht, sollte heute überhaupt nicht über seelische Fragen reden dürfen.» – Wissen Sie noch, zu wem Sie das geäußert haben?
Thomas: Ja, natürlich.
Stader: Das ist aus dem Brief an Seine Exzellenz. Das hat mir mächtigen Eindruck gemacht. Verstehen Sie? Denken Sie sich, welche Bedeutung für die Moral und Kriminalistik, ganz abgesehen von den Perspektiven für die detektivische Verkleidungskunst. Er steht auf. Herr Professor! Soll man das praktisch unausgenützt lassen?
Thomas: Ihre Exzellenz hat mir davon erzählt.
Stader: Ihre Exzellenz? Ihre Exzellenz hat –? Hat doch –?
Thomas: Wollen Sie sie nicht zum Dank aus einer peinlichen Situation retten?
Stader: Mhm; ich weiß schon, was da herauskommt. Sie meinen, ich soll diese Mappe stehlen? Diesen Geschäftszweig kultiviere ich höchst ungern.
Thomas: Oh? Nein; es war mir nur etwas durch den Kopf gefahren. Es ist doch eigentlich recht unanständig, wie Sie sich gegen meine Kusine benehmen?
Stader wehrt ab: Ein Mann hat höhere Interessen. Wieder von seinem Gefühl übermannt. Ja; auch ich war ein Schwärmer! Aber ich bin darauf gekommen, daß das nicht genügt. Lassen Sie mich Ihnen einen Vorschlag machen; wenn Sie auf den eingehn, tue ich alles für Sie! Er setzt sich wieder. Ich biete Ihnen an, die Firma Stader, Newton & Co. mit Ihrem Eintritt als wissenschaftlicher Sozius zu beehren.
Thomas belustigt: Es kommt mir unerwartet. Ich weiß auch nicht ganz, was ich mir darunter vorstellen soll.
Stader: Ich spreche zu einem Mann wie Sie gar nicht erst von dem finanziellen Ertrag; wenn Geist nicht in Bücher verschleudert, sondern kaufmännisch verwaltet wird, bleibt sein Erfolg nicht aus. Sie wissen, ich war Diener?
Thomas: Ja.
Stader: Ich war damals schon nicht nur Diener. In der Nacht –
Thomas abwehrend: Bitte!
Stader: Nein, nein, in der Nacht bin ich durchgebrannt; immer. Ich war Sänger, das heißt Dichter; Volkssänger, verstehen Sie, so in den Wirtschaften und ich hab nur in der Nacht Zeit gehabt. Das hab ich aber später bald aufgegeben; ich war dann Hundefänger, Paukdiener, Vertrauensmann der Polizei, Kaufmann – ach, ich war noch mancherlei. Man hat etwas in sich, das in allen Berufen nicht seine Befriedigung findet. Eine Unruhe des Geistes, möchte ich sagen. Eine letzte Überzeugung fehlt. Da bleibt noch so etwas und zieht einen immer wieder hinaus. Man möchte immerzu auf der Straße gehn, einfach gradaus. Es ist etwas in einem! – Aber der Herr Professor lassen mich nur erzählen – –?
Thomas hat sich eine Zigarre angezündet und hört aufmerksam zu. Seine Erschütterung ist in bitter heitere Laune übergegangen: Nein, nein, erzählen Sie; es interessiert mich mehr als Sie denken können.
Stader: Da bin ich endlich daraufgekommen, daß es nur die Wissenschaft ist, welche Ruhe und Ordnung verleihen kann. Und habe mein Institut aufgebaut.
Thomas: Ich habe mich darüber unterrichtet.
Stader: Kennen Sie seine wissenschaftlichen Einrichtungen?
Thomas: Man hat mir davon erzählt. Sehr strebsam.
Stader: Hierfür wäre nun Ihre Leitung geradezu – ein Schlager! Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß wir mit der Unfertigkeit der Methodik zuweilen noch zu kämpfen haben. Die Wissenschaft ist eben auch nicht immer praktisch genug angelegt worden; man erlebt Enttäuschungen. Größere aber mit dem Unverständnis der Menschen! Gerade in wissenschaftlichen Kreisen erfreut sich mein Institut noch nicht des Verständnisses, das es verdient. Wofür Ihre Hilfe daher ganz unersetzlich wäre, ist: Die Ausbildung der Detektivik als der Lehre vom Leben des überlegenen wissenschaftlichen Menschen.
Es ist nur ein Detektivinstitut, aber auch sein Ziel ist die wissenschaftliche Gestaltung des Weltbildes. Wir entdecken Zusammenhänge, wir stellen Tatsachen fest, wir drängen auf die Beobachtung der Gesetze; aber das ist nur der gewöhnliche Teil, mit dem würde ich Sie gar nicht belästigen. Mein große Hoffnung ist: die statistische und methodische Betrachtung der menschlichen Zustände, die aus unsrer Arbeit folgt.
Lassen Sie aus fünf zugedeckten Karten eine ziehen, so werden siebzig Prozent aller Menschen nach der gleichen Stelle greifen. Kontrollieren Sie Thermometer- oder Millimeterablesungen, wenn Bruchteile geschätzt werden müssen, so schätzen alle Menschen zu hoch oder zu niedrig, je nach der Lage zwischen den zwei benachbarten Strichen. Man hat mir erklärt, daß es Augen-, Ohren- und Muskelmenschen gibt, die durch bestimmte, für den Laien geheime Fehler voneinander unterschieden sind. Man hat mir gesagt, daß die Dichter, solange die Welt besteht, immer nur die gleiche, ziemlich kleine Zahl von Motiven benützen und nie ein neues erfinden können. Man hat mir gesagt, daß das Format, welches die vermeintlich so eigenwilligen Künstler ihren Bildern geben, nach ganz bestimmten Regelmäßigkeiten sich verlängert und zusammenzieht, wenn man den Blick über die Jahrhunderte schweifen läßt. Daß Liebende immer das gleiche sagen, ist bekannt. Im Sommer nehmen die Zeugungen zu, im Herbst die Selbstmorde. Man hat mir gesagt, daß dies eben alles so wie mit den Schaumkronen der Wellen ist: nur der Laie glaubt, dieses weiße Sichüberschlagen sei eine ungeheure vorwärts treibende Bewegung; derweil täuschen nur ein paar ausgerutschte Spritzer und das Ganze stampft auf dem Fleck eine wissenschaftliche Kurve ohne sich zu rühren. Soll man sich von sich selbst zum Narren haben lassen? Man tut etwas und heimlich ist es ein Gesetz! Man kann es einfach nicht aushalten, wenn man weiß, das alles wird man einmal genau wissen und man selbst weiß es noch nicht!
Thomas: Mein lieber Freund, Sie sind entschieden zu früh auf die Welt gekommen. Und mich überschätzen Sie. Ich bin ein Kind dieser Zeit. Ich muß mich damit begnügen, mich zwischen die beiden Stühle Wissen und Nichtwissen auf die Erde zu setzen.
Stader: Nein, Sie lehnen noch nicht ab!? Überlegen Sie es sich noch mehrmals!
Thomas: Man kann jeden Augenblick hereinkommen. Hören Sie, wir können ja einstweilen in Fühlung bleiben. Ich hätte einen Auftrag für Sie; keinen interessanten, nur einen ganz gewöhnlichen. Sie haben meine Frau gesehn. Doktor Anselm ist nachts abgereist. Meine Frau folgt mit dem nächsten Zug um –
Stader sieht auf seine Armbanduhr: Fahrplanmäßig soll er eben abgegangen sein.
Thomas unterdrückt eine leichte Bewegung: Ja. Sie werden sich also in der Stadt treffen und eine Unterredung haben.
Stader: Und Sie wünschen Material so wie für Seine Exzellenz?
Thomas: Nein. Ich will nur, daß Sie mir genau berichten, wie mein Freund dabei aussah, welchen Ausdruck er hatte und auch meine Frau – ob sie sich sehr aufregte, ob sie einen leidenden Eindruck machte oder einen befreiten, frischen; kurz ganz genau, als ob ich selbst zusehen könnte. Und dann halten Sie mich am laufenden über alles, was Doktor Anselm weiter beginnt.
Stader: Wenn ich Sie dadurch verbinden kann, das ist eine Kleinigkeit; ich habe auch Seine Exzellenz zur vollen Zufriedenheit bedienen können.
Josef kommt, das bereits in Papier geschlagene Paket Notizen unter dem Arm, auf der Suche nach Stader.
Josef ärgerlich: Wo sind Sie denn?
Thomas rasch: Wir reden noch einmal später.
Stader: Exzellenz, gestatten gehorsamst! Er will ihm diensteifrig das Paket abnehmen.
Josef drückt es fester an sich: Lassen Sie, lassen Sie; ich werde es selbst machen. Zu Thomas in einlenkend sanftem Ton. Kannst du mir vielleicht etwas Bindfaden geben?
Stader: Ist schon hier, Exzellenz! Er zieht ein Knäuel aus der Tasche und beginnt respektvoll das Paket noch in Josefs Arm zu umwickeln, so daß dieser es unwillkürlich auf den Tisch legt.
Josef: Aber wir brauchen auch Siegellack. Würdest du so gut sein?
Stader: Für alles ist vorgesehn. Er zieht eine Siegellackstange aus der Tasche. Exzellenz sollten doch wirklich nicht so kleinmütig von meiner Voraussicht denken. Er will Josef helfen.
Josef: Nein, nein; lassen Sie, Stader!
Stader zieht sich diskret ein wenig zurück. Josef beginnt mit ungeschickten, hastigen und zittrigen Bewegungen die Mappe einzuschlagen. Thomas zündet, um auch seine Bereitwilligkeit zu beweisen, die von Stader weggestellte Kerze an.
Josef halblaut: Es war keine Liebesgeschichte!
Thomas: Nein, es war keine Liebesgeschichte. Aber was war es denn? Er beginnt Josef zu helfen. Den Sarg geschlossen! Erde darauf. Mögen Blumen wachsen.
Josef: Du scheinst es zu leicht zu nehmen.
Thomas: Ich würde Regine die Wege zu einem neuen Leben freigeben.
Josef: Ich bitte dich, Thomas, keine Namen! Wir sind nicht allein.
Stader von seinem Platz aus: Haben Euer Exzellenz aber auch ein Petschaft bei sich, ein Petschierstöckl?
Josef wendet sich an Thomas. Sie lassen das Paket los, das wieder aufgeht. Stader nimmt sich seiner mit einigen geschickten Griffen an.
Thomas: Nehmen Sie doch einfach eine Münze. Zu Josef. Gut, ohne Namen: aber trotzdem würde ich die Wege geradezu öffnen; das ist doch schließlich moralisches ABC.
Josef steif ablehnend: Ich bitte!!
Stader besänftigend: Befehlen Eure Exzellenz Kopf oder Wappen?
Josef: Aber zum Kuckuck, machen Sie das doch ohne zu fragen, wie Sie wollen!
Thomas: Zu verlieren ist ja nichts mehr, zu gewinnen auch nichts.
Stader siegelnd: Das ist auch so ein Fall. Mit Anspielung. Man glaubt, es ist «Zufall», Kopf oder Wappen; statt dessen unterliegt das einfach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitslehre und es beherrscht uns eine unheimliche Gewalt.
Josef: Ich habe dir schon vorhin bemerkt, daß du etwas überreizt erscheinst. Man ist nicht nur sich, sondern auch den Beteiligten Festigkeit schuldig.
Thomas hartnäckig. Auf das Paket deutend: Ich würde es überhaupt verbrennen.
Josef: Ich will nichts mehr hören!! Sich auf Stader ablenkend. Sind Sie fertig? So gehen Sie, gehn Sie doch schon damit! ... Mäßigt sich. Warten Sie in meinem Zimmer auf mich! Bitte.
Stader würdevoll: Herr Professor, ich werde mir erlauben, später noch einmal vorzusprechen; Seine Exzellenz scheinen momentan unter einer Blutdruckkurve zu leiden. Ab.
Thomas bläst langsam, mit Genuß die Kerze aus.
Josef: Thomas! Wenn du denn noch einmal darüber sprechen willst: Ich kann nicht, solange dieser Mensch noch in deinem Hause ist; darauf muß ich dich aufmerksam machen.
Thomas: Er ist fort.
Josef: Wer er? Anselm meinte ich natürlich.
Thomas: Anselm ist abgereist.
Josef erleichtert: Hast du also doch eingesehn, daß du ihm aufgesessen bist? Ich möchte mit Regine sprechen.
Thomas: Das geht jetzt nicht ... Sie fühlt sich nicht wohl.
Josef vergewissert sich, daß Stader nicht horcht. Stimmlos vor Mißtrauen: Sie ist mit ihm gegangen??
Thomas ruhig: Maria ist mit ihm gegangen.
Josef: Du machst einen Scherz? Ich verstehe zwar nicht, wie man das jetzt kann, aber du hast einen Scherz gemacht?
Thomas: Ich habe vielleicht übertrieben; er ist allein fortgefahren. Aber Maria ist vermutlich auch schon fort; sie reist ihm nach.
Josef: Nachreisen? Er wird wieder mißtrauisch. Ihr habt euch noch immer nicht ganz von ihm losgelöst?
Thomas fest: Nein, nicht so. Maria reist aus eigenem Beschluß. Sie verurteilt das, was er tut, aber die Art, wie er es tut, nahm sie gefangen.
Josef: Aber was soll das denn bedeuten?!
Thomas: Erstens: daß mir einer die Knochen gebrochen hat – oder wenigstens die Verknöcherungen. Immerhin, der zähe Urschleim lebt noch. Zweitens: daß sich der nächste Mensch von mir losgelöst hat – worin ich ihm folgen werde; vielleicht ist er mir nur aus Angst vor mir zuvorgekommen.
Josef: Aber Maria! Eine Frau wie Maria? Dieser Seelenfänger! Oh, aber jetzt beginne ich einen neuen Zusammenhang zu ahnen: Von allem Anfang an beabsichtigte er nur, sie vor Maria zu demütigen, dieser Schuft? Meinst du nicht, ich müßte mich um Regine kümmern? Seit ich vorhin selbst dastand, ich weiß noch nicht wie, plötzlich mit der Kerze in schlafenden unbewachten Zimmern ... ich bin wirklich noch jetzt verwirrt ... wieviel mehr kann ein so wenig widerstandsfähiger Mensch wie Regine ... ja da halte ich ganz gut für möglich, daß sie doch nur in einer Verwirrung gehandelt hat, als sie sich – – dieser Verfehlungen bezichtigen ließ.
Thomas: Setz dich lieber zu mir. Ich bin so froh, mit dir zu sprechen; ich habe mich förmlich darauf gefreut, dir als erstem davon zu erzählen. Er setzt sich und zieht Josef auch in einen Stuhl.
Josef: Du bist merkwürdig ruhig. Verstehst du denn nicht: Die Hand, die dir die Speisen zuschob, hat sich vielleicht schon vergangen? Der Mund, dem du glaubtest, bloß wenn du ihn sich öffnen sahst, hat gelogen? Du hast dich bewegt wie in einem Heim und durch alle Mauern sahen fremde Augen herein? Die schlimmste Schande ist dir zugefügt worden, die einem Mann begegnen kann! ... Er sucht sich zu verbessern. Ich will das natürlich damit nicht annehmen.
Thomas antwortet aber ganz beschaulich: Weißt du, was ich dabei sehe? Daß die Liebe zu einem ausgewählten Menschen eigentlich gar nichts andres ist als der Widerwille gegen alle.
Josef: Ich glaube, du ... Ja, bei dir glaube ich wirklich: du bist gefühllos.
Thomas: Ich habe sehr locker sitzende Gefühle.
Josef: Nein, nein, ich will mit Regine sprechen. Sie gehört in geordnete, sichere Verhältnisse. Er steht auf.
Thomas hält ihn fest: Was wirst du ihr denn sagen? Was willst du tun?
Josef betroffen: Ja, was wirst du tun? Plötzlich. Thomas! Lassen wir doch alles vergessen sein! Ich will dir nichts nachtragen. Wir müssen uns aufraffen. Wir stehn dem gleichen Feind gegenüber.
Thomas hartnäckig beschaulich: Die Fälle sind ganz verschieden. Zwischen Maria und Anselm ist nichts vorgefallen; da beginnt höchstens etwas. Zwischen Anselm und Regine ist etwas vorgefallen und hat zwischen ihnen geendet – oder ist zwischen ihnen verendet!: Das, was du ihre Verfehlungen nennst.
Josef: Nun willst du behaupten?
Thomas: Regine und ich haben uns genügend ausführlich darüber unterhalten. Wo willst du hin? Josef ist aufgestanden.
Josef: Ich spreche jetzt erst recht mit Regine. Ich will in meinem Unglück wenigstens einen klaren, reinen Abschluß haben. Sie soll diese entsetzlichen Verirrungen mir ins Gesicht bekennen, wenn sie das kann, ohne daß ihre Rede vor Scham über sich selbst zusammenbricht.
Thomas: Sie würde gar nicht erst mit der Rede anfangen. Denn sie weiß, daß sie dir nichts erzählen könnte als dumme Abenteuer. Irgendein Schafskopf, ein Wortemacher, Gefühlsschüttler oder auch ein Tatzenmensch, ein Athlet – trotzdem er nicht einmal die Kraft eines kleinen Pferdes hat – wächst plötzlich ins Ungeheure: Liebe! So wie es Angst ist: das feindlich Unbekannte wächst. Das Unbekannte wächst in beiden Fällen! Kannst du dir das vorstellen? – Eben; ich beinahe auch nicht. Das Unbekannte, das uns zu umgeben scheint, wächst aber offenbar zuweilen für bestimmte Menschen. Es scheint Menschen zu geben, in denen etwas locker ist, das in allen andren festsitzt. Es reißt sich los ... Welche Genugtuung jedenfalls, hinterdrein festzustellen, daß der Anlaß Franz hieß oder sonstwie und jene blöden Worte und Versicherungen, durch die sich Liebende gegenseitig anstecken! Sie wußte natürlich auch, daß das unwürdig ist.
Josef: Wenn man überhaupt auf solche Gedankengänge eingehen darf: Sie hätte sich mir rechtzeitig anvertrauen sollen!
Thomas: Du würdest ihr den moralischen Defekt nachgewiesen haben und hättest damit recht gehabt. Sie hätte ebensogut zu einem Arzt gehen können und er hätte ihr gesagt: Erotomanie auf neurasthenisch-hysteroider Basis, frigide Erscheinungsart bei pathogener Hemmungslosigkeit oder dergleichen und hätte auch recht gehabt! Denn sie schlang ja die sogenannten Abenteuer in sich hinein wie ein Kettenraucher, mit dem Überdruß als einzigem Grenzzeichen. Sie konnte vielleicht schließlich überhaupt keinen Mann sehen, ohne –
Josef: Ohne was?! Fühlst du denn nicht, wie unerträglich verkommen das ist?!
Thomas: Ohne nach ihm zu greifen; wie du kein Handbuch deiner Wissenschaft sehen kannst, ohne es aufzublättern, obgleich du sicher bist, ohnedies alles zu wissen, was darin steht. Übersieh doch nicht, wie oft wir genau so lasterhaft handeln – nur im Guten.
Josef: Ach, unpassende Geistreicheleien, mit denen du gern groß tust. Man müßte sie Anspruchslosigkeit lehren und Achtung vor den festen Grundlagen des Daseins.
Thomas: Josef, eben das ist es: die hat sie nicht, diese Achtung. Für dich gibt es Gesetze, Regeln; Gefühle, die man respektieren muß, Menschen, auf die man Rücksicht zu nehmen hat. Sie hat mit all dem geschöpft wie mit einem Sieb; erstaunt, daß es ihr nie gelingt. Inmitten einer ungeheuren Wohlordnung, gegen die sie nicht das geringste Stichhaltige einzuwenden weiß, bleibt etwas in ihr uneingeordnet. Der Keim einer anderen Ordnung, die sie nicht ausdenken wird. Ein Stückchen vom noch flüssigen Feuerkern der Schöpfung.
Josef: Du willst sie also wohl gar noch als einen Ausnahmemenschen hinstellen? Steht auf. Ironisch, entschlossen, mit verstellter Feierlichkeit. Ich danke dir; du hast mich sehen gelehrt. Weißt du, daß du damit auch den verteidigt hast, mit dem deine Frau geht?
Thomas: Ja. Das weiß ich. Und das will ich ja doch. Du verlangst Ideale; aber auch, daß man keinen extremen Gebrauch von ihnen mache. Du läßt die Witwer wieder heiraten, aber erklärst die Liebe für unendlich, damit die Wiederverehelichung erst nach dem Tode erfolgt. Du glaubst an den struggle of life, aber milderst ihn durch das Gebot: Liebe deinen Nächsten. Du glaubst an die Nächstenliebe, aber milderst sie durch den struggle of life. Du verschaffst den Gesetzen unbedingt Geltung, aber begnadigst hinterdrein. Du bist für Besitz und Wohltätigkeit. Du erklärst, daß man für die höchsten Güter sterben müsse, weil du schon voraussetzt, daß keiner auch nur eine Stunde lang für sie lebt –
Josef unterbricht ihn: Du möchtest also mit einem Wort behaupten, daß ich überfordere; am Ende, daß ich zu rigoros war. Oder umgekehrt: daß ich solch eine gewöhnliche Kompromißnatur bin?
Thomas: Ich will nur behaupten, was niemand bestreitet, daß du ein tüchtiger Mensch bist, der sich eine solide Grundlage schaffen muß! Ich will gar nichts andres behaupten. Du gehst auf einem ausgelegten Balkennetz; es gibt aber Menschen, die von den dazwischenliegenden Löchern angezogen werden hinunterzublicken.
Josef: Ich danke; ich erkenne jetzt doch, wer du bist. Du bist zwischen den Kranken ein Angekränkelter.
Thomas: Ich meine, daß man gegen Menschen wie dich um die Berechtigung kämpfen muß, hie und da krank zu sein und die Welt aus der Horizontale zu sehn.
Josef geht nahe zu ihm: Glaubst du, daß man mit solchen Anschauungen das Vertrauen verdient, Schüler zu haben und an der Universität lehren zu dürfen?
Thomas: Ich pfeife auch drauf. Verstehst du: ich – pfeif – dir drauf. Ich möchte mir das Gefühl bewahren, durch eine fremde Stadt zu gehn, in der ich noch ungeheure Möglichkeiten vor mir habe.
Josef: Also so weit geht deine Übereinstimmung mit diesem davongejagten Privatdozenten?
Thomas schreit ihn an: Ich finde ihn lächerlich!! ... Ich verteidige ihn ja nur gegen dich.
Josef: Thomas, du bist noch immer verwirrt! Zehn Jahre hast du wissenschaftlich gearbeitet; und ich muß sagen, tüchtig. Du sprichst unverantwortlich, aber ich fühle mich für dich verantwortlich.
Thomas: Sieh um dich! Unsre Kollegen fliegen, durchbohren Berge, fahren unter Wasser, zucken vor keiner noch so tiefen Neuerung ihrer Systeme zurück. Alles, was sie seit Jahrhunderten machen, ist kühn als Gleichnis einer ungeheuren, abenteuerlichen neuen Menschlichkeit. Die niemals kommt. Denn ihr habt über eurem Tun längst seine Seele vergessen. Und wenn ihr Seele haben wollt, verliert ihr den Verstand so wie ein Student die Couleur ablegt, bevor er zu Weibern geht.
Josef: Das ist mangelnder Ernst! Macht, was ich wollt! Euer armer Vater auf seinem Totenbett hat euch Geschwister und Vettern zwar meiner als des Älteren Sorge anvertraut, aber Gott sei mein Zeuge, ich kann mich nicht länger damit einlassen. Ich will mit euch nichts zu tun haben. Nichts! Zornig ab.
Thomas lacht hinter ihm drein. Regine öffnet leise die Tür.
Regine: Ich habe gehorcht.
Thomas gespielt: Das sollst du nicht mehr tun, Regine.
Regine putzt ihren Rock ab: Was liegt daran, ob ich zuletzt das noch tue. Oh, ich wollte es noch einmal versuchen; aber – sie sagt das, wie man von einem bösen Zeichen spricht – ich habe mich geschämt.
Thomas: Reginchen, Träumelinchen, das darfst du nicht tun, das schickt sich nicht. Du bist jetzt ein edler, erwachsener, kämpfender Mensch. Weißt du schon? Maria ist fort. Wein doch nicht! Natürlich: Anselm!
Regine kämpft mit den Tränen: Nicht um Anselm, nicht um Anselm! Soll ihn sich Maria nur holen! Mir war er nie auch nur sympathisch; immer blieb etwas fremd; eilig in den Beinen, schnüffelnd um die Nase. Ich hatte nie dieses einfach körperliche Vertrauen zu ihm, wie ich es, solange ich denken kann, zu dir hatte ... Aber ich habe gefühlt, mein Leben wird besser; er hat soviel Interesse für mich gehabt; er findet an jedem etwas heraus; da durfte nichts mehr nur beiläufig geschehn ...
Thomas: Ach? Und die Narretei mit Johannes?
Regine: Thomas, für mich hat Johannes gelebt, nur für mich! Er hatte keinen andren Zweck und Lebensinhalt anerkannt als mich! So verrückt war ich nie, zu vergessen, daß das alles war; an Wirklichkeit. Aber daß es dieses Wesen in der Welt nicht mehr gab: dagegen lehnte ich mich auf. Es war Flucht in die Unwirklichkeit, gut – Sie denkt nach und wiederholt es ohne die Mißbilligung im Ton. Flucht in die Unwirklichkeit: auch das hat er immer gesagt, Anselm ... In die Nochnichtwirklichkeit, auf den Berg. Es ist etwas in uns, das zwischen diesen Menschen nicht zu Hause ist: wissen wir, was es ist? Und hat nicht den Mut dazu gehabt! ... Ich war ja plötzlich ganz blöd und keusch geworden, als ich merkte, es handelt sich um andres. Das war nicht mehr dieses traumhaft einfache einen Menschen hineinziehn hinter die vier Papierwände der Phantasie. Seine Ideen schoben einen Widerstand davor. Zum erstenmal war es nicht dieser sinnlos direkte Weiberweg von den Augen unter das Herz; ich begriff: starke Menschen sind rein. Und ob du mich auslachst: ich wäre immer gern stark gewesen wie ein Riese, von dem man noch nach Geschlechtern erzählt! Und jeder kann es; jeder läßt sich nur in sich hineinpacken wie in einen zu kleinen Koffer. Aber er hat den Mut nicht gehabt! Er hat sich gerettet! Thomas! Was er mit Maria tut: das ist feige Flucht in die Wirklichkeit!
Thomas: So einfach geht es bei Maria nicht, du wirst sehn.
Regine bereitet sich Tee: Ich war, bevor ich an die Tür kam, noch einmal durch das Haus gegangen. Zu den alten Kinderzimmern, zu den Bodenkammern, zu allen Plätzen unsrer Phantasie. Auch an der Stelle, wo sich Johannes getötet hat, war ich. Sie zuckt die Achseln mit dem Ausdruck: es war nichts. Alles war fast genau so wie einst. Die Dienstleute standen hinter ihren Türen auf; etwas später, so warten sie in ihren Zimmern darauf, daß man klingle. Alles ist dann aufgeräumt und aufgezogen. Bereit, loszuschnurren wie an allen den fünfzehnmal dreihundertfünfundsechzig nicht mehr vorhandenen Tagen. Darunter die Tage, wo ich nicht hier war, wo ich unglücklich war, wo ich in einem fremden Haus ins Bettlaken biß und weinte.
Thomas: Immer leerer wird das Haus. Anselm ist fort. Maria ist fort; ich wette, daß Josef den nächsten Zug nimmt.
Regine: Oh, ich möchte mich noch einmal niederwerfen dürfen auf die Erde, zwischen die Blumen des Teppichs. Sieh mich nur so an – halt mich mit deinen bösen nüchternen Augen, damit ich es nicht tue!
Thomas: Auf solchen großen Blumen sind wir manchmal Ornamente gegangen. So groß waren sie nicht, aber sinnlos verschlungen.
Regine: Die Blumen wachsen maßlos, wenn man auf der Erde liegt. Die Stuhlbeine stehen wie Bäume ohne Kronen steif und warumlos in ihre Stellen gepflanzt: Das ist die Welt. Die große Welt.
Thomas: Wir saßen einmal in einem Schrank – erinnerst du dich noch? – versteckt.
Regine geht aufmerksam den paar großen Kurven des Teppichmusters nach; vor und zurück, manchmal von der einen zur andren übertretend: Das ist so unheimlich. Ich kann mich überall hin bewegen und kann mich doch nicht überall hin bewegen. Nachts, wenn ich wach bin, würde ich mich nie trauen, aufzustehn und aufrecht durchs Zimmer zu gehn. Selbst wenn ich nur meine Hand hervorziehe und unter den Kopf lege, muß ich sie rasch wieder zurücknehmen. So unheimlich ist es, daß sie daliegt in der fremden Welt, ohne daß ich sie sehe. Sie ist gar nicht mehr meine Hand; ich muß sie rasch unter die Decke ziehn und wieder anheilen lassen.
Thomas seinen Gedanken verfolgend: Wir saßen in einem Schrank und unsre Halsadern glucksten vor Aufregung. Er unterbricht sich. Aber Unsinn, wir sind keine Kinder mehr. Auf die von Regine abgeschrittenen Muster deutend. Man kommt nie aus dem Vorgezeichneten heraus. Manchmal ist mir, als wäre alles schon in der Kindheit beschlossen gewesen. Steigend, kommt man immer wieder an den gleichen Punkten vorbei, dreht sich über dem vorgezeichneten Grundriß im Leeren. Wie eine Wendeltreppe.
Regine mit halb gespieltem, halb wirklichem Entsetzen auf die emporführende Treppe deutend: Da ist sie! Ich mag sie nicht sehn! Sie verbirgt sich am Diwan.
Thomas selbst erschrocken: Kannst du erschrecken! Er setzt sich brüderlich ungeniert zu ihr. Heute nacht habe ich geträumt; von dir. Wir saßen wieder in einem Schrank –
Regine: Aber wie dein Herz klopft. Durch den Rock.
Thomas: Aber gleicht denn dieses Zimmer nicht einem Schrank? Ist denn dieses ganze leergewordene Haus nicht wie ein ausgeräumter Schrank? So wird man wieder zurückgedreht.
Regine richtet sich halb auf, von einem beängstigenden Gedanken erfaßt: Was werden wir jetzt machen?!
Thomas: Nichts, Regine. Die vergoldeten Nüsse hängen nie an den wirklichen Bäumen. Man sucht sie bloß dort; was merkwürdig genug ist. Ich habe mir vielleicht einigemal in jedem Jahr heimlich gewünscht: Marias Abwendung. Loslassen, leise durch die Weite wandernde Begleitmusik zu einem Marsch, der noch gar nicht vor sich geht. So wie du bist. Sie sieht auch wahrscheinlich nur etwas wie Sterne, an Tragstangen schwankend; Blätter, durch deren Schlaf Licht wie mit Händen fährt. Aber es mag schön an so etwas zu denken sein –
Regine: Und ist holprig durch solche Nacht zu gehn? Braver Thomas! Sie legt sich wieder hin.
Thomas: Nein, unsinnig, unsinnig beides! So ziellos, so zwecklos das Ganze!
Regine: Warte. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie das früher bei mir war. Ich lag unter einem Gebüsch und nahm einen Käfer in den Mund. Der stellte sich tot. Und mein Puls zählte. Und ich sagte mir, bei einer bestimmten Zahl wird er als kleiner Prinz aus meinem magisch erleuchteten Mund heraustreten. Ja, das war noch Zauberei. Einen Teil der Welt verschlucken. Dann spuckte ich das Ding aus, wenn die Zahl vorbei war, aber dachte mir doch das nächstemal das gleiche, denn ich hatte ein geheimnisvolles Gefühl von mir. So habe ich gelebt. Lange. Dann wurde es immer gewöhnlicher. Ja. Immer zweckloser. Immer sinnloser.
Thomas: Spürst du nicht, daß es von den Wiesen herein nach Fischen riecht? Ein unanständiger Geruch. Er steht hinter ihrem Kopf. Und wenn ich dich anschaue, so verkehrt, bist du wie eine plastische Karte, ein gräßlicher Gegenstand, keine Frau.
Regine: Hast aber nachts mit Herzklopfen geträumt, daß wir in einem Schrank saßen?
Thomas: Du warst älter als du bist, so alt wie Maria, und zugleich sahst du aus wie vor fünfzehn Jahren. Du schriest so wie gestern, aber es war leis und schön. Wir sind ganz ruhig gesessen. Dein Bein lag an meinem wie ein Boot an seinem Landungssteg; dann wieder wie das süße glitzernde Hin- und Herrinnen des Winds in den Wipfeln. Das war Glück.
Regine: Aber wie soll man das tun?
Thomas: Tun? Ich weiß nicht. Aus Verzweiflung einander aufschneiden und sich in fremdem Innern wälzen wie ein Hund auf dem Aas?
Regine: Das Ende war vorgezeichnet! Wir wissen nicht, was wir tun sollen! Wir werden immer wieder vor dieser Wand stehn! Ich kann nicht mehr!
Thomas hält ihren Kopf fest und küßt sie: Dich kann ich küssen: Verkommene Schwester. Unsre vier Lippen sind vier Würmer, nichts sonst!
Regine: Ich möchte dich mit den weichsten Teilen meines Körpers umschließen. Wie er mich umschließt. Weil ich dich immer lieb hatte. Wie mich. Aber nicht mehr. Nicht mehr.
Thomas: Ah ... erst stand dieser Kuß weit vor mir lockend. Nun ist er ebensoweit hinter mir, brennend. Hindurchgekommen sind wir nie. Nie. Nie. Du fühlst das!
Fräulein Mertens ist eingetreten und hat das mitangesehn. Sie will sich eben empört zurückziehn, als die beiden sie bemerken.
Fräulein Mertens: Oh, Regine, Sie haben sich rasch getröstet; ich wollte fortgehn, ohne ein Wort zu sagen. Eine mir unverständliche Auffassung herrscht in diesem Haus.
Regine und Thomas brechen in ein etwas erzwungenes Lachen aus.
Thomas: Verstehen Sie, das war keine Liebesszene, was Sie überrascht haben. Das war eine Anti-Liebesszene. Das war eine Sozusagen-Verzweiflungsszene.
Fräulein Mertens: Ich maße mir kein Urteil an.
Thomas: Worüber waren wir verzweifelt, Regine?
Regine noch im Ton: Wir waren darüber verzweifelt, daß uns nichts mehr übrigblieb, daß wir uns wieder benehmen mußten wie als Schulkinder. Aus der Rolle fallend. Mertens! Hören Sie, lassen Sie mich nicht allein! Ich brauche jemand, der meinen Kopf hält. Thomas würde traurig neben mir sitzen, wenn ich sterbe, und mir erklären, daß ich ihn dabei nur störe. Er würde verlangen, daß ich als Sterbende ihm ausdrücken helfe, warum dieser Augenblick nur eine glanzlose körperliche Katastrophe ist, während Angst und Trauer zu seinen beiden Seiten so verzaubert glühn.
Thomas: Aber sei doch nicht albern.
Fräulein Mertens: Ich reise abends. Ich werde den Rest dieses Tags außer Haus verbringen. Treiben Sie bitte nicht bis zum Ende Scherz mit mir; Sie denken nicht ans Sterben.
Regine: Aber Mertens! Habe ich nicht immer daran gedacht?
Fräulein Mertens: Ich weiß nicht, woran Sie gedacht haben, während Sie mir einen herrlichen Glauben vorspiegelten, der sich in der engen Wirklichkeit nicht zufrieden gab. Ich bin einer Illusion unterlegen. Denn auch ich habe einst den Geliebten verloren; aber ich habe ihm durch einundzwanzig Jahre reine Treue gewahrt bis heute. Ab.
Thomas: Da hast du's! Das Laster ist Schmutz. Aber die Tugend ist auch nur frisch genießbar!
Regine: Nun wird sie wirklich gehn. Maria, Josef, sie –: Die Ordnung weicht zurück wie das Fleisch beim Skorbut von den Zähnen; nun müssen sie bald ausfallen.
Thomas: Warum läßt du dich niederdrücken! Selbst von so einer Person. Sie sitzen geduckt fern voneinander und können den Versuch nicht wieder aufnehmen.
Regine trotzig: Weil ich nicht weiß, was ich tun soll. Verstehst du denn nicht, ich habe immer etwas tun müssen. Nun weiß ich nichts mehr. Komm! Nein, bleib! Das Geheimnis: ich mitten zwischen alldem – ist zu Ende.
Thomas: Nichts behält in der Nähe die Leuchtkraft und bei liebloser Betrachtung; Leuchtwürmchen: fängst du eins, ist es ein lichtloses graues Würstchen! Aber das zu wissen, gibt ein verteufelteres Gefühl als zu poesein: Gotteslaternchen!
Regine: Für mich haben Gedanken wenig Reiz.
Thomas: Da hast du vielleicht recht. Dagegen ist vielleicht wenig zu sagen ... Aber dann kann ich dir nicht helfen.
Regine: ... Als ich von euch fortging, nach Johannes, besaß ich noch Mut. Irgendeine Erwartung; ich nannte sie, falsch natürlich: Trauer.
Thomas: Hunger war es natürlich.
Regine: Ja, Mut. Aber was kam, war ein endloses Quellen von leeren Stunden. Ich verstehe einfach nicht, wie die andren Menschen es machen, sie richtig auszufüllen.
Thomas: Sie schwindeln natürlich; sie haben einen Beruf, ein Ziel, einen Charakter, Bekannte, Manieren, Vorsätze, Kleider. Wechselseitige Sicherungen gegen den Untergang in den Millionen Metern Raumtiefe.
Regine: Aber es ist alles, was geschieht, doch nur halb Ernst; halb Spiel! Man beschwört das Entsetzlichste, und es kommt ganz gleichgültig herauf, ohne Grauen und Spannung. Weil gerade ein Telephon in der Nähe ist oder nicht in der Nähe ist, aus Langweile, aus Sinnlosigkeit des Widerstands. Weil das ganze Dahinleben so schrecklich von selbst und ohne dich geht, ohne Schuld und Unschuld, wenn man es einmal begonnen hat.
Thomas geht zu ihr und sieht sie unschlüssig an: Aus tausend Gründen quellend; die ein Detektiv oder ein Menschenkenner erforschen kann; nur nicht aus dem einen, dem tiefsten Grund: aus dir.
Regine abwehrend: Wir können es nicht noch einmal machen. Sie geht weiter weg von ihm. Menschen glauben dich zu besitzen, dein ganzes Wesen liefert sich ihnen aus und du bist gar nicht vorhanden in diesem wahnsinnig abschnurrenden Spielwerk ...: Das war einmal schön, Geheimnis, Zauberei, eine Formel von wahnsinniger Kraft. Irgendwie gut und groß.
Thomas: Aber doch auch bloß: die Anfangsillusion, die jeder junge Mensch von sich hat, das Morgengefühl. Man kann tun, was man will, denn alles kommt zu einem selbst zurück wie ein in die Luft geworfener Bumerang.
Regine: Man hatte Freude daran, sich exzentrisch zu parfümieren und komplizierte leichte Speisen zu essen. Und eines Tags ertappt man sich dabei, daß man nur mehr Tee trinkt, Bonbons ißt und Zigaretten raucht. Hineingezogen fühlt man sich in einen Plan, der vor allem Anfang gemacht war, und eingeschlossen. Das Vorherberechnete kommt über dich, das was alle wissen; der Schlaf zu bestimmten Stunden, die Mahlzeiten zu bestimmten Stunden, der Rhythmus der Verdauung, der mit der Sonne um die Erde geht ...
Thomas: Und im Sommer nehmen die Zeugungen zu und im Herbst die Selbstmorde.
Regine: Es zieht dich hinein! Und die Männer werden noch immer wie etwas unverständlich Kriechendes zu mir kommen; wie Tausendfüßer, wie Würmer; du merkst keinen Unterschied und fühlst doch, daß in jedem von ihnen das Leben verschieden ist ...!
Thomas wie mit einer Vision vor sich, sieht von fern durchs Fenster ins Ferne: Bald wird jetzt Maria mit Anselm weit draußen stehn; in einer fremden Landschaft. Die Sonne wird auf Gras und Sträucher scheinen wie hier, das Gestrüpp wird dampfen und alles in der Luft fliegende Fleisch wird jubeln. Anselm wird vielleicht lügen, aber in jener fernen Landschaft kann ich gar nicht wissen, was er sagt ...
Regine: Bist du unglücklich?
Thomas: Jeder Konflikt hat seine Bedeutung nur in einer bestimmten Luft; sowie ich sie in dieser fernen Landschaft sehe, ist alles vorbei. Das ist nicht in Einklang zu bringen, Regine; alle letzten Dinge sind nicht in Einklang mit uns zu bringen. Wohl ist nur denen, die es nicht brauchen.
Regine: Hilf mir, Thomas, rate mir, wenn du es kannst.
Thomas: Wie soll ich dir helfen? Man muß einfach die Kraft haben, diese Widersprüche zu lieben.
Regine: Was wirst du denn tun?
Thomas: Ich weiß nicht. Jetzt denke ich so, aber vielleicht denke ich später anders. Ich möchte bloß vor mich hingehn ...
Regine: Geh mit mir fort! Machen wir etwas! Nur irgend etwas! Hilf mir doch! Mein Wille von einst wird sonst zu einem Brei von Ekel!
Thomas: Aber Regine. Fast körperlich weiter erscheint die Welt, wenn vordem die rechte Seite immer durch die Nachbarschaft eines andren Menschen abgeblendet war. So steht man mit einemmal erstaunt in einem weiten Halbkreis. Allein.
Regine: Bleiben wie ich bin, kann ich nicht! Und anders werden, wie denn?! Wie Maria?!
Thomas: Man wandert einfach so umher. Feindlich sind dir alle, die ihren bestimmten Weg gehn, während du auf der unbestimmten Bettlerfahrt des Geistes durch die Welt bist. Trotzdem gehörst du ihnen irgendwie zu. Nicht viel sagen, wenn sie dich streng anschaun; Stille; man verkriecht sich hinter seiner Haut.
Regine mit plötzlicher Wendung zum Gehen: So hast du mir nur noch eins zu tun übriggelassen! Das, was ich dir nicht gesagt habe!
Thomas: Übertriebenheiten! Ich habe dich absichtlich nicht mehr danach gefragt. In diesen letzten Tagen dachte ich auch manchmal daran. Aber wenn man nachher an seiner eigenen Leiche stehn könnte, würde man sich der Voreiligkeit schämen. Denn die Gelsen würden einen an diesen schönen Sommertagen respektlos stechen und man würde sowohl vom Schauer der Unendlichkeit ergriffen sein als sich kratzen.
Regine lächelnd: Thomas, Thomas, du bist ein fühlloser Verstandesmensch.
Thomas: Nein nein, Regine, wenn irgendwer, so bin gerade ich ein Träumer. Und du ein Träumer. Das sind scheinbar die gefühllosen Menschen. Sie wandern, sehn zu, was die Leute machen, die sich in der Welt zu Hause fühlen. Und tragen etwas in sich, das die nicht spüren. Ein Sinken in jedem Augenblick durch alles hindurch ins Bodenlose. Ohne unterzugehn. Den Schöpfungszustand.
Regine küßt ihn rasch und eilt hinaus, bevor er nach ihr greifen kann.
Thomas: Aber Regine! ... Nein, nein, sie wird doch keinen Unsinn tun. Steht aber doch auf und geht ihr nach.
Vorhang